Hermann Giesecke

Didaktik der politischen Bildung

Neue Ausgabe (10. Aufl. München: Juventa-Verlag 1976)

Teil I: ZUR ENTWICKLUNG DER POLITISCHEN BILDUNG IN DER BUNDESREPUBLIK

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis

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Zu dieser Edition:

Meine Didaktik der politischen Bildung erschien 1965. In der 3. Aufl. 1968 wurden sieben kritische Stellungnahmen zu diesem Buch ausführlich abgedruckt. Auf diese und andere Einwände habe ich am Schluß des Buches mit einer  "Kritik der Kritik" geantwortet.
Der Text der Originalfassung wurde mit der 7. Aufl. 1972 grundlegend verändert. Die auf dieser "Neuausgabe"  basierende, hier wiedergegebene 10. Aufl. 1976 entspricht der 7. Auflage 1972, wurde aber ergänzt durch einen  Nachtrag, der in wesentlichen Punkten die Diskussion zwischen  1972 und 1976 aufgreift. Der Text ist vollständig wiedergegeben, es fehlen lediglich 2 der Arbeit vorausgeschickte Motti und das Sachregister.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen und persönlichen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke


Inhalt

ERSTER TEIL: ZUR ENTWICKLUNG DER POLITISCHEN BILDUNG IN DER BUNDESREPUBLIK

Die Entwicklung der politisch-pädagogischen Diskussion
[Die Ausgangssituation 1945 - Friedrich Oetinger - Theodor Litt -Übergang - Jürgen Habermas - "Anti-Kapitalismus" - "Antiautoritäre" Positionen und Kritik der politischen Sozialisation - Zusammenfassung  - Das politische Bewußtsein der Lehrer ]

Die Entwicklung der politisch-didaktischen Diskussion
[Die phänomenologische Reduktion: Eduard Spranger - Die Reduktion auf "Grundeinsichten": Fischer/Herrmann/Mahrenholz - Politische Intellektualität als Methode: Jürgen Henningsen - Gesamtgesellschaftlich-exemplarische Reduktion: Oskar Negt - Zusammenfassung und Übergang ]




ERSTER TEIL: ZUR ENTWICKLUNG DER POLITISCHEN BILDUNG IN DER BUNDESREPUBLIK

Der erste Teil dieses Buches soll zunächst die Entwicklung der politisch-pädagogischen Theorie, danach die Entwicklung der politisch-didaktischen Theorie in der Bundesrepublik skizzieren. Diese Skizze kann - das sei gleich vorweg gesagt - keine "Geschichte der politischen Bildung" in der Bundesrepublik sein; diese wäre wichtig, würde aber wegen des Umfangs unseren Rahmen sprengen und muß einer eigenen Studie vorbehalten bleiben. Für eine Geschichte der politischen Bildung, die diesen Namen verdiente, müßten die einschlägigen theoretischen Selbstdarstellungen der politischen Bildung nämlich mit einer ganzen Reihe anderer gesellschaftlicher Dimensionen korreliert werden: etwa mit den Untersuchungen zum politischen Bewußtsein überhaupt; mit den Prozessen der politischen, ökonomischen und ideologischen Machtentfaltung; mit den Standards der theoretischen und praktischen Traditionen und ihren Veränderungen; ferner müßten die Wechselwirkungen theoretischer Prozesse von den akademischen Theorie-Entwürfen über die Fixierung in Lehrplänen bis hin zur Art und Weise der Aufnahme durch das Bewußtsein der Lehrer, Schüler und Eltern aufgedeckt sowie die Rollen der öffentlichen und nicht-öffentlichen Meinung geklärt werden. Schon die Lebenserfahrung zeigt mannigfaltig, daß es über eine so wichtige gesellschaftliche Praxis wie die Erziehung - und besonders die politische Erziehung - wohl immer dominante, aber keineswegs einheitliche Vorstellungen gibt; daß diese Vorstellungen nicht nur abhängen von ökonomischen Interessen, sondern auch vom sozialen Status sowie vom "historischen Status" eines Individuums und einer Gruppe. Solche Prozesse und Dimensionen für die Erkenntnis zu entflechten, andererseits aber wieder in ihrem Zusammenhang theoretisch zu deuten, verdiente erst die Bezeichnung einer "Geschichte" der politischen Bildung.

Daran gemessen sind unsere Absichten im ersten Teil dieses Buches sehr viel bescheidener. Die Geschichte der politischen Bildung soll nicht lückenlos dargestellt werden, vielmehr soll der Leser - vor allem der Student - einen

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Einstieg vorfinden, der ihm einen Zugang zur Bearbeitung der wichtigsten Theorien in ihren gesellschaftlichen Kontexten ermöglicht. Die in diesem ersten Teil behandelten Texte werden gleichsam "exemplarisch" vorgestellt, als typische Verdichtungen bestimmter Strömungen und Prozesse, die sie ebenso darstellen wie bloß widerspiegeln. Es liegt auf der Hand, daß dabei Erklärungszusammenhänge oft nur angedeutet, dem Leser nur hypothetisch vorgestellt werden können. Da es uns aber nachhaltig auf Erkenntniszusammenhänge ankommt, werden die zu untersuchenden Texte nicht einfach additiv hintereinander abgehandelt, sondern unter dem Gesichtspunkt, welchen Fortschritt sie im Vergleich zum vorher behandelten möglicherweise erbracht haben.

Unser Verfahren, wenige Texte in diesem Sinne etwas gründlicher zu behandeln, hat allerdings den Nachteil, daß die Farbigkeit und Vielschichtigkeit der tatsächlichen Diskussion dabei nicht deutlich werden kann. Außerdem könnte der falsche Eindruck entstehen, als würde der Autor nur mit dem gerade zur Debatte stehenden Text identifiziert. Alle Autoren haben sich jedoch mehrmals und auch an anderen Stellen zum Problem geäußert; deshalb kann es auch nur um eine Würdigung des jeweiligen Textes selbst gehen, nicht um eine Würdigung des Autors im ganzen. Schließlich versteht sich von selbst, daß die knappen Referate der Texte deren Lektüre nicht ersetzen können.
 

Die Entwicklung der politisch-pädagogischen Diskussion

Die Ausgangssituation 1945

Das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hatte keine günstigen Voraussetzungen für den Neuanfang einer politischen Bildung geschaffen. Abgesehen von den allgemeinen Wirren der Nachkriegszeit, die allenthalben zur Organisation des bloßen Oberlebens zwangen, gab es - außer den

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bald diffamierten marxistischen Theorien - keine politisch-theoretischen Möglichkeiten zur Bearbeitung der barbarischen Vergangenheit, sondern nur eine moralische Abwehr. Zu gründlich hatte der Nationalsozialismus mögliche Alternativen zur bürgerlich-kleinbürgerlichen Tradition der politischen Selbstdefinition ausgerottet, als daß mehr als moralische Scham hätte zum Zuge kommen können. Die Lehrer und Hochschullehrer waren nahezu alle aktiv oder passiv in das NS-System verwickelt worden; kaum jemand war unbescholten genug, nun ungeniert für eine neue, demokratische Erziehung einzutreten. Selbst die meisten von denen, die sich der nazistischen Barbarei schämten, waren durch die autoritäre Erziehung geprägt, die sie selbst genossen hatten. Diejenigen, die aus der Nazi-Haft entlassen waren oder aus der Emigration zurückkehrten, waren zwar politisch unbescholten, aber nicht zahlreich genug, um eine neue demokratische Erziehung prägen zu können. Das politische Selbstbewußtsein der nach 1945 im Amt verbliebenen Lehrer war zerbrochen. Da politische "Säuberungen" schon deshalb kaum durchgeführt wurden, weil die entlassenen Lehrer so schnell nicht zu ersetzen gewesen wären, wurde diese Lehrergeneration im ganzen zu einer schweren Belastung für eine neue demokratische Erziehung, zumal sie nicht nur in den Schulen wirkte, sondern auch neue Lehrer in Hochschulen, Studienseminaren oder als Mentoren ausbildete.

Zunächst waren die Ministerien, deren politische Spitzen ausgewechselt worden waren, fortschrittlicher als die Lehrer. So gab es z. B. schon bald fortschrittliche Erlasse zur Sozialkunde und über die Schülermitverwaltung (SMV), aber diese Ansätze wurden überwiegend durch passiven Widerstand bzw. durch Unverständnis boykottiert.

Mit der allgemeinen politischen Bewußtseinslage korrespondierte eine pädagogische Vorstellung über die Aufgaben der Schule, die sich scheinbar gerade durch die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und dadurch rechtfertigen konnte, daß sie auf die Traditionen der Zeit vor 1933 zurückgriff. Ihre wichtigsten Momente waren:

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1. Die Schule sei gesellschaftlich und politisch exterritorial, d. h., nur pädagogische Ansprüche hätten in ihr Platz (und das sind konkret die, die die Lehrer selbst festlegen). Daß die sogenannte geisteswissenschaftliche "autonome Pädagogik" nach 1945 wieder so beherrschend werden konnte, ist vorwiegend dadurch zu erklären, daß sie sich vorzüglich als Kompensation für eine politisch angeschlagene Generation von Lehrern eignete; denn gerade auch diejenigen, die in der NS-Zeit die Politisierung der Pädagogik zugelassen und mitgemacht hatten, plädierten nun für "pädagogische Autonomie".

2. Politik gehöre nicht in die Schule, schon gar nicht als Parteipolitik, als politische Kontroverse, aber auch nicht in Gestalt eines Faches wie Soziologie oder Politikwissenschaft. Noch heute ist das Fach Politik in den Schulen kaum heimisch im Konzert der anderen Fächer, und wenn man es einführen will, muß man immer noch Umschreibungen wie "Gemeinschaftskunde" oder "Gegenwartskunde" wählen. Empirische Untersuchungen - z. B. Teschner (1968) und Becker (1967) - haben später gezeigt, daß diese eigentümliche, pädagogisch begründete Entpolitisierung der Politik nach wie vor im Bewußtsein der Lehrer vorherrscht.

3. In die Schule gehöre nur, was "bildend" sei, und eine Sache bilde um so eher, je weiter sie von den Ärgernissen des Alltages entfernt sei. Die Tradition, als klassische, kulturelle, künstlerische Tradition, galt als Hauptinhalt der Schule. Tradition als solche war bildend. Es handelte sich um einen Bildungsbegriff, den wir heute "affirmativ" (Marcuse) nennen würden: Er pfuscht den Mächten dieser Welt nicht ins Handwerk und bestätigt sie gerade dadurch; die Humanität erstrahlt in der Innerlichkeit des reinen Geistes. Eine so konzipierte Schule hatte weder Platz für Politik, noch auch für Publizistik, für Film und Fernsehen.

4. Um eine Sache bildend zu machen, bedürfe es - vor allem in der Vorstellung des Gymnasiums - der distanzierenden Läuterung durch die Wissenschaft. Dies hatte zur Folge, daß gegenwartsbezogene Gegenstände und ihre Disziplinen wie Zeitgeschichte, moderne Literatur und mo-

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derne Kunst lange Zeit keine Chance in den Schulen hatten, weil sie ja noch nicht abschließend wissenschaftlich erforscht waren.

Für die Aufgabe, eine demokratische Erziehung im allgemeinen und eine politische Bildung im besonderen zu formulieren, hatte die deutsche Erziehungswissenschaft kaum eine eigene Tradition. Die Nazi-Zeit kam dafür ohnehin nicht in Betracht. Aber auch die Zeit von 1918 bis 1933 bot wenig Vorbilder; es war der deutschen Pädagogik - jedenfalls der, die sich durchgesetzt hatte, der sogenannten geisteswissenschaftlichen bzw. Kulturpädagogik - weder theoretisch noch praktisch gelungen, Konsequenzen aus der Demokratisierung von 1918 zu ziehen (vgl. Goldschmidt u. a. 1969). Sowenig es in Deutschland eine stabile politisch-demokratische Tradition gab, sowenig gab es sie als pädagogisch-demokratische. Zwar hatte die Reformpädagogik mittelbar einen demokratischen Impuls, insofern sie die kindliche Spontaneität, die Selbsttätigkeit und eine weniger autoritäre Lehrer-Schüler-Beziehung vertrat. Aber erstens blieb sie im wesentlichen auf die Volksschule beschränkt und zweitens im Methodisch-Psychologischen haften; sie versuchte zwar, der Eigenständigkeit des Kindes methodisch gerecht zu werden, reflektierte diesen Ansatz aber nicht weiter gesellschaftlich; sie blieb unpolitisch, oder besser: autonom gegen die Gesellschaft (Goldschmidt, S. 21).

Ebenso hartnäckig, wie die Lehrerschaft sich weigerte, die pädagogische Praxis als eine demokratische zu thematisieren, weigerte sich die erziehungswissenschaftliche Theorie, den demokratischen Neuanfang zu einer theoretischen Neubesinnung zu benutzen. Sie sah dieses Problem überhaupt nicht. Im Gegenteil: Was man in den fünfziger Jahren als "Restauration" bezeichnete, nämlich das unreflektierte Anknüpfen an die Lage vor 1933, geschah in der Erziehungswissenschaft von Anfang an. Diejenigen Autoren, die die pädagogische Theorie der zwanziger Jahre schon bestritten hatten, beherrschten auch die Zeit nach 1945 (z. B. Spranger, Litt, Weniger, Nohl, Bollnow). Sie gaben

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entweder ihre alten Arbeiten neu heraus, ohne wesentliche Änderungen, oder formulierten ihre alten Gedanken in neuen Veröffentlichungen. Ihre Autorität war in Fachkreisen so unbestritten, daß erst Ende der fünfziger Jahre die nun etablierte Sozialwissenschaft neue politisch-pädagogische Konzepte nahelegen konnte.

Es gab 1945 - außer in der Emigration - so gut wie keine deutsche Sozialwissenschaft mehr. Dies war vielleicht die schlimmste aller Ausgangsbedingungen; denn schon vor 1933 hatte sich die deutsche Pädagogik als unfähig erwiesen, sozialwissenschaftliche Perspektiven und Ergebnisse produktiv zu verarbeiten. Nun mußte die politische Bildung erneut ohne sozialwissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Hilfen auskommen. Wer sollte aber die Gegenstände erforschen und beschreiben, die da zu lehren und zu lernen waren? Das, was eigentlich Aufgabe der Sozialwissenschaften gewesen wäre, blieb so Desideraten überlassen, und bis heute sind die politischen und sozialen Wissenschaften nicht an den ihnen im Rahmen der politischen Bildung gebührenden Platz in der Schule gelangt.

Diese knappe Skizzierung der Ausgangslage nach 1945 mag erklären, warum die politische Bildung und darüber hinaus eine demokratische Schulerziehung überhaupt einen derart schweren Start hatte. Wie nach 1918, so scheiterten auch diesmal neue Impulse von vornherein daran, daß die alten Institutionen und die alten Beamten mit den alten konservativen Vorstellungen im wesentlichen übernommen wurden.

Friedrich Oetinger

Den ersten umfassenden systematischen Versuch, der politischen Bildung nach 1945 eine theoretische Grundlage zu geben, unternahm Friedrich Oetinger ( = Theodor Wilhelm) mit seinem 1951 erschienenen Buch "Wendepunkt der politischen Erziehung. Partnerschaft als pädagogische Aufgabe", das seit der zweiten Auflage von 1953 den Titel

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"Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung" trägt. Wir benutzen in diesem Zusammenhang die 3. Auflage von 1955.

In seinem ersten Teil greift es zum Teil die eben skizzierte pädagogische Ideologie an, und das Buch ist überhaupt nur richtig zu würdigen, wenn man seine Intentionen mit dem vergleicht, was damals vorlag und wogegen es sich richtete.

Im Unterschied zu der schon damals herrschenden Neigung, an die Zeit vor 1933 wieder anzuknüpfen und den Nationalsozialismus als eine Pervertierung an sich guter Ideen und Ansätze zu verdrängen, geht Oetinger mit der gesamten Tradition der staatsbürgerlichen Erziehung ins Gericht: Es nutze gar nichts, die Traditionen der Zeit vor 1933 wieder zu mobilisieren, denn der Nationalsozialismus habe mit seiner Erziehung nur auf dem Boden gedeihen können, der vorher schon beackert worden sei. Es gehe also darum, nicht nur die Konsequenzen aus der NS-Erziehung zu ziehen, sondern auch aus der davorliegenden Tradition. Dabei lautet die Kernthese, daß ein realitätsgerechtes Verständnis des Politischen immer schon durch die neuidealistische Bildungsidee versperrt worden sei. Oetinger belegt dies an einer ganzen Reihe von Einzelmomenten, deren wichtigste lauten:

1. Der deutsche Staatsbürger war immer fixiert auf eine Art von "Staats-Metaphysik", d. h. auf einen Staat, der ihm als über-menschliches Subjekt gegenüberstand und dem er zu gehorchen und zu dienen hatte. Er verstand sich immer "unmittelbar" zum Staat; der ganze Bereich der gesellschaftlichen und sozialen Beziehungen, die zwischen Bürger und Staat existierten, war dagegen für die staatsbürgerliche Erziehung uninteressant. Da jedoch der Staat kein alltäglicher Aktionsraum für den Bürger sein konnte, brauchte dieser eben auch politisch nichts zu tun. Seine Aktivität beschränkte sich darauf, den Staat zu verstehen und ihm im übrigen zu gehorchen. Daran hat auch der politische Umschwung von 1918 nichts geändert.

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2. Dem entsprach eine abstrakte Auffassung von Pflicht, ein Begriff, der in der Literatur zur staatsbürgerlichen Erziehung eine dominierende Rolle spielte. Kants kategorischer Imperativ, die philosophische Grundlage des Pflichtverständnisses, löste die Pflicht aus den realen Lebensbezügen. So konnte pflichtgemäßes Verhalten ohne kritische Prüfung der konkreten Wirklichkeit geschehen. Je formaler auf diese Weise die Pflicht wurde, um so weniger hatte sie z. B. auf die konkreten Folgen zu achten, die aus pflichtgemäßem Handeln erwuchsen.

3. In dem Maße, wie die staatsbürgerliche Erziehung die formale staatsbürgerliche Pflicht in den Vordergrund stellte, wurden spontanes Engagement, Solidarität sowie alle Formen des Gefühls und der Leidenschaften eliminiert, weil sie in einem solchen Zusammenhang nur Störfaktoren sein konnten. Wie aber "sollte eine politische Gemeinschaft gedeihen, wenn sich die Schule gar nicht für die konkreten, vollen Sachverhalte und Erscheinungen des öffentlichen Lebens selbst interessierte, sondern nur für die Frage, ob und inwieweit sie sich für eine formale Willensbildung auswerten ließen?" (S. 26). Auf diese Weise kam Politik nur in Gestalt des Staates in die Schule, und nur mit dem Zweck, eine individuelle formalisierte Sittlichkeit zu erzeugen, die sich praktisch nicht bewähren mußte.

4. Diese individuelle Sittlichkeit orientierte sich nicht an der Auseinandersetzung mit dem realen Staat, so wie er war, sondern an der Idee des guten Staates. Der gute Staat und der darauf eingestellte gute Staatsbürger, der nach dem Motto des kategorischen Imperativs handelte, sollten sich entsprechen. Auf diese Weise konnte der schlechte wirkliche Staat durch die Idee des guten Staates erträglich gemacht werden. Die Aufgabe des politischen Bürgers bestand in erster Linie darin, den bestehenden und den idealen Staat zu "verstehen", nicht etwa darin, den realen Staat aktiv zu verändern.

5. Auf diese Weise verflüchtigte sich auch der Begriff der politischen Freiheit. "Freiheit war im Sinne der klassischen Staatsbürgerphilosophie diejenige Verfassung der mensch-

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lichen Seele, die den Anruf der Pflicht nicht als Zwang empfand." Es ging nicht um konkrete Freiheiten (z. B. im Rahmen von Selbstverwaltungen), sondern wiederum nur um jene abstrakte Beziehung zwischen Individuum und Staat.

6. Das Verhältnis des Bürgers zur Macht war gebrochen. Macht wurde nur dem Staat zugestanden und bloß moralisch interpretiert. Außerstaatliche, z.B. ökonomische Macht oder die Macht von Verbänden und Parteien geriet nicht in den Blick, und die Moralisierung der Macht führte leicht zur sittlichen Rechtfertigung aller staatlichen Machtanwendungen, weil die konkreten Folgen für konkrete Menschen nicht zu den moralischen Kriterien gehörten. "Im Durchschnittsunterricht vereinfachten sich die Machtfragen zur Frage der edlen und unedlen Gesinnung des jeweils zu behandelnden politischen Helden" (S. 48). Da die Macht ausschließlich eine Aktivität des Staates war, legte sich der Akzent der Betrachtung folgerichtig auf die Außenpolitik und hier - vor allem vor 1918 - auf den Krieg. Die politischen Helden, die des Unterrichts für würdig erachtet wurden, waren vornehmlich kriegerische Helden.

Von heute aus gesehen muß man zwar fragen, ob Oetinger die bürgerliche politische Ideengeschichte im ganzen gerecht gewürdigt und ob er nicht die emanzipatorischen Momente der Idee der bürgerlichen Bildung zu schnell mit abgewiesen hat. Zudem ist die Frage, ob er genügend zwischen den ursprünglichen Intentionen dieser Ideen und ihrer Adaptation durch das Bildungsbürgertum unterschieden hat. Zweifellos jedoch hat er sowohl diese Adaptation wie auch deren Auswirkungen auf den staatsbürgerlichen Unterricht richtig beschrieben.

Gemessen an der Ausführlichkeit, mit der die "staatsbürgerliche Erziehung" vor 1933 kritisiert wird, wird bei Oetinger die "nationalpolitische Erziehung" von 1933 bis 1945 verhältnismäßig kurz abgehandelt. Der wesentliche Gesichtspunkt ist, daß die eben beschriebenen Maßstäbe

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der staatsbürgerlichen Erziehung nicht in der Lage gewesen seien, die zunehmende Irrationalisierung und Unvernunft der Politik wirksam zu bekämpfen. Je weniger es im Gegenteil schon vorher auf die konkreten Bedingungen konkreter Menschen ankam, um so leichter sei es nun gefallen, die überkommene Staatsmetaphysik auf den neuen Führer-Staat zu übertragen.

Gegen diese "Staatsmetaphysik" entwickelte Oetinger sein Konzept der "Partnerschaft". Es geht ihm dabei nicht um eine Erziehung ohne oder gar gegen den Staat, sondern darum, "seine ideale Verabsolutierung zu verhindern, indem der Staat als die politische Organisation des gemeinsamen Lebens sichtbar bleibt" (S. 81). Die Politik soll vom Kopf des abstrakten Staates auf die Füße der konkreten sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen gestellt werden, die sich in den sogenannten "Spielregeln der Partnerschaft" wie folgt darstellen:

1. "Das Spielfeld muß möglichst übersichtlich sein; ich muß jeden Spieler deutlich sehen und die Bewegungen des Balles einwandfrei verfolgen können" (S. 141). Voraussetzung dafür ist, daß auch das politische Leben so organisiert wird, daß eine solche Übersichtlichkeit hergestellt werden kann.

2. Es muß "Namentlichkeit" gewährleistet sein, d. h., man darf die Partner nicht nur in einer Funktion, als Funktionäre zur Kenntnis nehmen, sondern muß sie als Menschen ansprechen. Dabei geht es jedoch nicht um "Vertraulichkeit", sondern um "Vertrauen". d. h. um emotional vergleichsweise distanzierte Beziehungen.

3. Wesentliches Ziel des partnerschaftlichen Verhaltens ist die "Kompromißbereitschaft", d. h. die Absicht, zwischen widerstreitenden Meinungen und Ideen praktische Lösungen zu finden.

4 Dazu ist eine tolerante Grundeinstellung der Partner zueinander nötig. Gemeint ist damit jedoch nicht diejenige Einstellung, die die eigene Meinung von vornherein für richtig hält und die andere nur deswegen duldet, weil sie

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als Irrtum nicht aus der Welt zu schaffen ist, sondern die Gewißheit, daß man selbst seiner Wahrheit nicht ganz sicher sein kann und sich dafür offenhalten muß, die Position des Partners als die richtigere irgendwann selbst einmal zu übernehmen.

Oetingers Buch hat in den fünfziger Jahren eine beachtliche Wirkung ausgeübt. In den Volks- und Berufsschulen war es nicht zuletzt deshalb beliebt, weil man mit ihm praktisch-pädagogisch arbeiten konnte. Es animierte die Lehrer im politischen Unterricht einen - im guten Sinne des Wortes - "gesunden Menschenverstand" walten zu lassen, und verpflichtete sie nicht unbedingt auch, sich systematische politische oder sozialwissenschaftliche Kenntnisse für ihren Unterricht zu erwerben. Allerdings war diese Wirkung einigermaßen ambivalent: Einerseits konnte man in der Schule wirklich etwas tun mit diesem Buch, z. B. die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern ändern, einen neuen Stil des Zusammenlebens prägen; andererseits ließ sich damit jedoch auch wieder die Flucht vor politischem Nachdenken und Handeln stützen. Wenn man auf der persönlichen Ebene partnerschaftlich verfuhr, so konnte man meinen, braucht man sich nicht weiter intellektuell und wissenschaftlich um Politik zu kümmern Oetinger hat diese Gefahr selbst gesehen und sich gegen den Beifall von er falschen Seite gewehrt: "Sie sagen Partnerschaft, um sich von der Politik zu erlösen" (S. 3).

Eine vielleicht noch größere Wirkung erzielte das Buch jedoch im Bereich der sozialen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen selbst. "Partnerschaft" wurde in den fünfziger Jahren zum Schlagwort für "fortschrittliche" Vertreter der Wirtschaft und ihre Tendenz, nun nicht mehr von Lohnkämpfen und von Klassenkämpfen zu reden, sondern von der Besserung der menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz, von Sozialleistungen usw. Die durchaus kämpferisch gemeinte Idee der Partnerschaft wurde auf das Motto: "Seid nett zueinander" verkürzt, was wiederum ambivalente Folgen hatte: Einerseits verbesserten sich

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auf diese Weise zweifellos die unmittelbaren menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz und auch in der Schule; andererseits aber wurde in dieser Modifizierung das Suchen nach gerechten Lösungen wie überhaupt das Suchen nach inhaltlichen Bestimmungen der neuen Demokratie diffamiert. Oetinger hatte das Suchen nach Wahrheit ausdrücklich dem Prozeß der Kooperation untergeordnet; Wahrheit, oder genauer: das, was an der Wahrheit allein sozial interessant ist, war das, was aus der Kooperation herauskam. Es gab keine gemeinsame Idee (z. B. über den Inhalt von Demokratie), auf die hin die Partner verpflichtet gewesen wären. Die wachsende Beliebtheit der Partnerschaftsidee bei den gesellschaftlich Mächtigen (z. B. bei den Unternehmern) hat sie bei der deutschen Linken von Anfang an politisch verdächtig gemacht.

Bevor wir rückblickend die Schwächen dieser Konzeption genauer untersuchen, sei zunächst von dem die Rede, was die Diskussion zweifellos weitergebracht hat:

1. Der vielleicht bedeutendste Teil des Buches bestand in der radikalen Kritik der überlieferten politischen Erziehung in Deutschland und der deutschen Bildungstheorie überhaupt. Letzten Endes handelt es sich dabei um eine fundamentale Kritik der überlieferten Erziehungswissenschaft im ganzen. Auch wenn diese Kritik heute mit verfeinerten Methoden und mit den dialektischen Ansätzen der sogenannten "kritischen Theorie" präzisiert werden müßte, hat sie damals ohne Zweifel das bildungsbürgerliche Bewußtsein in seinem Kern richtig getroffen. Im wesentlichen ist darüber die historische Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft auch heute noch nicht hinausgekommen.
 
 

2. Wichtig war ferner die Aufhebung der alten Trennung von Staat und Gesellschaft, von "politisch" und "sozial". Die durchgehende Politisierung des ganzen menschlichen Lebens, aller sozialen Bezüge, hat Oetinger als erster deutscher Pädagoge der Nachkriegszeit mit dieser Deutlichkeit gesehen. Er hat die politische Erziehung mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es in der Politik um die Bewäl-

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tigung konkreter Situationen und um das Agieren konkreter Menschen und Gruppen geht, und nicht in erster Linie um Feldschlachten abstrakter Begriffsgespenster.

3. Dabei vermochte sein Ansatz gerade wegen seiner offenen, undogmatischen Systematik die politische Erziehung zu öffnen für neue Probleme, für neue wissenschaftliche Ergebnisse, insbesondere empirischer Art. Oetinger selbst hat seinen Ansatz als eine geordnete Sammlung von Bausteinen verstanden, die auch für die Unterrichtspraxis unmittelbar nutzbar sein sollten.

4. Oetingers Buch setzte sich nachdrücklich für die Demokratisierung der unmittelbaren menschlichen Beziehungen (z. B. in der Schule) ein. Zumindest in diesem Punkte hat es die überlieferte pädagogische Vorstellung von der politischen Exterritorialität der Schule abgewiesen. Mit Recht wies es darauf hin, daß man jungen Menschen demokratische Ansprüche nicht im Unterricht einreden kann, wenn die Schule selbst die dazugehörenden Erfahrungen von Freiheit, Selbständigkeit und Zivilcourage verweigert. Dabei wurden Einsichten vorweggenommen, die erst in den letzten Jahren als "demokratischer Führungsstil" bzw. "gruppendynamisches Verhalten" stärker zum Zuge gekommen sind.

Fragt man nach den Schwächen des Buches, so lassen sich ruckwirkend die im folgenden genannten Gesichtspunkte aufführen:

1. Oetinger unterschätzte die Bedeutung des systematischen, zusammenhängenden Wissens. Zwar wurde die Bedeutung des Unterrichts nicht ausdrücklich geleugnet, aber die Lehrstoffe wurden in erster Linie danach beurteilt, inwieweit sie den Gedanken der Partnerschaft darstellen konnten. Auf diese Weise bot Oetinger den Lehrern eine Chance, die wirklich brisanten politischen Stoffe zu umgehen. Hinreichende Kriterien für die Auswahl der politischen Stoffe gab das Buch dem Schulunterricht also nicht an die Hand.

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2. Bei aller berechtigten Kritik an der von der kulturphilosophischen Pädagogik betriebenen blutleeren Staats- und Gesinnungsbildung wurde die Bedeutung eines theoretischen Bewußtseins für eine demokratische politische Erziehung doch unterbewertet. So befreiend es zunächst einmal war, von den überlieferten Ideologien wegzukommen und die Produktion von neuen politischen Ideen und die Bestimmung der Inhalte der neuen Demokratie einfach der Kommunikation der Partner zu überlassen, so hatte dies doch auch bedenkliche Folgen. Auf diese Weise wurden alle Versuche, das Ganze unserer politisch-gesellschaftlichen Realität ins Bewußtsein zu nehmen, um auf diese Weise die Menschen zu Herren ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse im ganzen zu machen, implizit als politisch wie pädagogisch unwichtig angesehen. Wer über die Vordergründigkeit praktischer Regelungen durch die Partner hinaus nach dem Sinn des Ganzen fragte, galt leicht als Störenfried. Diese Akzentverschiebung hatte Oetinger zwar nicht gewollt, für ihn gehörte der Austausch der ideellen Gegensätze mit zur Partnerschaftlichkeit; aber da er für die ideelle, theoretische Dimension der partnerschaftlichen Kommunikation keinerlei Hinweise gegeben hatte, konnte man leicht daraus schließen, er halte sie überhaupt für unwichtig. So gab es eigentlich keine rationale Instanz, der die kommunizierenden Partner sich gemeinsam hätten unterwerfen müssen. So hätte es z. B. zu den "Spielregeln" der Partnerschaft gehören können, die Verfahren und Ergebnisse des Kommunikationsprozesses wissenschaftlicher Nachprüfung zu unterwerfen. Derartige Hinweise fehlen aber. Was die Partner denken, unterliegt also keiner Instanz, die im Denken selbst verankert wäre, sondern es beurteilt sich lediglich danach, wie und ob sich jemand mit seinem Denken den Regeln der partnerschaftlichen Kooperation unterwirft. Auf diese Weise aber fallen Wissenschaft und gesellschaftliche Praxis bedrohlich auseinander; denn für die Aktionen der Partner ist es nun gleichgültig, ob und wie sie über ihr Handeln reflektieren. Es widerspricht z. B. den Regeln der Partnerschaft nicht, wenn die Sozial-

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partner auf partnerschaftlichem Wege zu Vereinbarungen kommen, die wissenschaftlichen Ergebnissen und Prognosen entschieden widersprechen. Und es ist auch nicht unpartnerschaftlich, wenn Lehrer sich hartnäckig weigern, für ihren pädagogischen Betrieb neue Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen - es sei denn, solche Erkenntnisse würden den Lehrern in ganz persönlicher Begegnung präsentiert.

3. In der Idee der Partnerschaft wurde schließlich die Realität der gesellschaftlichen Machtverhältnisse erheblich unterschätzt. "Abbau der herrschaftlichen Beziehungen", woran Oetinger so viel gelegen war, war für ihn in erster Linie der Abbau individueller und persönlicher Herrschaftsbeziehungen (Schüler-Lehrer; Arbeitgeber-Arbeitnehmer). Was dabei nicht in den Blick kam, war, daß sich in modernen Gesellschaften Herrschaft nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt so personalisieren läßt, sondern daß sie sich in eigentümlich anonymen Systemen aufbaut (Bürokratie; Industrie; abstrakter Leistungszwang in der Schule und anderes). Außerdem sind die Startchancen, insbesondere die ökonomischen, für die Partner in der Regel ungleich; die einen (z. B. die Lehrer) sind in der Regel mächtiger als die anderen (die Schüler). Diese Ungleichheit ist durch die Spielregeln der Partnerschaft nicht ausgleichbar. Daraus erklärt sich, daß die Partnerschaftskonzeption schon früh als politisch reaktionär angesehen wurde, als eine Ideologie, die die Beteiligten nur scheinbar gleichmacht, während ihre tatsächliche Ungleichheit ungebrochen aufrechterhalten bleibt, ja sich unbemerkt noch verstärken kann.

4. Schließlich zeigten die "Spielregeln" der Partnerschaft auch eine Fehleinschätzung objektiver, vom Willen der einzelnen Menschen unabhängiger gesellschaftlicher Realitäten. Uns heute geläufige soziologische Interpretations-Modelle wie die Rollen-Theorie oder die System-Theorie lassen die Hoffnung illusorisch erscheinen, man könne den Partner losgelöst von seiner funktionalen Rolle sehen oder das "Spielfeld" der gesellschaftlichen Beziehungen ließe

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sich wirklich "überschaubar" organisieren. In solchen Punkten verdrängte Oetinger das politisch-gesellschaftlich Mögliche durch das pädagogisch Wünschbare.
 

Theodor Litt

Oetinger erhielt Widerspruch vor allem von denjenigen, die er selbst angegriffen hatte: vor allem von Erich Weniger (1952) und von Theodor Litt (1957), die wie andere Vertreter der "geisteswissenschaftlichen" Pädagogik ihre wissenschaftliche Position im ganzen in Frage gestellt sahen. Litt geht in seiner Schrift davon aus, daß die Errichtung eines demokratischen Staates in Deutschland das traditionelle Erziehungsverhältnis der Generationen aufheben müsse. Da nämlich die Erwachsenen selbst noch lernen müßten, sich das neue politische Bewußtsein anzueignen, könnten sie es auch noch nicht auf dem Wege der Erziehung an die Jüngeren weitergeben. Aus diesem Grund nehme der politische Unterricht eine Sonderstellung im Kanon der Schulfächer ein.

Die pädagogischen Konsequenzen dieses richtigen Ausgangspunktes verfolgt Litt allerdings nicht weiter; daraus hätte sich z. B. folgern lassen, daß nun auch der "pädagogische Bezug" zwischen Schülern und Lehrern sich grundlegend ändern müßte - jedenfalls soweit es sich um die politische Erziehung handelt. Vielmehr leitet Litt daraus ab, daß aus diesem Grunde der Anteil des Bewußtseins in Fragen der Politik in Deutschland erheblich höher sein müsse als in den westlichen Demokratien. An die Stelle selbstverständlich überlieferter Einstellungen, Verhaltensweisen und Vorstellungen müßten bei uns bewußte Reflexionen treten. Kernpunkt dieser Reflexionen müsse dabei das "Wesen des Staates" sein. "Der Deutsche muß recht eigentlich 'wissen' um den Staat, um ihm durch sein Tun gerecht werden zu können" (S. 57). Die Argumentation wird entwickelt in der Auseinandersetzung mit Autoren,

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die den Staat entweder unterbewertet (z. B. Kerschensteiner, Foerster und Oetinger) oder überbewertet haben (z. B. Carl Schmitt).

Aktuell jedoch war die Schrift vor allem gegen Oetingers "Partnerschaft" verfaßt, der Litt folgende Irrtümer vorhält:

1. Oetinger hat die Ebenen des Politischen und des Sozialen unzulässig vermischt. Gegen die Partnerschaft ist solange nichts einzuwenden, wie sie sich auf die sozialen Beziehungen der Menschen beschränkt. Der Ort der Politik ist aber der Staat, der mehr ist als ein Sonderfall der sozialen Beziehungen. Der Staat ist die notwendige Voraussetzung für das geordnete soziale Leben und kann ihm daher nicht nebengeordnet werden. "Nur im Rahmen und auf dem Boden der Lebensordnung, deren Zuverlässigkeit einzig und allein durch den Staat garantiert wird, kann das gesellschaftiche Leben jene Formen der Verständigung und Zusammenarbeit hervorbringen und betätigen, die wegen ihrer 'Friedlichkeit' des Beifalls der Wohlgesinnten sicher sind. Wo diese Ordnung fehlt oder auch nur brüchig ist, da entfällt auch die Möglichkeit einer auf gütlicher Vereinbarung beruhenden Kooperation. Denn diese Kooperation würde im Wirbel der Unordnung untergehen" (S. 70). Demnach kann sich partnerschaftliches Verhalten schon deshalb nicht auf den Staat erstrecken, weil dieser unter Umständen Zwang anwenden muß, um den Frieden der sozialen Ordnung garantieren zu können.

2. Um diese Ordnungsfunktion wahrnehmen zu können, muß der Staat Macht anwenden. Der ständige Kampf um die Macht im Staat mit dem Ziel, bestimmte Ordnungsideen durchzusetzen, macht das Wesen des Politischen aus. Das gilt grundsätzlich für alle denkbaren Staatsformen, charakteristisch für den demokratischen Staat ist nur, daß hier eine Mehrheit von Ordnungsideen im Kampf um die Macht zugelassen wird, im Unterschied zum totalitären Staat, der nur eine einzige Ordnungsidee erlaubt. Wird dieser reale Zusammenhang von Staat - Ordnung -

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Macht - Kampf um die Macht übersehen, so wird der Kampf als eine Ausartung des menschlichen Zusammenlebens denunziert; verbissener Fanatismus wird genährt und der Gegner zu einem zu liquidierenden dummen oder niederträchtigen Schädling der menschlichen Gesellschaft erklärt.

Im Gegensatz zu Oetinger fordert Litt deshalb eine politische Erziehung, die direkt auf den Staat zielt und Einsicht in das Wesen des Staates hervorbringt. Die Idee der partnerschaftlichen Erziehung könne ihre Berechtigung nur auf den sozialen Bereich erstrecken, nicht jedoch auf den politischen.

Die Wirkung dieser Schrift war beachtlich. Sie erreichte vor allem durch die Unterstützung der "Bundeszentrale für Heimatdienst" (jetzt: "Bundeszentrale für politische Bildung") in Bonn eine erhebliche Verbreitung und kann als eine "klassische" Schrift der restaurativen Epoche der fünfziger Jahre bezeichnet werden. Sie griff nicht nur das Klischee vom Unterschied des Politischen und Sozialen wieder auf, sondern auch das weitere vom Widerspruch von Totalitarismus und Demokratie. Die einfache Kennzeichnung dieses letzteren Unterschiedes war: Im Unterschied zum Totalitarismus dürfen im demokratischen Staat konkurrierende Ideen um die Macht im Staate kämpfen - was nur die Kehrseite der Idee von der "pluralistischen Gesellschaft" war. Dabei implizierte die Schrift ein kontemplatives, distanziertes Verhältnis der Bürger zur konkreten Politik. "Einsicht in das Wesen des Staates" war primär eine kontemplative Leistung, aus der allenfalls alle vier Jahre eine Wahl als bürgerliche Aktivität folgte. Daran änderte auch nichts der richtige Hinweis, daß das richtige Denken immer selbst schon eine Form von vernünftiger Aktivität sei: "Wo der Mensch mit Menschlichem befaßt ist, da ist jedes Aufleuchten echter Einsicht schon ein Anderswerden in der Richtung auf das entsprechende Tun - da ist jeder Durchbruch echten Tuns das Aktuellwerden einer die Richtung weisenden Einsicht" (S. 56).

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Auf den ersten Blick scheint Litt gerade die Mängel aufgegriffen zu haben, die bei Oetinger eben erörtert wurden. Aber Litt gab diesen kritischen Ansätzen zugleich eine Wendung, die nun ihrerseits überprüft werden muß.

1. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist - sieht man auf die Realität des politischen Lebens - sehr viel komplizierter, als es bei Litt erscheint. Die schon bei Marx zu findende Einsicht, daß der Staat die höchste Veranstaltung der Gesellschaft sei, hätte zumindest diskutiert werden müssen. Tatsächlich kommen die wichtigsten Impulse für die staatliche Gestaltung aus den Konflikten des allgemeinen, eben gesellschaftlichen menschlichen Lebens. Gerade diese Prozesse zu studieren, wie nämlich Staat und Gesellschaft miteinander verschränkt sind, welche Ideen und Interessen dabei Macht aufbauen und wieder abbauen, wäre doch wohl Aufgabe einer politischen Bildung. Statt dessen treten bei Litt abstrakte Begriffe ihre Herrschaft über die Wirklichkeit an. Wiederum reicht es aus, den Staat bloß zu "verstehen". Politik wird so wieder zum "Schicksal", nicht zum Instrument lebender Menschen, mit dem sie ihr Wohlergehen verbessern. Wenn Litt von der "bitteren Notwendigkeit" des Kampfes um die Macht spricht, hört man den Unterton von der Politik als schmutzigem, ungeistigem Geschäft deutlich mit heraus.

2. Der Kampf um die Macht, den Oetinger nicht geleugnet hatte, kann ebensowenig mit dem Blick auf die Staatlichkeit und mit dem Bemühen des Staates um Ordnung erklärt werden. Die gleichen Machtgruppen z. B., die in den fünfziger Jahren unseren Staat beherrschten, sorgten auch dafür, daß unser Bildungswesen rückständig blieb und daß der Reichtum sich in wenigen Händen akkumulierte. Und es gibt Macht, die sich gar nicht erst auf die Ebene des Staatlichen begeben muß und darf, um sich reproduzieren zu können; z. B. die Macht der Erzieher über ihre Zöglinge, der freien Wohlfahrtsverbände und Kirchen im Rahmen der sozialen Hilfe und Fürsorge usw. Indem Litt die Macht und den Kampf nur dem Staat vorbehält mit dem

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ausdrücklichen Ziel, auf diese Weise den Bereich des Sozialen zu befrieden, verficht er auf einer neuen Ebene nur das, was er Oetinger vorwirft: die Dämonisierung aller Macht - diesmal nur im außerstaatlichen Bereich.

3. Machtkämpfe werden bei Litt vorwiegend als Kämpfe von Ideen wahrgenommen. Nun sind allerdings Machtansprüche in dem Moment, wo sie sich formulieren, auch Ideen. Aber interessant und für die Reflexion ergiebig wird dieser Vorgang doch erst dann, wenn man dahinterkommt, aufgrund welcher Interessen und Traditionen solche Formulierungen erfolgen. In der Darstellung Litts erscheint die Sache so, als ob es nicht die Interessen, sondern die politischen Ideen wären, die die Menschen in die Arena des politischen Kampfes hineinmanövrieren.

4. Die Bestimmungen der Begriffe Macht, Ordnung usw. erfolgen bei Litt ganz formal, ohne jede nähere inhaltliche Kennzeichnung. Sie gelten für jeden denkbaren Staat und für jede denkbare historisch-politische Verfassung. Auf diese Weise gerät die Inhaltlichkeit dessen, was Demokratie sein könnte und müßte, gar nicht erst in den Blick. Die einzige Kennzeichnung für das spezifisch Demokratische ist die formale Pluralismus-Theorie: Mehrere Ideen dürfen um die Macht im Staate kämpfen. Warum das so ist, wodurch das eigentlich garantiert wird, aus welchem Grunde der Staat, einmal von einer bestimmten Idee okkupiert, eigentlich noch zulassen oder gar gewährleisten soll, daß eine andere konkurrierende Idee die herrschende ablösen soll, was die einmal herrschende Idee dann doch wohl als Störung der staatlichen Ordnung empfinden und eigentlich - gemäß den Vorstellungen Litts - gerade deshalb bekämpfen müßte, all dies bleibt unklar und undiskutiert. Diese inhaltliche Unklarheit signalisiert schließlich eine frappante Geschichtslosigkeit des theoretischen Ansatzes. Für die Einführung einer Demokratie in Deutschland scheint es eigentlich keinen erkennbaren Grund außer dem zu geben, daß nach dem verlorenen Krieg die Sieger uns dazu gezwungen haben. Daß Theorien über den Staat immer geschichtliche Ideen sind, die gegen bestimmte und

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für bestimmte Interessen formuliert werden, kommt nicht in die Diskussion. Ebenso problematisch ist es, die kritisierten Irrtümer der von Litt vorgeführten Autoren ohne Rücksicht auf die jeweils materiellen Unterschiede zu behandeln. Den kritisierten Theorien Kerschensteiners, Foersters und Schmitts werden bloße Denkfehler vorgehalten, während man doch ebenfalls fragen muß, warum in ihrer Zeit diese Denkfehler ein solch großes Publikum gefunden haben.

Litt hatte mit seiner Schrift wieder den Anschluß an die Zeit vor 1933 vollzogen, was Oetinger gerade vermeiden wollte. Die Kontroverse Oetinger - Litt war der Anfang und zugleich das Ende dessen, was die akademische Fachpädagogik zum Problem der politischen Bildung grundsätzlich zu sagen hatte. Bis Anfang der sechziger Jahre ging die Diskussion darüber nicht hinaus, allenfalls brachte sie im Prinzip unwichtige Modifikationen hervor. In ihrer zeitlichen Reihenfolge entsprachen beide Konzepte dem Stand des jeweiligen allgemeinen politischen Bewußtseins und der diesem entsprechenden Realität. Auch von seiner Wirkung her war Oetinger der Autor des offenen Neuanfangs, Litt dagegen der Autor des bereits fest etablierten konservativen Establishments.
 

Übergang

Gleichwohl ergaben sich seit etwa Mitte der fünfziger Jahre neue Diskussionsansätze, die die Unfruchtbarkeit der eben geschilderten Kontroverse zu überwinden trachteten, sich aber zunächst mit Einzelfragen beschäftigten, ohne insgesamt eine theoretische Alternative anzubieten. Vor allem folgende Ansätze lassen sich unterscheiden:

1. In den Gymnasien bemühte sich eine Gruppe von Fachdidaktikern, didaktisch-methodische Grundlagen für den

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politischen Unterricht zu erarbeiten. Dafür war die eben geschilderte Kontroverse zu abstrakt. Litt bot ohnehin kaum didaktische Anhaltspunkte, und Oetinger offerierte dem fachlichen Selbstverständnis der Gymnasiallehrer zu wenig geeignete Unterrichtsstoffe. Die Prinzipien-Kontroverse der Universitätspädagogik half also den gymnasialen Praktikern wenig, und diese orientierten sich daher auch eher an der Zeitgeschichte, später auch an der jungen politischen Wissenschaft. Ihr praktisches Problem war, was sie eigentlich unterrichten sollten und was dabei herauskommen sollte. Diese Diskussion bewegte sich weitgehend unterhalb der prinzipiellen Kontroverse, bereitete aber den Boden für die spätere Weiterentwicklung der prinzipiellen theoretischen Diskussion vor. Sie artikulierte sich vor allem in der Zeitschrift "Gesellschaft - Staat - Erziehung" (vgl. unter anderen Bodensieck 1958; Hilligen 1958; Kindler 1960; Matthewes 1959; Messerschmid 1958 und 1961; Lorenz Müller 1956; Rohlfes 1960).

In den Volks- und Berufsschulen fand übrigens eine vergleichbare theoretische Diskussion damals nicht statt. Die Gründe können wir hier nur andeuten: Die Volks- und Berufsschule stand in einer ganz anderen pädagogisch-ideologischen Tradition als das Gymnasium. Weniger die rational-intellektuelle Bearbeitung der Welt stand dort zur Debatte, als vielmehr die volkstümlich-gemüthafte Identifizierung mit den nahen Gegebenheiten (vgl. Giesecke 1972). Man übersieht in diesem Zusammenhang allzu leicht, daß die klassenmäßig separate Entwicklung der Volks- und Berufsschule sich bis in die didaktischen und methodischen Theorien und bis in das Selbstverständnis der jeweiligen Lehrer-Gruppen erstreckt hat. Ferner waren Volks- und Berufsschullehrer damals im allgemeinen zu wenig theoretisch und fachlich ausgebildet, als daß sie in nennenswertem Maße sich an solchen Diskussionen hätten beteiligen können. Die politische Bildung in diesen Schularten wurde erst Mitte der sechziger Jahre zum Problem, nachdem Kudritzki (1962) die Theorie der volkstümlichen Bildung vorsichtig kritisiert hatte und als vor allem Engel-

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hardt, Hilligen und K. G. Fischer in ihren Arbeiten vornehmlich auch die Volks- und Berufsschule berücksichtigten.

2 Ebenfalls seit Mitte der fünfziger Jahre schaltete sich die neu etablierte politische Wissenschaft in die Diskussion ein. Sie war naturgemäß weniger an didaktisch-methodischen Entwürfen interessiert, als vielmehr daran, das Politikverständnis der politischen Bildung den Erkenntnissen ihrer eigenen Disziplin anzugleichen, an die Stelle herkömmlicher politischer Philosophie und der überlieferten Dominanz der Geschichtswissenschaft politikwissenschaftliche Untersuchungen und Verständnismodelle zu setzen. So hat A. Bergstraesser (1961) die Spezifität des Politischen im Unterricht durchsetzen wollen; H. Mommsen (1962) und W. Besson (1963) kritisierten die bürgerliche Geschichtswissenschaft und deren Folgen für das politische Bewußtsein; K. Sontheimer (1963) warf der politischen Bildung illusionäre Zielerwartungen vor; H. Tietgens (1960) machte auf falsche Prämissen der herrschenden politischen Bildung aufmerksam, und M. Greiffenhagen (1963) plädierte dafür, die falsche Gleichsetzung von Kommunismus und Nationalsozialismus im Begriff des "Totalitarismus" aufzugeben.

3. Bis etwa zum Jahre 1958 fand die politische Bildung m der öffentlichen Meinung ein verhältnismäßig geringes Interesse. Das änderte sich schlagartig, als in diesem Jahr Gruppen von Jugendlichen Hakenkreuze und Nazi-Parolen an öffentliche Gebäude, Synagogen und auf jüdische Grabsteine schmierten. Damit war die politische Bildung zu einem Politikum ersten Ranges geworden, denn die mühsam verdrängte NS-Vergangenheit war nun für die ganze Weltöffentlichkeit wieder sichtbar und zur beängstigenden Gegenwart geworden. Die Hakenkreuzschmierereien erschienen der Öffentlichkeit vor allem deshalb so bedrohlich, weil sie mit den herrschenden Vorstellungen über rationale politische Einsicht und rationales politisches Verhalten unvereinbar waren. Hier zeigte sich zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Grenze einer

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auf bloß rationale Einsicht gegründeten politischen Bildung, die die Dimensionen des Kollektiv-Unbewußten außer acht ließ. In seinem Vortrag "Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit" (1960) stellte Adorno - geschult an der Lehre S. Freuds - eben diese Dimensionen des Unbewußten zur Debatte, die der rationalen Einsicht weitgehend unzugänglich sind, und riet der politischen Bildung unter anderem, an die unmittelbaren Interessen der Individuen anzuknüpfen, weil dabei noch am ehesten rationales Verhalten zu erwarten sei. Mit diesem Aufsatz von Adorno griff zum ersten Mal die sogenannte "Frankfurter Schule" mit ihrer wissenschaftlichen Position der "kritischen Theorie" in die unmittelbare Diskussion der politischen Bildung ein. Charakteristisch für diese Position war und ist, daß sie die Tradition der marxistischen Arbeiterbewegung, der marxistischen Gesellschaftskritik, über die Zeit des Nationalsozialismus hinweg rettete und auf eigentümliche Weise mit anderen theoretischen Ansätzen integrierte. Zu diesen anderen Ansätzen gehörte neben den Traditionen der klassischen bürgerlichen Philosophie vor allem auch die Lehre Sigmund Freuds, also die Lehre von den unbewußten Anteilen des menschlichen Verhaltens. Ende der sechziger Jahre, im Zusammenhang mit den Studentenunruhen, sollte die Position der "kritischen Theorie" noch eine bedeutende praktische Rolle spielen. Zunächst jedoch waren es eher die psychoanalytischen Theorie-Anteile, die der Prinzipien-Diskussion der politischen Bildung nun hinzugefügt und später vor allem von A. Mitscherlich (1963) weiterentwickelt wurden.

Diese wenigen Hinweise auf die Diskussion bis zum Anfang der sechziger Jahre zeigen, daß die Erziehungswissenschaft, also die Universitätspädagogik, aus dieser Diskussion praktisch ausgeklammert war. Oetingers "Partnerschaft" war zu Beginn der fünfziger Jahre die einzig wirkliche Innovation, spätere Innovationen kamen von anderen Sozialwissenschaften her. Die Tatsache jedoch, daß die Erziehungswissenschaft als eigentlich zuständige wissenschaftliche Disziplin bis Mitte der sechziger Jahre an den

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Diskussionsfortschritten nicht mehr beteiligt war, hat auch problematische Verengungen zur Folge gehabt, wie sich gleich zeigen wird.

Als repräsentativer Text für die längst überfällige Innovation der politisch-pädagogischen Theorie zu Beginn der sechziger Jahre soll nun die folgende Arbeit von J. Habermas vorgestellt werden, obwohl sie gar nicht ausdrücklich für die Theoretisierung der politischen Bildung verfaßt wurde. Man hätte mit guten Gründen auch einen anderen Text von einem anderen Autor wählen können, aber in diesem kommen die neuen Ansätze wohl am deutlichsten zur Geltung.

Jürgen Habermas

In seinem Kapitel "Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung", das der umfangreichen empirischen Untersuchung "Student und Politik" (1961) als theoretische Grundlegung vorangestellt ist, geht Habermas zwar nicht unmittelbar auf die bisher erörterten Autoren ein; indem er jedoch den politisch-pädagogischen Leitbegriff der "politischen Beteiligung" einer systematischen Kritik unterzieht, gewinnt er für die Überwindung der fruchtlosen Kontroverse neue wichtige Ansatzpunkte. Gerade in pädagogischen Vorstellungen spielte der Appell zur Teilnahme an politischen Wahlen, an gesellschaftlichen Verbänden, innerhalb der SMV oder in Jugendgruppen eine große Rolle.

1. Habermas wendet sich gegen die in den fünfziger Jahren vorherrschend gewordene Vorstellung, daß politische Beteiligung einen Wert an sich darstelle, daß politische Aktivität selbst schon, d. h. ohne Rücksicht auf die Inhalte und Ziele, zum politischen und pädagogischen Wert erhoben wurde. Er bezweifelt, daß ein guter Demokrat schon der sei, der möglichst viel in möglichst vielen Gremien mitarbeitet, ohne nach Ziel und Zweck weiter zu fragen.

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2. Die politische Beteiligung wird dabei nämlich bloß formal verstanden: Der demokratische Staat und die demokratische Gesellschaft sind demnach eine Staats- und Gesellschaftsform wie jede andere auch, und es kommt nur darauf an, das gesellschaftliche System im möglichst konfliktlosen Gleichgewicht zu halten. Dafür ist die Aktivität der Bürger ebenso wichtig wie ihre Distanz zur Aktivität - —z. B. daß Wahlen nicht ständig, sondern nur alle vier Jahre stattfinden. Auf diese Weise wird Demokratie aber lediglich funktional betrachtet, eben unter dem Gesichtspunkt des ausbalancierten Gleichgewichts der Kräfte. Tatsächlich jedoch haftet der Demokratie etwas Besonderes an. das sie von allen anderen Staats- und Gesellschaftsverfassungen unterscheidet: "Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein" (S. 15). Wenn jedoch diese inhaltliche Bestimmung verloren geht, reduziert sich der Unterschied von Demokratie und Diktatur lediglich auf die Frage, welche Verfaßtheit die bessere funktionale Effizienz hervorbringt, also z. B. geringere innenpolitische Reibungsverluste erzeugt oder einen größeren Produktionsausstoß garantiert. In dieser Vorstellung wird Demokratie zu einem "Set von Spielregeln" für den Prozeß der politischen Willensbildung formalisiert.,

3. Dabei wird jedoch übersehen, daß die Inhaltlichkeit demokratischen Handelns nur im Kontext einer geschichtlichen Reflexion ermittelt werden kann. Um dies zu belegen, holt Habermas zu einer umfangreichen historischen Analyse aus, deren Grundgedanke etwa der folgende ist: Der liberale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts hat sich inzwischen zum Träger kollektiver "Daseinsvorsorge" entwickelt, ist zum "Sozialstaat" geworden. Der liberale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts - der "Nachtwächterstaat" (Lassalle) - hatte dafür zu sorgen, daß das gesellschaftliche Leben der Menschen, vor allem ihre wirtschaftliche Tätigkeit, nach allgemeinen und deshalb kalkulierbaren Normen ablaufen konnte. Er war insofern streng von der

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Gesellschaft getrennt. Insbesondere durfte der Staat nicht in das wirtschaftliche Leben eingreifen, auch nicht zu dem Zweck, die wirtschaftlich Schwächeren zu schützen. Diese vom Bürgertum im Parlamentarismus durchgesetzte Staatsform enthielt aber von Anfang an einen Widerspruch: Auf der einen Seite war vorausgesetzt, daß eigentlich alle Bürger sich am wirtschaftlichen Wettbewerb mit der gleichen ökonomischen Startchance beteiligen konnten; nur dann nämlich konnte Demokratie als Allgemeininteresse und nicht nur als Klasseninteresse formuliert werden. Andererseits war diese Voraussetzung nie wirklich gegeben, wie etwa das Beispiel des Proletariats zeigt. Tatsächlich blieb die Demokratie eine Minderheiten-Demokratie, und die politische Willensbildung blieb praktisch eine Sache der Oberschicht. Der Anspruch jedoch, Demokratie sei eine Sache aller Menschen und nicht nur der Reichen, wurde dennoch weiterhin aufrechterhalten. In diese Lücken nun zwischen Anspruch und Realität schob sich nolens volens der Staat. Es genügte nun nicht mehr, für alle Bürger verbindliche Normen aufzustellen, vielmehr mußte der Staat nun auch Maßnahmen im Sinne der Daseinsvorsorge ergreifen, die nicht allgemeingültig waren, sondern nur für bestimmte Gruppen galten (z. B. Sozialversicherung, Bildungsplanung, Mutterschutz, Jugendschutz, Arbeitsschutz usw.). Auf diese Weise nun wurden die Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft und Privatsphäre fließend. Diese Entwicklung hat das Gesicht von Staat und Gesellschaft erheblich verändert (die Verwaltung wird initiativ; Funktionsverlust des Parlaments zugunsten der Parteien; Rolle der Verbände zwischen Staat und Gesellschaft usw.) und für die Möglichkeiten der politischen Beteiligung ganz andere Bedingungen geschaffen. Die Lage ist nun so, daß der Bürger gegenüber all diesen neuen Institutionen in eine neue Abhängigkeit geraten ist. "Die politische Stellung des durchschnittlichen Bürgers in dieser Gesellschaft wird bestimmt: einmal durch den Dauerkontakt mit einer ausgedehnten, in die vormals privaten Lebensbereiche so stetig wie nachhaltig eingreifenden Verwaltung - ihr steht

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er gleichsam zur Disposition; sodann durch den Einfluß, den er durch Interessenorganisationen auf die Verwaltung ausübt; von denen freilich muß er sich wiederum nur bedienen lassen. Die Berührung mit dem Staat vollzieht sich im Raum und Vorraum der Verwaltung, und sie bezieht sich auf Dienste der Verwaltung. Sie ist wesentlich unpolitisch" (S. 32).

Ließ sich der erste Einwand gegen Oetingers "Partnerschaft" erheben, so der zweite gegen Litts ungebrochene Aufrechterhaltung der Trennung von Staat und Gesellschaft und ihrer formalistischen Definitionen. Im Gegensatz dazu kommt es Habermas darauf an, die Gesellschaft zu politisieren und Politik nicht mehr wie früher allein dem Staat und seinen Organen vorzubehalten. Dazu gehört etwa die politische Kontrolle der Funktionen des privaten Kapitaleigentums oder auch die Politisierung der Gewerkschaften (politischer Streik). Die klassische Trennung von Staat und Gesellschaft ist überholt; hält man weiter daran fest, werden die Möglichkeiten der politischen Beteiligung, die im gesellschaftlichen Leben der Menschen immer noch - wenn auch gering genug - vorhanden sind, nicht genutzt.

Diese Argumentationen hatten zunächst kaum eine Wirkung in der Lehrerbildung und in den Schulen. Zu sehr widersprachen sie dem politisch-pädagogischen Selbstverständnis der fünfziger Jahre. Erst später, als sie von den rebellierenden linken Studenten aufgenommen wurden, wurden sie einer breiteren politischen und auch pädagogischen Öffentlichkeit bekannt. Nicht zuletzt aus dem in dieser Schrift vertretenen politischen Konzept haben die linken Studenten später ihre Munition bezogen; schließlich hatte Habermas gerade die außerparlamentarische Aktivität als wichtig für die Weiterentwicklung der Demokratie erachtet. Für die Theorie der politischen Bildung ergaben sich nun drei wichtige neue Gesichtspunkte:

1. Das Problem der Inhaltlichkeit demokratischer Einrichtungen und Prozesse war mit Nachdruck in den Mittel-

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punkt gerückt worden. Demokratie ist nicht irgendeine historisch zufällige und beliebige, sondern diejenige politisch-gesellschaftliche Verfassung, die die Selbstbestimmung der Menschen weiterzutreiben hat. Erst seitdem sind Begriffe wie "Selbstbestimmung", "Selbstdefinition", "Emanzipation" in der politisch-pädagogischen Literatur häufiger aufgetaucht. In diesen Begriffen drückt sich indirekt auch eine Kehrtwendung im Hinblick auf die Zielsetzung der politischen Bildung aus: Wurde der Staatsbürger vorher fast ausschließlich als Objekt der Demokratie betrachtet (er müsse "verantwortlich" sein, damit die Demokratie funktionieren könne), so wurde er jetzt nachdrücklich auch zum Subjekt erklärt; Demokratie ist demnach eine politische Verfassung, deren wichtigster Zweck es ist, die Mündigkeit, Emanzipation und Aufklärung der wirklichen Menschen weiterzutreiben. Wenn dies nicht geschieht, widerspricht Demokratie ihrem eigenen Sinn. In diesem Punkte ist Habermas weit über die Positionen von Oetinger und Litt hinausgegangen.

2. Habermas hat, um zu dieser inhaltlichen Bestimmung zu kommen, die Notwendigkeit einer historisch-kritischen Perspektive in den Vordergrund gerückt. Diese verläßt den engen Horizont der bloß formal-funktionalen Betrachtungsweise, die sowohl Oetinger wie auch Litt eigen war, und mißt die gegenwärtige Wirklichkeit an den Versprechungen, mit denen sie früher einmal etabliert wurde. Demokratie wird so nicht als funktionaler Ausgleich von Interessengegensätzen begriffen, sondern als ein geschichtlicher Prozeß: "Politische Beteiligung ... gewinnt erst Funktion, wo Demokratie derart als geschichtlicher Prozeß begriffen wird" (S. 17). Geschichtlichkeit jedoch wird nicht als bloße faktische Geschichte begriffen, als Addition der Fakten, so wie sie sich nacheinander zugetragen haben, sondern ebenfalls inhaltlich-normativ: Was hat die Geschichte zur Steigerung des Potentials an Emanzipation beigetragen, welche sind die fördernden, welche die hemmenden Kräfte gewesen? Und welche sind heute die fördernden bzw. hemmenden Kräfte? Diese inhaltlich konkre-

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tisierte historische Perspektive erlaubt Urteile darüber, welche Gruppen ein "mehr" oder "weniger" demokratisches Potential zur Verfügung haben. Nicht allein auf subjektive politische Kenntnisse kommt es mehr an, sondern darauf, welchen Stellenwert bestimmte Gruppen in der realen Demokratiegeschichte tatsächlich einnehmen. Nicht alle gesellschaftlichen Interessen und Gruppen verfügen demnach objektiv über das gleiche demokratische Potential - wie der Begriff der "pluralistischen Gesellschaft" glauben machen wollte. So weist Habermas etwa den Gewerkschaften eine besondere Rolle im Prozeß der weiteren Demokratisierung zu, weil deren Interessen noch am meisten mit dem allgemeinen Interesse an zunehmender Demokratie identisch seien. Für eine auf Emanzipation gerichtete politische Bildung folgt daraus, daß sie sich der formalen Un-Parteilichkeit oder Über-Parteilichkeit zu begeben hat; sie ist nun durchaus legitimiert, Partei gegen diejenigen Gruppen oder Parteien zu ergreifen, die aufgrund ihrer objektiven Interessen Fortschritte an Demokratisierung zu verhindern trachten.

3. Damit waren zugleich Kriterien geschaffen, die leitenden Ziele der politischen Bildung, wie sie sich etwa in Richtlinien ausdrückten, einer inhaltlich präzisierbaren Kritik zu unterziehen. Zielformen wie "Mitmachen", "Mitverantwortung", "Beteiligung", "aktiv sein" und andere konnten nun erst systematisch hinterfragt werden.

Trotzdem blieb die politisch-pädagogische Wirkung dieses Buches nicht unproblematisch. Ins Gewicht fiel vor allem, daß die implizierten politisch-pädagogischen Aspekte nicht weiter ausgeführt waren. Wenn Habermas davon ausging, daß mit einer Aufklärung des Wahlvolkes im ganzen in absehbarer Zeit nickt zu rechnen sei, daß man vielmehr nur hoffen könne auf die Aktivität außerparlamentarischer Gruppen (vor allem der Gewerkschaften) und darauf, daß das politische Bewußtsein der "funktionalen Eliten" (vor allem der Studenten) zunehmen werde, so waren das mittelbar ja auch Aussagen über die prinzipielle Lernfähigkeit

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bestimmter Gruppen von Menschen, aus denen sich durchaus problematische Schlüsse ziehen ließen. Obwohl diese Schlüsse nickt unmittelbar dem Autor zur Last gelegt werden können, treffen sie seine Theorie doch insofern, als sie eben möglich waren, und auch hier - wie bei der "Partnerschaft"—muß darauf gesehen werden, welche Wirkung die Theorie hatte. Vor allem folgende Aspekte müssen rückblickend als besonders problematisch angesehen werden.

1. Indem der Blick vorwiegend auf gesellschaftsverändernde, möglichst "systemüberwindende" Aspekte der weiteren Demokratisierung gerichtet wurde, gerieten alle pädagogischen Bemühungen grundsätzlich in Ideologieverdacht, die - daran gemessen bescheiden - versuchten, die Menschen erst einmal zum Bewußtsein ihrer "system-immanenten" Position zu bringen und sie z. B. zu lehren, die innerhalb dieses Systems noch längst nicht ausgeschöpften Rechts- und Aktionsspielräume bis an die Grenzen des Möglichen wahrzunehmen. Im Namen des demokratischen Fortschritts konnten die empirisch feststellbaren Interessen und Bedürfnisse der Menschen zwar als durch gesellschaftliche Zwänge manipulierte erkannt, aber eben auch unter Hinweis darauf denunziert werden. Wer diese Bedürfnisse und Interessen (z. B. die optimale Teilnahme am Konsum) so ernst nahm, wie die Betroffenen es selbst meinten, besorgte nur die Erhaltung des bestehenden politischen Systems. Allenfalls als "Einstieg" erschienen die empirisch feststellbaren Interessen legitim, um wenigstens den Anschein aufrechtzuerhalten, als ginge es um eine Vermittlung zwischen dem Sosein der Interessen und Bedürfnisse einerseits und ihrer idealen, künftig zu realisierenden Substanz andererseits. Tatsächlich jedoch lag es näher, politisch-pädagogische Lernziele aus den Antizipationen einer besseren Gesellschaft zu deduzieren und den Menschen gegenüberzustellen, anstatt sie mit der je individuellen bzw. schichtspezifischen "Lernreichweite" der Individuen so zu vermitteln, daß die lebensgeschichtliche Kontinuität der Motivationen und Perspektiven erhalten bleiben konnte.

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2. So wie sie im fraglichen Text vorlag, gab die "gesamtgesellschaftliche Theorie" keine Auskunft über den Zusammenhang zwischen den allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Determinanten des Bewußtseins einerseits und den jeweiligen biographischen Determinanten andererseits. Es konnte vielmehr so scheinen, als sei die biographische Dimension für die Erkenntnis entbehrlich bzw. unter die historisch-gesellschaftliche subsumierbar, so, als erkläre die allgemeine Ideologiekritik hinreichend die Beschränktheiten des je individuellen Bewußtseins. Träfe dies zu, so wäre Pädagogik überhaupt entbehrlich; Änderungen des Bewußtseins könnten letztlich nur durch Veränderungen der gesellschaftlichen Realität als deren automatisches Resultat erfolgen. Tatsächlich jedoch decken sich beide Determinanten - die biographische und die historisch-gesellschaftliche - keineswegs ohne weiteres, ja, vermutlich sind die zu einem bestimmten Zeitpunkt subjektiv möglichen "Lern-Spielräume" erheblich geringer als die objektiv möglichen, so daß es die erste wichtige Aufgabe der politischen Pädagogik wäre, die Individuen zur Ausschöpfung des objektiv möglichen Bewußtseins- und Handlungsspielraums auch zu befähigen.

3. Indem politische Bildung im Sinne des Durchbrechens der gesellschaftlich reproduzierten Verschleierung für die Masse der Bürger als objektiv unmöglich angesehen und grundsätzlich nur den "funktionalen Eliten" aufgrund ihrer privilegierten gesellschaftlichen Stellung als erreichbar zugestanden wurde, wurde eine äußerst problematische Hierarchie eingeführt, die auch pädagogische Konsequenzen haben mußte. Entweder war zu folgern, daß politische Bildung erfolgreich nur für die "funktionalen Eliten" - und durch diese selbst! - betrieben werden könne; dies aber hätte die bis dahin bestehende politisch-pädagogische Privilegierung der Oberschüler und Studenten nur fortgesetzt. Oder aber die "funktionalen Eliten" mußten sich als diejenigen verstehen, die die große Masse des "Wahlvolkes" aufgrund ihrer höheren, ihren Partnern aber grundsätzlich verschlossenen Einsicht zu bilden hatten, wobei sofort die Frage

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auftauchen mußte, welche Ziele eine solche Bildung haben sollte, wenn eigentliche Aufkläryng nicht möglich war. Oder aber man konnte politische Bildung des Wahlvolkes überhaupt für überflüssig halten, statt dessen es zum praktisch-politischen Kampf führen und nur das für politisch bildend erklären, was bei diesem Kampf und für ihn an Erfahrungen gesammelt wird. Alle diese Folgerungen sind in den mannigfachsten Kombinationen gezogen worden, und alle sind sie zutiefst widersprüchlich geblieben. Jede pädagogische Beziehung nämlich, die Lehrende und Lernende nicht nur durch einen faktischen Unterschied an Einsicht definiert, sondern diesen Unterschied auch - und sei es nur für bestimmte historische Phasen - für eine prinzipiell unaufhebbare Differenz an Einsichtsfähigkeit erklärt, muß zu einer höchst autoritären werden. Hier, nämlich beim Umschlagen einer politischen Theorie der Demokratisierung in eine solche antidemokratischer Pädagogik wird der Mangel an pädagogischer Reflexion unmittelbar deutlich.

4. Zudem zeigte sich sehr bald, daß die in Rede stehenden Eliten die ihnen durch Analyse ihres gesellschaftlichen Status zugestandene Funktion auch verfehlen können. In dem Augenblick nämlich, wo deren gesellschaftliche Privilegierung selbst zur Debatte gestellt wurde (z. B. im Rahmen der Hochschulreform), wo die distanzierte Kritik in praktische Verantwortung übergehen mußte, zeigte es sich, daß diese Gruppen nicht weniger für ihr partielles Interesse votierten als andere Gruppen auch. Nun wurde die auf bessere Einsicht gegründete Idee eines besseren Gemeinwohls zur blanken Usurpation. Das auf der noch unbeschriebenen pädagogischen Seite der "gesamtgesellschaftlichen Theorie" gleichwohl schon enthaltene autoritäre pädagogische Potential ging durch die Hände "sozialistischer" Studentengruppen in seine Verwirklichung über - zum Glück mit nicht sehr dauerhaftem Erfolg. Und was Habermas als Aufgabe verstanden wissen wollte, wurde zur Rechtfertigung für die Vertretung partikularer mittelständischer Interessen. Gegen solche Mißverständnisse hat sich

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Habermas selbst ausdrücklich zur Wehr gesetzt (1969), und auch Adorno hat gegen den Versuch, Theorie und Praxis "kurzzuschließen", sein Veto eingelegt (1969a).
 
 

"Anti-Kapitalismus"

Habermas und andere Vertreter der sogenannten "kritischen Theorie" hatten zwar erfolgreich die politisch-theoretischen Prämissen der politischen Bildung in den fünfziger Jahren kritisieren können, die pädagogisch-theoretische Bearbeitung ihrer Einsichten jedoch offengelassen. Diese Lücke versuchten seit Ende der sechziger Jahre aus der Studentenbewegung stammende neo-marxistische Autoren zu schließen. Aber bei ihnen dominierten noch stärker die politisch-theoretischen Aspekte, nun vor allem solche der politischen Ökonomie (vgl. Beck u. a. 1970; Wallraven/ Dietrich 1970). Im Vordergrund des Interesses standen hier Entwürfe eines "richtigen Bewußtseins", dessen Lehrbarkeit jedoch verhältnismäßig wenig problematisiert wurde. Das eklatante Desinteresse an didaktisch-methodischen Fragen hatte insbesondere zwei Gründe: Einerseits hatte die Beschäftigung mit neo-marxistischen Theoremen - vor allem solchen der politischen Ökonomie - trotz aller verbalen Deklamationen über die "Solidarität mit der Arbeiterklasse" vorwiegend die Funktion, das verunsicherte Selbstverständnis privilegierter bürgerlicher Studenten neu zu fundieren. Wegen des relativ hohen Bildungsstandes konnten deshalb didaktisch-methodische Überlegungen für die Studenten selbst als überflüssig erscheinen, und die Aufklärung der anderen, z. B. der Arbeiter, blieb von marginalem Interesse, wie überhaupt der bürgerliche Klassencharakter dieser orthodoxen neo-marxistischen Rezeption undurchschaut blieb. Ihr ging es objektiv primär darum, das "kapitalistische System" deshalb zu denunzieren, weil es die alte, im Vorrecht des Studiums bereits antizipierte Status-Privilegierung dem bürgerlichen Nachwuchs nicht mehr ohne weiteres garantierte. Andererseits jedoch war

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das pädagogische Defizit in der marxistischen Theorie von Anfang an mit angelegt. Denn Marx hatte auch nicht in Ansätzen eine Sozialisationstheorie entwickelt, also eine Theorie des individuellen Heranwachsens unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft. Wo er vielmehr von der "Entwicklung des Menschen" spricht, meint er die Entwicklung der Gattung. Strenggenommen kann es eine marxistische Pädagogik erst in dem Augenblick geben, wo zusätzlich sozialisationstheoretische (z. B. psychoanalytische) Theorieansätze von außen hereingeholt werden, woran einige Autoren - offenbar mit Erfolg - arbeiten (vgl. H. Dahmer 1971). Aber gerade die politik-ökonomische Reduktion des Marxismus verhinderte eine solche theoretische Differenzierung.

Was also bei Habermas bloß offen und noch nicht theoretisch bearbeitet war, wurde nun undialektisch kurzgeschlossen; undifferenziert wurden die gesellschaftlichen und pädagogischen Erscheinungen als bloße Variationen des immer gleichen Kapitalismus festgestellt. Was nicht erklärtermaßen als "antikapitalistische" Schule oder Jugendarbeit sich der Vernichtung des "kapitalistischen Systems" verschrieb, galt als eine bloße Magd dieses Systems.

Obwohl diesen Arbeiten durchweg der allgemeine Nachweis der Abhängigkeit pädagogischer Maßnahmen und Erscheinungen von ökonomischen Interessen gelang - womit sie eine wichtige Funktion der Kritik erfüllten - , vermochten sie die politisch-pädagogische Diskussion schon deshalb nicht weiter zu entwickeln, weil sie das differenzierte marxistische Methoden-Instrumentarium um den "historischen Materialismus" verkürzten. So war es nicht möglich, bei der Analyse konkreter pädagogischer Maßnahmen und Erscheinungen die jeweils "fortschrittlichen" von den "rückschrittlichen" Momenten zu unterscheiden, was zu einem Verzicht auf rationale Kriterien für praktische Entscheidungen überhaupt führte und dazu, die sinnlich unmittelbar erfahrbaren Momente von Unterdrückung zu ignorieren, sofern es nicht die eigenen waren. So gesehen brachten die neo-marxistischen orthodoxen Beiträge die

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politisch-pädagogische Diskussion nicht weiter, vielmehr fielen sie hinter den bei Habermas bereits erreichten Stand zurück.

"Antiautoritäre" Positionen und Kritik der politischen Sozialisation

Anders verhält es sich jedoch mit einer Reihe von Beiträgen, die mit der "antiautoritären", also vor-orthodoxen Phase der Studentenbewegung in eine breitere Diskussion gelangt sind und die man als Beiträge zur "Kritik der politischen Sozialisation" bezeichnen kann. Im Unterschied nämlich zu den eben erwähnten befassen sich diese Beitrage gerade mit dem, was nach der durch Habermas erfolgten Revision des politischen Selbstverständnisses der bürgerlichen Demokratie offengeblieben war, nämlich mit den politischen Aspekten der Sozialisation selbst. Ausgangspunkt für derartige Überlegungen war die Selbsterfahrung, daß die rationale Einsicht in das, was politisch richtig oder wünschenswert sei, allein noch keineswegs auch zu einem dementsprechenden Verhalten führte, daß vielmehr im Verlauf der eigenen Sozialisation erworbene kognitive und emotionale Muster - die als "autoritäre" Prägungen erlebt wurden - schon die Ausnutzung des gesellschaftlich zugelassenen Freiheitsspielraumes blockierten und erst recht eine Barriere von Angst errichteten, wenn es darum gehen sollte, diesen Spielraum durch politische Aktion etwa noch zu erweitern. Das bekämpfte politische "System" hatte sich offenbar auf dem Wege der Sozialisation in die Psyche der einzelnen Individuen eingenistet und konnte sich so sehr viel stärker vom "Innen" der Person her reproduzieren, als dabei äußere Zwänge anwenden zu müssen (vgl. P. Brückner, in: Agnoli/Brückner 1968; H. Heine 1969). Die "Selbstthematisierung" autoritärer Charakterstrukturen bei einem verhältnismäßig großen Teil der bürgerlichen Jugend, die nun einsetzte, enthielt erhebliche Chancen für Theorie und Praxis der politischen Bildung, aber die "antiautoritäre Phase" der Studenten-

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und Schülerbewegung war verhältnismäßig kurz und wurde bald durch die eben beschriebene orthodoxe neo-marxistische bzw. anti-kapitalistische Phase abgelöst. Deren wichtigstes Merkmal war, daß die psychischen "autoritären" Defizite auf das "kapitalistische System" projiziert und dort stellvertretend bekämpft, aber in der eigenen Person nicht mehr bearbeitet wurden. Für die Betroffenen bedeutete dieser Umschwung vielfach das Ende politischer Lernfähigkeit überhaupt. Gleichwohl bleibt es das Verdienst dieses kurzen Zwischenspiels, die politische Bildung um Aspekte bereichert zu haben, die wir nun unter dem Begriff "politische Sozialisation" zusammenfassen können.

Das gilt zunächst für die Rezeption der Psychoanalyse im allgemeinen. Deren theoretische Modelle für das Verständnis der individuellen menschlichen Entwicklung lagen spätestens seit der Weimarer Zeit vor und waren auch für die Interpretation politischer Sachverhalte schon in den dreißiger Jahren von Adorno, Horkheimer, Fromm und anderen angewendet worden - und zwar in erster Linie zur Erklärung des autoritär-faschistischen Charakters. Daran knüpfte Adorno noch an, als er 1959 in seinem Vortrag: "Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit?" der Frage nachging, in welcher Weise im allgemeinen Bewußtsein faschistische Stücke überlebt hätten und wie die politische Bildung dieses Bewußtsein korrigieren könne. In diesem Zusammenhang warnte er bereits vor der optimistischen Hoffnung, der Appell ans Bewußtsein könne gegen die Determinanten des Unbewußten viel ausrichten.

Aber erst der antiautoritären Bewegung gelang eine größere Verbreitung psychoanalytischer Einsichten. Im Sinne des psychoanalytischen Verstehensmodells - Variationen zwischen einzelnen "Schulen" bleiben hier außer Betracht - hat jede einzelne Sozialisation auch Bedeutungen für den "politischen Charakter" eines Menschen. Der Mensch wird demnach geboren mit der Ausstattung eines triebhaften Potentials (Es) und muß nun durch die Sozialisation lernen, seine Triebwünsche im Rahmen der dafür zur Verfügung stehenden sozialen Möglichkeiten zu befriedi-

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gen. Gelingt eine derartige Anpassung nicht, d. h., würden die Triebe überhaupt nicht sozialisiert, so wäre der Mensch nicht lebensfähig; ebenso erginge es ihm - was allerdings auch nur als rein gedankliches Extrem angenommen werden kann - , wenn er so massiv zur Anpassung an die Realität gezwungen würde, daß er seine Triebwünsche überhaupt nicht mehr befriedigen könnte. Tatsächliche Sozialisationen verlaufen jedoch so, daß eine Art von Gleichgewicht zwischen dem ursprünglich noch objekt-ungerichteten Triebbedürfnis einerseits und der Anpassung an die Realität andererseits hergestellt wird, das über die im Verlauf der Sozialisation sich bildende Instanz des Ich vermittelt wird. Chronische Abweichungen von diesem "Gleichgewichtszustand" gelten als seelische, z. B. neurotische Krankheiten.

Wichtiger für unseren Zusammenhang jedoch ist das weitere Theorem, daß sich nämlich die psychische Entwicklung der Menschen in einer Reihe von aufeinanderfolgenden Phasen vollzieht, und zwar so, daß der eben angedeutete Konflikt zwischen Trieb und Realität in jeder einzelnen Stufe positiv bearbeitet sein muß, bevor die Aufgaben und Chancen der jeweils nächsten Phase angegangen werden können. Über die Zahl oder die Aufgaben dieser Phasen gibt es zum Teil verschiedene Meinungen; weitgehende Einigkeit besteht jedoch hinsichtlich der ersten drei: der oralen, der analen und der ödipalen Phase.

Nun ist für den Zusammenhang der politischen Sozialisation weniger die Frage nach dem individuellen Verlauf der Sozialisation, ihrem möglichen Scheitern, und überhaupt nach der Struktur der individuellen "politischen Persönlichkeit" interessant; vielmehr ist zu fragen, wie die Gesellschaft - sei es im allgemeinen, sei es im Hinblick auf bestimmte Klassen und Schichten - diese Sozialisationsprozesse überhaupt beeinflußt. Einerseits nämlich ist das psychoanalytische "Ideal" ein Mensch, dessen Ich so stark ist, daß es die Konflikte zwischen Trieben und (den Normen der) Realität selbständig zu regeln weiß; derart sozialisierte Menschen wären zugleich auch optimale Subjekte

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für die politische Bildung. Andererseits jedoch lehrt schon die Lebenserfahrung, daß es kaum einen Menschen gibt, der diesem Ideal entspricht. Will man nicht behaupten, daß die Menschen "von Natur aus" nicht besser zu sozialisieren sind, als dies tatsächlich geschieht, so muß man annehmen, daß die Gesellschaft selbst deren optimale Sozialisation (z. B. wegen bestimmter Herrschaftsinteressen) verhindert. Eben an dieser Hypothese knüpfte die Bewegung der "antiautoritären Erziehung" an, indem sie auf den Zusammenhang von erwachsenem demokratischem Fehlverhalten und entsprechenden frühkindlichen Sozialisationserfahrungen verwies.

Als inzwischen "klassisches" Beispiel dafür, daß die Gesellschaft die im Sinne der Ich-Stärke optimale Sozialisation verhindern kann, gilt der sogenannte "anale Zwangscharakter", auch "autoritärer Charakter" genannt, der etwa in der Zeit des Faschismus durchaus als "normal" angesehen wurde. Er entsteht dadurch, daß dem Kind nicht gestattet wird, die charakteristischen Krisen und Konflikte der sogenannten "analen Phase" (etwa ab 2. Lebensjahr) im Sinne zunehmender "Autonomie" zu verarbeiten. "Das Kleinkind muß das Gefühl haben, daß sein Urvertrauen zu sich selbst und zur Welt ( ... ) nicht bedroht wird durch den plötzlichen Wunsch, seinen Willen durchzusetzen, sich etwas fordernd anzueignen und trotzig von sich zu stoßen. Mit Festigkeit muß man das Kind dagegen schützen, daß aus seinem noch unentwickelten Unterscheidungsvermögen, seiner Unfähigkeit, etwas mit dem richtigen Kraftaufwand festzuhalten und loszulassen, Anarchie entsteht. Zugleich muß man jedoch den Wunsch des Kindes, 'auf eigenen Füßen zu stehen', unterstützen, damit es nicht dem Gefühl anheimfällt, sich vorzeitig und lächerlich exponiert zu haben, dem Gefühl der Scham also; oder jener zweiten Art von Mißtrauen, dem Gefühl des Zweifels" (Freud, Band VII, S. 203 ff.; zit. nach Gottschalch 1971, S. 53).

Gelingt es dem Kind also nicht, in dieser Phase Autonomie gegen Scham und Zweifel zu erwerben, so bleiben mehr oder weniger ausgeprägte Züge eines "Zwangscharakters"

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zurück. "Der Zwangscharakter, der Analcharakter, die zwanghafte Persönlichkeit ist geizig, kleinlich im Bezug auf Liebe, Zeit, Geld und besteht auf Erfüllung pedantischer Sauberkeitsrituale ... . Er fühlt sich stets exponiert und beobachtet, belauert sich auch selbst nach Regungen, die er für 'unsauber' hält. Paradoxerweise führt ein starkes Betonen des Schamgefühls keineswegs zu einem besonderen Gefühl des Anstandes, sondern zu zwei entgegengesetzten Reaktionen: der übertrieben Schamhafte möchte entweder die mit einem Tabu belegten Dinge heimlich tun, oder er projiziert seine verbotenen Neigungen auf andere Menschen bzw. Menschengruppen und bekämpft sie in diesen" (Gottschalch 1971, S. 53 f.).

"Heimlichtun" und Projizieren der unterdrückten Wünsche auf Minderheiten, an denen man sie stellvertretend vernichten kann, waren etwa in der Nazizeit massenhafte charakterliche Dispositionen, die zur Vernichtung von Minderheiten (z. B. der Juden) politisch in Dienst genommen werden konnten. An diesem Beispiel wird die politische Bedeutung einer gesellschaftlich restringierten Sozialisation unmittelbar evident. Solche Restriktionen wiegen um so schwerer, als sie nach Meinung der Psychoanalyse weitgehend irreversibel sind. Das heißt aber nichts anderes, als daß die politische "Lernreichweite" eines Menschen grundsätzlich durch die Art und Weise seiner frühkindlichen Sozialisation kognitiv wie emotional begrenzt wird, wobei diese Grenze allerdings empirisch im konkreten Falle schwer auszumachen ist.

So plausibel das psychoanalytische Phasenmodell für unseren Zusammenhang erscheinen mag, wirft es doch auch eine Reihe schwieriger theoretischer Fragen auf. Abgesehen von dem Problem, daß die Aussagen dieser Theorie im allgemeinen nur schwer empirisch nachprüfbar sind und deshalb leicht für Ideologisierungen in Anspruch genommen werden können, erhebt sich z. B. die Frage, ob die Aussagen dieser Theorie übergeschichtlich-anthropologische oder nur geschichtlich-relative sind. Anders ausgedrückt: Galten die Phasen und Gesetze der seelischen Entwicklung immer

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schon, seit es Menschen gibt, und wurden sie erst in diesem Jahrhundert von Freud entdeckt - so wie im Falle eines Naturgesetzes? Oder hat Freud etwas entdeckt, was es noch gar nicht so lange gab, nämlich nicht die menschliche Sozialisation überhaupt, sondern nur die bürgerliche oder die des bürgerlichen Zeitalters? Die Antwort darauf hätte Konsequenzen, denn für die politische Bildung ist es ein Unterschied, ob die empirisch feststellbare Grenze der "Lernreichweite" wirklich durch irreversible, also nahezu naturgesetzlich determinierte Prozesse bedingt ist, die sich insofern dem politischen und pädagogischen Zugriff entziehen, oder ob nicht umgekehrt zumindest auf die Dauer die Phasen und Gesetze der seelischen Entwicklung selbst politisch und pädagogisch verändert werden können.

Es ist hier nicht der Ort, diese Frage weiter zu verfolgen oder gar zu entscheiden. Sie soll nur zeigen, daß die politische Bildung gut daran tut, sich bei der für sie so wichtigen Frage nach der menschlichen Lernreichweite auch hier offenzuhalten und z. B. solche Theorien der "politischen Psychologie" mit zu Rate zu ziehen, die sich von vornherein nur auf empirisch nachprüfbare Aussagen beschränken.

Die Rezeption der Psychoanalyse hat im Zusammenhang mit der allgemeinen bildungspolitischen Diskussion auch dazu geführt, den unterschiedlichen Sozialisationsprozessen und -techniken in der Mittelschicht einerseits und in der Unterschicht andererseits Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die - überwiegend auf angelsächsischen Untersuchungen basierenden - Ergebnisse waren, daß die Unterschicht-Sozialisation durchweg als defizient im Vergleich zur Sozialisation in der Mittelschicht bestimmt wurde. Die Kinder der Unterschicht werden demnach autoritärer, unselbständiger und motivationsärmer sozialisiert als Kinder der Mittelschicht, und es liegt nahe, den Grund dafür in den kognitiv, emotional und motivational reduzierten Funktionen der Unterschicht am Arbeitsplatz zu suchen.

Damit wurde nachdrücklich die bisher stillschweigende Unterstellung problematisiert, daß die Unterschiede der

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Lernreichweiten bei Kindern und Jugendlichen auf individuelle Faktoren zurückzuführen seien, daß die weniger "Begabten" eben in der Volksschule verbleiben müßten und daß dort an ihre politische Bildungsfähigkeit eben auch geringere Ansprüche zu richten seien. Die Resistenz der in der Volksschule verbleibenden großen Mehrheit der Arbeiterkinder gegen eine intellektuell anspruchsvolle politische Bildung galt als eine Art von Naturgesetz, gegen das sich nichts ausrichten ließ. Die Sozialisationsforschung jedoch stellte nicht nur klar, daß es sich hier um eine schon frühzeitig erworbene Verhaltensweise handelt, sie öffnete auch den Blick für die Notwendigkeit und Möglichkeit schichtenspezifischer didaktischer Ansätze (vgl. Oevermann 1972; Bernstein 1972).

Innerhalb der antiautoritären Bewegung erlangte über einige Jahre vor allem Herbert Marcuse mit seinen Schriften Einfluß. Insbesondere in seinem schon länger vorliegenden, nun aber erst öffentlich wirksamen Buch "Triebstruktur und Gesellschaft" plädierte er für eine Revision der These Sigmund Freuds, daß eine Triebunterdrückung der Menschen nötig sei, weil nur dadurch die notwendige Sublimierung der Triebe auf kulturelle Leistungen, z. B. Arbeitsleistungen, hin gewährleistet werden könne. Marcuse räumte zwar ein, daß in der bisherigen Geschichte der Menschheit ein relativ hohes Maß an Triebunterdrückung durch die Sozialisation geboten war, weil nur so die für die materielle Bedürfnisbefriedigung erforderliche Arbeit geleistet werden konnte. In einer Zeit wie der unseren jedoch mit ihren technologischen Möglichkeiten könnten diese Zwänge erheblich gelockert werden, weil die Produktivkräfte zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse bei vernünftiger Verteilung der Produkte ausreichten. Objektiv bestünde also durchaus die Möglichkeit, dem "Lustprinzip" größeren Spielraum gegenüber dem fremdbestimmten "Leistungsprinzip" auch im Rahmen der Sozialisation einzuräumen, verhindert werde dies jedoch durch überfällig gewordene, d. h. nicht mehr durch die Notwendigkeit der materiellen Bedürfnisbefriedigung legitimierte

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Herrschaftsinteressen. Pädagogisch sei es deshalb vertretbar, schon in der frühen Sozialisation "antiautoritär" zu verfahren, d. h. den realen kindlichen Lustbedürfnissen stärkere Geltung zu verschaffen, ohne daß die Kinder damit "falsch" im Sinne der objektiven Notwendigkeiten sozialisiert würden. Im Gegenteil: Nur derart sozialisierte Kinder seien später auch in der Lage, ihre eigenen Bedürfnisse gegen die obsolet gewordenen fremdbestimmten Leistungen zu behaupten. Politisch komme es darauf an, die Teilnahme an fremdbestimmten Leistungserwartungen partiell zu "verweigern", um auf diese Weise einen größeren Spielraum für "lustbetontes" Verhalten zu gewinnen. Aus dieser These ergab sich dann die weitere, daß die Durchbrechung der sexuellen Tabus unmittelbar auch der Korrektur der politischen Sozialisation zugute komme. Im Unterschied zu dem orthodoxen Teil der Studentenbewegung hält Marcuse folgerichtig nicht die "Arbeiterklasse" für die entscheidende Kraft eines solchen Fortschritts, sondern die Gruppe der Intellektuellen, der "funktionellen Eliten" (Habermas), was unter anderem zum Gegenstand einer Kontroverse wurde (vgl. Habermas 1968). Träfe Marcuses Analyse zu, die wir als solche hier nicht diskutieren können, so ergäbe sich ein Begründungszusammenhang für eine Änderung der üblichen politischen Sozialisation, der nur noch didaktisch und methodisch operationalisiert werden müßte.

Unter "politischer Sozialisation" versteht man jedoch nicht nur die politischen Implikationen und Konsequenzen des Sozialisationsprozesses nach dem Modell der psychoanalytischen Theorie, sondern alle diejenigen politischen Lernprozesse, die Kinder im Vorschulalter und während der ersten Schuljahre durchlaufen. Die amerikanischen Autoren, die diesen Begriff zuerst verwandten und deren wichtigste Ergebnisse Friedhelm Nyssen (1970; vgl. auch A. Hainke 1972) referiert, operierten kaum mit dem psychoanalytischen Phasen-Modell, sondern mit lerntheoretischen Modellen. In den Vorstellungen der Lerntheoretiker - auch hier müssen wir uns auf die grundlegenden Prinzi-

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pien beschränken - geht es nicht um verbindlich aufeinander bezogene Phasen der individuellen Entwicklung, sondern darum, wie und wodurch tatsächlich beobachtbare Verhaltensweisen zustande gekommen sind bzw. geändert werden können. "Lernen" heißt demnach "Verhalten ändern", und empirisch beobachtbar wird Verhalten vor allem dadurch geändert, daß

a) das gewünschte Verhalten möglichst häufig belohnt wird;

b) daß es möglichst regelmäßig belohnt wird;

c) daß die Belohnung möglichst schnell erfolgt;

d) daß die Befriedigung durch die gewünschte Verhaltensweise möglichst groß ist im Vergleich zur Befriedigung durch die in derselben Situation mögliche unerwünschte Verhaltensweise.

Nach den Ergebnissen der Forschung muß angenommen werden, daß schon im Vorschulalter und dann in den ersten Schuljahren grundlegende politische Einstellungen und Meinungen vor allem im Rahmen der Familienerziehung erworben werden, die etwa vom 13. Lebensjahr an relativ stabil bleiben. Dabei unterscheidet man zwischen latenter und manifester politischer Sozialisation. Unter latenter politischer Sozialisation versteht man den Erwerb aller derjenigen kulturellen Werte und Muster, die zwar nicht im engeren Sinne politisch sind, gleichwohl aber auf irgendeine Weise das politische Verhalten beeinflussen, z. B. die Modalitäten der Gehorsamserziehung. Demgegenüber bezeichnet manifeste politische Sozialisation die "explizite Übertragung von Informationen, Werten oder Gefühlen im Hinblick auf Rollen, inputs und outputs des politischen Systems" (Nyssen) und geht von vornherein sehr viel stärker als die latente ins Bewußtsein ein. Mit zunehmendem Alter differenzieren sich die früherworbenen Positionen zwar, aber sie werden in der Regel nicht prinzipiell mehr aufgegeben, ja, spätere Erfahrungen werden geradezu durch die früheren hindurch gefiltert.

Obwohl die Erforschung dieser wichtigen Zusammenhänge erst in den Anfängen steht - und bei uns noch nicht ein-

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mal begonnen hat - , liegen folgende Konsequenzen für die politische Bildung nahe:

1. Angesichts der sehr früh einsetzenden politischen Sozialisation muß auch die schulische politische Erziehung sehr viel früher einsetzen als bisher, nämlich schon in der Grundschule bzw. in Vorformen schon im Elementarbereich, wenn die Herausbildung des politischen Bewußtseins und des politischen Verhaltens nicht den Zufällen früher Sozialisationsmechanismen allein überlassen bleiben soll.

2. Je länger ein Mensch bereits sozialisiert ist bzw. je älter er ist, um so schwieriger wird es, die früherworbenen kognitiven und vorbewußten Prägungen noch durch neue Informationen zu verändern. Die politische "Lernreichweite" eines Menschen wird also mit zunehmendem Alter enger, wenn sie nicht durch geeignete pädagogische Maßnahmen offengehalten werden kann.

3. Die Lernreichweite scheint jedoch weniger durch isolierte pädagogische Maßnahmen größer zu werden als vielmehr unter der zusätzlichen Voraussetzung, daß sozio-ökonomische Veränderungen damit einhergehen, bzw. daß neue Rollen übernommen werden müssen. So vergrößert der Eintritt eines Jugendlichen in Erwachsenenrollen (z. B. durch Eintritt in den Produktionsprozeß) die Lernreichweite ebenso wie sozialer Auf- und Abstieg - allerdings auch nur im Hinblick auf bestimmte Inhalte und auf Kosten anderer.

Zusammenfassung

Bisher haben wir versucht, die "Grundsatz-Diskussion" über die politische Bildung nach 1945, wenn auch nur exemplarisch, nachzuzeichnen. Dabei dürfte deutlich geworden sein, daß diese eine Funktion der realen politischen Entwicklung ist. Darauf deutet allein schon die Tatsache hin, daß eine Reihe von Schriften erst in den letzten Jahren wirksam wurden, obwohl sie schon in den fünfziger Jah-

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ren erschienen waren: so Marcuses "Eros und Kultur" und Neills "Summerhill" - ganz zu schweigen von zahlreichen anderen marxistischen und psychoanalytischen Texten. Und auch die referierte Arbeit von Habermas blieb nur in vergleichsweise kleinen Zirkeln bekannt. Schwerlich kann dies der Manipulation durch die Massenmedien angelastet werden. Warum bestimmte Texte zu bestimmten Zeiten ein größeres Publikum finden, ist eine nicht leicht zu beantwortende, aber durchaus wichtige Frage. Denn man darf wohl von der Vermutung ausgehen, daß bestimmte Texte dann ein größeres Publikum finden, wenn der Autor es versteht, seine Gedanken, Wünsche und Meinungen gleichsam stellvertretend für sein Publikum zu formulieren, so, daß dieses sich in ihm wiedererkennen kann - was erhebliche Veränderungen der Aussagen im Prozeß der Aneignung durch das Publikum durchaus nicht ausschließt.

Vielleicht trifft man die Zusammenhänge fürs erste hinreichend, wenn man Oetinger als den Autor des "offenen Neuanfangs" nach 1945 bezeichnet, dessen engagierter Optimismus und pragmatische Denkweise zunächst den Lehrern, aber darüber hinaus allen am demokratischen Aufbau Interessierten ebenso einfache wie plausible Regeln für ihr Handeln anbot. Dabei war es wohl unvermeidbar, daß seine dezidierte Kritik an der staatsbürgerlichen Bildungstradition ebensowenig ins Bewußtsein drang wie die Tatsache, daß die Partnerschaft Regeln für die Lösung von Konflikten enthielt und keine Utopie eines friedlichen Schlaraffenlandes.

Im Unterschied dazu war Litt schon der Autor der konservativen Restauration. Die Macht war neu verteilt, "oben" und "unten" vor allem in der Wirtschaft wieder klar geordnet. Die Partnerschafts-Idee, die Chancengleichheit offensichtlich zur Voraussetzung hatte, widersprach nun ebenso offensichtlich der machtpolitischen Realität, daß sie, sollte sie nicht kritisch gegen die Realität gewendet werden, auf das Nebengleis des "bloß Sozialen" abgeschoben werden mußte. Das "Eigentliche" war nun nicht mehr das,

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was die einzelnen Bürger taten, sondern das, was die neuen Machteliten untereinander ("Pluralismus") auf der Ebene der staatlichen Institutionen aushandelten - gemeinsam gebunden in erster Linie in der Abwehr des äußeren Feindes (Anti-Kommunismus). Das Rückgrat dieses konservativen Regiments - theoretisiert unter anderen bei Litt in der alten Trennung von Staat und Gesellschaft - bildeten verläßliche wirtschaftliche Wachstumsraten und der damit steigende allgemeine Lebensstandard im wohltuenden Unterschied zur wirtschaftlichen Misere in der sozialistischen DDR.

So waren es gerade der Rückgang der Wachstumsraten vom Beginn der sechziger Jahre an sowie die Erkenntnis, daß das privatkapitalistische System zwar Autos und Kühlschränke, nicht jedoch auch Schulen und Krankenhäuser ausreichend produzierte, die die ersten grundsätzlichen Zweifel an der Vernünftigkeit des konservativ-kapitalistischen Systems aufkommen ließen. Sie blieben zunächst beschränkt auf studentische Minderheiten (etwa des SDS), die Habermas und andere Autoren der "kritischen Theorie" rezipierten, deren methodischer Ausgangspunkt gerade die inhaltliche Konfrontation der gesellschaftlichen Realität mit ihren eigenen Ansprüchen und Versprechungen war. Habermas war einer der wichtigsten Autoren dieser kritischen Minderheiten, und von Positionen der "kritischen Theorie" her nahm die Protestwelle der Studenten und Schüler ihren Ausgang. Innerhalb weniger Jahre spielte diese Protestbewegung nahezu alle denkbaren Möglichkeiten der Aktion und Reaktion durch: vom gewaltlosen Widerstand bis zum bewaffneten Putschismus, von der antiautoritären Selbstthematisierung bis zum Dogmatismus. Trotzdem schuf sie nichts Neues, nichts, was über den Stand der "kritischen Theorie" hinausgeführt hätte. Allerdings verbreitete sie in ihrem aktionistischen Sog nicht nur die Gedanken der "kritischen Theorie", sondern auch zumindest Rudimente der lange unterdrückten Psychoanalyse und des Marxismus bis in die Massenkommunikationsmittel und in jede pädagogische Ausbildungsstätte hinein. In die-

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ser Transportfunktion, in der ubiquitären Veröffentlichung bisher unterdrückter wissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse liegt die bleibende Bedeutung dieser Protestbewegung - nicht in ihren eigenen Erfindungen.

In diesem Zusammenhang verdient eine wenigstens kurze Erwähnung das Bemühen konservativer Politiker und Wissenschaftler, die seit Beginn der sechziger Jahre einsetzende außenpolitische (Berliner Mauer) und innenpolitische Krise (Rückgang der Wachstumsraten) durch eine Wiederbelebung nationaler Ideologien und Gefühle abzufangen. Im Rahmen der politischen Pädagogik votierten vor allem Eugen Lemberg (1964) und Rudolf Raasch (1964) für neonationale Perspektiven. Obwohl sich daran eine verhältnismäßig umfangreiche Diskussion entzündete, blieben diese Bemühungen kurze Episode und verloren ihre Aktualität schnell durch die studentische Protestbewegung (vgl. zur Kritik Giesecke 1966a; Schmiederer/Schmiederer 1970).

Das politische Bewußtsein der Lehrer

Es liegt nun die Frage nahe, ob und in welchem Umfange die bisher beschriebene Diskussion überhaupt in die Schule eingedrungen ist. Nicht automatisch greifen ja Ideen und Diskussionen, die zunächst in Hörsälen und im Rahmen von studentischen Subkulturen stattfinden, auf andere gesellschaftliche Bereiche und Institutionen über. Radikalität des Denkens und Argumentierens z. B. kann durchaus auch verstanden werden als eine entwicklungstypische Haltung, die man ernsthaft nach dem Ende des Studiums gar nicht fortsetzen will, und anspruchsvolle pädagogische Theorien - auch solche konservativer Art - können der pädagogischen Praxis auch rein äußerlich bleiben. Keineswegs kann man also einfach vom Stand der akademischen Diskussion auf den Stand des praktischen pädagogischen Bewußtseins schließen.

Das Bewußtsein der Lehrer läßt sich vielmehr nur aufgrund empirischer Untersuchungen ermitteln. Solche Untersuchungen liegen vor, ihr Material stammt allerdings aus den

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ersten sechziger Jahren (Becker u. a. 1967; Teschner 1968). Fragt man nach deren wichtigsten Ergebnissen, so muß man unterscheiden zwischen den allgemeinen "mittelständischen" Merkmalen des politischen Lehrerbewußtseins einerseits, die die Lehrer also mit anderen Angehörigen der Mittelschicht teilen, und zusätzlichen bzw. modifizierenden Elementen andererseits, die aus dem spezifischen beruflichen Selbstverständnis, nicht zuletzt auch aus pädagogischen Theoremen und Ideologien resultieren.

1. Der mittelständische Anteil des Lehrerbewußtseins wird von Becker folgendermaßen zusammengefaßt:

"Eingekreist von mächtigeren Interessengruppen, sieht (der Lehrer) seine Stellung in der sozialen Hierarchie bedroht. Verworfen wird daher der Kampf organisierter Interessen, der unsere gesellschaftliche Lage bestimmt, gefordert die Orientierung der Politik am 'Gemeinwohl'. Keineswegs verbinden die Lehrer mit dem Begriff des Gemeinwohls einen konkreten Sinn; nirgends findet sich beispielsweise der naheliegende Gedanke, dass die Einflüsse der Interessenverbände auf Regierung und Parteien den Spielraum für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, etwa für Erziehung und Bildung, einengen. Gemeinwohl wird in der Argumentation nur negativ bestimmt: daß es dabei nicht um materielle Gruppeninteressen gehe ... . Eine Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert, ist demnach vor allem dadurch charakterisiert, daß sie die vorhandene Gliederung der Gesellschaft, das System der sozialen Über- und Unterordnung, vor Veränderungen sichert und damit auch die eigene soziale Stellung der Lehrer als Angehörige des Mittelstands garantiert. Die abstrakte Rede vom Gemeinwohl, die so tut, als entspräche die bestehende soziale und ökonomische Struktur, etwa die Einkommensverteilung, den Interessen aller, fungiert also letzten Endes als ideologisches Alibi des Mittelstandes, die eigenen Interessen in unserer Gesellschaft zu wahren. Politik, die nicht nach Gruppeninteressen, sondern nach dem 'Gemeinwohl' sich richtet, ist nach Auffassung der Lehrer an moralischen Normen, Wertvorstellungen und 'Idealen' orientiert. 'Bindung an gerechte Institutionen', 'Verantwortungsgefühl', 'Rücksicht auf den Nächsten', 'Gemeinschaftsgefühl' und 'Partnerschaft', der 'rechte Gebrauch der Freiheit', die 'gesunde und aufbauende Kritik',, die 'soziale Tat' und 'das richtige Verhalten in der Gemeinschaft', die Orientierung an der 'gesunden Mitte', der Verzicht auf 'krassen Egoismus', eine 'anständige

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Wirtschaftsgesinnung', 'Zusammenarbeit und Kompromißbereitschaft', 'Opfersinn' und die 'Bereitschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen', - solche 'Ideale' stellen die Lehrer der gegenwärtigen politischen Praxis entgegen. Politik, die diese Verhaltensnormen beachtet, ist nach ihrer Auffassung 'Dienst am Staat und am Gemeinwohl." (S. 152 f.).

Charakteristisch für dieses Bewußtsein sind vor allem folgende einzelne Momente:

a) Politische Verhältnisse werden aus den unmittelbaren menschlichen Beziehungen interpretiert, also personalisiert. Politische Ärgernisse und Krisen entstehen demnach vor allem durch menschliche Unzulänglichkeiten, die zu einem wesentlichen Teil biologisch bedingt sind und insoweit auch nicht verändert werden können. Folgerichtig ist es ein Hauptziel der politischen Bildung, den durch Erziehung veränderbaren Katalog der privaten Tugenden positiv zu beeinflussen. Vor allem in den Vorstellungen der Volksschullehrer und Berufsschullehrer steht deshalb das Training der politischen Gesinnung an erster Stelle.

b) Demgegenüber geraten objektiv-strukturelle politische Konflikte nicht in den Blick; auch diese werden vielmehr als Unverträglichkeiten von Individuen interpretiert. Die Behandlung realer politischer Konflikte im Unterricht wird daher mit der Begründung abgewehrt, daß dadurch nur negative Gesinnungen stimuliert würden.

c) Charakteristisch ist ferner, daß selbst eine so offensichtliche Tatsache wie die Bildungsbenachteiligung von Unterschichtkindern, die jedem Lehrer aus der eigenen Berufspraxis vertraut ist, nicht aus historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen erklärt wird, sondern entweder aus einem biologistischen Begabungsbegriff oder aus der Bildungsunwilligkeit der Eltern bzw. der Bildungsarmut des "Milieus", wobei beide Ursachen als eine Art Naturkonstante gelten und nicht gesellschaftlich hinterfragt werden.

d) Schließlich ist auch die Einstellung zur Gewerkschaft aufschlußreich in diesem Zusammenhang. Sie entspricht der "Abneigung, die Wirksamkeit von partikularen materiellen Interessen in Politik und Gesellschaft anzuerkennen. In

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den Augen vieler Lehrer ist die Existenz von Organisationen, die solche Interessen vertreten und durchzusetzen versuchen, ein Ärgernis." (S. 151). Dabei stehen die Gewerkschaften im Mittelpunkt der Kritik, während sich weitaus seltener Bemerkungen gegen die Unternehmerverbände finden. "Mit ihren antigewerkschaftlichen Auffassungen befinden sich die Lehrer in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik, deren Klima nicht eben gewerkschaftsfreundlich ist. Daß die meisten bedenkenlos die verbreiteten Vorurteile übernehmen, erklärt sich aus ihrer sozialen Stellung und ihrer sozialen Selbsteinschätzung. Die sozialökonomische Entwicklung der letzten Jahre erscheint ihnen als beklagenswerte Nivellierung der traditionellen Unterschiede des Lebensstandards und des Sozialprestiges" (Becker, S. 151 f.).

Unschwer ist zu erkennen, daß in diesem Bewußtsein wichtige Elemente der Texte von Oetinger und Litt wiederkehren. Litts Favorisierung der staatlichen Macht im Unterschied zu den gesellschaftlichen Interessen etwa spiegelt sich wider in den Hoffnungen, die sich an die materiell uneigennützige "Überparteilichkeit" des Staates für die Sicherung des mittelständischen Status knüpfen. Und Oetingers "Partnerschaft" wird aus einer Methode zur Behandlung von (allerdings auch personalisiert verstandenen) Konflikten in die Idylle eines konfliktfreien, harmonisierenden "Gemeinschaftshandelns" verwandelt.

2. Die spezifisch "pädagogischen", genauer: "schulpädagogischen" Attitüden dieses politischen Bewußtseins sind zwar nicht eindeutig herauszupräparieren, verdienen aber trotzdem besondere Beachtung, weil sie den Bewußtseinsspielraum des Lehrers zusätzlich determinieren. Spätestens seit den zwanziger Jahren wurde ja die Schule auf dem Erfahrungshintergrund der jahrzehntelangen Schulkämpfe und unter dem ideologischen Einfluß der "autonomen" geisteswissenschaftlichen Pädagogik als politisch "neutrale" Institution bestimmt, weil nur durch diese politische Abstinenz der "Schulfriede" in einer Klassengesellschaft gesichert erscheinen konnte. Selbstverständlich war diese Neutralität

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von Anfang an eine Fiktion, wie etwa die Parteilichkeit des von Teschner und Becker analysierten Lehrerbewußtseins deutlich zeigt; aber sie hinterließ notwendigerweise Spuren im Selbstbewußtsein der Lehrer. So erklärt sich etwa die durchweg feststellbare Sensibilität für die Gefahr der "parteipolitischen Beeinflussung" der Schüler aus einem der "neutralen" Definition der Schule erwachsenden Ethos: der Lehrer dürfe das ihm übertragene "neutrale Amt" nicht zugunsten seiner politischen (und weltanschaulichen) Meinungen mißbrauchen. Es ist daher mehr als verständlich, daß die Frage, wie weit der Lehrer im politischen Unterricht gehen dürfe, in dem vorliegenden Untersuchungsmaterial eine entscheidende Rolle spielt.

Andererseits beruhte die "neutrale" gesellschaftliche Definition der Schule auf der pädagogisch-ideologischen Voraussetzung, daß das Kind bzw. der Jugendliche selbst gesellschaftlich exterritorial definiert werden könne, daß also das Heranwachsen zumindest im Normalfalle unpolitisch begriffen werden könne. Aus dieser Annahme, die für die "autonome" Pädagogik konstitutiv war, ergab sich die ebenfalls durchweg im Material erkennbare Meinung der Lehrer, die Existenz von Kindern und Jugendlichen habe keine politische Dimension, Kinder und Jugendliche hätten demzufolge auch keine politischen Interessen und der politische Unterricht könne deshalb nur vorbereitenden Charakter haben.

Signifikante Unterschiede zwischen dem Bewußtsein der Gymnasial- und Volksschullehrer lassen sich nicht feststellen - mit einer allerdings bezeichnenden Ausnahme: Während die Gymnasiallehrer die mangelhafte fachliche Ausbildung bedauern, halten die Volksschullehrer sie für weitgehend unerheblich.

Diese wenigen Hinweise zeigen bereits, daß die überlieferte gesellschaftliche Bestimmung der Schule selbst den Intentionen der politischen Bildung erheblich widerspricht und daß deren Chancen umgekehrt nur dann steigen können, wenn die Aufgaben der Schule entsprechend neu bestimmt sind, z. B. mehr in Richtung einer "lebensbegleiten-

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den" Funktion. Man darf wohl davon ausgehen, daß die Reflexion der mittelständischen Voreingenommenheiten nicht zuletzt deshalb so schwerfällt, weil sie durch den ständigen beruflichen Umgang mit Un-Mündigen - also durch eine Art von professioneller Deformation - selbst immer wieder verhindert wird. Personalisierungen objektiver gesellschaftlicher Strukturen und Widersprüche sowie die Reduktion auf psychologische Erklärungen erscheinen dem Lehrer weniger als mittelständische Ideologie, denn als kindgemäße didaktisch-methodische Notwendigkeit.

Jedenfalls kommen Becker und Teschner hinsichtlich des politischen Bewußtseins der Lehrer zu einem im ganzen negativen Ergebnis: "Unvermittelt stehen zutreffende Beobachtungen, abstrakte Beteuerungen und Restbestände der mittelständischen Ideologie nebeneinander. Nach unseren Befunden kann von einem strukturierten Bewußtsein, das der konsequenten und konsistenten Argumentation fähig ist, bei den meisten Lehrern kaum gesprochen werden" (S. 155).

Und im Hinblick auf die Folgen für den politischen Unterricht urteilt Teschner: "Vieles deutet darauf hin - etwa die Ausklammerung politisch kontroverser Themen; die Art, in der die Lehrer das Postulat der politischen Neutralität interpretieren und praktizieren; die statischen Kategorien, in denen sie denken, und die damit einhergehende Tendenz, sozial bedingte Unterschiede zwischen den Menschen als natürliche zu deuten; schließlich die Vorherrschaft einer naiv-ungebrochenen mittelständischen Betrachtungsweise von Politik und Gesellschaft - , daß (der politische Unterricht) auf eine blinde Akzeptierung der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse hinausläuft, daß er ganz im Dienst des gesellschaftlichen Status quo steht" (S. 1 33).

Nun stammt das Material der Untersuchungen von Becker und Teschner, wie schon gesagt, aus den ersten sechziger Jahren. Folgerichtig ist von der kritischen Wende, die Habermas und andere Autoren der "kritischen Theorie" der politisch-pädagogischen "Grundsatzdiskussion" gaben,

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noch nichts zu spüren. Es wäre daher zu fragen, ob nicht spätestens im Zuge der Studentenbewegung und im Zusammenhang mit deren Einfluß auf die Hochschulabsolventen auch Elemente der "kritischen Theorie" ins allgemeine Lehrerbewußtsein eingedrungen sind. Diese Frage ist gegenwärtig nicht klar zu beantworten (vgl. Schefer 1969), allerdings sollte man sich jedoch auch nicht zuviel von einer solchen Möglichkeit versprechen; denn die Determinanten des mittelständischen Bewußtseins und der Lehrerrolle sind zählebig und erstaunlich anpassungsfähig. Selbst in weiten Teilen der "linken" Lehrerbewegung sind die Kernstücke der mittelständischen Ideologie offenbar nur ausgetauscht worden: An die Stelle des den Status garantierenden Staates ist die "Solidarität mit der Arbeiterklasse" getreten, und die Abschaffung des kapitalistischen Systems soll ein neues "Gemeinwohl" kreieren, das die partikularen materiellen Interessen dann endlich wieder unter seine Fuchtel nehmen wird (vgl. Giesecke 1972). Offenbar ist die politische Ideologie der Lehrer im allgemeinen und diejenige bestimmter Lehrergruppen im besonderen nicht nur durch ihre soziale Herkunft bedingt, sondern auch durch pädagogische Traditionen und durch die sozialen Kontexte des beruflichen Handelns selbst. Diese Determinanten müssen deshalb auch Thema des akademischen Studiums sein und im Berufsleben selbst auch Gegenstand der didaktischen und methodischen Reflexion. Geschieht dies nicht, wird also diese Differenz zwischen den Standards der akademischen Diskussion und denen des praktischen Bewußtseins nicht selbst thematisiert, so kann der Fortschritt der einen den anderen auch nicht zugute kommen.

Das gilt in besonderem Maße, wenn im folgenden Kapitel von der Entwicklung der didaktischen Diskussion die Rede ist; denn politisch-didaktische Theorien sind ja solche, in denen Elemente der politischen Theorie unter dem Aspekt des Lernens formuliert werden, also gerade unter dem Aspekt, der für die Berufspraxis der Lehrer von besonderer Bedeutung ist.

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Die Entwicklung der politisch-didaktischen Diskussion

Mit Ausnahme der Arbeit Oetingers enthielten die bisher behandelten Texte keine didaktischen Anweisungen. Bei Oetinger bestand die didaktische Anweisung darin, (an sich beliebige) Konflikte zwischen Menschen nach den Regeln der Partnerschaft zu besprechen und zu behandeln, und zwar mit dem Ziel, daß "das Leben weitergehen" müsse. Litt hatte lediglich eine allgemeine Lernzielbestimmung gegeben ("Einsicht in das Wesen des Staates"), und bei Habermas waren die pädagogischen Aspekte, wie wir gesehen haben, im ganzen ausgeklammert geblieben.

Vom grundsätzlichen Zusammenhang von politischer Theorie, Didaktik und Methodik soll später, im letzten Teil des Buches, noch die Rede sein; auch eine genauere Definition des Begriffes "Didaktik" benötigen wir hier noch nicht. Da es hier erst nur darum geht, die Entstehung und Entwicklung der didaktischen Diskussion zu beschreiben, müssen wir noch keinen ausführlichen Begriff von Didaktik einführen, sondern nur das Problem benennen, um das es geht. Es besteht kurz gesagt darin, daß zwischen dem, was die politisch-gesellschaftliche Theorie an "richtigen" Einsichten und Erkenntnissen anbietet, und dem, was bestimmte Menschen lernen können oder wollen, ein Widerspruch besteht. Sei es, daß diese Erkenntnisse und Einsichten zu schwer sind (z.B. für Kinder), sei es, daß sich Menschen nur für bestimmte Einsichten interessieren, weil diese für ihre tatsächlichen Lebensprobleme von Nutzen sind oder scheinen, für andere jedoch nickt. Jedem ist aus seiner Schulzeit die leidvolle Erfahrung geläufig, wie oft gerade das unterrichtet wurde, was nicht interessierte, während anderes, was man sich gewünscht hätte, nicht auf dem Lehrplan stand. Die spezifische didaktische Problematik besteht also darin, daß, wenn Lernen überhaupt zustande kommen soll, eine Vermittlung zwischen den wünschenswerten Lerninhalten und Lernzielen einerseits und den jeweiligen Lernbedürfnissen und Lerninteressen andererseits hergestellt werden muß, wobei neben anderen vor allem

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altersgemäße Besonderheiten berücksichtigt werden müssen. Anders ausgedrückt: Politische Didaktik hat die Aufgabe, politische Theorie für die Lebensperspektive bestimmter Gruppen von Menschen zu formulieren; es geht also um das "Was" und "Warum" politischen Lernens während das "Wie" eine Aufgabe der Methodik wäre.

Auffallend ist nun, daß die didaktische Diskussion der politischen Bildung sehr viel später einsetzte als die Grundsatz-Diskussion, daß sie lange Zeit ein viel geringeres Niveau erreichte und daß sie ebenso lange im wesentlichen schul-intern blieb, also die öffentliche Diskussion nicht erreichte. Auf den ersten Blick mag es merkwürdig erscheinen, daß gerade diejenigen Überlegungen, die unmittelbare praktische Relevanz hatten, derart vernachlässigt worden waren. Dafür bieten sich folgende Erklärungen an:

1. Die didaktische Problematik wurde im ganzen erst verhältnismäßig spät erkannt. Lange Zeit schien es auszureichen, Lehrpläne und daraus resultierende Schulbücher dem Unterricht zugrunde zu legen, und im übrigen auf die bloß technisch verstandenen methodischen Kenntnisse der Lehrer zu setzen. Die methodischen Regeln waren weitgehend allgemeine, d. h. unspezifisch für den Gegenstand des Politischen (z. B. sollte man möglichst "anschaulich" verfahren, "vom Nahen zum Fernen" fortschreiten und durch Personalisierung von Ereignissen den Unterricht lebendig machen). Noch im vorhin erörterten politischen Lehrerbewußtsein finden sich deutliche Niederschläge solcher Vorstellungen. Daß die didaktische Diskussion so lange ohne nennenswertes öffentliches Interesse vor sich gehen konnte, wurde sicherlich auch dadurch unterstützt, daß man sie als eine schulinterne Fachfrage betrachtete, die sich der Kompetenz Außenstehender ohnehin entziehe.

2. Ferner war offensichtlich auch das Bedürfnis für didaktische Reflexion dadurch begrenzt, daß es eine spezifische Fachausbildung für Sozialkundelehrer lange Zeit nicht gab und zum Teil heute noch nicht gibt, und daß deshalb auch

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das Interesse an einer Fachdidaktik keine institutionelle Basis hatte. Überhaupt hatte während der fünfziger Jahre der politische Unterricht in den Schulen nicht die Bedeutung, die man aus der Kenntnis der "Grundsatzdiskussion" vermuten könnte.

Ein allgemeines Interesse an didaktischen Grundsatzüberlegungen konnte also erst in dem Augenblick entstehen, als die überlieferte rein fachliche Ansicht von der "pädagogischen Provinz" der Schule problematisch wurde. Dies war ein langsamer Prozeß, der erst Anfang der sechziger Jahre einsetzte und durch die Wendung der politischen Diskussion auf innenpolitische Schwierigkeiten und autoritäre Strukturen mit hervorgerufen wurde. Im Rahmen dieser Diskussion, die mit den Studentenunruhen ihren Höhepunkt erreichte, gerieten auch die Interna des Bildungswesens ins öffentliche Interesse. Nicht nur im Bereich der politischen Bildung, sondern ganz allgemein wurden nun zunehmend die Lernziele sowie die Rollen der Lehrenden und Lernenden problematisch, wobei das Maß des Problematisch-Werdens zugleich auch ein Maß für die allmähliche innere Demokratisierung der Schule selbst angibt.

In der überlieferten Schule waren die Lernziele höchstens im fachlich-pädagogischen Sinne problematisch, nicht jedoch im Sinne ihrer politischen Relevanz. Die Lernziele wurden den "objektiven", d. h. in der Substanz nicht kritisierten, für den Schulunterricht antizipierten gesellschaftlichen Erwartungen entnommen (z. B. aus den Interessen des Staates im Hinblick auf die künftigen Erwartungen an den "Staatsbürger"; aus denen der Wirtschaft im Hinblick auf die künftigen Erwartungen am Arbeitsplatz); oder aber die Ziele wurden etwa in der höheren Schule den Wissenschaften entnommen. Das schloß keineswegs aus, daß die öffentliche Schulkritik sich gerade in den letzten Jahren deshalb gegen die Schule wandte, weil diese es versäumt hatte, rechtzeitig die alten Erwartungen durch die neuen zu ersetzen. In unserem Zusammenhang ändert eine solche

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"Modernisierung" jedoch noch nichts am Prinzip. In jedem Falle nämlich waren die Ziele den Heranwachsenden - teilweise durchaus klassenspezifisch - vorgegeben, und die didaktische Problematik reduzierte sich folgerichtig auf die methodische: Wie kann man das so oder so Vorgegebene in welcher Reihenfolge welchem Alter am besten beibringen?

Die Lernenden (z. B. die Schüler) waren in dieser Vorstellung ganz überwiegend Objekte von Lehrangeboten der professionellen Erzieher. Ihre Aktivität und Mitarbeit war zwar erwünscht, aber nur im Rahmen der vorgegebenen Ziele; die Mitwirkung war auf die Ausführung eingeschränkt. Über die Ziele selbst verfügten die Lernenden ebensowenig mit wie über die Planung ihres Bildungsganges im ganzen. Es gab also keine "inhaltliche" Mitbestimmung. Verschärft wurde dieses Problem noch durch die Tatsache, daß infolge der schnellen gesellschaftlichen Veränderungen die Zukunft der Lernenden immer weniger genau antizipiert werden konnte. Die Erwachsenen-Rollen, die sie später erwarteten, wurden immer ungenauer und diffuser. Aus der Perspektive des Lernenden mußte man nun fragen: Warum und wozu soll er eigentlich das Vorgegebene lernen? Wozu dient ihm das heute und später? Und was wird umgekehrt nicht gelernt, wäre aber vielleicht für die Zukunft nötig?

Folgerichtig wird in diesem Zusammenhang auch zunehmend die Position der Lehrenden verunsichert. Können sie noch zuverlässig entscheiden, was für ihre Schüler heute und später wichtig ist? Wenn die Lehrer nicht mehr die unumstrittenen Subjekte des Lehr- und Lernprozesses sein können, welche Funktion haben sie dann?

Diese Hinweise zeigen, daß "Didaktik", obwohl das Wort sehr lange schon im Gebrauch ist - allerdings mehr in der Bedeutung von "Methodik" - , die Bezeichnung für einen Problemzusammenhang ist, der verhältnismäßig neu ist. In dem Maße nämlich, wie das überlieferte Selbstverständnis des Schulehaltens vor allem hinsichtlich der drei Faktoren Lernziele, Rolle der Lernenden und Rolle der Lehren-

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den zerfiel, mußte die Didaktik als methodisch überprüfbare wissenschaftliche Theorie an diese Stelle treten. Didaktik in diesem Sinne ist also schon von ihren Entstehungsbedingungen her eine politisch-relevante Disziplin, und ihre Neuformulierung setzt ein mit Wolfgang Klafkis Buch "Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung" (1959). Eine Zusammenfassung der seitherigen Entwicklung findet sich bei Herwig Blankertz: "Theorien und Modelle der Didaktik" (1969).

Bevor wir nun versuchen, unseren eigenen Vorschlag für eine didaktische Theorie zu formulieren, wollen wir zunächst einige andere Modelle darstellen und kritisieren. Einmal ist dies für das Verständnis unseres eigenen Ansatzes schwer zu entbehren, und zum anderen eröffnet dies dem Leser die Möglichkeit, sich an einigen Beispielen mit der spezifischen didaktischen Problematik überhaupt vertraut zu machen. Die Erfahrungen zeigen nämlich immer wieder, daß es z. B. Pädagogik-Studenten verhältnismäßig schwer fällt, sich für didaktische Probleme aufzuschließen, während die methodische Problematik ihnen sehr viel eher plausibel erscheint. Zudem haben - wie wir schon mehrfach erwähnten - gerade viele "linke" Gruppen die didaktische Problematik erneut eliminiert und sich statt dessen auf die vereinfachte alte Vermittlung von (nun "marxistisch" definierten) Lernzielen einerseits und methodischer Lehrtechnik andererseits kapriziert.

Die folgende Analyse soll einige ausgewählte und voneinander absetzbare Konzepte knapp darstellen und anschließend im Hinblick auf die (expliziten oder impliziten) politischen Lernziele die Rolle der Lernenden und die Rolle der Lehrenden kritisieren. Auf andere, hier nicht behandelte didaktische Konzepte kann nur verwiesen werden (z. B. Sutor 1971; Hornung 1966; Lingelbach 1967; Engelhardt 1968; Andreae 1968; Friedrich Roth 1968; Roloff 1972).

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Die phänomenologische Reduktion: Eduard Spranger

In seiner Schrift "Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung" (1957) geht Spranger von der Frage aus, wie die der jugendlichen Existenz - und damit deren Bildungsinteresse - fernliegende Organisation des Staates vermittelt werden könne mit denjenigen Sozialerfahrungen, die dem Jugendlichen bereits zur Verfügung stehen. "Im Normalfall sind die einzigen Lebenskreise, die der 15jährige durch eigenes Mitleben kennt, die Familie, die Schule (bzw. Lehre) und lose Jugendgruppen" (S. 15). Die Vermittlung scheint Spranger dadurch möglich, daß die in den Sozialerfahrungen der Jugendlichen enthaltenen "Urphänomene" herauspräpariert und zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden, oder genauer gesagt: Diesen Prozeß der Reduktion der Erfahrungen auf Urphänomene soll der Lehrer mit seinen Schülern gemeinsam initiieren. "Der Weg wäre also der, daß zunächst an Gesellschaftsverhältnissen, die dem jungen Menschen schon bewußt geworden sind, weil er in ihnen lebt, Sinnelemente (keineswegs stückhaft Zerrissenes!) hervorgehoben werden, so daß später nicht nur diese selbst wiedererkannt werden, sondern auch die Problematik, die von ihnen unabtrennbar ist, von den einfacheren Grundgebilden her aufgerollt werden kann" (S. 14).

Die Hypothese ist also, daß alle sozialen Beziehungen, von der Familie bis zum Staat, sich auf gewisse Grundstrukturen zurückführen lassen, die als solche vom Jugendlichen erfahrbar und also auch lernbar sind und die eine Art von kategorialem Grundbestand des Bewußtseins abgeben, der im weiteren Verlauf der Biographie nur differenziert zu werden braucht. Konkretisiert bedeutet das: An der "patriarchalischen Kleinfamilie" (S. 15) kann nicht nur "die geschlechtliche Polarität in allem Menschlichen", sondern auch "die Dialektik aller Machtverhältnisse" erkannt werden. "Niemand ist ganz frei, niemand ist ganz unfrei. Eine weittragende Einsicht, die schon an dem Verhältnis von Vater und Mutter illustriert werden kann! Damit leuchten

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zugleich die Gegensatzpaare Herrschaft und Abhängigkeit, Freiheit und Unfreiheit auf" (S. 16). Diskutiert werden kann ferner, "ob die Familienmitglieder gleich oder ungleich sind, ferner: ob es einen in der Familie gebe, der absolut frei ist, d. h. wollen und tun kann, was ihm beliebt ... . Mit der Herrschaftsproblematik ist von vornherein auch das Urphänomen Kampf verflochten. Selbst in der Familie gibt es Kampf, und an ihn ist wieder ein anderes dialektisch gebunden: der Friede" (S. 16).

Neben diesem "ersten Komplex von Urphänomenen" erlaubt die Sozialerfahrung in der Familie bereits die Ermittlung "des Regelhaften" sowie vor allem auch des "Systems der Bedürfnisse", des Verhältnisses von "Bedarf und Bedarfsdeckung". Allerdings ist gerade in diesem Punkte durch die Trennung von Produktions- und Konsumsphäre die Anschaulichkeit des vollen Zusammenhanges nicht mehr gegeben: "Was (der Schüler) von diesen Zusammenhängen erlebt und zu sehen bekommt, ist nur der eine, allerdings sehr spürbare Bezugspunkt: das Bedürfnis und die Güterkonsumtion. Die andere Seite, die produktive wirtschaftliche Arbeit, ist nur noch in den seltensten Fällen ein Faktor des Hauses, kann also von ihm aus nicht in den rechten Blick kommen" (S. 19).

Sind solche Urphänomene gemeinsam mit den Schülern entwickelt und an deren Erfahrungen überprüft, so gilt es, "ihr stetes Wiederkehren" zu beachten, also die grundsätzliche Übertragbarkeit einsichtig zu machen. Spranger exemplifiziert dies an drei Problemkomplexen: der "Problematik um Recht und Gleichheit", den "Formen der Regelung" und dem "dialektischen Verhältnis von Macht und Recht". Wir beschränken uns hier auf eine knappe Darstellung des ersten Komplexes. Demnach lassen sich die "Dimensionen des Zusammenlebens" in der Spannung von "Herrschaft (Freiheit)" und "Abhängigkeit (Unfreiheit)" einerseits und "Selbstbezogenheit" und "Selbstverleugnung" andererseits beschreiben, wobei der Idealfall ist, daß diese vier Spannungsmomente eine Art von Gleichgewicht ergeben:
 

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"Wählt man ein rechtwinkeliges Koordinatensystem in der Ebene, so leuchtet die Bedeutung der senkrechten Bezugslinie unmittelbar ein. Wer an ihrer Spitze steht, ist gesellschaftlich übergeordnet ('oben'); wer am anderen Ende steht, ist gesellschaftlich untergeordnet. Derartige Beziehungen müssen an naheliegenden Lebensverhältnissen anschaulich illustriert werden. Dabei wird sich herausstellen, oder vielmehr: es muß durch störende sokratische Fragen herausgebracht werden, daß eigentlich niemand ganz eindeutig obensteht, sondern daß der Herrschende in vieler Hinsicht auch abhängig ist und umgekehrt ... . Im Gespräch taucht die Möglichkeit, daß alle gleich sein könnten, als ein Optimalfall auf, der dem Kampf um das Obensein ein Ende machen würde. Es wird also jetzt die waagrechte Koordinate (Abszisse) geprüft.

In der Dimension der grundsätzlichen Gleichheit waltet immer noch ein Kampfmoment. Es stammt aus der Selbstbejahung der einzelnen. Diese wäre in der Figur ganz am linken Ende anzusetzen, während am rechten Ende die Selbstverleugnung steht. Der linken Seite entspricht demgemäß das Gegeneinander der Gleichen, der anderen Seite das Miteinander. Für das letztere bietet sich eine Fülle von Namen an, die keineswegs gleichwertig sind: Kameradschaft, Solidarität, Altruismus, Opferbereitschaft, Hingabe, Selbstverleugnung. Natürlich können diese Phänomene nicht bis zur vollen Wesenseinsicht geklärt werden. Auch die Selbstbejahung kann sehr vieldeutig sein: von der nackten Selbstsucht (Egoismus) bis zur ethischen Selbstzucht. Selbstbezogenheit läßt sich aus dem Zusammenleben niemals auslöschen. - Wieder muß an eigene Erfahrungen der jungen Menschen angeknüpft werden; die Schule enthält bereits unmittelbar verständliche Erscheinungen, nicht nur von Rangordnung, sondern auch von Gegeneinander, Miteinander, Füreinander" (S. 20-22).

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Dieses vereinfachte Modell erlaubt eine Reihe von Grundeinsichten: "In der gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt es kein ausschließliches Übereinander und kein reines Nebeneinander; es gibt keine absolute Freiheit und keine absolute Gleichheit" (S. 22). Dabei gibt der Koordinaten-Anfangspunkt A das wünschbare Gleichgewicht zwischen den Extremen an:

"Hier halten sich Herrschaft und Abhängigkeit die Waage, hier halten sich aber auch Selbstinteresse und fremdes Interesse die Waage. Das letztere deutet auf ein Verhältnis der Gegenseitigkeit hin, bei dem niemand ganz verliert und niemand ganz gewinnt (Mutualismus). Das ist die 'Grundidee' des wirtschaftlichen Verkehrs, die für später vorgemerkt werden muß. Jedem leuchtet aber auch ein, daß auf dem freien Markt doch keine volle Gleichheit besteht. Auch auf ihm gibt es Obensein und Untensein, Machtpositionen und Abhängigkeiten. Was hier abstrakt formuliert ist, muß in der lockeren Unterrichtsdiskussion ganz einfach und anschaulich gemacht werden. Der eine geht auf den Markt mit 110 Mark in der Tasche, der andere mit 100 DM. So rücken Reichtum und Armut unter das Licht von Macht und Unterlegensein. - Auch die Interessengleichheit ist nie ganz ausgewogen. Entweder der Verkäufer oder der Käufer kommen ein wenig besser weg. Von fern wird schon 'das ökonomische Prinzip' als Gesetz des wirtschaftlichen Gebietes sichtbar" (S. 23).

Aber auch das "Urphänomen Kampf" wird aus diesem Modell plausibel: Die Gesellschaft "enthält nicht nur das Miteinander, sondern auch - auf der negativen Seite der Horizontale - das Gegeneinander von Gleichgestellten; auf der Vertikalen nicht nur die Schichtung statischer Art, sondern ein ständiges Aufsteigen und Absteigen. Das Urphänomen Kampf ist allenthalben anzutreffen" (S. 23).

Spranger hat mit diesem didaktischen Ansatz die philosophische Methode der "phänomenologischen Reduktion", die wir hier als solche nicht diskutieren können, zur Ermittlung eines politisch-didaktischen Grundmodells benutzt. Es hat in den fünfziger Jahren nicht nur in der "reinen" Form, wie Spranger es vorgetragen hat, sondern auch in anderen Varianten der Reduktion auf einfache Grundmuster, vor

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allem in der Berufsschule und Volksschule, eine große Rolle gespielt. Bei der folgenden Kritik klammern wir die Frage aus, ob dieses Verfahren als ein methodisches Prinzip des Unterrichts, begrenzt und im Zusammenhang mit konkurrierenden anderen Methoden, eine partielle Berechtigung haben könnte. Unsere Kritik geht vielmehr davon aus, daß es sich hier um ein generelles, also didaktisches Modell handelt.

1. Richtet man den Blick auf den politischen Inhalt des Modells, so fällt zunächst das Fehlen jeglicher realgeschichtlicher und gesellschaftlich-objektiver Dimensionen ins Auge Es ist nicht vorgesehen, etwa das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im Kontext der realen Geschichte zu thematisieren und so seinen gegenwärtigen Stellenwert zu ermitteln. Statt dessen erscheinen die "Urphänomene" als eine Art von Naturkonstanten, die sich zwar historisch modifizieren, aber im Grunde mit sich identisch bleiben. Nicht nur an diesem Punkte drängen sich Vergleiche mit dem vorhin behandelten politischen "Lehrerbewußtsein" auf, sondern auch im Hinblick auf die mittelständische Bewußtseinstendenz, das Richtige in der Mitte zwischen den Extremen zu sehen, worin analog die mittlere Gesellschaftsposition des Mittelstandes zum Ausdruck kommt. Selbstverständlich hat sich Spranger im konkreten Unterrichtsgespräch eine größere Differenzierung vorgestellt, als in seinem knapp formulierten Modell zum Ausdruck kommt. Aber für diese Differenzierung liefert sein Modell keine Kriterien mehr, so daß der subjektiv beliebigen Interpretation konkreter politischer Sachverhalte Tür und Tor offensteht. Das gilt auch für die Frage, wie beim Transfer der Erfahrungen aus den "primären sozialen Horizonten" in die "sekundären" die Fehleinschätzung vermieden werden kann, die politischen Systeme und Institutionen verhielten sich "wie die Familie" oder "wie die Jugendgruppe". Der am schwersten wiegende Einwand ist jedoch wohl, daß die allgemeinen Einsichten, wie daß es ein "Oben" und "Unten" in der Gesellschaft immer gebe, und

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daß auch unter Gleichen Kampf unvermeidlich sei - Einsichten, die in dieser Allgemeinheit nicht falsch sind - , angesichts des Verzichtes auf historisch-gesellschaftliche Konkretisierung doch ganz überwiegend zur Anerkennung des gesellschaftlichen Status quo neigen. Solche Einsichten legen die Interpretation nahe, daß der Einsatz für praktische Veränderungen sich doch nicht lohnen könne, wenn gleichsam die Natur schon dafür sorgt, daß sich dadurch nichts Wesentliches verändern wird. Stellt man zudem in Rechnung, daß dieses Konzept ausdrücklich in erster Linie für Volks- und Berufsschulen entwickelt wurde, also für die Kinder der unteren sozialen Schichten, so muß es im Hinblick auf seine politischen Lernziele als ausgesprochen restriktiv eingestuft werden; zudem vermag Spranger noch weniger als Litt die Besonderheiten der demokratischen Staatsverfassung zu bestimmen; eher schwingt etwas von Zweifel mit, wenn er auf die Notwendigkeit verweist, nun auch "die Masse" - unter anderem durch politische Erziehung - auf jene "Höhe der individuellen Sittlichkeit zu bringen, deren das Individuum, das den Staat tragen will, eigentlich bedarf" (S. 48). Im ganzen gehört - trotz nicht zu übersehender Unterschiede - Sprangers Text in denjenigen politisch-ideologischen Zusammenhang, den wir schon bei Litt diskutiert haben.

2. Auf den ersten Blick scheinen die Schüler in Sprangers Modell einen großen Spielraum für Mitbestimmung zu haben; denn Thema des Unterrichts sind nicht in erster Linie Stoffe, die der Lehrer beherrscht und dem Schüler beibringt, sondern die bisherigen Erfahrungen der Schüler selbst, die durch ein bestimmtes methodisches Vorgehen, das die Schüler selbst mitvollziehen und kontrollieren können, auf grundsätzliche Einsichten hin bearbeitet werden sollen. Im Vordergrund steht also nicht die Bearbeitung genuin politischer Stoffe, sondern eine Art von methodisch überprüfbarem politischem Philosophieren. Und insofern dem Denken unter Beachtung der jeweils vorfindbaren Lebenserfahrung der Vorrang eingeräumt wird, kann man Sprangers Modell zumindest formal als ein solches bezeich-

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nen, das der inhaltlichen Mitbestimmung der Schüler einen großen Raum gibt, zumal Spranger der Diskussion zwischen Lehrern und Schülern einen hohen Stellenwert einräumt (S. 50).

Jedoch muß dies sogleich mit einigen Einschränkungen versehen werden; denn das antizipierte Ergebnis des gemeinsamen Denkens ist, wie wir sahen, politisch-ideologisch höchst problematisch und führt z. B. mit Sicherheit nicht zur Entdeckung der eigenen politischen Interessen und zum Entwurf von Strategien zu deren Verwirklichung. Heraus kommt in der Regel nicht mehr als ein durch affirmative Einsichten verdoppelter Status quo, Einsicht in die Notwendigkeit der vorgefundenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Insofern ist Sprangers Modell ein Beleg dafür, daß eine sehr weitgehende Demokratisierung der Lehrer-Schüler-Kommunikation, die sich nicht nur auf den Stil, sondern auch auf die Inhalte bezieht, allein noch keinen Fortschritt an demokratischem Bewußtsein und Verhaltensspielraum erbringen muß, solange dahinter nicht wenigstens Konturen einer angemessenen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung stehen.

Zudem ist die Frage, ob Sprangers Ausgangshypothese zutrifft, daß der Jugendliche zu den "ferner liegenden" sozialen Horizonten des Staates und der Gesellschaft keinen Zugang habe und deshalb nur "propädeutisch" politisch gebildet werden könne. Diese Vorstellung von der politischen Exterritorialität des Kindes- und Jugendalters geht auf den reformpädagogischen und geisteswissenschaftlich-pädagogischen Ansatz zurück; er hat zur Voraussetzung, daß das Kind als psychologisches Individuum unter Ignorierung seiner realen sozialen Kontexte begriffen und so zum monopolisierten Berufsobjekt der professionellen Erzieher erklärt wird (vgl. Giesecke 1972). Nimmt man jedoch die realen sozialen Kontexte des Kindes und Jugendlichen ernst, etwa im Rahmen seiner Familie, so ist es z. B. über seine sozio-ökonomische Existenzbedingung unmittelbar auch mit der politischen Sphäre verbunden. Sprangers Ausgangsproblem erscheint so eher dem Wunschdenken

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einer pädagogischen Tradition als wirklichen empirischen Befunden zu entspringen und ist überdies ein Beweis dafür, daß der Verzicht auf sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte auch im Detail zu schwerwiegenden pädagogischen Fehleinschätzungen führen muß.

3. Die Position des Lehrenden im vorliegenden Modell kann etwas vereinfacht so beschrieben werden: Er ist dem Schüler zwar - im Idealfall - durch die Reife seiner "sittlichen Persönlichkeit" überlegen, nicht jedoch im gleichen Maße auch durch seine politischen Kenntnisse. Die Benutzung sokratischer Fragemethoden ist wichtiger als die Darstellung der Stoffe. So hat die Praktizierung des Modells keineswegs spezifische sozialwissenschaftliche Kenntnisse zur Voraussetzung. Auch der Lehrer verbleibt vielmehr im hermeneutischen Zirkel des "gesunden (mittelständischen) Menschenverstandes", der durch wissenschaftliche inputs von außen nicht gefährdet werden muß. Die Gefahr, daß der politische Unterricht unentwegt mittelständische Voreingenommenheiten reproduziert, liegt schon im Modell selbst; sie vergrößert sich nun noch dadurch, daß es die besonders bei Lehrern vorhandenen Einstellungen verschärft, anstatt sie durch die Konfrontation mit sozialwissenschaftlichen Theorien, Modellen und Kenntnissen zu korrigieren.
 

Die Reduktion auf "Grundeinsichten": Fischer - Herrmann - Mahrenholz

Spranger ging, wie wir sahen, bei seinem didaktischen Ansatz vom Problem der Vermittlung zwischen den jugendlichen Sozialerfahrungen einerseits und den Strukturen von Staat und Gesellschaft andererseits aus. Im Unterschied dazu geht es den Verfassern des Buches "Der politische Unterricht" (2. Aufl. 1965) - Kurt Gerhard Fischer, Karl Herrmann, Hans Mahrenholz - um das Endprodukt des "politisch Gebildeten", um die "Suche nach dem Maßgeblichen politischen Laienverhaltens in unserer Zeit, das Ziel aller politischen Bildung und Maßstab politischer Urteile

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und Handlungen ist" (S. 5). Dieses Ziel kann nicht in einer Fülle von Wissen liegen, das ohnehin nicht überzeugend zu begrenzen wäre; auch nicht in einem irgendwie konzipierten Lehrplan, denn politisches Wissen läßt sich nicht überzeugend von Schuljahr zu Schuljahr aufbauen. Überhaupt sind die Stoffe - wie immer sie ausgewählt sein mögen - nicht das Wesentliche. "Die Lehrgüter des politischen Unterrichts sind auswechselbar ... . Aus der Tatsache, daß für die politische Bildung der Stoff und seine geistige Durchdringung niemals Selbstzweck, sondern immer Mittel zum Zweck ist, ergibt sich die Aufgabe des Lehrers, nur solchen Stoff in den Unterricht einzubeziehen, an dem politische Einsichten geweckt werden können, und unter vielen möglichen Stoffen jenen den Vorrang zu geben, an denen sich Einsichten am besten entfalten lassen" (S. 16). Der didaktische Kern dieses Modells sind neun Einsichten, die an immer neuen Stoffen erworben und trainiert werden und die dann gleichsam das Rückgrat des politischen Bewußtseins, Urteils und Handelns bilden sollen. Die Stoffe, an denen diese Einsichten gewonnen werden, sollen zwar aktuell sein, aber nur wegen des Interesses der Schüler: Das Schülerinteresse soll den Stoff bestimmen (S. 90). Daraus folgt, daß der politische Unterricht immer "Gelegenheitsunterricht" ist, der die von den Schülern jeweils ins Spiel gebrachten "fruchtbaren Momente" aufgreifen muß. Die neun Einsichten lauten folgendermaßen:

"1. Ohne die Kulturschöpfung 'Staat' ist menschliches Leben nicht denkbar; denn der Mensch ist nicht geschaffen, ein Einzeldasein zu führen.

2. Politik ist das Ringen um den Besitz von Macht, mittels derer ein bestimmtes Bild staatlicher Ordnung verwirklicht werden soll. Politik ist aber auch der Gebrauch der Macht zur Verwirklichung einer Ordnung.

3. Wer meint, in der Politik heilige der Zweck die Mittel, übersieht, daß der Wert einer Politik nie allein durch den Erfolg bestimmt wird, sondern ebenso durch den Preis, der dafür zu zahlen ist.

4. In der Gesellschaft von heute vermögen einzelne und gesellschaftliche Intimgruppen nicht mehr allein, eine als gerecht emp-

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fundene Ordnung der Daseinsvorsorge herzustellen. Daher ist dem Staat zu seiner herkömmlichen Aufgabe der Ordnung des Daseins die der Ordnung der Daseinsvorsorge zugefallen. Daraus ergibt sich eine Abhängigkeit jedes einzelnen von allen anderen.

5. 7;ur politischen Willensbildung und zur Verwirklichung des Gewollten bedarf es ständiger Integration vieler unterschiedlicher Interessen innerhalb von Verbänden, innerhalb der Parteien und im Parlament.

6. Menschliches Freiheitsstreben richtet sich auf Autonomie in der Entscheidung für Werte und bei ihrer Verwirklichung. Demokratie ist jene Herrschaftsform, die individuelle und Gruppeninteressen am wenigsten einschränken will und damit am wirksamsten den Mißbrauch staatlicher Macht hindert. Deshalb ist Demokratie unter den Herrschaftsordnungen das 'geringere Übel'. Ihre verpflichtende Idee besteht darin, daß ihre Bürger keiner Idee verpflichtet sind.

7. Die Erhaltung demokratischer Freiheit ist weitgehend eine Frage der politischen Bildung aller Bürger. Politischer Einsicht muß politisches Tun folgen. Denn jedermann ist vom Politischen betroffen. Auch der Unpolitische hat sich politisch entschieden.

8. In der Politik gibt es verschiedene Meinungen. Die 'richtige' Meinung gibt es nicht. Darum geht es politisch immer um 'besser oder schlechter', niemals um 'gut oder schlecht'.

9. Die Alternative zur schlecht funktionierenden Demokratie heißt nicht Diktatur oder totalitäre Herrschaftsordnung, sondern besser funktionierende Demokratie" (S. 32 f.).

Die Begründung für die Auswahl der Einsichten erfolgt mit philosophischen Argumenten: Die Einsichten "sind Evidenzurteile im Sinne der Philosophie, Grundüberzeugungen des politischen Lebens, die den Konsensus des demokratischen Staates konstituieren, ... sie umschreiben und umgreifen den Boden, auf dem alle demokratischen Parteien sich finden und der auch von den Verbänden anerkannt und respektiert wird" (S. 31). "Ein evidentes Urteil der Philosophie ist eine solche Aussage, die weder durch Gründe bewiesen noch widerlegt werden kann. Ihr Gegenteil stellt sich allerdings als ein Urteil heraus, das für sich auch Evidenz beanspruchen kann. Mithin gilt: Man kann, sofern dafür die geistigen Kräfte überhaupt ausreichen, die Aussage entweder einsehen oder auch nicht. Der Ein-

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sichtige äußert sich deshalb: 'Das leuchtet mir unmittelbar ein'. Zwar können - etwa aus der Geschichte - Belege beigebracht werden, die dem einen oder anderen die Zustimmung zu einem Evidenz-Urteil erleichtern. Doch keine Argumentation spricht zwingend für die Richtigkeit der getroffenen Aussage" (S. 26). Die von den Verfassern vorgeschlagenen neun Grundeinsichten "sind unausgesprochen in der Verfassung des Staates verborgen" (S. 25), auf ihnen beruht das Funktionieren von Staat und Gesellschaft, und "als ein 'Kanon' sind sie die Formulierung des Konsensus der an Meinungs- und Willensbildung der Demokratie beteiligten Kräfte, der Parteien, Verbände und des Parlaments. Die Umkehrung der hier gemeinten evidenten Aussagen konstituiert die Diktatur, die totalitäre Herrschaft" (S. 36). Der größte Teil des Buches ist nun der Konkretisierung dieses allgemeinen Ansatzes gewidmet; an historischem und aktuellem politischem Material wird die Tragfähigkeit der Grundeinsichten ausführlich behandelt, und den Schluß bildet eine Reihe von Unterrichtsentwürfen

Zunächst wäre zu prüfen, ob es sich bei diesen Einsichten wirklich um Evidenzurteile handelt, die weder durch Gründe bewiesen noch widerlegt werden können. Zumindest für die Einsichten 4 und 5 gilt das offensichtlich nicht. Hier handelt es sich vielmehr um Thesen, die grundsätzlich etwa durch historische oder politikwissenschaftliche Untersuchungen bewiesen oder widerlegt werden können.

Schon beim ersten Blick fällt auf, daß die Einsichten aus ganz verschiedenen Arten von Sätzen bestehen, die überhaupt nicht unter einem philosophisch-logischen Begriff zusammenzufassen sind. Die Aussage der Einsicht 1 ist in der vorliegenden logischen Verknüpfung von Vorder- und Schlußsatz in dieser Allgemeinheit falsch. Das Bedürfnis, kein Einzeldasein zu führen, kann auch in vor-staatlichen Formen befriedigt werden (z. B. in Nomaden-Stämmen). Die Einsicht 2 enthält eine verhältnismäßig beliebige Definition des Begriffes Politik. Die Einsicht 3 ist ein normativer Satz. Der erste Satz der Einsicht 6 enthält eine leerformelhafte, also inhaltlich unbestimmte Behauptung; der

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zweite und der dritte Satz enthalten Behauptungen, die positiv wissenschaftlich nachgeprüft werden können, also in diesem Sinne "wissenschaftliche" Aussagen sind; der vierte Satz ist - gemessen am eigenen Anspruch - unklar: Wenn die Einsichten den Konsensus unseres Staates widerspiegeln, müssen die Bürger ihnen auch verpflichtet werden können (vgl. S. 25: "Dem Funktionieren der politischen und sozialen Wirklichkeit liegen einige Grundüberzeugungen zugrunde, zu denen sich zu bekennen dem Staatsbürger abverlangt wird"). Der zweite Satz der Einsicht 7 ist ein Postulat; die anderen Sätze sind wieder positivwissenschaftlich verifizierbar. Der erste Satz der Einsicht 8 ist empirisch zu erhärten; der zweite Satz ist eine bloße Behauptung, solange der begründende Zusammenhang nicht angegeben wird (z. B. Iieße sich sagen: Nur dann, wenn es keine gesamtgesellschaftliche Theorie geben kann, gibt es auch keine "richtige" Meinung). Die Einsicht 9 ist zumindest mißverständlich formuliert; denn selbstverständlich kann, wie sich historisch beweisen läßt, die Diktatur eine Alternative zur schlecht funktionierenden Demokratie sein; gemeint ist der Satz jedoch offenbar normativ, im Sinne der Aufforderung, eine schlecht funktionierende Demokratie zu verbessern, anstatt sie durch eine Diktatur abzulösen. In diesem Sinne enthält der Satz also eine politische Willenserklärung.

Abgesehen von diesen immanenten Einwänden sind auch zu diesem Modell einige kritische Anmerkungen angebracht.

1. Die politisch-theoretische Kritik muß zunächst bei den Einsichten selbst ansetzen. Sie enthalten, wie wir sahen, eine Mischung ganz verschiedener Aussagearten, die in ihrer Zusammensetzung reichlich willkürlich anmuten und deren Begründung, sie seien Evidenzurteile, nicht akzeptiert werden kann. Aus diesem Grunde hat auch die Behauptung wenig Überzeugungskraft, "im ganzen" gebe das Gegenteil dieser Einsichten das Selbstverständnis diktatorischer oder totalitärer Staaten wieder. Dies könnten sie

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allenfalls dann leisten, wenn sie das Ergebnis befriedigender historisch-politischer Analysen wären, als "Evidenz-Urteile" sind sie jedoch nicht mehr als Beschlüsse des "gesunden Menschenverstandes" mit teilweise schwerwiegenden Konsequenzen. So wird der bloß formale Meinungspluralismus - es gebe nur verschiedene, aber keine "richtigen" Meinungen - nicht mit realen gesellschaftlichen Interessenantagonismen konfrontiert, so daß der Eindruck entsteht, es komme letztlich tatsächlich auf diese Meinungen selbst an und nicht auf deren ideologische Funktion. Die konkreten Interessen und Interessengegensätze, die Probleme der unterschiedlichen Macht- und Vermögensverteilung bleiben zweitrangig. Die Tendenz zur formalen Gleichbehandlung dieser Interessen, die tatsächlich höchst ungleiche Chancen ihrer Verwirklichung haben, verbunden mit der in Einsicht 8 vertretenen Auffassung, nach der auch alle politischen Meinungen gleichgewichtig sind, stabilisiert die tatsächlich vorhandene Ungleichheit; dies gilt um so mehr, da das Buch vor allem für den Unterricht in Volks- und Berufsschulen geschrieben wurde.

Im Unterschied zu Sprangers Entwurf, der nicht spezifisch auf eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung bezogen ist, geht es hier erklärtermaßen gerade darum, die Lernziele des politischen Unterrichts auf die Besonderheiten der demokratischen Staatsform zu beziehen. Die Einsichten haben zum Ziel, die jungen Staatsbürger zur Identifikation mit den normativen Prinzipien und den Regelhaftigkeiten der demokratischen Verfassung zu veranlassen. Dies scheint am ehesten dadurch plausibel zu werden, daß die demokratische Verfaßtheit ins rechte Licht gegenüber den Verführungen durch Diktatur und Totalitarismus gesetzt wird. Und ganz gewiß war der wenn auch nur formale Pluralismus ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zum monolithischen Nationalsozialismus. Aber in der bundesrepublikanischen politischen Landschaft Anfang der sechziger Jahre war nicht der alte Faschismus der allgemein akzeptierte politische Gegner, sondern der Kommunismus in der DDR und in den anderen Ostblockländern. Die wich-

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tigste ideologische Funktion dieses Anti-Kommunismus bestand darin, die Diskussion der inneren Widersprüche unseres Staates zu verhindern und zur Not auch zu denunzieren.

In vielem zeigt sich eine nahe Verwandtschaft zu dem Modell Sprangers - sowohl im Hinblick auf die theoretisch-politischen Aspekte wie auch angesichts der grundsätzlichen Problematik der Reduktion des politischen Unterrichts auf einige wenige "Grundeinsichten". Hier wie dort ist auch die Unterbewertung der spezifischen politischen "Stoffe" charakteristisch. Zwar öffnet das Modell von Fischer/Herrmann/Mahrenholz im Unterschied zu Spranger den Unterricht für aktuelle, "wirkliche" politische Stoffe, aber nur, um diese unter die vorgegebenen Einsichten zu subsumieren.

So können sich systematische, an den Interpretationsmodellen der politischen und sozialen Wissenschaften orientierte Vorstellungen kaum entfalten. Ebenso problematisch ist die Bevorzugung des Gelegenheitsunterrichts, der ebenfalls kaum zum Aufbau systematischer Vorstellungen führen kann.

2. Die Frage nach der Rolle der Lernenden beantwortet sich ambivalent. Einerseits wird den Lernenden viel Spielraum eingeräumt (Gelegenheitsunterricht; die stofflichen Interessen der Schüler sollen den Vorrang haben), andererseits aber werden gerade diese stofflichen Interessen nicht ernst genommen, weil die Stoffe ja auswechselbar, also "uneigentlich" sind angesichts der zu erzielenden Einsichten.

Dabei werden die Interessen der Schüler als gegeben hingenommen, ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß diese Interessen doch irgendwie produzierte sind, den Schülern "anerzogene" oder "eingeredete". Der Unterricht müßte wohl auch noch nicht bewußte Interessen freilegen bzw. ermöglichen. Gerade dies, nämlich die Entdeckung von Interessen und die politische und private Identifizierung mit ihnen dürfte zu den vordringlichen Teilaufgaben der politischen Bildung gehören. Zu diesem Zweck kann auf systematischen politischen Unterricht, zumindest auf Konfrontation mit Stoffen und Zusammenhängen, für die zu-

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nächst noch kein Interesse besteht, kaum verzichtet werden. Überhaupt ist die Frage, ob "Einsichten" der vorgeschlagenen Art wirklich Interessen mobilisieren können, oder ob sie nicht umgekehrt eher dazu führen, bereits vorhandene wieder zu verdrängen.

Auch in diesem Modell spielen die konkreten sozialen Bezüge der Schüler, ihre schichtspezifischen Sozialisationsprozesse und "Lern-Reichweiten" und die daraus resultierenden Interessen kaum eine Rolle. Vielmehr könnten sie nur dann zum Zuge kommen, wenn sie von den Schülern selbst bei der Entscheidung für einen bestimmten Stoff artikuliert würden, was aber kaum zu erwarten ist. Die Schüler werden hier auf den gleichen Nenner der "Staatsburgerrolle" gebracht, abstrakt als "Bürger" einer Demokratie angesehen, die ohne Rücksicht auf ihre realen Unterschiede die gleichen Einsichten haben sollen. Selbst in dem Teil des Buches, der sich mit der "Didaktik des politischen Unterrichts vom Schüler aus" befaßt (S. 95 ff.), wird zwar die "Phasengerechtigkeit" des politischen Unterrichts gefordert, aber die "bestimmte Umwelt" des Schülers, die doch heute sozialwissenschaftlich genauer zu beschreiben wäre, wird im Anschluß an Pestalozzi nur allgemein angedeutet.

Wenn also der Schüler wirklich gelernt hat, jene Einsichten zu verstehen und sie auf immer neue Stoffe hin anzuwenden bzw. aus ihnen abzulesen: Wozu wird er dann tatsächlich m der Lage sein? Wird er seine Interessen erkennen können? Die Mittel zu ihrer Durchsetzung und Vertretung kennen? Wird er damit seine politischen Gegner ermitteln können? Wird er eine seinen Interessen gemäße politische Wahlentscheidung treffen und die Feinde unserer politischen Verfassung richtig erkennen können? Vieles spricht dagegen, daß jene Einsichten ihm dabei wirklich nützlich sein können.

3 Im Hinblick auf die Rolle der Lehrenden ergibt sich eine ähnliche Problematik wie bei Spranger. Auch hier benötigen die Lehrer eigentlich keine spezielle sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Ausbildung, obwohl

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dies von den Verfassern ausdrücklich gewünscht wird. Vermutlich ist sowohl bei Spranger wie bei Fischer/Herrmann/Mahrenholz der Vorrang des politischen Philosophierens und Denkens zu sehr aus der Perspektive des erwachsenen Lehrenden gesehen. Dieser verfügt ja bereits über eine Fülle von wenn auch nicht unbedingt wissenschaftlich strukturierten Informationen, der Schüler jedoch steht in der Gefahr, mit einem solchen Vorgehen ständig auf informative Lücken in seinem Bewußtsein zu stoßen. Die Befürchtung liegt nahe, daß Lehrer, die selbst nicht gelernt haben, sozialwissenschaftliche Modelle und Strukturen für ihr eigenes Bewußtsein anzuwenden, auch den "Gelegenheitsunterricht" in vielen Fällen sehr zufällig und subjektiv anlegen werden: wiederum nach den Grundsätzen mittelständischer Selbstverständlichkeiten.
 

Politische Intellektualität als Methode: Jürgen Henningsen

Die beiden bisher behandelten Texte versuchten die didaktischen Probleme durch Reduktion zu lösen, d. h. dadurch, daß die vielfältigen Erscheinungen der Wirklichkeit auf einen sinnvoll erscheinenden Zusammenhang von Phänomenen und Einsichten zurückgeführt wurden, die als solche lehrbar sein und als Kategorien für die Strukturierung des Bewußtseins im Umgang mit der Wirklichkeit dienen sollen. Die entscheidende Problematik dieser Versuche, so ließ sich erkennen, liegt darin, daß sie erhebliche inhaltliche Vorentscheidungen über die Ordnung des politischen Bewußtseins enthalten, die zudem unter Ausklammerung der Methoden, Ergebnisse und Interpretationsmodelle der Sozialwissenschaften gewonnen wurden.

Das von Jürgen Henningsen in seiner Schrift "Lüge und Freiheit" (1966) vertretene Konzept, das später Dieter Urban (1970) mit interessanten Unterrichtsprojekten aufgegriffen hat, läßt sich nicht in einem gleichen Sinne als "Reduktion" bezeichnen. Im Mittelpunkt steht hier nicht ein irgendwie zusammenhängender Kanon von Einsichten und Grundstrukturen, sondern der Prozeß der intellektuel-

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len Erfahrung und Bearbeitung von politischer Wirklichkeit überhaupt: intellektuelle Haltung als Methode.

Die Schrift hat zwei Teile. Der erste ist für unseren Zusammenhang nicht unmittelbar interessant. Er geht von der erkenntnistheoretischen Frage aus, wie menschliche Wirklichkeit überhaupt erkannt werden könne. Die Antwort ist hermeneutisch: Alle menschliche Wirklichkeit ist durch Aussagen über sie gewonnen; es gibt sie nur, insofern Aussagen darüber gemacht werden. Diese Aussagen wiederum bedürfen der Interpretation, denn sie müssen ja nicht wahr oder richtig sein, sie können vielmehr auch falsch bzw. gelogen sein. Lüge und Unwahrheit gehören zur menschlichen Natur, und sie sind nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man die Lüge moralisch verurteilt und die Kinder in den Schulen lehrt, unter allen Umständen die Wahrheit zu sagen. Da es nicht möglich ist - schon gar nicht durch Pädagogik - , Lüge und als ihr Ergebnis die Manipulation und Ausbeutung von Menschen durch Menschen abzuschaffen, kann das pädagogische Programm der "steckengebliebenen Aufklärung" nur darin bestehen, die Menschen zu bewegen, sich am allgemeinen Spiel der Manipulation und Lüge möglichst erfolgreich zu beteiligen; dies wurde in gewissem Maße den Erfolg der Lüge einengen: Wenn alle sich an diesem Spiel beteiligen können, wird so leicht niemand übervorteilt.

Daran knüpft der zweite, pädagogische Teil der Arbeit an. Sein Leitgedanke lautet: Man muß die bisherige moralische Lösung durch die intellektuelle Lösung ersetzen: "Die Pädagogik möge nicht mit erhobenem Zeigefinger (und dito Rohrstock) das Subjekt auf die Wahrheit zu verpflichten suchen, sondern es bewegen, vernünftig mit der Lüge umzugehen - oder, nüchterner gesagt: Kann ich den Sprecher nicht dazu bewegen, die Wahrheit zu sagen (ich kann es nicht, wie 2000 Jahre Pädagogik zeigen), so muß ich den Angesprochenen anders ausrüsten als bisher" (S. 45). Dies ist möglich, weil jeder Mensch über einen "erworbenen Zusammenhang des Wissens", über "sprachlich erschlossene Erfahrung" verfügt, die umstrukturiert werden,

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neu geordnet werden kann. "Hinzulernen ist möglich, die Pädagogik füllt nicht ein, sondern strukturiert um, sie setzt nicht Stein auf Stein oder Wabe an Wabe, sondern ordnet und ordnet um" (S. 47). Es geht also nicht darum, den Schulkindern in der "pädagogischen Provinz" der Schule eine heile moralische Welt vorzuspielen, die draußen in der Realität nicht existiert, sondern darum, die immer schon vorliegenden Erlebnisse und Erfahrungen zu interpretieren, zu ordnen und neu zu strukturieren. Dazu gehört auch, mit der Lüge leben zu lernen, die Lüge gleichsam intellektuell zu unterlaufen. Was diese These meint, läßt sich am besten durch die von Henningsen angeführten Beispiele erläutern:

Eine Fotoarbeitsgemeinschaft erhält die Aufgabe, ein Porträt einmal möglichst unsympathisch und dann möglichst sympathisch zu fotografieren. Erfahrung: Sympathie und Antipathie sind technisch machbar.

Ein Kamerateam macht einen Bildbericht über "unsere Stadt, die rückständigste der Bundesrepublik", ein anderes Team über "unsere Stadt, die fortschrittlichste der Bundesrepublik".

Im Aufsatzunterricht wird gegen eine Person oder Institution eine "Hetze" und umgekehrt eine "Laudatio" verfaßt.

Der Lehrer erzählt eine Geschichte, deren Ende offen ist; die Schüler schreiben zwei Fortsetzungen, eine "gute" und eine "schlechte".

Märchen werden verfremdet: "Rotkäppchen, erzählt aus der Perspektive des Wolfes - Schneewittchen, erzählt aus der Perspektive der Stiefmutter" (S. 58).

Spiele, die von der Täuschung des anderen leben wie Pokern, sollten in der Schule gelernt werden.

Die Beispiele zeigen schon, daß Henningsen - wie auch Urban - solche Lernprozesse nicht nur im Jugendalter, sondern auch in jüngeren Jahrgängen für möglich hält. Sie sollen die Erfahrung ermöglichen, was "Tendenz" ist, wie und nach welchen Regeln sie "machbar" ist und ankommt. Den möglichen Einwand, solche Verfahren er-

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schütterten das Vertrauen und damit den pädagogischen Bezug, weist Henningsen zurück: "Ich antworte, daß solches Vorgehen eine Menge Vertrauen voraussetzt und es nur dort zerstört, wo es ohnehin nichts zu suchen hat und dem Individuum schadet. Warum sollte die Schule Kinder erziehen, deren blind vertrauende Mentalität es Kaufleuten und Politikern leicht macht ... ? Vertrauen ist nur cum grano salis eine Kategorie der Öffentlichkeit - Verstand wäre hier besser. Mit einem Staat, der an das Vertrauen seiner Bürger appelliert (statt an ihre Einsicht), ist etwas faul" (S. 54).

Bevor wir auch an diesen Text unsere kritischen Anfragen richten, muß angemerkt werden, daß Henningsen nicht beansprucht, mit seiner Schrift eine umfassende didaktische Theorie zu begründen. So gesehen gehört die Auseinandersetzung mit ihr eigentlich in den Band zur "Methodik der politischen Bildung". Die folgende Kritik muß also insofern mit einer kleinen Unterstellung arbeiten. Gerechtfertigt wird dies vor allem dadurch, daß Henningsen ein neues Moment in die didaktische Diskussion eingeführt hat, dessen Reichweite genauer untersucht werden muß. Im Unterschied nämlich zu Fischer/Herrmann/Mahrenholz interessieren ihn als Lernziele nicht die prinzipiellen Normen und Regelungen der demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung; er setzt offenbar voraus, daß die Schüler sich damit bereits im großen und ganzen identifiziert haben. Lernziele sind für ihn überhaupt nicht irgendwelche kognitiven Inhalte, Einsichten und Urteile, sondern die Methoden der intellektuellen Bearbeitung der politischen Wirklichkeit selbst. Die Grenze der Reichweite dieses Ansatzes ergibt sich durch folgende Überlegungen:

1. So überzeugend die These vom Bankrott der moralischen Lösung und das Plädoyer für die intellektuelle Lösung erscheinen müssen, so enthalten sie doch auch problematische Implikationen für die Sicht des Politischen. Das Politische stellt sich dabei unter zwei charakteristischen Verengungen dar: Erstens verhältnismäßig negativ

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(Lüge!), und zweitens als vergrößerte Defizienz der konstitutionellen Schwäche der Individuen. Negativ ist diese Sicht des Politischen insofern, als es als etwas Übermächtiges erscheint, in dem Lüge und Manipulation vorherrschen, nicht z. B. aber auch als etwas, was auch sinnvolle Ziele für die menschliche Ordnung zu setzen vermag. Dabei sind die konkreten politischen Mächte, die Lüge brauchen und sie immer wieder reproduzieren, nicht weiter thematisiert. Die Beispiele könnten den falschen Schluß nahelegen, daß die Lüge des Pokerspielers auf derselben Ebene liege wie die des Politikers und Werbefachmannes. Dann würde "Lüge" und "Manipulation" zu einem allgegenwärtigen, gleichwohl aber unpolitischen Monstrum. Entgehen könnte man derartigen falschen Schlüssen nur dann, wenn man den Ansatz Henningsens konfrontieren würde mit gesamtgesellschaftlichen Theorien, die die subjektivistischen Momente dieses didaktischen Ansatzes korrigieren und relativieren könnten.

Zu Einsichten in die objektiven Strukturen und Abhängigkeiten der Gesellschaft käme man nämlich nur dann, wenn man an einem bestimmten Punkte den individualistischen Ansatz der hermeneutischen Methode verlassen würde und andere Methoden, z. B. sozialwissenschaftliche, neu einführen würde. Dieser Schritt fehlt bei Henningsen, er wäre aber für die Fortentwicklung zu einer befriedigenden didaktischen Theorie nötig. Bei Henningsen geht die Überlegung von dem als Individuum gedachten Menschen aus, von seiner "Proteus-Artigkeit", von einer gleichsam anthropologisch gesetzten Unbestimmbarkeit, zu der Lüge und Manipulation von Natur aus ebenso gehören wie die Möglichkeit zur Freiheit. Das Politische erscheint dabei ebenfalls "anthropologisch", als multipliziertes Potential dieser grundsätzlichen Stärke und Schwäche des Individuums. Problematisch ist diese Verengung unter anderem deshalb, weil sich die "Systeme" der politisch-gesellschaftlichen Macht - auch der über das Bewußtsein, also der "Lügen-Industrie" oder "Bewußtseins-Industrie" - nicht derart personalistisch erklären lassen. Weitgehend unab-

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hängig von den sie leitenden und von den ihnen unterworfenen Individuen existieren sie gleichsam von selbst: als abstrakte, von den Personen jederzeit loslösbare Systeme. Sie sind mehr und anderes als die Summe der "proteusartigen Individuen".

2. Gleichwohl bedeutet Henningsens Ansatz für die Emanzipation der Lernenden einen deutlichen Fortschritt im Vergleich zu den bisher behandelten Konzepten. Hier sollen die Schüler nicht mehr das in Einsichten Vorgegebene bloß "verstehen", sondern intellektuell hinterfragen. Mit seinem Konzept, das steckengebliebene Programm der Aufklärung weiterzutreiben, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, hat Henningsen wichtige Momente der jugendlichen Protestbewegung vorweggenommen. Die "Provokationen" in den politischen Auseinandersetzungen sind hier bereits didaktisch antizipiert. Man kann sich vorstellen, daß die von Henningsen vorgeschlagenen Techniken der Entlarvung, massenhaft in unseren Schulen gelernt, eines Tages auch in ernsten politischen Auseinandersetzungen angewandt werden, obwohl sie zunächst rein spielerisch in der "pädagogischen Provinz" der Schule trainiert werden. Insofern legt die eben kritisierte subjektivistische Betrachtungsweise auch den eigentümlich pädagogischen Aspekt des Ansatzes frei. Pädagogik hat es nun einmal mit lernenden Individuen zu tun und bleibt deshalb notwendigerweise eine mehr oder weniger subjektivistische Angelegenheit. Dazu gehört, daß das Schulkind hier nicht als "noch nicht" politisches Wesen verstanden wird, sondern als ein Mensch, der ebenfalls schon wie die Erwachsenen von politischen Interessen und Manipulationen umgeben ist und lernen muß, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Es ist vor allem diese radikale Neudefinition des pädagogischen Bezugs, die verhindern soll, daß das Kind mit seinen politischen Denkfähigkeiten unter irgendwelche vorgegebene Objektivationen subsumiert, für irgendetwas einfach in Dienst genommen werden soll.

Gleichwohl dürfte es auch hier einige wichtige Einschränkungen geben. Auch hier z. B. werden die lernenden Indi-

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viduen nicht in ihren konkreten sozialen Kontexten gesehen (z. B. als Kinder von Arbeitern). Sonst müßte über die soziale Funktion bestimmter Lügen reflektiert werden, z. B. über ihren solidaritätstiftenden Charakter. Wir wissen, daß bestimmte "Lebenslügen" nicht nur für den psychischen Haushalt des Individuums unentbehrlich sind, sondern auch dem sozialen Zusammenhang in bestimmten Gruppen und Schichten dienen. So gehört z. B. die Annahme, daß jeder nach seiner Leistung vorwärtskomme und honoriert werde, zu den Binde-"Lügen" des Mittelstandes. Bei Henningsen erscheint es so, als ob grundsätzlich jede Lüge und Verschleierung erfolgreich von den denkenden Individuen hinterfragt werden könnte. Tatsächlich jedoch müßte man sehr viel genauer wissen, welche "erworbenen Wissenszusammenhänge" auch tatsächlich umstrukturierbar sind. Außerdem stellen sich unter dem Aspekt der Emanzipation eines bestimmten Individuums in bestimmten sozialen Kontexten nicht alle politischen Lügen als gleichwertig dar. Wie die Ideologiekritik mannigfach gezeigt hat, muß eine bestimmte soziale Gruppe zumindest zeitweilig an bestimmten "Lügen" über ihre eigene gesellschaftliche Position festhalten, um andere interessengeleitete Lügen von ihren sozialen Interessen her erfolgreich bekämpfen zu können. Daß solche Unterschiede bei Henningsen nicht in den Blick kommen, liegt nicht zuletzt daran, daß er - darin wieder mit den beiden anderen Texten einig - auf die historisch-gesellschaftliche Konkretisierung seines Ansatzes verzichtet.

Auch ein grundsätzlicher Einwand liegt nahe. Henningsen schreibt: "Der Leser, Wähler, Konsument muß seiner Macht innewerden, wenn unser zivilisatorisches System funktionieren soll. Er muß mitspielen, muß die Schreiber, Politiker, Verkäufer zwingen, ihn ernst zu nehmen, mit ihm zu rechnen. Das läßt sich lernen" (S. 57). Aber reicht diese Art der individuellen "Intellektualisierung" wirklich aus, um die Position der Menschen im politischen System zu verbessern? Was brächte es ihnen ein, wenn sie "das Spiel durchschauen" könnten, um dann besser "mit-

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spielen" zu können? Henningsen hat die aufklärerische Hoffnung, daß die Menschen, wenn sie sich aufgeklärt am politischen Spiel zu beteiligen gelernt haben, auch irgendwann aufgrund ihrer Erfahrungen ihre Verhältnisse ändern werden. Dem hier möglichen Einwurf, intelligentes Angepaßtsein sei nicht besser als unintelligentes, könnte Henningsen vielleicht mit dem Hinweis begegnen, daß bei realistischer Einschätzung die Chancen des pädagogischen Handelns eben weiter nicht reichen können, daß vielmehr die intelligente, bewußte und damit auch kritisch-distanzierte Anpassung der erste notwendige Schritt zur Veränderung der politischen Verhältnisse sein müsse, ein Schritt, der nicht übersprungen werden könne.

Das gilt insbesondere, wenn man in Rechnung stellt, daß auch Henningsens Konzept primär für die Volksschule konzipiert ist. Gemessen an den gerade dort vorherrschenden pädagogischen Ideologien, wie sie die Analyse des politischen Lehrerbewußtseins und die Geschichte der deutschen Volksschule überhaupt zeigen, bedeutet Henningsens Plädoyer für politische Intellektualität, auch wenn er dabei auf schicht- und klassenspezifische Analysen verzichtet, einen wichtigen Beitrag zur Emanzipation gerade auch der Unterschicht-Kinder in der Schule.

3. Problematisch bleibt jedoch die aus diesem Konzept resultierende Rolle der Lehrenden, und zwar insofern, als wegen der subjektivistischen Momente das richtige Lehrerverhalten schwer massenhaft lehr- und lernbar ist. Löst man dieses Konzept von der Person des Autors, so besteht auch hier wieder die Gefahr, daß das "politische Philosophieren" nur mittelständische Vorurteile zur Geltung bringt, da der Lehrer weder notwendigerweise Sozialwissenschaftler sein muß, noch die Methode des Philosophierens selbst an genauer definierte inhaltliche Maßstäbe gebunden ist.

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Gesamtgesellschaftlich-exemplarische Reduktion: Oskar Negt

Das in der Schrift "Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen" (Neuausgabe 1971) von Oskar Negt vorgestellte didaktische Konzept unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von den bisher vorgetragenen. Wir wollen ihm aus drei Gründen ausführlicheren Raum geben: Erstens gehört der Verfasser wie Jürgen Habermas zu den führenden Vertretern der "Frankfurter Schule" der Soziologie, und man kann daher von ihm erwarten, daß er die bei Habermas fehlenden pädagogisch-didaktischen Aspekte der "kritischen Theorie" wenigstens in einigen wichtigen Punkten beisteuern wird. Zweitens enthält die Schrift als erste (und bisher einzige) in der Bundesrepublik eine spezifische didaktische Konzeption für die politische Emanzipation der Arbeiterschaft, deren Fehlen in unseren bisherigen Darstellungen immer wieder kritisch angemerkt werden mußte. Und drittens schließlich ist eine detaillierte Auseinandersetzung gerade mit den Argumenten von Negt für die Entwicklung unseres eigenen didaktischen Konzeptes besonders wichtig und ergiebig.

Negts Schrift wurde zunächst als aktueller Beitrag im Jahre 1964 formuliert und erst 1968 veröffentlicht. Die völlig überarbeitete Neuausgabe von 1971, die wir hier zugrunde legen, enthält einige wichtige Verbesserungen gerade der didaktischen Argumentation. Allerdings hat sie ausdrücklich nicht die schulische politische Bildung im Sinn, sondern die Arbeiterbildung im Rahmen gewerkschaftlicher Aktivitäten. Vermutlich würde es Negt für irreal halten, wollte man sein Konzept auch in den öffentlichen Schulen realisieren. Da es hier jedoch noch nicht um schulspezifische, sondern um grundsätzliche Erörterungen geht, kann diese Einschränkung unbeachtet bleiben.

Ausgangspunkt und Anlaß der Schrift ist eine Kritik der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Diese sei dadurch gekennzeichnet, "daß die durch das Anwachsen der Schicht der Angestellten mitbedingten, durch das offizielle Schul-

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system immer aufs neue reproduzierten kleinbürgerlichen und mittelständischen Ideologien, in denen sich ein autoritäres Bewußtseinspotential entfaltet, ohne wirksame Gegenkräfte in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit eindringen konnten" (S. 20). Dieser Prozeß schadet nicht nur der demokratischen Weiterentwicklung der Gesellschaft im ganzen, sondern vor allem auch der politischen Emanzipation der Arbeiterschaft im besonderen. Negt fordert demgegenüber eine "autonome", d. h. von den kritisierten kleinbürgerlich-mittelständischen pädagogischen Ideologien unabhängige Arbeiterbildung durch die Gewerkschaften, und seine Schrift will dafür das didaktisch-theoretische Konzept liefern.

Als Mitte vorigen Jahrhunderts die Arbeiterbildung sich als kritisches Korrelat zur Anhebung der bürgerlichen Elementarbildung in den Volksschulen konstituierte, stand sie im Kontext des sinnlich erfahrbaren Klassenkampfes und war geprägt durch ein praktisches Vorverständnis bei den Arbeitern, das weitgehend durch marxistisches Denken bestimmt war. Eben diese unmittelbare, sinnlich anschauliche Integration von praktischem Kampfinteresse und theoretischer Bildung ist heute nicht mehr gegeben: "Eine unmittelbare, selbstverständliche Verbindung zwischen den emanzipativen Zielsetzungen der Arbeiterbewegung und einer Theorie, die sie wissenschaftlich begründen könnte, ist in der traditionellen Weise nicht mehr vorauszusetzen. Heute müssen die von Erfahrungswissenschaften gelieferten Informationen in eine soziologische und politische Interpretation einbezogen werden, um sie für den Emanzipationskampf der Arbeiterschaft und für die vernünftige Organisation der Gesamtgesellschaft dienstbar zu machen" (S. 18). Eben diese Kluft soll die von Negt konzipierte Arbeiterbildung schließen. Das durch diese Kluft bedingte Fehlen einer Theorie der Arbeiterbewegung und damit auch der Arbeiterbildung hat dazu geführt, daß in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit isolierte organisationsspezifische Informationen einerseits und abstrakte Normen (wie etwa "soziale Gerechtigkeit") andererseits unvermit-

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telt nebeneinander angeboten werden. Um nun "das unvermittelte Nebeneinander von abstrakten Normen, etwa: 'soziale Gerechtigkeit', und praktischen Forderungen, die sich zum Teil in Beschlüssen der Gewerkschaften niederschlagen, in einem einheitlichen Erziehungsprozeß aufheben zu können, der durch die objektiven Möglichkeiten der Selbstbefreiung einer Gesellschaft als Fundamentalnorm des geschichtlich notwendigen Handelns und gleichzeitig durch die sozialwissenschaftiche Einsicht in die subjektiven und objektiven Bedingungen des kollektiven Handelns bestimmt ist, bedarf es ganz spezifischer Methoden der Arbeiterbildung; diese Methoden sind inhaltlich insoweit definiert, als sie auf der Grundlage des Erkenntnisinteresses einer politischen Ökonomie der Arbeit soziologische, sozialpsychologische und historische Aspekte in einer systemsprengenden Praxis zusammenfassen" (S. 23 f.).

Als dafür geeignete didaktische Konzeption (Negt spricht hier von "Methode") erscheint ihm das "exemplarische Prinzip", das er jedoch sogleich von seinem Gebrauch im Rahmen der bürgerlichen Pädagogik absetzt: "Der Hauptzweck der exemplarisch organisierten Erziehung ... bestand zunächst darin, den durch die Einzelwissenschaften angehäuften und ständig größer werdenden Lehrstoff zu reduzieren. Die bürgerliche Pädagogik hat die Bedeutung des exemplarischen Prinzips für die Stoffreduktion und für die Aufschlüsselung komplexer Zusammenhänge aus einem 'prägnanten Punkt' heraus durchaus erkannt. Sie war jedoch weder imstande, die Erziehungsziele aus historischen und gesellschaftlichen Aufgaben zu begreifen noch die als exemplarisch bestimmten Themenbereiche durch tendenzielles Rückgängigmachen der verfestigten Arbeitsteilungen der Einzelwissenschaften und durch Aufhebung ihrer traditionellen Gliederung unter soziologischen und historischen Aspekten zu entfalten" (S. 25). Demgegenüber will Negt das exemplarische Prinzip "soziologisch" verstanden wissen, als Zuordnungsmöglichkeit von "Ganzem" und "Einzelnem" im Rahmen einer gesamtgesell-

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schaftlichen Theorie. "'Ganzes' in diesem veränderten Sinne ist die arbeitsteilig organisierte Totalität des Produktions- und Reproduktionsprozesses einer Gesellschaft in historischer Dimension; 'Einzelnes' der für das Leben der Gesellschaft, der Klassen und der Individuen relevante soziologische Tatbestand" (S. 27). Auf diese Weise will Negt nicht nur die unendliche Stoffülle sinnvoll reduzieren, sondern auch dem einzelnen die "Fähigkeit verschaffen", "wissenschaftliche Arbeitsteilung produktiv rückgängig zu machen und damit handlungsmotivierende Strukturen in die chaotische Fülle der Informationen und des Lehrstoffes zu bringen" (S. 27).

Um diese prinzipielle Entscheidung für das "exemplarische Prinzip" weiter konkretisieren zu können, analysiert Negt die gegenwärtige Situation des Arbeiterdaseins. Die sozialpsychologische Situation des Arbeiters in den fortgeschrittenen westlichen Industrieländern strukturiert sich heute nicht mehr vorwiegend auf der Basis des materiellen Elends. Die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zeigen jedoch, "daß der heutige Arbeiter in einer permanenten Spannung zwischen dem Gefühl der Unabwendbarkeit seiner sozialen Lebensbedingungen und dem Wunsch lebt, nicht mehr Arbeiter sein zu müssen. Diese Spannung wächst offenbar in dem Maße, wie die Entwicklung der Produktivkräfte den Widerspruch zwischen dem privaten Charakter der Aneignungsweise, der kapitalistisch vergesellschafteten Verfügung über die gegenständlichen Arbeitsbedingungen und der gesellschaftlichen Produktionsweise verschärft, die Bereitschaft der Arbeiter zur Identifikation mit den traditionellen Zielen und Orientierungsmaßstäben der Arbeiterbewegung dagegen nachläßt" (S. 33). Deshalb erhält der Arbeiter heute auch immer weniger seine Grundausbildung und seine gesellschaftliche Orientierung im praktischen Kampf der Gewerkschaft; auch "Verstärkerereignisse" wie Streiks und Aktionen haben heute nicht mehr die Erziehungsfunktion, die sie in der alten Arbeiterbewegung durch die damals selbstverständliche Rückbeziehung auf eine mehr oder weniger marxistische Theorie

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hatten. Erst eine intensive Arbeiterbildung kann solche Kampfsituation wieder fruchtbar machen, weil alle für den Arbeiter wichtigen Entscheidungen heute zunehmend Resultat von Verhandlungen sind, weniger das Ergebnis kollektiver Kampfmaßnahmen.

Der Ansatzpunkt für eine emanzipatorische Arbeiterbildung kann also heute nicht mehr bei den gewerkschaftlichen Aktionen liegen, sondern nur bei den Konflikten, die in der Arbeiterexistenz subjektiv erfahrbar werden: "Gesellschaftliche Bedeutung und politische Effektivität der Arbeiterbildung sind nicht zuletzt davon abhängig, inwieweit es ihr gelingt, die grundlegenden, oft verdrängten oder verzerrt wahrgenommenen Konflikte des Individuums als strukturelle Widersprüche der Gesellschaft zu erklären und von bloßen Symptomen derartiger Konflikte zu unterscheiden" (S. 43). Die Interpretation solcher Konflikte muß dabei drei Ebenen miteinander vermitteln: Erstens "die manifesten Interessen, Vorstellungen, Gesellschaftsbilder, die sich mit den üblichen empirischen Untersuchungsmethoden auf Regelmäßigkeit bringen und in Typologien zusammenfassen lassen"; zweitens "die psychischen und kognitiven Entfremdungsmechanismen (etwa die Tendenz zur Personalisierung, reduziertes Sprachverhalten usw.), die der ganzen Gesellschaft oder einer Klasse zuzuordnen sind"; drittens "die objektiven ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen des Arbeiters" (S. 44/45).

Die empirisch vorfindbaren Interessen jedoch, etwa im Konsumbereich, sind meist Ausdruck der Entfremdung und zur Verteidigung der kapitalistischen Aneignung manipuliert; daher dürfen sie nicht der Ermittlung der davon unter Umständen substanziell abweichenden objektiven Interessen im Wege stehen. "Erst wenn der Sinn der Arbeiterbildung in der doppelten Aufgabe gesehen wir: durch Erziehung zu soziologischem Denken den Arbeitern das Bewußtsein ihrer eigenen Konflikte und Handlungen zu vermitteln und gleichzeitig 'aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck (zu) entwickeln' (Marx), be-

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steht die Möglichkeit, illusionäre oder auf entfremdeten Interessen beruhende Vorstellungen und Handlungen, die Erbteil der bestehenden Klassengesellschaft sind, von denjenigen zu unterscheiden, die mit der historischen Entwicklungstendenz objektiv übereinstimmen, dem einzelnen aber nur durch Antizipation eines freien und gerechten Gesellschaftszustandes verständlich zu machen sind" (S. 84).

Am Schluß schlägt Negt als besonders gute Beispiele für seinen didaktischen Ansatz die Themenkomplexe "Recht" und "Technik" vor, ohne andere Themenbereiche damit ausschließen zu wollen. Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen, die dazu neigen, Recht und Technik (und Politik überhaupt) als von sozialen oder ökonomischen Interessen abgetrennte "Sektoren" zu verstehen, sind Arbeiter im allgemeinen fähig, auch scheinbar entfernte Probleme auf ihre unmittelbaren Interessen zurückzubeziehen. Gerade "Recht" und "Technik" sind Problemzusammenhänge, die didaktisch besonders gut dazu taugen, den Zusammenhang von Interessen und gesamtgesellschaftlichen Vorgängen zu systematisieren. "Eine die traditionelle Fachgliederung aufsprengende soziologische Interpretation des Rechts und der Technik würde nicht nur zu einer Konkretisierung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen führen, sondern den Arbeitern auch bewußtmachen, daß die rechtlich normierten Machtverhältnisse ebenso wie die Entwicklungsrichtung der Produktivkräfte durch Klasseninteressen bestimmt sind" (S. 98).

Bei Negt wird also zum zentralen Thema, was in den bisher beschriebenen Modellen keine Rolle spielte: die Frage nämlich, ob man wirklich ohne Rücksicht auf Schicht- und Klassenunterschiede von abstrakt gedachten "Staatsbürgern" mit prinzipiell gleicher Lernmotivation und prinzipiell gleichen Lernzielen ausgehen dürfe. Negt verneint die Frage, für ihn ist - unbeschadet der weiteren Frage nach den politischen Lernzielen für andere gesellschaftliche Schichten und Klassen - "die Arbeiterexistenz als soziales Gesamtphänomen ... der zentrale Anknüpfungspunkt

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einer konkreten gewerkschaftlichen Bildungsarbeit" (S. 23). Und das Ziel dieser Bildungsarbeit wird "eindeutig als Bildung von Klassenbewußtsein definiert" (S. 30), worunter ein solches Bewußtsein verstanden wird, das theoretisch wie praktisch eben die Aufhebung der "Arbeiterexistenz als soziales Gesamtphänomen" in Angriff nehmen kann. Mit dieser These vom notwendigerweise klassenspezifischen Charakter der politischen Bildung hat Negt für die didaktische Diskussion einen neuen Akzent gesetzt, der nun zu überprüfen wäre.

1. Was zunächst die in seinem didaktischen Ansatz implizierte und explizierte politische Theorie betrifft, so enthält sie wesentliche Momente dessen, was bei den bisher behandelten Konzepten Fehlanzeige blieb: die Reflexion gesamtgesellschaftlicher Prozesse und deren historischer Dimension; die Berücksichtigung der konkreten sozialen Kontexte der Lernenden ebenso wie die Beachtung ihrer objektiven gesellschaftlichen Interessen. Schon aus der Kritik der bisher behandelten Modelle ergab sich die Notwendigkeit, didaktische Begründungszusammenhänge auf eine "gesamtgesellschaftliche Theorie" zu beziehen, d. h. auf eine solche, die auf die Totalität des gesellschaftlichen Prozesses in historischer Dimension abhebt. Die Frage wäre nur, wie eine solche Theorie letzten Endes gewonnen wird, worauf sie sich gründet und ob ihre Schlüsse auch im Detail stimmen. "Gesamtgesellschaftliche Theorie" kann also nichts sein, was ein für allemal vorgegeben ist und aus dem immer wieder neu praktisches Handeln deduziert werden könnte; vielmehr unterliegt sie selbst den Veränderungen des historisch-kritischen Denkens und den ihm zugrunde liegenden realen gesellschaftlichen Veränderungen. Insofern bleibt auch die von Negt vorgetragene Version Gegenstand der Kritik, der weiteren Arbeit des Bewußtseins. Negts Version im ganzen zu thematisieren, würde hier zu weit führen. Wir wollen uns vielmehr auf solche Probleme beschränken, die sich unmittelbar aus der didaktischen Umsetzung ergeben.

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Da fällt zunächst der "Klassencharakter" des Konzepts im allgemeinen ins Auge. Ein gesellschaftlicher Zweckverband wie die Gewerkschaften kann seine Bildungsziele relativ frei, im Sinne von gesellschaftlich partikular, bestimmen. Würde man jedoch Negts Konzept auf die Schule übertragen, so ergäbe sich die Frage, ob nicht ein nach sozialen Klassen strukturiertes Schulsystem die notwendige Konsequenz wäre, und ob dieses - selbst wenn es politisch realisierbar wäre - wirklich im Interesse der Arbeiter läge. Solange man jedoch die alte Forderung der Arbeiterbewegung, daß alle Kinder in die gleiche Schule gehen sollen, aufrechterhält, muß man sich überlegen, wie das Interesse der Arbeiterkinder an einer klassenspezifischen Bildung in ein und derselben Schule vermittelt werden kann mit den Interessen der anderen dort anwesenden sozialen Klassen. Mit anderen Worten: Eine Didaktik der politischen Bildung, die auch für die Schule gelten soll, muß so oder so einen allgemeinen Bezugspunkt haben, der nicht klassenspezifisch ist, aber klassenspezifische Interpretationen zuläßt. Wir wollen später zeigen, daß die Konvention des Grundgesetzes eine solche Möglichkeit eröffnet.

Problematisch ist ferner die Anwendung des "exemplarischen Prinzips", solange nicht inreichend klargestellt ist, was wofür eigentlich "exemplarisch" ist. In diesem Punkte setzen die Schwierigkeiten erst da ein, wo Negts Überlegungen enden, bei der Relation von "Ganzem" ( = gesellschaftliche Totalität in historischer Dimension) und "Einzelnem" ( = der für das kollektive und individuelle Leben relevante soziale Tatbestand). Hier postuliert Negt einen Zusammenhang, der erst durch Theorie zu konstituieren wäre. Statt dessen bietet Negt für das "Ganze" eine Reihe an sich durchaus plausibler Aussagen an, die aber eben schon feststehen, bevor überhaupt vom "Einzelnen" als dem sinnlich Erfahrbaren die Rede ist. Was immer die Klassen oder Individuen als relevant erleben mögen - "objektiv" ist das alles immer schon vorweginterpretiert und wird so abgewertet zu einem "Fall von ... " oder "Beispiel für ... ". So wie Negt das exemplari-

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sche Prinzip hier entwickelt hat, ist das "Einzelne" eigentlich nur ein leider hinzunehmendes Hindernis, um das "Ganze" ins Bewußtsein bringen zu können. Nicht jedoch ist auch vorgesehen, daß die Menschen, indem sie das "Einzelne" bearbeiten, auch einen Beitrag zur genaueren Erkenntnis des "Ganzen" zu geben vermögen. Es käme aber alles darauf an, für das Verhältnis von "Einzelnem" und "Ganzem" genauere theoretische Hinweise zu geben, sonst ist eine ideologisch begründete autoritäre Lehrer-Schüler-Beziehung die fast unausweichliche Folge. Auch Schüler müssen nämlich in die Lage versetzt werden können, von ihrer Erfahrung des "Einzelnen" aus das "Ganze" als ihre eigene intellektuelle Entdeckung ansehen zu können und nicht nur als etwas, das andere "Experten" für sie verbalisieren, nachdem ihre subjektiv erfahrenen Konflikte und Wünsche als "entfremdete" und "falsche" denunziert worden sind. Die didaktische Aufgabe bestünde also in diesem Punkte darin, den Weg vom unmittelbar Erfahrbaren zur gesellschafilichen Totalität so zu "veröffentlichen", daß er grundsätzlich von jedermann beschritten werden kann.

Das wäre nur dann entbehrlich, wenn das "Einzelne" immer das zwar verkleinerte, aber strukturell identische Abbild des "Ganzen" wäre. Dann wäre eine zusätzliche didaktische Vermittlung überflüssig. Eine solche Identität kann aber im Ernst allenfalls auf einer so hohen Abstraktionsebene angenommen werden, daß gerade das für das politische Handeln so wichtige Detail des "Einzelnen" herausfallen würde. Die Vermittlung von "Einzelnem" und "Ganzem" bleibt also auch bei Negt ein an sich durchaus plausibles Postulat, das jedoch durch didaktische Theorie erst noch zu konstituieren wäre.

Ein weiteres Problem der Anwendung des Exemplarischen liegt im Transfer, d. h. in der Übertragbarkeit von Kenntnissen und Einsichten von einem erarbeiteten Exemplum auf ein anderes. In der Kritik der "bürgerlichen" Anwendung des exemplarischen Prinzips sieht Negt diese Schwierigkeit klar, wenn dort z. B. "die Revolution" ebensogut an der Französischen Revolution wie an der in Rußland

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behandelt werden kann, obwohl doch jemand viel von der Französischen Revolution verstehen kann, ohne Nennenswertes von der russischen zu begreifen. Solange aber der Weg vom "Einzelnen" zum "Ganzen" nicht didaktisch-kategorial besser abgesichert ist, besteht auch in Negts Konzept die Gefahr, daß der Transfer nur in Gestalt einiger beliebig verfügbarer Phrasen erfolgt (z. B. daß die kapitalistische Ausbeutung überall gelte und der Beleg im einzelnen dafür gar nicht so wichtig sei), deren theoretische Herkunft und Begründung von einem bestimmten Punkte an völlig im Dunklen bleibt. Konsequent zu Ende gedacht würde das bedeuten, daß dann die Schüler ideologisch ihren Lehrern, die Arbeiter ihren Funktionären ausgeliefert sind. Auch für den Transfer muß die didaktische Forderung erhoben werden, daß sein Weg kategorial "veröffentlicht" und diskutierbar bleibt, zumal vieles dafür spricht, daß die Transferierbarkeit sich in erster Linie nur auf formale, etwa kognitive oder methodische Aspekte, erstrecken kann, daß aber die Analyse bestimmter Entscheidungen und Ereignisse von Grund auf jeweils neu erfolgen muss - und dies letztlich aus demselben Grunde, wie das Verständnis der Französischen Revolution nicht einfach auch ein Verständnis der Revolution in Rußland zur Folge hat. Überhaupt hat man bei Negt den Eindruck, daß es ihm in erster Linie um ein allgemeines soziologisches Bewußtsein geht, weniger um die Analyse konkreter Handlungssituationen.

Andererseits "besteht die Schwierigkeit einer Erneuerung der Marxschen Gesellschaftstheorie als Revolutionstheorie gerade darin, daß sie durch das ausgebreitete Erkenntnismaterial und durch die Reflexionsstufe der empirisch-analytischen Einzelwissenschaften vermittelt sein muss" (S. 76). Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Einzelwissenschaften und gesamtgesellschaftlicher Theorie aufgeworfen. Bei Negt wirkt die Bezeichnung "Rückgängigmachen" insofern mißverständlich, als sie die Vorstellung nahelegt, die einzelwissenschaftliche Arbeitsteilung sei als solche historisch überfällig und verdanke lediglich einer bürger-

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lichen Wissenschaftsideologie noch ihr Leben. Aus dem Kontext geht jedoch hervor, daß Negt die einzelwissenschaftlichen Methoden, Kategorien und Ergebnisse auf eine Theorie der gesellschaftlichen Totalität so beziehen möchte, daß sie dieser gleichsam als "Material" dienen können.

Insofern wäre das Verhältnis von Einzelwissenschaft und Theorie der gesellschaftlichen Totalität besser mit dem Ausdruck "rück-übersetzen" zu charakterisieren: Es geht darum, die Methoden, Ergebnisse usw. der einzelwissenschaftlichen Arbeitsteilung in eine gesamtgesellschaftliche Theorie "rückzuübersetzen". Das aber würde nicht nur heißen, daß dieser Übersetzungsprozeß wiederum methodisch gestaltet werden muß, sondern auch, daß gesamtgesellschaftliche Theorie, soll sie nicht selbst falsches Bewußtsein beinhalten, nur auf dem fortgeschrittensten Niveau der einzelwissenschaftlichen Arbeitsteilung produziert und verbessert werden kann. Wenn nun die Arbeiter, wie Negt annimmt, zu einzelwissenschaftlichen Perspektiven keinen rechten Zugang haben, sondern dazu neigen, unmittelbar Horizonte der gesellschaftlichen Totalität anzusteuern, so ist das nicht nur, wie Negt offenbar annimmt, ein Vorteil, sondern auch ein schwerwiegender Mangel ihrer Bewußtseins-Disposition, der das "falsche" Bewußtsein nicht richtiger machen kann, der vielmehr selbst auch bearbeitet werden muß. Der "direkte" Zugang zur gesellschaftlichen Totalität, ohne den wenigstens exemplarischen Durchgang durch einzelwissenschaftliche Perspektiven, würde unter neuem Aspekt die Lernenden wieder den Aussagen der Lehrenden ausliefern, weil deren unkontrollierbarer Vorsprung in der (auch einzelwissenschaftlichen) Methodenkenntnis bestünde. Und diese Lehrenden, das sollte man nicht vergessen, sind keine Arbeiter, sondern bürgerliche Intellektuelle mit eigenen gesellschaftlichen Interessen, die keineswegs mit denen von Arbeitern übereinstimmen müssen. Im übrigen ist zumindest für die Volksschule Negts Annahme falsch, daß die Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung das exemplarische Prinzip in den Schulen verfälscht habe. Gerade

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für die Geschichte der Volksschule läßt sich zeigen, daß die Einführung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung (in Gestalt der Schulfächer und Fachlehrer) einen unleugbaren Fortschritt bedeutet, weil seither erst die wissenschaftliche Bearbeitung des Bewußtseins in der Volksschule überhaupt möglich wird. Und dies, nämlich die Öffnung für den - notwendigerweise arbeitsteiligen - wissenschaftlichen Unterricht, dürfte die Voraussetzung dafür sein, daß auch gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge lernbar werden, die mehr sind als ein Sammelsurium undurchschauter Phrasen.

Das "exemplarische Prinzip" ist in unseren Schulen nicht an der wissenschaftlichen Arbeitsteilung gescheitert, sondern daran, daß es von Anfang an nur eine unterrichtsmethodische Erfindung war, deren didaktische Implikationen nicht oder nur unzureichend reflektiert wurden. Bis zum heutigen Tag ist z. B. die didaktische Funktion des Geschichtsunterrichts nicht neu inhaltlich im Rahmen einer pädagogischen Theorie der Emanzipation bestimmt worden, und die seinerzeitige Faszination durch das "exemplarische Prinzip" bot sich als Flucht vor einer längst überfälligen theoretischen Fundierung geradezu an. Dies hat jedoch wenig mit bürgerlich-wissenschaftlicher Arbeitsteilung zu tun, um so mehr aber mit der notorischen Rückständigkeit der didaktischen Konzepte im Vergleich zum Fortschritt der bürgerlichen Geschichtswissenschaft selbst. Als das exemplarische Prinzip in Mode kam, entsprachen die didaktischen Konzepte in etwa den geschichtswissenschaftlichen Auffassungen Leopold von Rankes.

Die letzte Überlegung legt nahe, auch den Ansatz von Negt noch einmal in Frage zu stellen. Negt ging davon aus, daß das politische Bewußtsein der Arbeiter heute nicht mehr von unmittelbaren Kampferfahrungen geprägt werde, wo die Klassenantagonismen der gesellschaftlichen Totalität gleichsam sinnlich anschaulich werden könnten; vielmehr müsse in diese Lücke zwischen subjektiver Erfahrung einerseits und gesellschaftlicher Theorie andererseits gerade zum Zwecke der Vermittlung die organisierte Lehre treten.

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Hier entsteht nun ein weiteres prinzipielles Problem. Solange nämlich das marxistische politische Bewußtsein der organisierten Arbeiter aus dem sinnlich anschaulichen Kampf um die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen und sozialen Lage entsprang, handelte es sich zweifellos um ein emanzipatorisches Bewußtsein, wobei es verhältnismäßig unwichtig war, ob dieses Bewußtsein wissenschaftlicher Kritik in allem standhalten konnte. Es gab jedenfalls eine Entsprechung von subjektivem Erleben der politischen und sozialen Wirklichkeit einerseits und seiner theoretisch-politischen sowie handlungsorientierten Umsetzung andererseits. Die Frage ist jedoch, ob unter den von Negt skizzierten veränderten gesellschaftlichen Bedingungen (Nachlassen der unmittelbaren Klassenkämpfe) und unter veränderten subjektiven Erfahrungen (die subjektiven Interessen und Bedürfnisse zielen nun auf Integration in die Gesellschaft, z. B. auf optimale Beteiligung am Konsum) die alten - wenn auch erweiterten und differenzierten - marxistischen Vorstellungen "gelehrt" werden können, ohne daß sich dabei der Ideologieverdacht in neuer Weise stellt. Denn nun erst tritt dabei jene schon kritisierte Trennung der Lehrenden und Lernenden ein; nun erst muß den Arbeitern ein Bewußtsein vermittelt werden, das weder für ihr subjektives Selbstverständnis noch gar für ihre politische Anteilnahme noch unmittelbare Relevanz hat. Gemessen an dem, wie sie sich sehen, und an dem, was sie praktisch tun können (z. B. in ihren Gewerkschaften), wird ihnen nun diese Lehre etwas Fremdes, ihnen von außen Gegenübertretendes. Obwohl Negt ausdrücklich an die - auch sozialpsychologisch interpretierten - Konflikte im Selbstgefühl der Arbeiter anknüpfen will, bleibt der Widerspruch erhalten, daß die subjektiv und auch kollektiv empfundene Konkretisierung der Wünsche und Interessen als "entfremdet", d. h. als möglichst bald zu überwindendes "falsches Bewußtsein" der eigenen Lage gelten müssen. Es geht hier gar nicht darum, ob diese Interpretation Negts richtig ist oder nicht, sondern darum, ob eine solche Einsicht heute - im Unterschied zu früher

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- nicht an die gesellschaftliche Position eines wissenschaftlichen Intellektuellen gebunden ist, den diese Einsicht verhältnismäßig wenig kostet, während sie von Arbeitern als ein direkter Angriff auf ihre "Interessen" verstanden werden muß; denn von ihnen verlangt Negt eine temporäre Erhöhung ihres subjektiven Unglücks: "Zweifellos kann das Bewußtmachen der Konflikten ... subjektiv die Selbstentfremdung erhöhen. Es gibt aber für die Arbeiterschaft keinen anderen Weg der Aufhebung der Entfremdung als durch das volle Bewußtsein der Selbstentfremdung hindurch" (S. 57). Zu fragen bliebe also, ob ein Konzept der politischen Bildung, das den Arbeitern als Arbeitern einen Zuwachs an Emanzipation bringen soll, wirklich noch an die alten Vorstellungen von einer "Theorie der Arbeiterbildung", wenn auch modifizierend, anknüpfen kann, oder ob es nicht vielmehr nötig wäre, die historisch neuen subjektiven Erfahrungen dieser Klasse sowie die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in anderer Weise zu berücksichtigen - mit anderen Worten: ob angemessene didaktische Konzepte nicht aus den gegenwärtigen Zusammenhängen von subjektiven Interessen, objektiven gesellschaftlichen Chancen und realer politischer Beteiligung entwickelt werden müssen.

Dazu wäre unter anderem eine etwas weniger rigorose Interpretation des Konsumbereichs nötig, der auch bei Negt lediglich - fast undialektisch - als geradezu klassisches Symptom der immer wieder reproduzierten Entfremdung gilt. Man wird aber ernsthaft prüfen müssen, ob in Zukunft emanzipatorisches Engagement wirklich in erster Linie von einer Revision der Lohnabhängigkeit oder des Arbeitsverhältnisses ausgehen kann, oder nicht vielmehr von dem, was den "unmittelbaren Interessen" (Adorno) zumindest ebenso nahesteht: von den "Qualitäten des Lebens" außerhalb der Arbeit, die gerade ohne eine Steigerung der privaten Konsummittel und der öffentlichen Dienstleistungen nicht zu realisieren sind. Vielleicht käme es politisch für die nächste Zukunft darauf an, diese Bedürfnisse zu ermuntern und zu radikalisieren, anstatt ihnen

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durch ständige Hinweise auf ihren entfremdeten Charakter ihre Brisanz zu nehmen.

2. Der Lernende wird in Negts Konzept als Arbeiter gesehen, d. h. als jemand, dessen Erziehung durch seine Klassenlage objektiv wie subjektiv definiert ist. Man muß ihn also politisch-pädagogisch in dieser seiner Klassenlage ansprechen mit dem Ziel, ihn durch Bewußtmachung dieser Lage und durch entsprechend geführte politische (vor allem gewerkschaftliche) Kämpfe aus dieser Lage zu befreien. "Objektiv" ist diese Klassenlage, insofern sie bestimmt werden kann durch bestimmte allgemeine Merkmale (z. B. Lohnabhängigkeit, Ausgeschlossensein von der Mitbestimmung im Produktionsprozeß und anderes mehr); "subjektiv" ist diese Klassenlage dadurch definiert, daß auch die Art und Weise, wie der Arbeiter sich selbst und seine soziale Umwelt erlebt, ein Produkt dieser objektiven Klassenlage ist. Der Bewußtwerdung dieser Klassenlage stehen alle offiziellen Instanzen der Gesellschaft im Wege: die Schulen, die Betriebe, die Massenkommunikation, sogar die übliche gewerkschaftliche Bildungsarbeit.

Wir haben schon darauf hingewiesen, welche Gefahren für das pädagogische Verhältnis daraus entstehen können, daß der konkrete Zusammenhang von "entfremdetem" und "wahrem" Bedürfnis bei Negt nicht "lernbar" strukturiert wird; denn die "wahren" gesellschaftlichen Bedürfnisse sind ja nicht die, die sich in empirischen Untersuchungen als die geäußerten ermitteln lassen. Das feststellbare gesellschaftliche Bedürfnis ist "entfremdet", es hat sein "wahres" Bedürfnis gleichsam "vergessen". Es kommt also nach Negt darauf an, "eine von objektiven Interessen bestimmte Rangordnung wahrer Bedürfnisse sichtbar zu machen ... . Denn wo die subjektiven Interessen der Individuen dem objektiven Interesse der Emanzipation tatsächlich entgegenstehen, sind sie entweder unmittelbarer Ausdruck von realen ökonomischen Interessen oder Resultate einer psychischen und geistigen Deformation, die Menschen dazu bringt, selbst gegen bessere Einsicht in die eigene Interessenlage zu handeln" (S. 93).

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Wenn das so ist, bieten sich für den politischen Unterricht eigentlich nur zwei grundsätzliche Möglichkeiten an. Entweder gibt es sachlich und didaktisch die Möglichkeit, die entfremdeten Bedürfnisse etwa durch die Anwendung von Kategorien und Fragen so zu bearbeiten, daß die wahren Bedürfnisse dabei zum Vorschein kommen können. In diesem Falle könnte die Entdeckung der wahren Bedürfnisse zu einer eigenen intellektuellen Leistung der Lernenden werden. Diese Möglichkeit impliziert allerdings, daß es auch sachlich eine Brücke zwischen den beiden Bedürfnissen gibt, etwa so, daß die wahren in den empirisch feststellbaren, wenn auch verkümmert, enthalten sind. Wenn Negt dies annimmt, so hat er diese "Brücke" jedenfalls nicht weiter didaktisch thematisiert.

Die zweite Möglichkeit besteht in der Voraussetzung, daß es diese Brücke nicht gibt, daß vielmehr die wahren Bedürfnisse den Individuen von außen, und zwar in klarer Konfrontation zu ihren falschen Bedürfnissen, angesonnen werden müssen. Für diese Vorstellung gäbe es strenggenommen gar keine didaktischen Konzepte mehr, sondern nur noch Anweisungen zur Überredung oder Eberzeugung. In diesem Falle wären die Lernenden ihren Lehrern ausgeliefert, nicht in der Lage, deren Lehre von den wahren Bedürfnissen intellektuell und vor dem Maßstab ihrer eigenen Erfahrung zu kontrollieren; sie könnten sie nur noch "glauben". Dieses dann gleichsam schon vom Sachzwang her unausweichliche autoritäre Unterworfensein des Lernenden würde sich dann in didaktisch-methodischen Einzelfragen fortsetzen: die Fragen, Wünsche, Bedürfnisse und Interessen, die die Lernenden äußern, wären lediglich "Aufhänger", könnten bloß noch die Fiktion pädagogischer Zuwendung ausdrücken, um die Lernenden bei Laune zu halten - ein leider nötiger Umweg, bis die Lernenden endlich bereit sind, die Lehre zu "vernehmen", anstatt sie selbst nicht nur rezeptiv erarbeiten zu wollen.

3. Daß die eben ausgesprochene Befürchtung nicht an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt das praktisch-pädagogische Verhalten vieler "Linker" in den letzten Jahren. Dafür

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kann man gewiß nicht Negts Text verantwortlich machen. Aber er legt aus den genannten Gründen ein Selbstverständnis des Lehrenden nahe, das der Emanzipation der Lernenden - insofern nämlich Emanzipation als Lernprozeß das Ergebnis individueller intellektueller Arbeit ist - im Wege stehen kann. Kein didaktisches Konzept ist zwar dagegen gefeit, für ein autoritär-missionarisches Lehrerverhalten in Anspruch genommen zu werden. Die Frage bleibt nur, in welchem Maße ein didaktisches Konzept durch entsprechende Kategorien diese Gefahr kontrollierbar machen kann. Ein Gewinn in dieser Hinsicht ist sicher, daß der Lehrende bei Negt - im Unterschied zu den bisher behandelten Autoren - sozialwissenschaftlich ausgebildet sein muß.
 
 

Zusammenfassung und Übergang

Die - allerdings nur exemplarische - Darstellung und Kritik der wichtigsten bisher vorliegenden didaktischen Modelle ergab in jeweils unterschiedlicher Akzentuierung eine Reihe von Mängeln und Problemen, die wir nun noch einmal ins Bewußtsein rufen wollen, bevor wir unseren eigenen Lösungsvorschlag systematisch entwickeln.

1. Es erweist sich offenbar als unmöglich, mit einem einzigen Modell der didaktischen Problematik im ganzen gerecht zu werden. Jedes der behandelten Modelle vermag vielmehr allenfalls nur Teilaspekte befriedigend zu lösen, während andere zu kurz kommen oder ganz übersehen werden. Eine didaktische Theorie, die diese Mängel beheben will, muß also von vornherein mehrdimensional angelegt sein, verschiedene Modelle miteinander kombinieren; diese dürfen jedoch nicht einfach additiv zueinander stehen, sondern müssen in einem inneren Zusammenhang auch theoretisch begründet werden. Ein Lehrer, der die vier erwähnten didaktischen Modelle miteinander kombinieren würde, könnte allein dadurch zumindest die

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ständige Wiederholung bestimmter Mängel einschränken. Aber ein solches Verfahren könnte allenfalls als Notlösung gelten. Eine systematische didaktische Theorie, die diese Mängel und Schwierigkeiten bearbeiten will, muß von der bloßen Addition zu einem inneren systematischen Zusammenhang gelangen.

2. Eine möglichst umfassende politik- und sozialwissenschaftliche Ausbildung der Lehrer, die Politik unterrichten, ist unerläßlich. Ohne didaktische und methodische Kenntnisse reicht dies zwar allein auch nicht aus, aber umgekehrt darf eine didaktische Theorie aus der Not der fehlenden sozialwissenschaftlichen Ausbildung keine Tugend machen und deren Fehlen sogar noch rechtfertigen.

3. Eine didaktische Theorie muß aus Analysen des historisch-politischen Prozesses selbst hervorgehen und ist keine im traditionellen Sinne "inner-pädagogische" Angelegenheit. Sie kann der Schule nicht länger politische Exterritorialität zusichern, muß aber zugleich die Hereinnahme politischer Wirklichkeit in den Schulunterricht und in das Schulleben kontrollierbar und öffentlich diskutierbar machen. In diesem Zusammenhang müssen weitere traditionelle Vorentscheidungen aufgegeben werden; etwa eine falschverstandene politische Neutralität der Schule in dem Sinne, daß sie nichts lehren dürfe, was Parteinahme für und gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Mächte impliziere; oder daß politische Bildung für Jugendliche nur propädeutischen Charakter haben könne, weil sie noch nicht im Ernstfall der politischen Verantwortung stünden. Vielmehr ist unbestreitbar, daß die Existenz von Kindern und Jugendlichen heute und in Zukunft unabweisbare politische Dimensionen bereits enthält, so daß der politische Unterricht nicht nur "lebensvorbereitenden", sondern auch "lebensbegleitenden" Charakter haben muß, d. h. auch die politisch relevanten Aspekte der jeweils aktuellen Situation von Kindern und Jugendlichen thematisieren muß.

4. Das gilt insbesondere auch für die schicht- und klassenspezifische Dimension; denn ob man nun den Marxschen

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Klassenbegriff für die optimale analytische Kategorie hält oder nicht, in jedem Falle ist die politische Dimension der kindlichen und jugendlichen Existenz bereits durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe und durch die dadurch bedingten relativ größeren oder geringeren sozialen Chancen entscheidend definiert. Eine didaktische Theorie kann davon nicht absehen und sich nicht länger mehr auf ein formal abstraktes Staatsbürgersubjekt zurückziehen.

5. Ebensowenig wie hinter die eben angedeuteten politisch-historischen Erkenntnisse kann eine didaktische Theorie nun aber auch hinter bestimmte Ergebnisse der didaktischen Diskussion zurückfallen. Nichts wäre mit Entwürfen gewonnen, die bloß ein "richtiges" Bewußtsein anbieten, ohne das Problem zu lösen, wie dieses Bewußtsein als Ergebnis der intellektuellen oder praktischen Arbeit von Individuen zustande kommen könnte, oder die schon von der sachlichen Konstruktion her ein autoritäres, also irreversibles Lehrer-Schüler-Verhältnis konstituieren.

6. Es hat sich gezeigt, daß alle didaktischen Modelle im Grunde für die Volks- bzw. Berufsschulen entworfen waren, wobei Negt die Abgänger dieser Schulen, nämlich die Arbeiter, im Auge hatte. Darin kommt nicht etwa nur eine altersspezifische Perspektive zum Ausdruck, die für entsprechende Altersklassen des Gymnasiums genauso angewendet worden wäre. Vielmehr spiegelt sich darin auch noch die überlieferte Unterscheidung von "höherer" Bildung, die als "wissenschaftliche" Bildung den höheren gesellschaftlichen Positionen vorbehalten blieb, und "niederer" Bildung für die in die unteren Rang- und Arbeitspositionen der Gesellschaft eintretende Masse des Volkes wider. Mit andern Worten: In der Annahme, daß didaktische Überlegungen nur für die Volks- und Berufsschule nötig seien, weil ihren Schülern die "wissenschaftlichen" Gehalte der Politik nicht zugemutet werden können, drückt sich nicht nur die empirische Erfahrung geringer Bildungsinteressiertheit aus, sondern zugleich auch die gesellschaftliche Erwartung, daß die Abgänger dieser Schulen für die Re-

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produktion ihrer gesellschaftlichen Funktionen, z. B. für ihre Stellung im Arbeitsprozeß, auch nicht mehr benötigten. Dieser Maßstab ist bei Henningsen und Negt deutlich überschritten worden, und beide bringen damit nur zum Ausdruck, daß die didaktische Problematik nur spezieller Ausdruck des politischen Problems ist, daß eben diese selbstverständlichen Zuordnungen nicht mehr einfach aufrechterhalten werden können. Das heißt aber auch, daß die didaktische Problematik alle Bildungsstufen betrifft, auch die Gymnasien, insofern die Aufgabe der Didaktik nun nicht mehr in der Bereitstellung schulartenspezifischer und damit klassenspezifischer Ersatz-Konstrukte für wissenschaftliches Bewußtsein besteht, sondern in der Vermittlung wissenschaftlich-praktischen Bewußtseins überhaupt.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/76pd1.htm

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