Hermann Giesecke


Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung

Ein Beitrag zur Didaktik der außerschulischen Politischen Bildung
Diss. Kiel 1964 (Phil. Fak.)
 

II. Teil : Brennpunkte einer Theorie der politischen Lehre


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© Hermann Giesecke

Zu dieser Edition:
Meine Dissertation mußte damals nicht gedruckt, sondern der Fakultät lediglich in einer Reihe von Kopien der maschinenschriftlichen Fassung  übergeben werden.  Aus dem Material entstanden  zwei Publikationen: Didaktik der politischen Bildung (München 1965) und Politische Bildung in der Jugendarbeit (München 1966). Die Dissertation habe ich teilweise bereits während meiner Tätigkeit im Jugendhof Steinkimmen (1960 - 1963) verfasst, deshalb spiegelt sie die aus dieser Arbeit erwachsenen pädagogischen Erfahrungen und Urteile unmittelbarer wider als die beiden Publikationen,  in die  Ergebnisse weiterer Diskussionen und zusätzliche Reflexionen aus größerer zeitlicher Distanz eingegangen sind.
Offensichtliche Tippfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert. Im Original befinden sich die Fußnoten - nach Kapiteln gezählt - auf der jeweiligen Textseite; für diese Edition wurden sie an den Schluß des jeweiligen Kapitels gesetzt, die ursprüngliche Numerierung wurde beibehalten.
Die Edition ist vollständig, es fehlen lediglich das Deckblatt und der übliche Lebenslauf.
Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten,  wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere  Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen. (H. Giesecke, März 2003)

II. Teil : Brennpunkte einer Theorie der politischen Lehre

4. Kap.: Die "Spiegel-Kontroverse" als Ausgangspunkt


Die Didaktik des Politischen Unterrichts sieht sich einer Reihe prinzipieller Schwierigkeiten gegenüber, deren befriedigende Lösung fast unmöglich scheint. Zwar stehen einer abstrakten Erörterung der Lehrinhalte und des Erziehungszieles, wie die unübersehbar gewordene Literatur zeigt, kaum Hindernisse im Wege. Sobald aber versucht wird, aus solchen Theorien die Unterrichtspraxis zu gestalten, kommen die Schwierigkeiten erst recht zum Bewußtsein. Wenn man von der Unterrichtserfahrung her die bisherigen theoretischen Erwägungen überprüft, werden deren Schwächen offenkundig. "Mag die Theorie der politischen Erziehung und Bildung (Weniger, Oetinger, Spranger, Litt, Weinstock usw.) auch zu sich selbst gekommen sein, so muß man doch danach fragen, ob sie nicht zu viele Bedingungen ihrer selbst - grundsätzlich wie geschichtlich und philosophisch wie pädagogisch - außer Acht gelassen hat und daher nur abstrakt richtig ist, so daß sich jetzt - angesichts der sich keineswegs vermindernden Schwierigkeiten, wie sie allererst die immer zahlreicheren ernsthaften Versuche tatsächlich aufzeigen – die Aufgabe stellt, auch und gerade im Prinzipiellen so konkret wie möglich zu verfahren"(1).

Die Geschichte der bisherigen Auseinandersetzungen um die politische Bildung ließe sich darstellen als eine wechselseitige Kritik der kontroversen Autoren daran, daß jeweils nur bestimmte Probleme gesehen worden seien. Die Kritik wies dann - partiell fast immer mit vollem Recht - nach, daß demgegenüber andere Problemfaktoren vernachlässigt worden seien.

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Um die Frage der politischen Lehrinhalte zu entwickeln, sind verschiedene Wege möglich. Einmal könnten wir ihre objektive Seite beschreiben, d.h. was Politik im allgemeinen und besonderen eigentlich sei. In diesem Falle müßten wir uns sowohl an die Methoden wie die Ergebnisse der zuständigen Fachwissenschaften halten. Anschließend wäre die subjektive Seite zu untersuchen, d.h. die Fragen, was von dem derart objektiv Ermittelten überhaupt und für Jugendliche lernbar sei, welche Hindernisse sich ergeben, und wie sie prinzipiell zu beheben seien. Nach der Klärung der objektiven und subjektiven Seite könnte vielleicht ein Prinzip der Stoffauswahl und auch ein Erziehungsziel formuliert werden.

Wir wollen einen anderen Weg gehen, der sehr viel stärker von der Unterrichtswirklichkeit ausgeht. Wir wollen beschreiben, wie Kenntniserwerb, Willensbildung und Urteil angesichts eines aktuellen Streitpunktes von einigem Gewicht zustande kommen. Dabei soll uns die "Spiegel-Kontroverse" des Jahres 1962 als Beispiel dienen, nicht um ihre politische Diskussion noch einmal zu provozieren, sondern weil sie wie kaum ein anderes innenpolitisches Ereignis der Nachkriegsjahre bei breiten Schichten politisches Interesse erweckt hat. Wir können zunächst ganz knapp folgende Gesichtspunkte herausarbeiten, die uns vielleicht zu ersten Ansätzen einer Theorie der Lehrinhalte weiterhelfen.

1) Offensichtlich handelte es sich bei der Spiegel-Kontroverse um einen politischen Gegenstand. Alle Beteiligten sahen ihn so. Dies allein könnte als Beweis schon genügen, aber wir können den Sachverhalt noch präzisieren, indem wir beschreiben, welche besonderen Merkmale diesem Ereignis zukommen.

a) Es handelte sich um eine "offene Situation", die noch nicht entschieden war und für deren Entscheidung es verschiedene Möglichkeiten gab.

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b) Der Sachverhalt selbst war umstritten. Es gab nicht nur verschiedene Beurteilungen über ihn in der Öffentlichkeit, sondern für diese verschiedenen Beurteilungen entschied sich auch ein großer Teil der Bevölkerung: Die Streitfrage war "aktuell".(2)

2) Diese Aktualität entstand nicht von selbst, sie wurde vielmehr mehr oder weniger planmäßig hergestellt. Kaum ein Staatsbürger hatte zum Sachverhalt der Kontroverse oder zu den daran beteiligten Personen ein "unmittelbares Verhältnis". Beides wurde vermittelt durch die Massenkommunikationsmittel. Ihre Berichterstattung und Meinungsbildung brachten die Auseinandersetzung erst in den Horizont des Staatsbürgers. Ohne sie hätte sie gar nicht aktuell werden können, hätte sich der Staatsbürger auch gar nicht informieren können.

3) Daß eine solche "Vermittlung der Beteiligung" überhaupt wirksam werden konnte, bedurfte auf Seiten des Staatsbürgers einiger Voraussetzungen.

a) Er mußte über eine gewisse sprachliche und vorstellungsmäßige Fähigkeit verfügen, die mit den Mitteilungen korrespondierten und ihr Verständnis überhaupt erst ermöglichten. Diese sind allgemeiner Natur und haben zunächst nichts mit politischen Fähigkeiten zu tun. Je differenzierter sprachliche und visuelle Fähigkeiten ausgebildet sind, um so genauer wird die Mitteilung verstanden.

b) Er mußte über einen gewissen Kenntniszusammenhang vom Politischen verfügen. "Pressefreiheit", "Landesverrat", "Demonstration" sind Vokabeln, die isoliert unverständlich blieben, wenn sie nicht gleich in einen wie immer gearteten Kenntnis- und Wertzusammenhang integriert würden. Dabei ist zu-

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nächst die sachliche oder wertende Qualität unerheblich, sie kann die des Vorurteils sein. Allerdings bestimmt die Art und Weise des je individuellen Kenntnis- und Wertzusammenhangs auch die Art und Weise mit, wie die so vermittelte Erfahrung zum Urteil gewendet wird.

c) Voraussetzung dafür, daß der geschilderte Sachverhalt als Konflikt erlebbar wird, ist die Möglichkeit des Staatsbürgers, verschiedene Informationsquellen mit je verschiedenem politischen Engagement zur Hand zu nehmen. Außerdem sind Fernsehen und Funk als öffentlich-rechtliche Anstalten zu einem Mindestmaß an objektiver Berichterstattung verpflichtet; sie vollzieht sich im wesentlichen darin, daß beide Institutionen im Falle einer solchen Kontroverse Vertreter der verschiedenen Standpunkte zu Wort kommen lassen. Es wäre eine politische Situation denkbar, in der die Informationen der Massenkommunikationsmittel von einer einsinnigen politischen Ansicht her erfolgen. In diesem Falle würden sie kaum den Konfliktcharakter der Ereignisse herausstellen.

3) Um ein Ereignis wie die Spiegel-Kontroverse überhaupt verständlich machen zu können, müssen die Massenkommunikationsmittel einen gewissen Kenntnis-Zusammenhang stiften. Die Kenntnisse werden von den zuständigen Einzelwissenschaften her beschafft, ohne daß bei der Verbreitung unbedingt deren Methoden berücksichtigt würden. Bereits verfügbare Kenntnisse werden also aktualisiert und aus ihrem ursprünglichen Forschungszusammenhang herausgenommen. Dies gilt vor allem für die rechtlichen und politischen Wirkungen der Landesverratsbestimmungen, über die vorher kaum jemand eine genaue Kenntnis hatte, eben weil sie nicht "aktuell" waren. Hinzu kamen sehr bald die historischen Verweise auf den Nationalsozialismus. Angebliche Übereinstimmungen und Unterschiede wurden herausgearbeitet.

4) Bei der Kritik der Affäre mußte ein Maßstab gefunden werden, der sich irgendwie auf das gemeinsa-

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me Ganze bezog. Die Feststellung, daß es sich um einen zweifachen Konflikt handelte, - einmal um den Machtkonflikt zwischen einem Minister und einem Presseorgan, zum anderen um einen Wertkonflikt zwischen der Pressefreiheit und dem Staatsschutz - genügte nicht. Die Reflexion auf das Ganze des Staatswesens gelang in mindestens zweierlei Hinsicht:

Einmal wurde antizipierend zu erörtern versucht, welche Folgen für das ganze Gemeinwesen sich ergeben müßten, wenn dieser Konflikt so oder anders entschieden würde. Zum anderen geriet die Art und Weise des Austrags dieses Konfliktes in die Diskussion, und zwar mit dem Begriff des "Stiles".

"Stil" meinte dabei vordergründig den rein pragmatischen Konsens darüber, wie eine solche Aktion verlaufen dürfe und wie nicht, d.h. welche Verfahrensweisen im politischen Machtkampf zulässig seien.

5) Sowohl der Begriff des Stiles wie auch die Begründungen der kontrahierenden Parteien für ihre jeweilige Position in der Streitfrage enthielten politisch-philosophische Prämissen, die nun ihrerseits überprüft werden mußten.

6) Es ließ sich beobachten, daß unser Konflikt von vielen Bürgern als so schwerwiegend empfunden wurde, daß sie sich persönlich bedroht sahen. Es ging nicht mehr nur um eine rein pragmatische Lösung eines alltäglichen Interessenkonfliktes, sondern auch um die Frage der künftigen persönlichen Sicherheit. Mancherorts wurde die Überlegung in Gang gesetzt, ob dieser Konflikt sich nicht auf lange Sicht zu einer Bedrohung der Sicherheit des täglichen Daseins auswirken könne. Damit bekam diese Problematik eine "existentielle" Bedeutung.

7) Im Prozeß der öffentlichen Auseinandersetzung ergab sich zunächst eise Reaktion der Staatsbürger - gleichgültig auf welcher Seite der streitenden Parteien sie standen. Zugleich wurde diese Reaktion zur Aktion, nicht nur in Form von Demonstrationen, sondern insbesondere in der Weise, daß in jedem Falle

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die Urteilsbildung weit über diese einzelne Kontroverse hinausging. Das Urteil konnte sich nun nicht mehr darauf allein beschränken, wie in diesem konkreten Falle entschieden werden sollte. Es erstreckte sich vielmehr auf bestimmte politische Gruppen als Ganzes, auf ihre Vorstellungen und Begründungen, auf Wert und Wirkung staatlicher Institutionen wie etwa der politischen Rechtsprechung. Indem das Bewußtsein von dieser konkreten politischen Kontroverse zu einer Reihe ihrer Hintergründe fortschritt, und indem es zugleich Massencharakter annahm, wurde es selbst zu einer politischen Aktion innerhalb des Gemeinwesens, die sich z.B. in Wahlen niederschlug, die mit dem Ereignis selbst unmittelbar gar nichts zu tun hatten.

8) Damit war eine Art politischer Arbeitsteilung fixiert, an der auf der einen Seite die kontroversen politischen Akteure, auf der anderen Seite die Massenkommunikationsmittel und die Bürger als "Kontrolleure" beteiligt waren. Letztere konnten zwar einen gewissen Einfluß entwickeln, dessen positive politische Gestaltung allerdings in die Hände der kritisierten Akteure gelegt war.

Aus dieser skizzenhaften Aufschlüsselung der Art und Weise, wie sich politische Meinungs- und Urteilsbildung sowie die daraus resultierende Aktion im konkreten Fall ergibt, lassen sich die ersten wertvollen Aufschlüsse über eine Didaktik des Politischen gewinnen.

Anmerkungen zu Kap. 4

1) Hans Hermann Groothoff, Grundfragen der politischen Bildung ..., S. 507

2) Nach Peter R. Hofstaetter, Einführung in die Sozialpsychologie, S. 163 f., ist die Aktualität einer Frage innerhalb einer Gruppe dadurch bestimmt, daß sich verschiedene Parteiungen bilden und die Zahl der Meinungslosen verhältnismäßig gering ist. 

 

   
 

5. Kap.: Das Problem des Gegenstandes: Politik als das noch nicht Entschiedene


1. Der Widerspruch von Funktionswissen und politischem Wissen

Der Gegenstand des Politischen ist im Vergleich zu anderen Fächern offenbar von spezifischer Art. Er setzt sich, wie schon Karl Mannheim feststellte (1) aus

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einem "wißbaren", rationalisierbaren und einem irrationalen Teil zusammen, in dem die zwar motivierte aber letztlich wissenschaftlich nicht begründete oder begründbare Entscheidung ihren Ort hat. Wäre es anders, so würde die politische Entscheidung zu einer eindeutigen, sofern man nur hinreichend viel vom zur Debatte stehenden Sachverhalt wüßte. Zweifellos werden sich zahlreiche Konflikte in dem Maße durch wissenschaftliche Analysen lösen lassen, wie sie vorwiegend durch falsche Information und unrichtige Meinungen konstituiert sind. Ob etwa eine bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahme diese oder jene Folgen habe, ist weitgehend berechenbar geworden. Damit wird aber der irrationale Bereich politischer Entscheidungen letztlich nur eingeschränkt, keineswegs aufgehoben. Er tritt uns auch klarer in den Blick, weil wir im Unterschied zu früheren Jahrzehnten Konfliktstoffe ausscheiden können, die zu einer Angelegenheit der wissenschaftlich planenden Verwaltung geworden sind. Solange aber das allgemeine Interesse mit den besonderen nicht voll übereinstimmt - was erst in der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft der Fall wäre - , solange bleiben politische Konflikte auch sachlich und ethisch mehrdeutig, ihre Lösung eine Sache der Parteinahme und Entscheidung. Politik ist also offenbar mehr als die Summe der Realkenntnisse, die für das politische Handeln nützlich sind. Denn sie sind Kenntnisse von gewordenen Dingen, während politisches Handeln abzielt auf Staat und Gesellschaft, insofern sie noch im Werden begriffen sind.(2)

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Wie sehr immer sich die politische Pädagogik der Wirklichkeit des politischen Lebens öffnen mag, sie kann sie bestenfalls immer nur in dem Stadium begreifen, das durch die nächste bedeutsame politische Aktion wieder verändert wird. Aber gerade diese Aktion will sie dem politischen Urteil möglichst vorweg verfügbar machen.

Nach diesen Überlegungen wäre ein politischer Unterricht, der nichts mehr als einen systematisierten Zusammenhang von Wissen böte, schlechterdings unpolitisch. Denn das eigentlich Politische, zu dem wesentlich Parteinahme gehört, würde so auf wissenschaftliche Erkenntnis reduziert. Die didaktische Diskussion hat sich denn auch von einer derart statisch verstandenen Sozialkunde längst gelöst. Aber damit ist die Frage nach dem Inhalt des politischen Unterrichts noch keineswegs entschieden. Denn andererseits kann es keinen Zweifel daran geben, daß nur ein einigermaßen sinnvoll aufeinander bezogenes Wissen jene Umweltorientierung gewähren kann, die durch Erfahrung und Umgang schon lange nicht mehr zu gewinnen ist. Unser Beispiel macht offenkundig, daß ein politischer Konflikt nur erfahren werden kann, wenn seine Mitteilung auf ein Gesamtverständnis des Politischen trifft, d.h. auf einen wenigstens minimalen Kenntniszusammenhang. Je adäquater der Kenntniszusammenhang ist; umso genauer wird der Konflikt verstanden, um so vernünftiger kann das Subjekt auf ihn reagieren. Ein solcher Wissens-

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zusammenhang aber ist seiner inneren Struktur nach auch dann statisch, wenn er dynamisch konzipiert ist, widerspricht also der Orientierung am politischen Ereignis selbst.

Stoffkataloge dafür sind oft formuliert und den einzelnen Altersstufen angepaßt worden (3) und sind auch kaum noch umstritten. Andererseits trifft ein solcher Wissenszusammenhang für sich allein genommen offenbar auch nicht das jugendliche Interesse, weil er aller vitalen Energien beraubt ist. "Der demokratische Formalismus unserer landläufigen politischen Bildung ... ist blind. Er erreicht ... die Wirklichkeit unserer Jugend heute nicht ...".(4) Die Objektivität des jeweiligen politischen Sachverhaltes ist - auch das zeigt unser Beispiel - relativ. Genau genommen sind uns keine Sachverhalte gegeben, sondern durch die Massenkommunikationsmittel vermittelte Meinungen über Sachverhalte. Ein Durchstoß zur Sache selbst ist immer nur in relativer Weise durch einen Vergleich der Meinungen über sie sowie durch ein Erfassen ihrer Hintergründe möglich.(5)

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Es scheint also, daß der Gegenstand Politik grundsätzlich die Möglichkeit eines Faches verneint. Es besteht sonst die Gefahr, daß die Lehre sich auf das zurückzieht, was fachlich lehrbar scheint: Geschichte, Kulturgeschichte, Erdkunde, Verfassungskunde usw. Andererseits ist Politisches, wie wir es hier verstehen, angewiesen auf ein durch systematische Lehre vermitteltes politisches Weltbild, weil es anders überhaupt nicht verstanden werden könnte.
 
 

2. Historisches und politisches Wissen

Im Zusammenhang mit der zum Teil heftigen Diskussion nach der "Saarbrücken Rahmenvereinbarung" wurde deshalb die Gemeinschaftskunde vom selben Autor abgelehnt, der sich gleichzeitig für eine Erhöhung der Geschichtsstundenzahl einsetzte.(6) Schon früher hatte sich der Staatsrechtler Werner Weber ähnlich geäußert. Der junge Mensch finde seinen "Zugang zum Staat" nur "dadurch, daß er zur wachen und fundierten Teilhabe an der kulturellen Existenz seiner Zeit im ganzen geführt wird". Politische Bildüng als Fach verführe zu einer "fragwürdigen, ad hoc eingerichteten Unterweisung".(7) Daß aber politische Bildung und historische Bildung nicht identisch sein können, hat sich als allgemeine Meinung durchgesetzt. Gegenstand der Geschichte seien Gewordenheiten, Politik aber reiche in jenen offenen Raum, in dem durch Entscheidungen erst Gewordenes werde. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, daß politische Kontroversen der Gegenwart ohne Kenntnis ihrer historischen Dimension nicht verstehbar sind. (8) Auch das zeigt unser Beispiel: Der historische Vergleich wird in dem Augenblick notwendig, wo ein wertender Maßstab für die Beurtei-

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lung unseres Konfliktes gesucht wird. Er macht sich nicht nur dort geltend, wo er bewußt erörtert wird, sondern viel stärker dort, wo die Wertungen unbewußt erfolgen. Es ist überhaupt die Frage, ob Wertmaßstäbe für die Beurteilung der politischen Gegenwart aus anderen Bezügen als der historischen Erinnerung gewonnen werden können. Zweifellos aber hat eine fundierte historische Bildung ihren festen Ort innerhalb einer politischen Lehre.(9)
 
 

3. Politischen Wissen als "Konflikt-Wissen"

Bis jetzt können wir folgendermaßen zusammenfassen: Soll eine politische Konfliktsituation angemessen erfahren werden, ist ein zusammenhängendes Wissen über die politische Gegenwart wie auch eine Kenntnis ihrer historischen Bedingungen Voraussetzung. Beides aber reicht nicht aus; denn ein solcher Kenntniszusammenhang allein garantiert noch nicht die vernünftige Anwendung auf den konkreten Konfliktfall. Es ist sogar denkbar, daß er sich soweit von den konkreten politischen Auseinandersetzungen entfernt, daß er für ihre humane und vernünftige Lösung nicht mehr zur Verfügung steht. Hier wäre auf die oft erhobene Klage über die Unfähigkeit gerade der Gebildeten hinzuweisen, ihre Werthaltungen im konkreten politischen Geschehen zu verwirklichen. Entscheidend ist offensichtlich gar nicht so sehr der gelernte Wissenszusammenhang selbst als vielmehr die Art und Weise des dabei gestifteten Bedeutungszusammenhangs.

Wir haben also einen Widerspruch gefunden zwischen der Notwendigkeit eines zusammenhängenden Wissens über Politik und dem Wesen des Politischen selbst. Die politische Didaktik hätte also zu klären, ob dieser Widerspruch auflösbar ist, d.h. ob es einen Weg gibt, sowohl das Politische im Blick zu behal-

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ten wie auch gleichzeitig dabei jenen zusammenhängenden Wissensbestand zu lehren, der allein Orientierung und damit eine "Erfahrung" vom Konflikt ermöglicht.

Wenn aber jener Wissenszusammenhang das Politische verfehlen muß, weil er allein einer harmonischen Gesellschaft angemessen wäre, so bleibt nur übrig, das politische Leben grundsätzlich kontrovers zu sehen, also als in Konflikten begriffen. Diese Sicht hat sich immer mehr durchgesetzt. Allerdings gehen die Meinungen sowohl über die Inhalte wie die Partner solcher Konflikte noch erheblich auseinander. Vor allem das Ernstnehmen innenpolitischer Kontroversen fällt der politischen Bildung schwer. So findet Martin Friese in den Bonner Rahmenrichtlinien zur Gemeinschaftskunde "in sehr erheblichem Maße" "recht präzise gesamtgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ... Das Kapitel 6 der Themenvorschläge 'Der Mensch in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat' zeichnet sich überhaupt durch einen undifferenzierten Lakonismus aus, der den zwingenden Problemen und Fragestellungen unserer gesellschaftlichen und politischen Verfassung sichtlich aus dem Wege geht".(10) Daß der Widersprach "zwischen der verfassungsmäßig institutionalisierten Idee der Demokratie ... und der tatsächlich praktizierten" (11) nicht übersehen werden dürfe, ist auch in den pädagogischen Diskussionen betont worden.(12) Allerdings gehen die Ansichten sofort auseinander bei der Frage, ob aus den Verfassungsprinzipien sich im einzelnen verpflichtende Weisungen für die Praxis des gesellschaftlichen Lebens ableiten lassen, oder ob die abweichende Wirklichkeit des politischen

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Lebens selber eine Fortentwicklung der Verfassungsbestimmungen darstelle. Abendroth vertritt die These; daß aus der Sozialstaatsklausel Forderungen an die gesellschaftliche Wirklichkeit abgeleitet werden könnten, die noch nicht erfüllt seien.(13) Ähnlich argumentiert Tietgens: "Politischer Bildung kann es ... nicht darum gehen, bestehende formaldemokratische Institutionen zur selbstverständlichen Anerkennung zu bringen, sondern sie muß Eigenschaften und Fähigkeiten wecken und fördern, die den Grundelementen und Tendenzen der Demokratie zur Verwirklichung helfen.(14) Das Bundesverfassungsgericht hält im KPD-Urteil die Frage offen: "Die freiheitliche demokratische Ordnung nimmt die bestehenden, historisch gewordenen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen zunächst als gegeben hin. Sie sanktioniert sie weder schlechthin, noch lehnt sie sie grundsätzlich und im ganzen ab ... Damit ist eine nie endende Aufgabe gegeben ..."(15)
 
 

4. Die Diskussion um den Staat

Eine gewichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielte die Auseinandersetzung um "den Staat" in der politischen Bildung. Gegen Oetinger hatte Litt auf der prinzipiellen Trennung des "Politischen" und "Sozialen" bestanden und das Politische mit dem Staat identifiziert.(16) Der Staat ermögliche erst die Ordnung im sozialen Bereich, sei also nicht damit gleichzusetzen. Unabhängig davon, daß in der Demokratie der Staat durch konkurrierende Ordnungsvorstellungen geschaffen werde, von denen sich jeweils eine durchsetze, komme ihm substantieller Charakter

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zu, der ihn aus dem Bereich der bloßen Mittel erhebe. Ebenso wie Litt sah auch Weniger den Staat vor allem als Wahrer der Rechts- und Friedensordnung. Die damit bei beiden weitergeführte Trennung von Staat und Gesellschaft wurde vor allem aus soziologischer Sicht, aber auch von Theoretikern der politischen Bildung selbst kritisiert. "Was damit nicht in den Blick kommt, ist die Institutionalisierung von Herrschaftsverhältnissen, die in letzter Instanz schwerlich aus einer isolierten Betrachtung der staatlichen Machtausübung, sondern nur aus deren Verflechtung mit objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung im ganzen verstanden werden kann".(17)

Außerdem hat man darauf verwiesen; "daß der Staat der pluralistischen Demokratie nicht selbst der pluralistischen Struktur enthoben ist, daß die Parteien, die ihn tragen, und die Regierung, die die Führung innehat, sich selbst aus jener pluralistischen Gesellschaft rekrutieren, und ein Teil von ihr sind. Sie können und müssen zwar den Versuch machen, das Ganze zu denken, aber sie denken es wiederum fast nur in der überwiegend fragmentarischen Weise wie die anderen Staatsbürger auch".(18)

Damit ist der Weg gewiesen, in die konkreteren politischen Kontroversen vorzustoßen. Dabei muß sich der Horizont in dem Maße über den eigenen Staat hinaus ausweiten, wie die Probleme selbst sich als überstaatliche, ja weltweite erweisen. Unter deutlichem Hinweis auf Grundsätze der neueren Lerntheorie heißt es: "Man kann die zu bildenden Schwerpunkte nicht in Form von Grundthesen bestimmen, sondern nur als offene Fragen, Alternativen, Probleme. Aporien, Perspektiven.

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Das bedeutet eine Umkehrung des herkömmlichen Unterrichtsweges: Der Ausgang wird statt bei den Tatsachen bei den Problemen genommen".(19)

In diesen Stellungnahmen ist die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben. Das Politische erstreckt sich durch alle Bereiche gesellschaftlicher Kommunikationen. Die "fortschreitende Politisierung der Gesellschaft" (20) wird zum Gegenstand der politischen Bildung. Damit wird aber das objektive Problem einer politischen Lehre nur noch komplizierter; denn nicht nur, daß sich jetzt das Problem der Stoffauswahl weiter verschärft, vielmehr wird auch klar, daß die Fixierung von politischen Grundeinsichten, wie sie noch Litt und Spranger glaubten vornehmen zu können, mindestens mehrdeutig werden muß, wenn sie nicht überhaupt unangemessen geworden ist. Um wieviel einfacher wäre die Konstruktion einer politischen Lehre, wenn sich das Politische und das Soziale säuberlich von einander trennen und diese Trennung zur ersten politischen Einsieht sich erheben ließe!
 
 

5) Erste Folgerungen

Der Widerspruch zwischen einer zusammenhängenden Lehre und der Unsystematik des Politischen selbst ist aber damit immer noch nicht gelöst, sondern höchstens präzisiert. Greifen wir noch einmal auf unser Modell zurück! Wir hatten gesehen, daß die vermittelte Kenntnis vom politischen Konflikt auf ein immer schon vorhandenes Verständnis vom politischen Gesamtzusammenhang trifft. Aber, so können wir jetzt hinzufügen, in dem Maße, wie die Massenkommunikationsmittel gezwungen sind, einen an sich isolierten Konflikt in einen bestimmten Zusammenhang zu bringen, um ihn verständlich machen zu können, beginnt dieser Kenntniszusam-

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menhang den im Subjekt bereits vorhandenen zu durchdringen und zu verändern. Die Spiegel-Kontroverse stiftete also notwendigerweise einen neuen Zusammenhang politischen Wissens und Wertens bei den einzelnen Bürgern, - von den Fällen abgesehen, wo die neuen Informationen auf eine mit affektiven Vorurteilen besetzte Haltung trafen und sie deshalb nicht verändern konnten.

Für unsere didaktische Problematik könnte dieser Zusammenhang fruchtbar gemacht werden. Da über Art und Maß des politischen Orientierungswissens weitgehend Einigkeit besteht, könnte eine didaktische und methodische Konstruktion des Unterrichts gefunden werden, in der von der Analyse politischer Konflikte aus jeweils der gewünschte Kenntnis- und Bewertungszusammenhang erarbeitet, ständig reproduziert, verändert, differenziert und präzisiert wird. Die schon beschriebene Gefahr eines isoliert von politischen Auseinandersetzungen gewonnenen Kenntniszusammenhangs wäre damit umgangen. Diesen Weg hat - wie wir sahen - Rolfes auch schon beschritten.(21)

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Anmerkungen zu Kap. 5

1) Karl Mannheim, Ideologie und Utopie ...,  S.95 ff.

2) Für diesen Gesichtspunkt hat sich Arnold Bergstraesser immer wieder eingesetzt, zuletzt in: Der Beitrag der Politikwissenschaft ... S. 59: "Das politische Denken ist gerichtet auf die res gerendae, und es ist nicht gerichtet auf die res gestae". Noch pointierter Jürgen Habermas: "In dem Maße, in dem Politik wissenschaftlich rationalisiert, Praxis durch technische Empfehlungen theoretisch angeleitet wird, wächst nämlich jene eigentümliche Restproblematik, angesichts derer die erfahrungswissenschaftliche Analyse ihre Inkompetenz erklären muß. Auf der Basis einer Arbeitsteilung zwischen datenverarbeitenden Wissenschaften und wissenschaftlich nicht kontrollierbarer Normsetzung wächst mit der strikten Klärung bestimmter Voraussetzungen gleichzeitig der Spielraum purer Dezision: der genuine Bereich der Praxis entzieht sich in wachsendem Maße der Zucht methodischer Erörterung überhaupt". (Jürgen Habermas, Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis; Sozialphilosophische Studien. Neuwied 1963, S. 13-51, hier S.17)

3) Vgl. Felix Messerschmid.: Politische Bildung und Höhere Schule ... S. 25; Arnold Bergsträsser, Die Lehrgehalte der politischen Bildung an den Höheren Schulen ... S. 82/82: Theodor Wilhelm, Das Stoffgebiet der Politischen Bildung ... S. 36 ff.; "Themenkreis für die Politische Bildung, dessen Behandlung in der Volksschule angestrebt werden sollte", in: Die Praxis der politischen Bildung in der Volksschule ... S.54-56; Theodor Wilhelm, Bausteine ... S.19 ff.; schließlich die "Themenvorschläge" der "Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde in den Klassen 12 und 13 der Gymnasien", in: Rudolf Klatt, Gemeinschaftskunde und Geschichte am Gymnasium ... S.39-40.

4) Felix Messerschmid, Politische Bildung und Höhere Schule ..., S. 29.

5) "Die Lagen, auf die sich die politische Öffentlichkeit bezieht, sind nur bekannt als Meinungen". (Herbert v. Borch; Der Auslandskorrespondent ... S. 377; ähnlich Gösta von Uexküll, Die Nachricht als Widersacher der Wahrheit ... .

6) Jürgen von Kempski, Gemeinschaftskunde ist Unfug; in: Die Zeit, Nr. 7, 1962

7) Werner Weber, Universität und Höhere Schule ... S. 169

8) Vgl. Felix Messerschmid, Politische Bildung und Höhere Schule ..., S. 11; Wolfgang Hilligen, Worauf es ankommt ... S. 341

9) Vgl. auch Felix Messerschmid, Historische und Politische Bildung ...; Hermann Körner, Der Historiker und die Gemeinschaftskunde ...;

10) Martin Friese, Ziel und Inhalt der Gemeinschaftskunde..., S. 274

11) Jürgen Habermas, Student und Politik ..., S. 33

12) Vgl. Felix Messerschmid, Politische Bildung und Höhere Schule ..., S. 3o; K. F. Kindler, Not und Aufgabe der politischen Erziehung ..., S. 83.

13) Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Geschichte und Politik, Festschrift für Ludwig Bergsträsser, Düsseldorf 1954, S. 279 ff.

14) Hans Tietgens, Skeptische Generation und Politische Bildung ... , S. 220

15) Zit. nach Heinrich Schneider, Staatliche Ordnung und Politische Bildung ..., S. 64

16) Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes ...,vor allem S. 69 ff.

17) Jürgen Habermas, Student und Politik ... S.245/246

18) Kurt Sontheimer, Das Staatsbewußtsein in der Demokratie .... S.76.

19) Joachim Rohlfes, Stoffauswahl in der Gemeinschaftskunde der höheren Schule ..., S. 166

20) Jürgen Habermas, Student und Politik ..., S. 33

21) Eine ähnliche Folgerung hat Hans Mommsen aus der Schwierigkeit der Kooperation der drei Fächer in der neuen Gemeinschaftskunde gezogen: "Es scheint mir denkbar. daß diese Koordinierung durch eine Konzentration des Unterrichts auf das politische Entscheidungshandeln erreicht werden könne ... Diese Konzentration auf das politische Entscheidungshandeln würde ersparen, die vielfältigen Aspekte der political science als jeweils selbständige Unterrichtsabschnitte einzubeziehen und neben Geschichte, Politik (und Geographie) eine Miniatursoziologie, eine Miniaturnationalökonomie und einen fragwürdigen Abriß der Staatstheorie zu geben, womit ein positivistisches Auseinanderfallen des neuen Faches unvermeidlich wäre". In: H. Roth (Hg.),Gemeinschaftskunde ... S. 91/92


 

6. Kap.: Das Problem einer Fachdisziplin des Politischen


1. Politik als eigenes "Fach"

Aus der "Offenheit" des politischen Gegenstandes folgt, daß ihm keine spezifische Fachdisziplin entspricht, auf die ein politischer Unterricht sich stützen könnte. Die zuständigen Einzelwissenschaften wie Politische Wissenschaft, Anthropologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Zeitgeschichte befragen die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit unter ganz anderen Gesichtspunkten als der handelnde Politiker und der an diesem Handeln engagierte Bürger. Selbst wenn diese Wissenschaften sich dynamischer Methoden bedienen und damit das Veränderliche der Wirklichkeit im Blick behalten, können sie bestenfalls den Bereich des Rationalisierbaren erweitern, den irrationalen Charakter des Politischen aber grundsätzlich nicht aufheben. Nur eine Gesellschaftswissenschaft, die sich als nichts weiter denn als politische Praxis selbst verstünde - wie die orthodox-marxistische - könnte dies Dilemma lösen. Angesichts einer pluralistischen Gesellschaft aber wäre sie als in diesem Sinne "parteiliche" Wissenschaft in die Besonderheit eines partikularen Interesses verwiesen. Mannheim hat den Versuch unternommen, die Soziologie zu einer solchen praktischen Wissenschaft zu machen. Er versuchte der Bindung einer so verstandenen Soziologie an eine gesellschaftliche Partikularität durch eine Elitetheorie einer von Interessen freien Intelligenz zu begegnen.(1) Aber dieser Versuch konnte keine Anerkennung finden.(2)

Daß also eine Einzelwissenschaft nicht ein "Fach" politische Bildung begründen kann, wird auch von ihren einzelnen Fachvertretern kaum noch bestritten.(3)

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2. Grenzen der "Fächerkombination"

Auch eine einfache Addition mehrerer Wissenschaften kann kein "Fach" Politik begründen. Eine solche falsche Erwartung spielt offenbar bei der "Fächerkombination" der neuen Gemeinschaftskunde eine Rolle. Gegen sie wendet sich u.a. v. Kempski. Er befürchtet den Versuch, "den Schülern irgendeine 'Ganzheitsvorstellung' als Synthese von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft zu vermitteln". Das aber könne die Schule nicht leisten. "Wenn so etwas versucht wird, so wird, wenn man nicht Dogmen anzubieten hat, nur Schwafel in den Köpfen der Schüler erzeugt werden".(4) Die Entgegnung Minssen's (5) kann nur bei dem Hinweis überzeugen, daß die Geschichte für eine Betrachtung der politischen Gegenwart nicht ausreiche, da sie der Gegenwart gegenüber fast immer durch ein "cultural lag" gekennzeichnet sei, "daß also Gefahr besteht, Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft Herr werden zu lassen."(6) Zur Wissenschaftsproblematik erläutert Minssen: "Es bedarf systematischer gemeinsamer Anstalten von Experten der Gesellschaftswissenschaften, d.h. der politischen Wissenschaften, der Soziologie, der Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, sowie des Gymnasiums, die sich um Übereinstimmung in den Lehrgehalten des neuen Bereiches bemühen."(7) Solche Übereinstimmung mag zu erzielen sein, aber was würde sie letztlich erreichen? Nicht die Tatsache, daß bisher die verschiedenen Einzelwissenschaften im Hinblick auf die politische Bildung nicht genügend zusammengearbeitet haben - was eine rein organisatorische Frage ist -, sondern die

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andere, daß es innerhalb aller Einzelwissenschaften kontroverse Einstellungen zur politischen Gegenwart gibt, macht das politische Problem aus. Die Wissenschaftler sind jeweils an ganz bestimmten Punkten der gesellschaftlichen Totalität engagiert. Ihr konkreter gesellschaftlicher Gestaltungswille reicht zurück in die Auswahl des Erforschten wie die Methodik der Erforschung selbst. Die "sichere Grundlage der auf der Hochschule betriebenen wissenschaftlichen Fächer"(8) kann eben nur für die einzelnen Fachgesichtspunkte gelten, obwohl auch hier die Diskussion neuerdings wieder in vollem Gange ist.(9) Auf keinen Fall aber gilt die "wissenschaftliche Grundlage" für die Integration. Diese ist entweder politische Praxis - wenn mit ihrem Hintergrund politisch gehandelt wird - oder produktive politische Philosophie, wenn sie sich unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Erscheinungen als Urteil engagiert. Eine solche politische Philosophie aber hätte qualitativ andere Kriterien aufzuweisen, wenn sie sichere wissenschaftliche Grundlagen beansprucht, als die Fachwissenschaften. Die Fächerkombination geht von der Voraussetzung aus, daß es "die Fächer übergreifende Fragen gebe, auf die die einzelnen Fächer von ihren Gesichtspunkten her antworten müßten".(10) Sieht man daraufhin die Themenvorschläge der "Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde" durch, so stellt man fest, daß

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von den 7 großen Themengruppen 6 auf Inhalte zielen, bei denen innenpolitische Kontroversen so gut wie nicht zu befürchten sind. Sie sind ausnahmslos Gegenstand eines modernen, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Dimensionen einbeziehenden Geschichtsunterrichts. Im Grunde handelt es sich um Stoffkataloge des Geschichtsunterrichts, die aus dem Gesichtspunkt der gegenwärtigen Bedeutsamkeit festgelegt wurden. Lediglich die 6. Themengruppe, "Der Mensch in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat" nennt Probleme, die als politische in dem Sinne bezeichnet werden können, daß sie in der demokratischen Gesellschaft umstritten sind. Schon die Überschrift verrät vorsichtige Abstraktion von den konkreten Verhältnissen der gegenwärtigen Gesellschaft, die Unterthemen sind vollende sinnentleert:

" a) Individuum-Gesellschaft-Staat

b) Rechtsstaat-Verfassungen-Parteien

c) Selbstverwaltung-Föderalismus-Zentralismus

d) Staat-Wirtschaft-Mensch

e) Gruppen und Verbände in der Wirtschaft

f) Dorf-Stadt-Verstädterung-Raumplanung

g) Flüchtlingsprobleme in aller Welt-Zwangsaussiedlungen-Recht auf Heimat

h) Das politische und sittliche Problem der Macht - Die Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart" (11)
 
 

3. Kritik der "Rahmenvereinbarung"

Der apologetische Charakter der Rahmenrichtlinien, d.h. ihre objektive Tendenz, bestehende Verhältnisse möglichst nicht zu verändern, und damit selbst zu einer innenpolitischen Parteinahme zu werden, wird auch an anderen Stellen deutlich. Ihre Zielsetzung sieht "die gegenwärtige Welt" in ihrer "historischen Verwurzelung", ihren "sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen", ihren "politischen Ordnungen und Tendenzen".(12) Die politische

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Welt wird so vorgestellt, daß sie eigentlich nur in verstehender Hinnahme zu bewältigen ist. Dem entsprechen die Verhaltensweisen, die den Schülern angeraten werden. "Er soll die Aufgaben des Bürgers unserer Demokratie nicht nur erkennen, sondern auch fähig und bereit werden, sich im praktischen Gemeinschaftsleben der Schule und später in der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Welt zu entscheiden und verantwortlich zu handeln."(13) In der Tradition der staatsbürgerlichen Erziehung wird ihm einseitig die Demokratie als Aufgabe zugemutet. Er soll nach diesem Text z.B. nicht lernen, seine eigenen Interessen im ganzen der Gesellschaft wirkungsvoll zu vertreten. Ähnlich restaurativ ist die Aufgäbe der Sozialkunde im Zusammenhang der Fächer bestimmt: "Sie führt in die Ordnung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ein. Sie zeigt Kräftegruppen und Spannungsfelder und die Bedingungen der gesellschaftlichen Neuordnungen"(14).

Nicht nur wird "die Ordnung" als Singular verstanden und damit die Vorstellung einsinniger sozialer und politischer Vergesellschaftungen impliziert, vielmehr sind die gesellschaftlichen Widersprüche mit "Kräftegruppen" und "Spannungsfeldern" reichlich abstrakt avisiert.(15)

Man mag einwenden, daß solche Richtlinien nur allgemeinsten Charakter haben und die Detaillierung den Unterrichtsbeispielen überlassen bleiben müsse(16). Aber die Beispiele bestätigen nur den Zug zur Entpolitisierung. "Ostkunde", "die Menschenrechte", "Mensch und Gesellschaft", "Die Sicherung des Weltfriedens", "Europa im. 19. Jahrhundert" werden genannt.(17)

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Solche Themen werden schon wegen ihrer Stoffülle impraktikabel. K. Mielcke (18) hat etwa 20 Unterrichtsstunden für die Behandlung des historischen Materialismus benötigt, wobei er die philosophischen, anthropologischen, soziologischen und geschichtsphilosophischen Dimensionen mit bedachte. Aber gerade sein Beispiel demonstriert modernen Geschichtsunterricht, nicht die Kombination mehrerer Fächer. Was wenigstens bisher an den "übergreifenden Gehalten" unklar bleibt, ist die politische Begründung ihrer politischen Natur. So ist es kein Wunder, daß der Versuch, Castros Krisenpolitik zum Anlaß einer Untersuchung lateinamerikanischer Verhältnisse zu nehmen, als nicht im Sinne der Rahmenvereinbarung gedeutet wird. (19) Wenn aber die übergreifenden Gehalte überhaupt einen politischen Sinn hätten, dann läge er hier; denn angesichts einer solch aktuellen Kontroverse wie der Kubakrise gäbe es gegeneinander nicht austauschbare Fachgesichtspunkte der Sozialkunde, Geographie und Geschichte.
Fassen wir zusammen: Es ist hier nicht unsere Aufgabe, die Rahmenvereinbarung in ihrer Gesamtheit zu erörtern. Es ging uns an dieser Stelle um die Frage, ob und in welchem Maße die Kombination mehrerer Wissenschaften eine sichere Grundlage für die Bestimmung politischer Lehrgehalte abgeben kann. Die Analyse der Rahmenvereinbarung und ihrer Diskussion hat gezeigt, daß dieser Versuch einerseits um den Preis einer weitgehenden Abstraktion von der politischen Wirklichkeit und den politischen Gegnerschaften gelungen ist.(20) Die hier gewonne-

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nen, vor allem historisch fixierten "übergreifenden Gehalte" könnten sich nur dann als politische ausweisen, wenn eine vernünftige Anwendung der dabei gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten auf die konkreten politischen und gesellschaftlichen Gegensätzlichkeiten von selbst, d.h. ohne besondere Anleitung, vor sich ginge. Genau das ist aber seit Oetingers Kritik an der staatsbürgerlichen Bildung die nach wie vor ungelöste Frage. Was schon für die methodenbewußten politischen Wissenschaften zur unlösbaren Aporie wird, muß erst recht für das viel naivere Verhältnis des Staatsbürgers zur politischen Wirklichkeit gelten. "Ein System der Politik, das sich an vorgegebenen Kategorien orientiert - ob diese, wie etwa das Machtphänomen, wertneutral aufgefaßt oder von bestimmenden objektiven Normen abgeleitet sind -, vermag das politische Entscheidungshandeln nicht situationsgerecht zu beurteilen."(21).

Jedenfalls ist die Gefahr sehr naheliegend, daß ein nach diesen Grundsätzen ausgeführter Unterricht doch dazu führt, die so und nicht anders geartete Wirklichkeit der Gegenwart mit ein paar allgemeinen Formeln zu verdecken, anstatt sich an ihrer wenn

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auch bescheidenen Verbesserung zu beteiligen. Angesichts der Erhabenheit der "übergreifenden geistigen Gehalte" dürfte das nicht sonderlich lohnenswert erscheinen.

Zum anderen bezieht die Rahmenvereinbarung unter ideologiekritischen Gesichtspunkten betrachtet selbst eine politische Position in unserer Gesellschaft, sie wird parteilich und damit selbst ein Teil innenpolitischer Praxis. Dies mag unausweichlich sein, sobald in einer pluralistischen Gesellschaft wirklich Politisches zum Gegenstand des Schulunterrichts wird. Aber die Tendenz, wenigstens potentiell dafür eine "sichere wissenschaftliche Grundlage" anzunehmen, verfehlt den Sachverhalt des Politischen entscheidend. Daher ist der vergleichende Hinweis auf den Integrationsversuch des sowjetzonalen Schulwesens gar nicht so abwegig.(22) Wenn eine allgemein anerkannte Integrationswissenschaft fehlt, wie immer sie heißen möge, so ist das nicht zufällig, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen von Wissenschaft selbst impliziert. "Es ist offenbar für die geschichtliche Situation der Gegenwart bezeichnend, daß eine wertmateriale Bestimmung des Wesens der Politik nicht mehr auf allgemeine Zustimmung rechnen kann, wobei nicht nur die Erfahrung des Totalitären, sondern auch die analytischen Methoden der Wissenschaften selbst zu einer Formalisierung des Politikbegriffes geführt hat".(23) Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft stünden vor der "Schwierigkeit des Synopsisproblems, weil sie einem prinzipiell nicht begrenzten Spielraum von Sach- und Wirkungszusammenhängen zugewandt sind."(24)

Es bleibt also festzuhalten, daß die reine Addition verschiedener Fachgesichtspunkte keineswegs mechanisch ein integrierendes neues Fach schafft. Es erhebt sich

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demnach die Frage, nach welchen Gesichtspunkten und Maßstäben jene übergreifenden Gehalte bestimmt und schließlich aus den Perspektiven der einzelnen Fächer im Unterricht integriert werden sollen. Wo Politiker sich eines beratenden Gremiums von Wissenschaftlern bedienen, stellen sie die Fragen aus den Gesichtspunkten ihrer politischen Absichten, nicht die Wissenschaftler auf Grund ihrer methodischen Wissenschaftseinstellung. Die Antworten der Wissenschaftler werden vom Politiker in seine Praxis integriert. Die Integration leistet also hier die politische Praxis, nicht eine wissenschaftliche Theorie aus der Kombination der in der Beratung vertretenen Einzelwissenschaften. Wer aber leistet sie in der Fächerkombination? Soll der Unterricht beim Nebeneinander verschiedener Fachgesichtspunkte enden? Oder soll die Integration dieser Gesichtspunkte zu einem Urteil doch noch geleistet werden? Ein solcher Akt könnte sich aber nicht mehr nur auf wissenschaftliche Begründungen verlassen. Falls die übergreifenden Gehalte wirklich politischer Natur sind, dann würden politische Entscheidungen der Jugendlichen um so stärker vorgeformt, je wissenschaftlicher angesichts des Einsatzes mehrerer Fächer sich der Unterricht augenscheinlich gibt. Eine pädagogische Theorie des Politischen läßt sich offensichtlich in einer pluralistischen Gesellschaft, deren Arbeitsteiligkeit auch die Wissenschaft bestimmt, mit allgemein gültigem Anspruch nicht mehr durchhalten, sondern bleibt der rationalen Leistung partikularer Gruppen als permanente Anstrengung überantwortet. Möglicherweise bringt auf längere Sicht eine politische Anthropologie hier Klärung; denn die Erfahrung lehrt, daß es ein "eigenständiges, originäres Ordnungswissen" gibt, "das sich auf das Zusammenleben und Miteinander-Wirken der Menschen bezieht und gegenüber dem Nebeneinander von Wissenschaftsdisziplinen wie Soziologie, Wirtschaftskunde, Staatsrecht, Sozialethik ... eine ursprüngli-

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ehe Sinneinheit darstellt".(25) Andererseits finden wir solche Sinneinheiten auch in handfesten politischen Vorurteilen. Es muß also Kriterien geben, die beides von einander unterscheiden. Damit sind wir wieder bei der paradoxen Aufgabe angelangt, Politik soweit wie möglich unter rationaler Kontrolle zu behalten im Bewußtsein der Tatsache, daß dies prinzipiell auf Grenzen stößt.
 
 

4. "Orientierungswissen" und "Aktionswissen"

Greifen wir, um uns nicht in theoretische Abseitigkeit zu versteigen, noch einmal auf unser Beispiel zurück. Welche Rolle spielten die zuständigen Einzelwissenschaften bei der Klärung der "Spiegel-Kontroverse"? Wir erinnern uns: Ihre Ergebnisse wurden herbeigeholt zur Klärung der zur Debatte stehenden Sachverhalte. Besonders deutlich wurde dies für den juristischen Teil des Problems. Dabei waren die Methoden, d.h. die wissenschaftlichen Fragestellungen, unter denen diese Ergebnisse gewonnen worden waren, mindestens zunächst uninteressant. Dieselben wissenschaftlichen Ergebnisse führten zu sehr verschiedenen Beurteilungen des politischen Sachverhaltes, weil sie sich mit dem politischen Engagement, das entweder vorher schon vorhanden war oder sich auf Grund der neuen Kenntnisse bildete, unlösbar verbanden. Die Integration zu einem Wissens- und Bewertungszusammenhang leistete also das jeweilige Engagement. Dies galt auch dort, wo Wissenschaftler selbst in die Auseinandersetzung eingriffen. In diesem Falle traten sie aus dem Bereich ihrer fachspezifischen Methodik heraus. Wenn wir den Vorgang richtig interpretiert haben, dann stellen also die Einzelwissenschaften für den politischen Unterricht lediglich Ergebnisse zur Verfügung, d.h. Wissen von rational erschlossenen Sachverhalten. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß diese Er-

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gebnisse, wenn sich ein politischer Wille ihrer bedient, ihre Qualität gegenüber ihrem früheren wissenschaftlichen Zusammenhang ändern. Das heißt nun keineswegs, daß die so benutzten wissenschaftlichen Ergebnisse nicht auch ihrerseits die Art und Weise des politischen Urteils und Engagements wesentlich mitbestimmten, aber sie können es niemals determinieren.

Hier ist nun der Ort, eine wesentliche Unterscheidung vorzunehmen. Einmal war von der Notwendigkeit eines politischen Kenntnis- und Bewertungszusammenhangs die Rede. Dazu gehört auch der Plan der Fächerkombination. Würde er sich mit der Vermittlung eines systematischen Orientierungswissens begnügen, wäre er schon einleuchtender. Aber auch diesen Anspruch kann er weder dem Umfang noch der inhaltlichen Qualität nach halten, wie die Kritik seiner sozialkundlichen Partien zeigte. Erst sein Anspruch, damit zugleich auch an das Politische selbst heranzukommen, muß vollends die Kritik auf den Plan rufen.

Bei allen erwachsenen Menschen ist ein solcher Kenntnis- und Bewertungszusammenhang des Politischen immer schon vorhanden, er kann aber unter dem Anspruch des politischen Unterrichts nicht unbegrenzt beliebig sein. Ein solcher Kenntniszusammenhang kann sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung befinden, er kann als Übereinstimmung einzelwissenschaftlicher Kooperation wenigstens annähernd hergestellt werden. Wir wollen diesen Kenntniszusammenhang "Orientierungswissen" nennen. Der Begriff meint zweierlei. Einmal wird mit solchem Wissen der durch Erfahrung nicht mehr verfügbare Teil der Umwelt erschlossen. Mit seiner Hilfe verlängert sich die sonst beschränkte Einzelexistenz in den politisch-gesellschaftlichen Raum hinein. Auf der anderen Seite wird die eigene Standortbestimmung mit seiner Hilfe vollzogen. Die Art und Weise des je zuhandenen Orientierungswissens bestimmt also nicht nur weitge-

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hend die Weltdeutung, sondern auch die Selbstdeutung.

Aber ein solches Orientierungswissen wird von sich aus nicht notwendig politisch produktiv. Es ist denkbar, daß es im konkreten Konfliktfall gar nicht in der Lage ist, sich auf diesen Konflikt hin zu organisieren. Es ist einer der folgenschwersten Irrtümer der Diskussion nach 1945, daß man annahm, es genüge, die ideologiekritisch diffamierte Politikvorstellung des überlieferten Bildungshumanismus einfach durch eine mehr sozialwissenschaftlich orientierte zu ersetzen. Man übersah dabei, daß auch ein sozialwissenschaftlich orientiertes Bewußtsein an den Kontroversen der Wirklichkeit vorbei denken kann, weil auch dieses nicht von sich aus praktisch wird. Das liegt wohl vor allem daran, daß auch ein solches Bewußtsein viel zu allgemein bleiben muß, als daß es den Sprung zum konkreten Engagement ohne große Hindernisse vollziehen könnte. Alle Unterrichtserfahrungen scheinen zu belegen, daß weniger "richtiges" Bewußtsein, als vielmehr vernünftige und zutreffende Anwendung des Gewußten auf die Wirklichkeit gelernt und immer wieder geübt werden muß. Greifen wir wieder auf unser Beispiel zurück! Indem der durch die Massenkommunikationsmittel vermittelte Konflikt auf ein Bewußtsein trifft, beginnt sich ein Teil des schon vorhandenen bzw. des mit des Konflikt zusätzlich vermittelten Orientierungswissens auf diesen Konflikt hin zu strukturieren, - vorausgesetzt natürlich, daß ein Engagement stattfindet. Damit ändert es aber zugleich seine subjektive Qualität, d.h. seine Bedeutsamkeit, Grad und Art seiner emotionalen Besetzung. Bestimmte Kenntnisse werden gleichsam "überbelichtet", weil sie gebraucht werden, andere treten zurück. Die Bestimmungen der Landesverratsparagraphen etwa, die lange Zeit fast unbekannt waren oder mindestens dem politischen Bewußtsein relativ bedeutungslos erschienen, treten nun aus dem Dunkel hervor und werden zugleich der-

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art stark emotional besetzt, daß ihnen im Bewußtsein eine Bedeutsamkeit zuwächst, die möglicherweise ihrer objektiven Bedeutung im Rahmen des Orientierungswissens gar nicht zukommt.

Wir wollen diese Art des Wissens im Unterschied zum Orientierungswissen "Aktionswissen" nennen (26). Es muß sich inhaltlich im einzelnen gar nicht vom Orientierungswissen unterscheiden. Es unterscheidet sich vielmehr dadurch, daß es

a) angesichts eines Konfliktes politisches Wissen und zur Entscheidung drängenden politischen Willen integriert;

b) dasjenige Wissen aus dem Bestand des Subjekts auswählt, was der Klärung der Entscheidungssituation und schließlich der Begründung der eigenen Entscheidung dient;

c) Das so gewonnene Aktionswissen wird dem Bestand des Orientierungswissens zugeschlagen, wodurch

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letzteres einen inhaltlichen Zuwachs wie auch einen neuen Bedeutungszusammenhang erfährt, um dann angesichts eines neuen politischen Konfliktes wiederum neu zu einem Aktionswissen strukturiert zu werden.

Stimmt man diesem Modell zu, so folgt daraus, daß die rationale Kontrolle des politischen Wissens insbesondere auf der Ebene des Orientierungswissens erfolgen muß, daß die Frage, mit welchen kritischen Akzenten und mit welcher Sachlichkeit das Aktionswissen zustande kommt, vor allem hier entschieden wird. Es folgt aber auch daraus. daß, falls die Wechselwirkung von Aktions- und Orientierungswissen überhaupt zustande kommt, nicht nur das Aktions-, sondern auch das Orientierungswissen immer schon politisiertes Wissen ist; und dies heißt ein Wissen, das sich nicht nur am Gemeinwesen als Ganzem engagiert, sondern vor allem auch an seinen Teilen. Wir hatten festgestellt, daß im Falle der Spiegel-Kontroverse die Massenkommunikationsmittel nicht nur eine nachrichtenartige Vermittlung des Konfliktes einleiteten, sondern vor allem auch eine politische Aktion. In diesem Sinne ist jede politische Unterrichtung -. auch auf der Ebene des Orientierungswissens - eine auch partikulare politische Aktion, deren Effektivität um so größer sein muß, je einheitlicher die bewußten und unbewußten politischen Vorstellungen der Lehrenden und Lernenden sind. Diese Einsicht, die sich in den Grundlagenforschungen der zuständigen Einzelwissenschaften längst durchgesetzt hat, fällt naturgemäß einer Institution wie der Schule schwer, da sie sich ja neben dem Kinde der Gesamtgesellschaft verpflichtet weiß und nicht einer ihrer Partikularitäten. Sie muß aber in die didaktische Überlegung eingehen, weil sie sonst zu einer Quelle zahlreicher illusionärer Selbstdarstellungen der politischen Pädagogik wird.

Der Zusammenhang zwischen Orientierungs- und Aktionswissen hat aber nun auch bestimmte Rückwirkungen auf

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die Auswahl des Orientierungswissens. Wenn es der Sinn des Orientierungswissens ist, von Fall zu Fall auf die Lösung politischer Konflikte in einer politischen Gesellschaft bezogen zu werden, dann spielen etwa historische Kenntnisse gerade eine untergeordnete Rolle, die in der Diskussion der Rahmenvereinbarung so sehr im Vordergrund standen. Welche zusammenhängenden Kenntnisse über die gegenwärtige politische, soziale und wirtschaftliche Welt müssen vermittelt werden, damit die wirklich ernsten politischen Konflikte verstanden werden und von den Staatsbürgern vernünftig mitentschieden werden können? So etwa stellt sich die Frage nach der Auswahl des Orientierungswissens.

An dieser Stelle sei noch einmal auf die Bedeutung der politischen Begrifflichkeit eingegangen, die wir schon im Zusammenhang mit unserer Lehrlingsarbeit erwähnten. Auf sie ist in den bisherigen Stoffplänen selten hingewiesen worden. Zweifellos können oft politische Begriffe erst am Ende eines Unterrichtprozesses stehen. Sie können aber auch am Anfang stehen - dann nämlich, wenn der Jugendliche auf sie stößt und sie erklärt zu haben wünscht. Es kommt also nicht nur darauf an zu erklären, was eine "Investition" ist, auch das Wort selbst muß fallen, weil es ja in den öffentlichen Diskussionen verwendet wird. Zu dem "Sachkanon" des politischen Orientierungswissens gehört also auch ein entsprechender "Sprachkanon".(27)

Man würde ihn wohl am si-

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chersten dadurch finden, daß man einmal einige Wochen lang die seriöse Journalistik daraufhin absuchte, welche politischen Termini sie verwendet. Ein solcher Sach- und Sprachkanon muß ferner Gültigkeit für den politischen Unterricht aller Jugendlichen haben. Gewiß gibt es sehr verschiedene methodische Zugänge dazu - wie ja gerade auch unser Bericht zeigt. Aber keineswegs kann daraus geschlossen werden, daß auch das politische Orientierungswissen selbst verschieden sein darf, je nachdem in welcher Schulart z.B. unterrichtet wird. Was für viele allgemeinbildende Fächer richtig sein mag, wäre hier bedenklich. Der Gleichheit der Staatsbürger gegenüber dem Politischen entspricht auch eine Gleichheit derjenigen Ausbildung, die für das Ausfüllen dieser Rolle als Mindestmaß erkannt wurde. Die vielfältigen Hemmnisse, die sich der Verwirklichung dieses Postulats entgegenstellen, ändern nichts an seiner Richtigkeit. Wichtig ist aber, daß alle didaktischen Lösungen, die aus der Wirklichkeit das Beste zu machen versuchen, sich als "Notlösungen" ausgeben und ihren Anspruch auf Besserung der schulpolitischen und kulturpolitischen Voraussetzungen - die ökonomisch möglich wäre - nicht aufgeben. Sonst setzen sie sich nicht zu Unrecht dem Verdacht aus, sie verhinderten die politische und gesellschaftliche Emanzipation derjenigen, deren politische Mündigkeit sie angeblich fördern.(28)

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Anmerkungen zu Kap. 6

1) Karl Mannheim, Ideologie und Utopie ..., S. 134 ff.

2) Vgl. u.a. Th. W. Adorno; Das Bewußtsein der Wissenssoziologie, 
in: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. München 1963, (dtv) S. 27-42

3) Vgl. zum ganzen Problem: Waldemar Besson, Zur gegenwärtigen Krise der deutschen Geschichtswissenschaft ...; Hans Maier, Zur Lage der deutschen politischen Wissenschaft ...: Hans Mommsen, Zum. Verhältnis von Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft in Deutschland ...

4) Jürgen v. Kempski, a.a.0.

5) Friedrich Minssen, Fug und Unfug der Gemeinschaftskunde ...

6) ebd. S. 132

7) ebd. S. 133

8) "Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde..." zit. nach Rudolf Klatt, Gemeinschaftskunde und Geschichte am Gymnasium ..., S. 39

9) Vgl. zum Problem der Methodik der Fachwissenschaften Hans Mommsen, Zum Verhältnis von politischer Wissenschaft und Geschichtswissenschaft ...; dort auch weitere Literatur. - W. Besson, Zur gegenwärtigen Krise der deutschen Geschichtswissenschaft... weist den engen Zusammenhang von historischer Methode, Erkenntnisgegenstand und politischem Engagement nach.

10) Felix Messerschmid in GWU 1961. S. 480

11) Rudolf Klatt, a.a 0, S . 4o

12) ebd. S. 38

13) ebd.

14) ebd. S. 39

15) Vgl. die gleichlautende Kritik bei Martin Friese, Ziel und Inhalt der Gemeinschaftskunde ..., S. 262 f.

16) So Rudolf Klatt. a.a.O. S. 15

17) ebd. S. 19 f.

18) K. Mielcke, Die Behandlung des historischen Materialismus in der Oberprima, GWU 1961,S. 743 ff.

19) Rudolf Klatt, a.a.O., S. 19

20) Manfred Teschner findet eine solche Tendenz bei allen von ihm untersuchten Bildungsplänen zur politischen Bildung. "Differenzen und Gegensätze zwischen politischen und sozialen Gruppen werden in den Bildungsplänen weitgehend verstanden als bloße Unterschiede in der geistigen Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen ... . Indem abgesehen wird vom objektiven Konflikt der Interessen, erscheint auch die Möglichkeit eines Kompromisses primär abhängig von der inneren Beschaffenheit der Subjekte, von deren geistiger und sittlicher Haltung ... In den Plänen ist die Tendenz zu beobachten, die Politik aufzuteilen in eine 'höhere' Sphäre, die es mit dem 'größeren Ganzen' zu tun hat, und in eine 'niedrige', in der es um materielle Interessen geht. Die Neigung, für die politische Bildung an der Schule eine von partikularen Interessen gereinigte Ebene der Politik zu schaffen, resultiert wohl nicht allein aus der bildungshumanistischen Tradition. Vielleicht spielt dabei der Gedanke mit, auf diese Weise am ehesten parteipolitisch neutral bleiben zu können, nicht zum Fürsprecher von Zielen und Interessen besonderer gesellschaftlicher Gruppen zu werden". (Politische Bildung an höheren Schulen ..., S.408-409)

21) Hans Mommsen. a.a.O.,S. 364.

22) Anneliese Thimme in "Die Welt" v. 14.11.1961

23) Hans Mommsen. a.a.O. S. 36o

24) ebd. S. 366

25) H. Schneider, Der Staat als Thema der politischen Bildung ..., S. 115

26) Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei angemerkt, daß die im folgenden immer wieder auftauchende Unterscheidung von "Aktionswissen", "Orientierungswissen" und "Bildungswissen" rein hermeneutischen Charakter und nicht etwa eine psychologische Theorie der verschiedenen Bewußtseinsinhalte zum Ziele hat. Klafki würde wohl alle drei Unterscheidungen in seinem Verständnis von "Bildung" zusammenfassen (Vgl. W.Klafki, Das Problem der Didaktik ... S. 29). Wenn wir statt "Bildungswissen" etwa "Kulturwissen" sagen würden, dann könnten wir uns Klafki auch sprachlich anschließen, insofern wir dann den Begriff "Bildung" hier aussparten. Uns scheint aber, daß das, was unser Begriff des "Bildungswissens" deckt, der historischen Überlieferung von "Bildung" eher entspricht, als das, was Klafki damit meint. Es kommt uns hier nicht darauf an, für den Sprachgebrauch Recht zu behalten, als vielmehr auf die Feststellung, daß Klafkis Definition von Bildung sehr heterogene Inhalte subsumiert. Gerade auf diese Heterogenität wollen wir für den Bereich des Politischen besonders aufmerksam machen. Zweifellos hat die bisherige Diskussion der politischen Didaktik unter anderem darunter gelitten, daß unter dem Begriff der "politischen Bildung" vorschnell Zusammenhänge integriert wurden, deren Widersprüchlichkeit noch nicht hinreichend in den Blick geraten war.

27) Vgl. Arnold Bergstraesser, Der Beitrag der Politikwissenschaft ...., S. 60: "Das Erziehungsziel (der politischen Bildung, H.G.) verlangt ein gewisses Maß gelernten Wissens und verlangt, wenn es sich um die Urteilsfähigkeit für zukünftige Aufgaben handelt, ein sehr hohes Maß an Begrifflichkeit". Ebenso Manfred Teschner (in: H. Roth, Gemeinschaftskunde ... S. 139): "Die Abstraktheit der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit kann heute nur durch eine entsprechende Begrifflichkeit gemeistert werden".

28)Vgl. etwa Julia Klages-Meinerzhagen, Schwerpunkte in der Stoffauswahl ... : "Im Gegensatz zu den beruflichen Fächern können wir im politischen Unterricht den Stoff zu einem wesentlichen Teil durch die Notwendigkeit der Charakterbildung und Gemütspflege bestimmen lassen".(S. 3o) Außerdem "sind für die politische Bildung Stoffe auszuwählen, die berufsgebunden und berufsbezogen sind".(S. 31) "Aus der Besprechung lebensvoller Stoffe politischer Art soll der Schüler jeweils eine der folgenden Lehren ziehen: Urteile nicht über Dinge, die du nicht verstehst!- Urteile nicht voreilig! Urteile nicht, ohne beide Seiten gehört zu haben! Urteile sachlich und unparteiisch, maßvoll und gerecht! Verallgemeinere nicht ohne weiteres! Unterscheide zwischen Person und Sache! Entscheide dich nicht für das Schlechtere, weil dein Gegner schon die bessere Sache vertritt! Beachte, daß alle Menschen der Gefahr des Irrtums und der moralischen Schwäche ausgesetzt sind, daß also auch alle Einrichtungen, die von Menschen geschaffen und getragen werden, darunter leiden können! Beurteile Menschen und Dinge nicht nach ihren einzelnen Vorzügen oder Nachteilen, sondern nach ihrem gesamten Wesen!" (S. 35/36) 

 

7. Kap.: Die Stellung des politischen Unterrichts im Gesamtzusammenhang von Bildung und Erziehung


1. "Bildungswissen" - "Orientierungswissen" - "Aktionswissen"

Orientierungs- und Aktionswissen sind aber nicht die einzigen geistigen Potentiale, die zur Beurteilung eines politischen Konfliktes zur Verfügung stehen. Vielmehr werden weit mehr seelische und geistige Kräfte mobilisiert. Dabei ist vor allem an die Werthaltungen zu denken, an deren Maßstab schließlich das politische Verhalten der Kritisierten wie das eigene gemessen werden. In diese Bewertungsmaßstäbe ist der gesamte Erziehungs- und Bildungsprozeß eingegangen. Die religiöse Bildung und Erziehung der Jugendlichen etwa wird angesichts eines politischen Konfliktes nicht einfach abgelegt, sie geht vielmehr in das je konkrete politische Urteil ein. Hinzu kommt ein weiteres. Wir sahen, daß die Mitteilung des Konfliktes von den Menschen nur verstanden werden kann unter der Voraussetzung einiger allgemeiner geistiger Fähigkeiten. Wir nannten die sprachlichen Fähigkeiten, die ja mit den Denkfähigkeiten korrespondieren, sowie ein Minimum an politischer Vorstellungskraft als politische Phantasie. All dies kann nur zum Teil im Orientierungswissen fundiert sein. Es weist vielmehr auf das Insgesamt der je personalen Selbst- und Weltdeutung zurück, das wir hier Bildungswissen nennen wollen. In unserem Zusammenhang ist für dieses Wissen zweierlei charakteristisch.

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a) Es ist ursprünglich nicht mit der Absicht gewonnen worden, zur sachlichen Klärung und wertenden Beurteilung eines politischen Konfliktes zur Verfügung zu stehen. Es ist in diesem Sinne "zweckloses" Wissen. Hier ist nicht der Ort, sich auf die Problematik des überlieferten Bildungsbegriffes in ihrer Gesamtheit einzulassen. Wichtig in unserem Zusammenhang ist allein das Postulat nach einer Beschäftigung mit Sachverhalten und Meinungen, die nicht von vornherein unter dem Gesichtspunkt aktueller politischer Auseinandersetzungen stattfindet. Damit ist aber das Problem des Zusammenhangs von allgemeiner Menschenbildung und politischer Bildung gestellt. Es geht um "die Erkenntnis, daß der politisch Gebildete mehr sein muß als nur politisch gebildet, daß er gebildet schlechthin sein muß. Politik ist jene Tätigkeit, die Menschen sinnvoll ordnet. Solches sinnvolles Ordnen wird aber in menschenwürdiger Weise nur möglich sein, wenn man weiß, was zum Menschenwesen und zu seiner Bedürftigkeit gehört. Politische Bildung ist aus diesem Grunde formulierbar und erfüllbar nur im Zusammenhang der Bildung überhaupt".(1)

b) Dennoch werden auch die jeweils geforderten Teile des Bildungswissens als Aktionswissen in Anspruch genommen. Dieser Vorgang ist ähnlich zu sehen wie beim Orientierungswissen. Auch hier strukturiert sich der Kenntnis- und Bedeutungszusammenhang des Wissens um, wenn es zur Aktualisierung sich aufgefordert fühlt. Dabei kann es nicht gleichgültig bleiben, welcher Art dieses Bildungswissen ist. Vielmehr hängt von ihm entscheidend die Art und Weise des jeweiligen Engagements ab. In unserem Beispiel war der Zusammenhang am Problem des Stiles abzulesen. Mag sich auch vordergründig die Übereinkunft über guten und schlechten Stil rein pragmatisch

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ergeben, in Wahrheit aber fließt sie aus vielen Quellen des menschlichen Bewußtseins. In unserem Beispiel war eine gemeinsame Vorstellung über politischen Stil entweder gar nicht oder wenigstens nicht bewußt vorhanden. Sie wurde vielmehr erst im Verlauf der Auseinandersetzung ins allgemeine Bewußtsein gehoben. Das dabei mobilisierte Wissen entstammte noch ganz anderen Bereichen als etwa dem bloß politischen Tatsachenwissen. Es steht also das Verhältnis von politischem Wissen und Allgemeinbildung zur Frage.
 
 

2. Politische Bildung als "Unterrichtsprinzip"

Es besteht offenbar ein tiefer Widerspruch zwischen dem überlieferten Bildungsdenken und den Anforderungen der politischen Bildung. Über die Gründe ist oft gehandelt worden, so daß wir sie hier nicht mehr darzustellen brauchen.(2) Oetinger hält sie für so gravierend, daß er dafür plädiert, den Begriff der Bildung in diesem Zusammenhang überhaupt zu vermeiden.(3) Andere, wie etwa Messerschmid, haben versucht, die politische Bildung in der Weise in die allgemeine Bildungskonzeption zu integrieren, daß sie sie zur Gegenwart hin öffneten. Messerschmid setzte sich für eine Autonomie der kulturellen Gehalte gegenüber den Anforderungen der Gegenwart ein und befürchtete sonst eine völlige Politisierung

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der Bildungsgehalte. Insbesondere das "Unterrichtsprinzip" politische Bildung sollte diese Verbindung schaffen. Die Fächer behielten in diesem Verständnis grundsätzlich ihre Eigenständigkeit, sollten aber gleichzeitig auf die politischen Gehalte ihrer Stoffe hin befragt werden.(4) In den Unterricht dürften keine "lehrstofffremden Gesichtspunkte in die einzelnen Fächer hineingetragen werden. ... Es sollen nur dort politische Bezüge aufgedeckt werden, wo sie immanent als wesenhafte Bestandteile eines jeweiligen Lehrgutes vorhanden sind und ihre Aufweisung zur vollgültigen Explikation und Interpretation des Stoffes gehört".(5) Wesentlich weiter geht die Interpretation Messerschmids, wonach das Unterrichtsprinzip die "Bedeutung" darstellen soll, "die jedes Sachgebiet für Staat und Gesellschaft hat."(6)

An anderer Stelle betont er ausdrücklich die Autonomie der Fächer. "Unsere politische Ordnung kann geradezu dadurch definiert werden, daß mit ihr eine Daseinsordnung verteidigt wird, in der die Politik dienende, instrumentale Funktion hat ... Die Politik ... hat also keinen autonomen Charakter".(7)

Worin diese Gehalte im einzelnen bestünden und vor allem, wie sie als politische ermittelt werden könnten, bleibt unklar. Offensichtlich erweist sich das traditionelle Bildungsverständnis als stärker und

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beginnt die Lehrgehalte der politischen Bildung immer mehr zu bestimmen. Zwar wird nirgends mehr bestritten, daß nur der gebildet sei, der auch politisch gebildet sei. Damit ist der Zusammenhang von Bildung und politischer Bildung aber nur postuliert. Sicher kann man Weinstock zustimmen: "Alle Gleichgültigkeit gegen die Welt fruchtet nicht der Person, sondern geht auf ihre Kosten, und eine Erziehung, die sich um Gesellschaft und Staat nicht kümmert oder auch nur ihre politische Aufgabe nicht über alles andere ernst nimmt, verfehlt gerade das, wonach sie so süchtig ist: wirkliche Menschenbildung".(8) Aber in der didaktischen Literatur wird immer stärker nach dem "Bildungswert" des Politischen gefragt. Nun kann die politische Wirklichkeit allerdings keinen anderen Bildungswert beanspruchen, als den, als konkrete Aufgabe verstanden zu werden; noch kann die politische Bildung den Gegenstand Politik um seiner selbst willen aufsuchen.
 
 

3. Die Bedeutung der politischen Aktualität

Die Frage, ob die politische Bildung, indem sie mit der überlieferten Bildung konfrontiert wird, so lange sich transformiert, bis sie sich jener angepaßt hat, - wie Oetinger es befürchtet hat - entscheidet sich an ihrer Einstellung zur politischen Aktualität. Denn wie immer man die Aktualität didaktisch oder methodisch einordnen mag, sicher ist, daß sich das Politische als das noch nicht Entschiedene in der kontroversen Aktualität am deutlichsten manifestiert.

Sie repräsentiert in ihrer ganzen Banalität das, was dem politischen Urteil und Handeln aufgegeben ist, ist der einzig "reale" Gegenstand politischen Denkens. Sie ist gegenüber dem "Eigentlichen" der politischen Bildung nichts Zufälliges, bloß Methodisches, das beliebig ausgetauscht werden könnte,

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- etwa im Sinne des bloß methodisch verstandenen Einstiegs. Wenn etwa die Spiegel-Kontroverse beurteilt werden soll, dann steht nicht irgendeine Abstraktion wie "Staatsschutz und Pressefreiheit" zur Debatte, sondern eben jenes aktuelle einmalige politische Ereignis, das so oder so zum Engagement zwingt. Es ist eine andere Sache, den Konflikt herauszuarbeiten, der in der Abstraktion "Staatsschutz und Pressefreiheit" angedeutet ist. Aber er bleibt Mittel der Aufklärung, nicht letztes Ziel. Ziel bleibt die Entscheidung der aktuellen politischen Kontroverse.

Gegen eine solche Sicht der politischen Aktualität sind im wesentlichen zwei Argumente vorgebracht worden, die allerdings eng miteinander zusammenhängen. Messerschmid wehrt sich aus einem der pädagogischen Provinz verpflichteten Bildungsverständnis der höheren Schule dagegen: "Was schon im nächsten Jahr vergessen sein wird, hat keinen Raum in der Schule. Politische Bildung zielt auf die allgemeinen Klärungen, regt politische Besinnung an und bereitet auf diese Weise die Grundentscheidungen des einzelnen vor, fixiert sie aber im einzelnen nicht vorweg."(9) Dem zweiten Teil des Arguments ist relativ leicht zu begegnen. Die Praxis beweist einfach, daß die sogenannte "Grundentscheidung" in dem Augenblick fixiert wird, wo sie zur Frage steht - sei es durch Elternhaus, andere Bezugsgruppen oder auch durch die Massenmedien. Das in dieser Begründung enthaltene Bild eines Jugendlichen, der in einem von der Ernstsituation weitgehend freien Raum heranreift und dessen Entscheidungen die Erziehung nur vorbereitet, um seiner Freiheit keine Gewalt anzutun, ist nicht zu halten in einer Zeit, in der das Fernsehen in fast alle Wohnstuben strahlt. Diese Denkweise überläßt die "Fixierung der politischen Grundentscheidung" in Wahrheit jenen pädagogisch nicht kontrollierten Mächten.

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Zum anderen bleibt unklar, was eine "politische Grundentscheidung" heißen könnte. Gemeint sein kann doch allenfalls die Entscheidung für oder gegen das eigene Staatswesen oder für oder gegen eine bestimmte gesellschaftliche Partikularität. Es bleibt unklar, wie eine solche Entscheidung anders vorbereitet werden kann als dadurch, daß je konkrete Aktionen und Situationen zu beurteilen gelernt wird.(10)

In der Vorstellung Messerschmids sehen wir einen der Versuche, letztlich doch wieder die politische Wirklichkeit nach Bildungsgehalten abzusuchen anstatt umgekehrt das vorhandene Bildungspotential einzusetzen zur humanen Lösung politischer Auseinandersetzungen. Ernster zu nehmen ist die Sorge des Deutschen Ausschusses: "In der Schule, die auf politische Mitverantwortung vorbereiten soll, hat Propaganda keinen Platz. Der Plan und Gang politischer Bildung darf auch nicht vom Lauf des aktuellen Geschehens abhängig sein. Die Schüler stehen noch nicht im Ernst der politischen Kämpfe, Risiken und Entscheidungen. Die politische Bildungsarbeit der Schulen braucht deshalb Distanz von den Tagesereignissen." (11) Die Befürchtung, daß aktuelles politisches Engagement in Widerspruch zu dem der ganzen Gesellschaft verpflichteten Schulwesen geraten könne, ist sicher begründet, aber, wie wir oben dargelegt haben, letztlich nicht zu vermeiden. Dem weiteren Argument, der Schüler stehe selbst noch nicht "im Ernst der politischen Kämpfe, Risiken und Entscheidungen", müssen wir einige genauere Überlegungen widmen, weil es sich allenthalben in der Diskussion der politischen Bildung findet.

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Richtig ist sicher, daß der Jugendliche selbst keine politischen Entscheidungen treffen kann, weil er noch nicht mündig und noch nicht wahlberechtigt ist, In diesem Sinne bleibt das, was er etwa in Sachen "Spiegel-Affäre" für richtig hält, politisch folgenlos, Das kann aber nicht heißen, daß er deshalb im politischen Unterricht nicht üben dürfe, politische Entscheidungen angesichts konkreter Kontroversen zu fällen. Dieses "Üben" erhält aus der Tatsache seinen Sinn, daß der Jugendliche sehr wohl schon selbst im Ernst der politischen Kämpfe steht. Er ist ja nicht nur "Jugendlicher", sondern vor allem Mitglied einer Familie einer bestimmten sozialen Schicht, sein Vater übt einen bestimmten Beruf aus und gehört somit einer bestimmten Berufsgruppe an, und indem politische Entscheidungen immer auch das Leben eben dieser Familie betreffen können und tatsächlich in den meisten Fällen auch direkt oder indirekt betreffen, ist auch der Jugendliche davon betroffen. Im übrigen sind die tatsächlichen Mitwirkungsmöglichkeiten der Jugendlichen in den meisten Fällen nicht geringer als die der erwachsenen Eltern auch - wenn wir einmal von der politischen Wahl absehen.

Bergstraesser hingegen nimmt die Aktualität der politischen Ereignisse ernst, reflektiert sie aber sogleich auf den hinter ihnen verborgenen Zusammenhang. Er fordert als Ziel des Unterrichts die selbständige Beurteilung des aktuellen Problems. Dessen Behandlung sei für den Lehrer "die größte Anforderung, die an sein eigenes Wissen und Können überhaupt zu stellen ist".(12) Aktualitäten müßten nämlich von einem "Netz von Vorstellungen und Begriffen" aufgenommen werden. Damit verweist er sowohl auf ein System zusammenhängenden Wissens wie auch auf die Notwendigkeit formaler Kategorien.

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Im Widerstand gegenüber den aktuellen Auseinandersetzungen verbirgt sich im übrigen auch das Mißverständnis, Ereignisse der Tagespolitik seien kurzlebig und bedeutungslos gegenüber den "politischen Grundentscheidungen", wie Messerschmid es nannte. Dieser Verdacht trifft letztlich nur auf unpolitische Aktualitäten zu. Denn schon in einem wenn auch unnötig aufgebauschten Fall von Korruption kann sich ein Interessen- oder Loyalitätskonflikt verbergen, der morgen in einem ähnlichen Fall wieder aufbricht. Offensichtlich repräsentieren sich also in allen wichtigen politischen Tagesereignissen größere Konflikte - der Ost-West-Gegensatz etwa in der Berliner Mauer, der Kuba-Krise, einem innenpolitischen Skandal.

An der Einstellung zur Aktualität entscheidet sich also die Frage, ob alles politische Wissen, über das man verfügt, im politischen Ernstfall zur Verfügung steht und am konkreten gesellschaftlichen Ort wirklich praktiziert werden kann. Gerade dies aber muß im politischen Unterricht gelernt werden und ergibt sich keineswegs von selbst. Alle Kenntnisse der politischen, geschichtlichen und soziologischen Dimensionen nutzen dem politischen Gemeinwesen nicht und bleiben bloß formal, wenn sie nicht in der Lage sind, an einer Kontroverse wie der Spiegel-Affäre sich konkret und maximal zutreffend zu realisieren. Auf die hier beschlossene Gefahr hat in ähnlichen Zusammenhängen Karl Mannheim schon angesichts des faschistischen Aufmarsches hingewiesen. "Gelingt es nicht, für eine Wissensintegration geeignete Methoden zu schaffen, gelingt es nicht, einen Gelehrtentyp zu produzieren, der schnell zu denken und doch wesentlich zu sein imstande ist, der einen Blick für Details hat und doch nicht an ihnen haften bleibt, so kann es geschehen, daß das menschliche Wissen über den Menschen hinaus wächst, daß Wißbarkeit zwar potentiell vorhanden ist, daß sie aber nicht in einer konkreten Situation zur Lö-

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sung der konkreten Schwierigkeiten des Lebens zur Verfügung steht."(13) Diese Sätze galten ausdrücklich der Kritik des überlieferten Bildungsdenkens und haben, wie unsere Analyse der "Rahmenrichtlinien" zeigt, nichts an Aktualität eingebüßt. Weil die politische Aktualität bei den Jugendlichen vielfach Interesse findet, wollen ihr manche Autoren wohl die methodische Position des "Einstiegs" einräumen.(14) Sofern die Aktualität aber zum bloß Methodischen herabsinkt, der nichts Eigenwertiges anhaftet, und von der man gleich zum "Eigentlichen" oder zum "Bildungsgehalt" fortschreitet, wie das solche Unterrichtsbeispiele vielfach demonstrieren, geht der politische Ansatz doch wieder sofort verloren.

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4. Die pädagogisch hergestellte Aktualität

Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, daß Aktualität gleichsam von außen hergestellt wird durch die Vermittlung der Massenkommunikationsmittel. Damit läge die Auswahl dessen, was aktualisiert wird und die Entscheidung darüber, wie es aktualisiert wird, in den Händen derer, die die Massenkommunikationsmittel beherrschen. Wie ein Vergleich mit totalitären Gesellschaften zeigt, ist die Art und Weise der Beherrschung dieser Mittel die entscheidende Voraussetzung dafür, daß überhaupt noch politische Beteiligung stattfinden kann. Das Bewußtsein von dieser Abhängigkeit hat nicht nur zu einer hohen Empfindlichkeit gegen alle politischen Einflußnahmen auf diese Medien geführt, sondern auch zu einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber ihrer Vermittlung. Damit ist die paradoxe Situation eingetreten, daß wir uns gezwungen sehen, dem einzigen Organ, das uns politische Beteiligung ermöglicht, immer zugleich mit kritischer Distanz begegnen zu müssen. Welche Kraft des Menschen aber wäre dazu in der Lage? Offenbar muß das politische Bewußtsein auch von sich aus in der Lage sein, Sachverhalte zu aktualisieren, also problematisch zu machen. Dies geschieht auch immer im politischen Unterricht, obwohl es nicht immer auch bewußt geschieht. Im Grunde aktualisiert jeder politische Unterricht politische Sachverhalte, der sie in den "Fragehorizont" des Jugendlichen bringt.

Weil die politische Pädagogik selbst Politik aktualisieren kann und muß, übersteigen ihre Absichten die reine Reaktion auf das von den Massenkommunikationsmitteln Vermittelte. Sie enthalten damit aber auch Gefahren der pädagogischen Selbsttäuschung; sie bestehen vor allem darin, daß solche Aktualitäten gegenüber den tatsächlichen politischen Konflikten belanglos bleiben können und in ihrer Summierung schließlich die politische Welt so sehr mit Bedeu-

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tungslosigkeiten ausstatten, daß ihre reale Bewältigung gar nicht mehr in Angriff genommen werden kann. Die pädagogische Aktualisierung ist also nur dann zu vertreten, wenn sie in einem richtigen Zuaammenhang mit den tatsächlichen politischen Konflikten gebracht werden kann.
 
 

5. Der Ort der politischen Lehre im Erziehungsfeld des Jugendlichen

Die Didaktik der politischen Bildung hat sich bisher im wesentlichen im innerschulischen Prozeß orientiert. Die Begründungen für die Distanz zur politischen Aktualität verweisen darauf. Die funktionalen Erziehungsfaktoren galten meist als leider nicht auszuschaltende Störungen dieses Prozesses. Nur so ist die immer wieder erhobene Klage der "Verfrühung" zu verstehen, sowie die Ansicht, der Jugendliche stehe im Gegensatz zu den Erwachsenen noch nicht im Ernst der politischen Auseinandersetzung. Die politischen Kenntnisse und Urteile der Jugendlichen werden aber nicht nur von den Unterrichtsmaßnahmen der schulischen und außerschulischen Pädagogik geprägt, sondern vielleicht noch stärker von den funktionalen Beziehungsfaktoren, also insbesondere von den Massenmedien sowie den "Bezugsgruppen" des täglichen Umgangs. Wenn z.B. damit zu rechnen ist, daß die durch das Fernsehen vermittelten "Erfahrungen" eine ganze Jugendgeneration erreichen, dann könnte die politische Didaktik sich in dem Sinne darauf einstellen, daß sie etwa bei der Festsetzung der Lehrinhalte die informative, materiale Seite verkürzt zugunsten einer Verstärkung der formalen, an Deutungskategorien ausgerichteten Akzente. "Wir werden gut daran tun, uns an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir es im gesamten Erziehungsraum von nun an mit zwei konkurrierenden Bildungsmodellen zu tun haben, die nicht nur unterschiedlichen Bildungsideen folgen, sondern auch sich in Gehäusen verschiedener gesellschaftli-

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eher Struktur installiert haben. Auf der einen Seite steht das öffentliche Schulwesen vom Kindergarten bis zur Universität, auf der anderen die großen Sendestationen mit mehr oder weniger Öffentlichkeitscharakter."(15) Wenn die politische Didaktik die Pluralität der Erziehungseinflüsse nicht berücksichtigt, so besteht die Gefahr, daß sie im Unterricht entweder offene Türen einrennt und das bereits vorhandene Kenntnis- und Bewußtseinsniveau der Jugendlichen nicht erreicht, oder sich an Problemen und Fragestellungen orientiert, die das subjektive Weltverständnis und die tatsächlichen Nöte und Konflikte des jugendlichen Daseins nicht mehr treffen.
 
 

6. Folgerung: Der dialektische Zusammenhang von Bildung und Aktionswissen

Sowohl der Versuch, von den spezifischen Wirklichkeiten des Politischen her die überlieferte Bildung schlechterdings zu okkupieren(16), wie der andere, das Politische in die Dimension der Bildung umzutransformieren, verraten wenig Verständnis für die objektiven Widersprüche kultureller Bereiche, die nicht mehr einsinnig zu integrieren sind. Einzig für bestimmte Altersstufen mag die Illusion davon nur deshalb mit gutem Gewissen aufrecht erhalten werden, weil sie zu angemessener Zeit korrigiert werden wird.

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Ohne Zweifel läßt sich ein fundamentaler Widerspruch zwischen der "Pädagogischen Provinz" und einer den Schwierigkeiten der politischen Gegenwart verpflichteten politischen Bildung erkennen. Letztere kann sich nämlich der politischen Wirklichkeit nur dann hinreichend öffnen, wenn sie die Grenzen der "pädagogischen Provinz" überschreitet. "So bleibt nichts anderes übrig, als die jungen Menschen in den oberen Klassen ins Vertrauen zu ziehen, und ihnen zu sagen, daß wir alle in dieser Welt leben und dies die Welt ist, die uns auferlegt ist. Wenn der Lehrer sich keinen Illusionen hingibt, dann wird auch der Heranwachsende das allergrößte Vertrauen fassen, weil er sieht, daß er in eine Realität eingeführt wird ... Alles andere kann nur falsches Pathos sein".(17) Diese Einsicht hat sich vor allem in der freien Erwachsenenbildung durchgesetzt, aus deren Erfahrungen Tietgens fordert: Politische Bildung "erfordert die Abkehr von jeglicher Art 'Behütungspädagogik', die die psychologische Notwendigkeit des Schonraums Schule in die Lehrinhalte überträgt."(18) So bleibt es problematisch, die politische Bildung in das Gesamtverständnis von Bildung einfach zu integrieren. Vielleicht wäre es der gegenwärtigen Aporie gegenüber angemessener, auf diesen Integrationsversuch zu verzichten, politische Bildung zunächst als eine eigentümliche Aufgabe zu konzipieren.

Wir fassen noch einmal zusammen: Das politische Aktionswissen, das sich auf einen politischen Konflikt hin organisiert, speist sich sowohl aus dem politischen Orientierungswissen wie auch aus dem Bildungswissen und wirkt auf beide Wissensformen zurück, indem es vermutlich die Inhalte, ganz sicher aber deren Ordnung und subjektive Bedeutsamkeit verändert.

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Insofern sind in den Subjekten diese Wissensarten immer in einem Sinnzusammenhang integriert. Aber einen solchen Zusammenhang kann der Unterricht nicht planen oder stiften, wohl ermöglichen. Er kann ihn deshalb nicht planen, weil er die Ernst-Situationen, in denen sich das Aktionswissen strukturiert, nicht vorausberechnen kann. Möglich ist dem Unterricht die Vermittlung eines Bildungswissens, das unabhängig von politischen Zwecken gewonnen wurde; insofern es nicht als ein dogmatisch verhärteter Bedeutungszusammenhang gelernt wird, sondern als ein solcher, der offen für neue Erfahrungen bleibt, wird zugleich eine wesentliche Disposition dafür gelegt, daß es sich für politische Konflikte öffnen kann.

Möglich ist dem politischen Unterricht darüber hinaus die Vermittlung eines Orientierungswissens, das gleichsam den politischen Umgang des Individuums verlängert. Ob man diesem Wissen ähnlich wie dem Bildungswiesen die Qualität eines objektiven Kulturgehaltes zukommen lassen will, ist eine Frage des Werturteils. Sie hängt im wesentlichen davon ab, ob man Politik als eigenständigen kulturellen Bereich auffassen will oder lediglich als Instrument für die immer erneute Herstellung von Ordnung angesichts immer neuer Konflikte. Vieles spräche für die letztere Version. Sie würde eine wenigstens denktechnische Trennung von Werten und ihrer jeweiligen politischen Realisierung zulassen.(19)

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Wichtiger für unseren Zusammenhang ist, daß sowohl über den Kanon des Bildungswissens wie des Orientierungswissens leichter Übereinstimmung hergestellt werden könnte, wenn es gelänge, die verständlichen polemischen Auseinandersetzungen zu versachlichen. Dazu sollten unsere begrifflichen Unterscheidungen dienen. So sehr einerseits die Kritik an der überlieferten Bildungstheorie als eine politisch-ideologische Kritik überzeugen mag, so verhängnisvoll wäre es, mit den historischen Ausformungen auch die ursprüngliche Intention der Bildung vorschnell über Bord zu werfen, bevor noch ihre Bedeutung für die Gegenwart recht überdacht wurde. Die Idee des Individuums, das nicht Mittel sein darf, ist in ihr ebenso beheimatet wie die Vorstellung einer kulturellen Existenz vor jeder Vergesellschaftung, eines geistigen Daseins, das nicht immer gleich schon auf gesellschaftliche oder ökonomische Funktionen beschränkt wird. Zu fordern wäre, "daß nicht nur die Verabsolutierung von Kultur gebrochen wird, sondern auch, daß ihre Auffassung als die eines Unselbständigen, als bloßer Funktion von Praxis und bloßer Anweisung auf sie, nicht hypostasiert werde, nicht zur undialektischen These gerinne."(2o)

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Würde man eine allgemeine Bildung lediglich von den politischen Aporien der Gegenwart her konzipieren, so müßte, wie Mannheim feststellte, jegliche "substantielle Rationalität" auf Kosten der "funktionellen Rationalität" untergehen.(21) Die Maßstäbe des Handelns kämen aus der bloßen Zweck-Mittel-Relation nicht heraus, und auch die Menschen, ihre Hoffnungen, Wünsche und Meinungen, würden wechselnd zu Zwecken und Mitteln, gleichermaßen wertfrei ins bloße Erfolgskalkül aufgenommen. Will man aber an einer wie immer neu durchdachten Allgemeinbildung festhalten, wird man ihren Widerspruch zur politischen Wirklichkeit einerseits, zum politischen Aktionswissen andererseits produktiv aufgreifen müssen.

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Anmerkungen zu Kap. 7

1) Felix Messerschmidt Politische Bildung und Höhere Schule ..., S. 18

2) Vgl. Theodor Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, H. 15., 4. Aufl. Bonn 1957

3) Friedrich Oetinger, Partnerschaft ... warnt vor der Gefahr, "daß die Forderung, die politische Erziehung der Gegenwart solle in der Weise der Bildung stattfinden, der Restaurierung alter, durch die Verwandlung der Welt überholter Vorstellungen Vorschub leisten kann". (S. 18) An späterer Stelle sucht er dem Bildungsbegriff in diesem Zusammenhang einen neuen Kurs zu geben: "Wir versuchen also zu definieren: Politische Bildung ist planmäßige Herausbildung der Kraft und Fähigkeit des 'Vermittelns'". (S. 261)

4) Vgl. auch die dahin gehende Forderung des Deutschen Ausschusses: "Die Unterordnung aller Bildungsgehalte unter ein politisches Prinzip verführt dazu, die selbständigen Bildungsgehalte im Interesse eines politischen Gesinnungsunterrichts auszumünzen". (Empfehlungen und Gutachten ... Folge 2, Stuttgart 1955, S.41)

5) K. F. Kindler, Not und Aufgabe der politischen Erziehung ..., S. 85

6) Felix Messerschmid, Die Ausbildung der Lehrer ..., S. 121

7) Felix Messerschmid, Politische Bildung und Höhere Schule .... , S. 14

8) Heinrich Weinstock, Die politische Verantwortung der Erziehung ..., S. 20

9) Felix Messerschmid, Politische Bildung und Höhere Schule ..., S. 14

10) Vgl. auch Lorenz Müller, Probleme eines Sozialkundelehrplans ..., S. 68; dort wird eine "ständige Übung des Urteils an konkreten Beispielen" gefordert.

11) Gutachten zur politischen Bildung ..., S. 42/43

12) Arnold Bergstraesser, Die Lehrgehalte der politischen Bildung ..., S. 81

13) Karl Mannheim, Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie, Tübingen 1932, S. 53

14) Vgl. die Unterrichtsbeispiele bei Fischer/Herrmann/Mahrenholz, Der politische Unterricht, S. 122 ff. - Charakteristisch für diese Haltung ist auch der Gedankengang bei Heinrich Newe, Die neue Gemeinschaftskunde als Problem des Fachdenkens ... S. 291. Bei der unterrichtlichen Behandlung der in der Gemeinschaftskunde vorgesehenen Themen solle man daran denken "Spannungen, Entgegensetzungen und Widersprüche fruchtbar zu machen. Dabei sollte die Wirklichkeit so erfahren werden, daß sie zu Entscheidungen einlädt und zwingt". Die daran anschließenden Beispiele zeigen nun aber, daß Newe der Inhalt der geforderten Entscheidung nicht zweifelhaft ist, daß es ihm letztlich gar nicht um Entscheidung, sondern um Zustimmung geht, - wobei einige seiner Beispiele überhaupt nur der Wissenserfragung dienen. "Warum ist es notwendig, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen?" - ist keine politische Frage, weil es darauf eine Fülle nichtpolitischer Antworten gibt. Erst wenn man z.B. fragt: "Welche Erfahrungen der NS-Zeit sind in die Diskussion der "Spiegel-Affäre" (der Telefon-Affäre, der Berliner Mauer usw.) eingegangen?"- stellt man eine politische Frage an die NS-Vergangenheit.

15) Paul Heimann, Film, Funk und Fernsehen als Bildungsmächte der Gegenwartskultur, in: Optisch-akustische Mittel in Erziehung und Bildung. Dokumentation zur Arbeitstagung der Bildstellenleiter der Bundesrepublik Deutschland und Westberlins in München. 24.-.26. Mai 1961, Hsgg. vom Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, S. l4-30, hier S. 28

16) Diese Haltung ist etwa aus Habermas' Kritik an Weniger abzulesen, daß er die Vorrangstellung der politischen Bildung ablehne. (Student und Politik ..., S. 242)

17) Siegfried Landshut, Die Schwierigkeiten der politischen Erziehung ...., S. 315

18) Hans Tietgens, Falsche Ansätze ..., S. 307

19) Was wir im allgemeinen Sprachgebrauch als "politische Werte" bezeichnen, sind in Wahrheit gar keine politischen Werte, so wie es religiöse, künstlerische und sittliche gibt. Es handelt sich hier vielmehr um Werte, deren politische Verwirklichung die Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. "Freiheit" und "Menschenwürde" etwa entstammen ja nicht einer Art "Seinsbereich Politik", sondern der historischen Erfahrung und Reflexion der Menschen im weitesten Sinne. Politisch bedeutsam sind sie in dem Sinne geworden, daß sie aus der Privilegierung für wenige zum Anspruch für alle wurden und daß dieser Anspruch nur mittels der Politik durchgesetzt werden konnte. "Parteiendemokratie" ist also nicht selbst ein Wert, sondern ein (nach Lage der Dinge nicht austauschbares) Mittel, bestimmte Werte für alle möglichst realisierbar zu machen und zu halten. Deshalb möchten wir vorschlagen, die Frage der Werte in den Bereich des "Bildungswissens" zu verweisen, - nicht um ihrer Verbindlichkeit zu entgehen, sondern im Gegenteil, um ihr die Bedeutung zuzuweisen, die ihr zukommt. Dann hätte das "Orientierungswissen" die Bedeutung, sich der Wirklichkeit und vor allem des Zusammenhangs des Politischen instrumental und funktional zu versichern. Dem "Aktionswissen" schließlich käme es zu, die Verbindung zum jeweils konkreten Detail herzustellen und es nun nicht nach "Bildungsgehalten", sondern daraufhin zu befragen, ob die Normen verwirklicht sind oder nicht.

2o) Th. W. Adorno, Theorie der Halbbildung ..., S. 42

21) Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft ..., S. 68/69: "Die zunehmende Industrialisierung begünstigt ... die funktionelle Rationalität, d.h. die Durchorganisierung der Handlungen auf bestimmte objektive Ziele hin. Sie fördert keineswegs im gleichen Maß die 'substantielle Rationalität', d.h. die Fähigkeit, in einer gegebenen Situation auf Grund eigener Einsicht in die Zusammenhänge vernünftig zu handeln." Man müsse sehen, "daß es geradezu zum Wesen der funktionellen Rationalisierung gehört, dem Durchschnittsmenschen Denken, Einsicht und Verantwortung abzunehmen, und diese Fähigkeit denjenigen Personen zu übertragen, die den Rationalisierungsvorgang leiten". 

 

8. Kap.: Hemmnisse politischen Lernens


Bis jetzt haben wir die Grundvoraussetzungen einer politischen Lehre von der objektiven Seite her verfolgt. Dabei wurde zwar der subjektiven Seite des Problems immer schon Rechnung getragen, allerdings um den Preis einer undiskutierten Voraussetzung, die es nun zu befragen gilt. Unsere Voraussetzung war, daß der Wille, angesichts eines politischen Konfliktes Aktionswissen zu mobilisieren, tatsächlich vorhanden sei. Eine solche Annahme widerspricht aber allen Untersuchungen und auch den Erfahrungen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung weitgehend. Die Frage der politischen Didaktik als die Frage nach den Lehrinhalten des politischen Unterrichts würde mißverstanden, wenn sie nicht auch die Möglichkeiten der Verbreitung politischen Wissens in den Blick nähme und ihre Hindernisse nicht untersuchte. Hier gilt ein Wort Walter Benjamins: "Es hat in Deutschland immer viele Leute gegeben und gibt heute besonders viele, die meinen, das, was sie wissen und daß sie es wissen,  das stelle nun den Hebel der Verhältnisse dar, und von da aus müsse es anders werden. Auf welche Weise diesem Wissen nun etwa Kurs zu geben sei und mit welchen Mitteln man es könne unter Leute bringen, darüber haben sie nur die schattenhaftesten Vorstellungen. Man müsse es eben sagen, betonen sie. Ganz fern liegt ihnen der Gedanke, daß ein Wissen, das keinerlei Anweisungen auf seine Verbreitungsmöglichkeiten enthält, wenig hilft, daß es in Wahrheit überhaupt kein Wissen ist".(1) Wenn die Unterrichtserfahrung zeigt, daß das politische Interesse gering ist, so heißt das in der Sprache der Didaktik, daß es schwer fällt, politischem Wissen Bedeutsamkeit zu verleihen.

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1. Falsche Lehrinhalte

Das kann zunächst an der Art des Wissens selber liegen. Es ist denkbar, daß entweder kein politisches Orientierungswissen vorhanden ist oder daß der innere Zusammenhang von Orientierungs- und Bildungswissen das Politische gar nicht in den Bereich des Bedeutsamen gelangen läßt. Dies hat man der höheren Schulbildung mit Vehemenz vorgeworfen.(2) In unseren eigenen Unterrichtserfahrungen mit Oberschülern stellten wir immer wieder eine geistige Grundhaltung fest, deren wertende Einstellung abstrakt moralisch und deren analytische logisch kausal war. Beides muß die politische Wirklichkeit verfehlen, deren Wertdimensionen relativ und deren Sachzusammenhänge interdependent sind. Erst in letzter Zeit hat man unter diesem Gesichtspunkt auch die Konzeption der "volkstümlichen Bildung" untersucht.(3) Diese Konzeption, die in den letzten 10 Jahren immer stärker zum Bildungsprinzip der Volksschule wurde, kann, wie Kudritzki nachwies, in der Tat die entscheidenden Dimensionen des Politischen nicht mehr treffen, wirkt im Gegenteil so, daß der "volkstümlich Gebildete" den ökonomischen und politischen Manipulationen geradezu ausgeliefert wird. Nichts anderes hatte Jahre früher der Publizist Erich Kuby festgestellt, wenn er in einer geistreichen Analyse der Boulevard-Presse behauptete, die BILD-Zeitung ziehe nur die Konsequenz aus der deutschen Volksschule.(4)

Ähnliches gilt für den heimatkundlichen Ansatz in der politischen Bildung, der ja nicht nur eine Methode kennzeichnet, sondern vor allem auch ein didaktisches Prinzip, das die Auswahl des politischen

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Wissens festsetzt. Die wesentliche Voraussetzung des heimatkundlichen Ansatzes ist die angebliche Unüberschaubarkeit des politischen Getriebes. Sie mache politische Einsicht so schwer und es sei besser, von einer überschaubaren sozialen Welt auszugehen. So versucht Spranger, Grundelemente des Politischen aus den Erfahrungen in der Familie zu entwickeln.(5) Andere versuchen, aus dem politischen Leben der Gemeinde solche Grundstrukturen abzulesen. Daß die politischen Zusammenhänge in der Gemeinde dabei falsch interpretiert werden, hat König nachgewiesen.(6) In der Tat ist diese Vorstellung ein "organologisches Mißverständnis"(7). Zu den sachlichen Bedenken hat man psychologische hinzugefügt. Der Einwand der unmittelbaren Anschaulichkeit verliere in unserer Zeit der planetarischen Verflechtung und der Massenkommunikationsmittel an Gewicht. Außerdem würden sich Vorurteile einnisten, falls die pädagogische Unterweisung die Weltkunde allzusehr verzögere. "Denn es darf nicht erwartet werden, daß das Bewußtsein des Kindes unbeeinflußt bleibt, bis die Schule den Zeitpunkt für eine planende politische Bildung für günstig erachtet".(8) Schließlich ist auch die Hypothese dieses Unterrichtsstiles, die angebliche Unüberschaubarkeit des Politischen, nicht mehr ohne weiteres zu halten. "In vieler Hinsicht ist die Gesellschaft, durch den Wegfall ungezählter, auf den Markt zurückweisender Mechanismen, durch die Beseitigung des blinden Kräftespiels in breiten Sektoren, durchsichtiger als je zuvor. Hinge Erkenntnis von nichts

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ab als der funktionellen Beschaffenheit der Gesellschaft, so könnte wahrscheinlich heute die berühmte Putzfrau recht wohl das Getriebe verstehen. Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaffenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht".(9)

In der Tat ist ernsthaft zu fragen, in welchem Maße bestimmte Unterrichtskonzeptionen wie etwa die der "volkstümlichen Bildung" solche "subjektive Beschaffenheit" mit verursacht haben. Aber es käme einer maßlosen Überschätzung des erzieherisch Möglichen gleich, wollte man einen falschen Unterricht allein für das politische Desinteresse verantwortlich machen. Die Gründe sind viel stärker gesellschaftlicher Art.
 
 

2. Will die Gesellschaft kritische Bürger?
 
 

Die Mechanik der gesellschaftlichen Abläufe steht vielmehr selbst einer kritischen Haltung der Menschen entgegen. Dieser Zusammenhang ist verschieden radikal interpretiert worden. So sieht Eschmann (10) die Entwicklung im ganzen optimistisch. Dagegen verweist Habermas auf die "Folgenlosigkeit" politischer Meinungen, auch bei der Wahl. "Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk".(11) Die Parteien seien Instrumente der Willensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die den Parteiapparat beherrschen. "Öffentlichkeit wird hergestellt. Es 'gibt' sie nicht mehr. Das bevorzugte Material der hergestellten Öffentlichkeit ist gerade das, was ihr dem eigenen Sinn nach widerspricht, die Privatsphäre. Sie wird immer noch behandelt, als wäre sie unbeobachtet, persönlich, gar autonom. Aber zugleich wird sie nicht nur in ausgewählten

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Repräsentanten den Massenmedien preisgegeben, sondern vielfach auch bereits nach deren Desideraten konstruiert. Demgegenüber wird die eigentliche öffentliche Sphäre, die der großen Organisation des Staates und der Wirtschaft, scheinhaft privatisiert: allen so vorgeführt, als handle es sich dabei um Personen und persönliche Beziehungen, nicht um Institutionen und Interessen. Dadurch wird die politische Beteiligung vorweg tendenziell neutralisiert".(12)

Ähnlich urteilt Adorno unter Hinweis auf die psychologischen Rückwirkungen dieses Sachverhaltes. Es kennzeichne die heute herrschende Ideologie, "daß die Menschen, je mehr sie objektiven Konstellationen ausgeliefert sind, über die sie nichts vermögen oder über die sie nichts zu vermögen glauben, desto mehr dieses Unvermögen subjektivieren. Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schreiben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben".(13) Schwierigkeiten der subjektiven Lebensbewältigung werden also nicht auf objektive Tatbestände transformiert, die zu ändern wären, sondern ins Unbewußte verdrängt und überspielt.

Solche Deutungen bringen nur auf den Begriff, was die tägliche Unterrichtserfahrung lehrt. Die herrschenden gesellschaftlichen Mächte haben kein großes Interesse daran, Bildung zu honorieren, die ihren Wert fürs reine gesellschaftliche Funktionieren nicht unermüdlich nachwiese. Mindestens in den meisten beruflichen Bereichen ist, trotz gegenteiliger Beteuerungen, ein Denken nicht gefragt, daß außer "funktionell" auch "substantiell" sein will. Politische Bildung wird, wenn sie nach dem Zusammenhang zu fragen beginnt, selbst zum kritischen

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Gegenüber eines lieber blind funktionierenden gesellschaftlichen Mechanismus. Sie wird damit vor allem für berufstätige Jugendliche zu einer problematischen Belastung ihres angehenden Berufsweges. Nirgends stellt die gegenwärtige Gesellschaft im Alltag der Jugendlichen wirklich die Forderung, sich kritisch gegenüber der Umwelt zu verhalten oder honoriert gar ein solches Verhalten. Solange der Zustand fortdauert, daß die politische Bildung "mündige" Staatsbürger produziert, die in den meisten Bereichen des gesellschaftlichen Umgangs gar nicht verlangt werden, schafft sie nur subjektive Unglücksgefühle. Die Erfahrung, daß man ohne allzu viel zu fragen weiter kommt und leichter durchs Leben geht, muß letztlich stärker bleiben als der postulative Appell, der Wirklichkeit immer die bessere Möglichkeit entgegen zu denken.

3. Affektive Vorurteile

Wenn wir den vor allem im Zusammenhang mit der Erforschung des Antisemitismus ermittelten Ergebnissen Glauben schenken können, dann handelt es sich bei den affektiven Vorurteilen um solche, die durch Belehrung prinzipiell nicht behebbar sind. Sie werden durch Konflikte der Menschen in ihrer Gesellschaft hervorgerufen und als eine Art Schutzreaktion verinnerlicht.(14)

Unter diesem Aspekt erhält die Art und Weise des gesellschaftlichen Lebens für den Ertrag des politischen Unterrichts ganz neue Bedeutung. Politische Didaktik muß nicht nur Aufklärung über die Triebkräfte politischen Handelns fordern, wie sie neuer-

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dings von einer "politischen Psychologie" postuliert wird (15), sondern auch die Änderung all jener änderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse, die Vorurteilshaltungen verursachen.

4. Folgerung: Das gesellschaftskritische Engagement der politischen Didaktik

Wenn solche von der gesellschaftlichen Wirklichkeit her errichteten Erkenntnis-Barrieren wirklich vorhanden sind, dann kann die politische Didaktik sie weder ignorieren, noch ins Subjektive umfälschen. Sie muß sie vielmehr als eine Bedingung ihrer selbst verstehen. Dies aber heißt, daß sie ihren eigenen politischen Standort in der gegenwärtigen Gesellschaft zu ermitteln gezwungen ist, daß sie sich darüber klar wird, daß politischer Unterricht immer auch Parteinahme gegen die vorgegebene politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit ist.

Wir haben oben gesehen, daß politischer Unterricht, indem er sich mit den tatsächlichen politischen Konflikten einläßt, sich nolens volens auf die Seite irgendeiner der beteiligten politischen Partikularitäten schlägt, weil das Bewußtsein, sofern es dem Konflikt Bedeutung beimißt, einfach nicht bei dem Aufzählen möglicher Entscheidungen stehen bleiben kann. Auf dieser neuen Ebene des Problems nun tritt politischer Unterricht der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit gegenüber, insofern sie nämlich jenseits aller konkreten gesellschaftlichen Machtträger gegen die von der Gesellschaft produzierten Erkenntnis- und Aktivitäts-Barrieren auftritt, die die Entfaltung des Individuums behindern. Das Bemühen, den ihr anvertrauten Indivi-

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duen zu maximaler politischer Mündigkeit zu verhelfen, schlägt angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse um in politische Aktion. Politische Bildung muß, um dieses pädagogische Ziel zu verwirklichen, sich gewissermaßen die politischen Bedingungen dieser pädagogischen Möglichkeit selbst schaffen. Damit entwickelt die politische Didaktik selbst auch eine eigentümliche politische Philosophie, die praktische Philosophie ist, indem sie auf die Möglichkeit der Verwirklichung ihres eigenen erzieherischen Anliegens reflektiert. Dies ist der Kern des Arguments von A. Flitner gegen Hennis.(16)

Gegenstand ihrer politischen Philosophie ist demnach auch die Integration des Individuums in die gesellschaftlichen Bezüge, auch das Funktionieren gesellschaftlicher Ablaufe, auch die immer erneute Wiederherstellung von gesellschaftlicher Ordnung und Harmonie,- aber nur insofern all dies Voraussetzung ihres pädagogischen Auftrags ist.

Damit gehört die politische Didaktik zum kritischen Potential der Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, daß eine so verstandene politische Didaktik sich leicht in Widerspruch setzen kann zu denen, die für das möglichst reibungslose Funktionieren gesellschaftlicher Abläufe zuständig sind, und das heißt zu allen, die eine gesellschaftliche Position von einem bestimmten Rang an einnehmen.

Anmerkungen zu Kap. 8

1) Walter Benjamin, Privilegiertes Denken, in: Schriften, Hsgg, von Th. W. Adorno und Gretel Adorno, Bd. II, Frankfurt 1955, S. 315 ff: hier S. 319/20.

2) Friedrich Oetinger, Partnerschaft ..., vor allem S. 20 ff.; Hans Tietgens, Falsche Ansätze ..., S. 298 ff. (Kritik des historischen Ansatzes); J. Habermas, Student und Politik ..., S. 275.

3) Gerhard Kudritzki, Die Kategorie des Volkstümlichen ...

4) Erich Kuby, Des Wählers täglich Brot, in: Das ist des Deutschen Vaterland, Hamburg 1959 (rororo) S. 111 ff,

5) Eduard Spranger, Gedanken zur staatsbürgerlichem Erziehung ...

6) Rene König, Grundformen der Gesellschaft: Die Gemeinde, Hamburg 1958 (rde)

7) Hans Tietgens, falsche Ansätze ..., S. 298

8) Hermann Müller, Der Reihe nach? ... S. 4

9) Th. W. Adorno, Theorie der Halbbildung ..., S.41

10) W. Eschmann, Positives in der Gegenwart, Einschränkungen des Kulturpessimismus, in: Gesellschaft-Staat-Erziehung 1960, S. 347-359

11) J. Habermas, Student und Politik ..., S. 46

12) ebd. S. 32

13) Th. W, Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? ..., S. 7

14) Vgl. zum ganzen Komplex: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde. XVI. Jg., 5. Heft, August 1962; Alexander Mitscherlich, Revision der Vorurteile, in: "Der Monat", Heft 165, Juni 1962, S. 7-21; Th. W. Adorno, Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit ...; Eva G. Reichmann, Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt (o.J,)

15) Vgl. Wolfgang Hochheimer, Probleme einer politischen Psychologie, in: Psyche, Heft 1/1962; Walter Jakobson, Ein Leck in den Bemühungen um politische Bildung, in: Die deutsche Schule, Heft 12/1962; Hanna Schlotte, Brauchen wir eine politische Psychologie? in: Gesellschaft-Staat-Erziehung, Heft 2/1963.

16) Vgl. unten S. 172 

 

 

9. Kap.: Das Problem der politischen Aktivität


Auf was für einen Staatsbürger hin soll der politische Unterricht angelegt sein? Die "Überforderung der Zielsetzung" ist oft kritisiert worden. So meint etwa Sontheimer: "Die Ziele unserer politischen Bildungsarbeit sind sehr hoch gesteckt; sie richten sich auf einen Staatsbürger, der die politische Klugheit eines erfahrenen Staatsmanns und Politikers verbindet mit der Weisheit des Philosophen und den Kennt-

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nissen des modernen Gesellschaftswissenschaftlers." (1)

Ein solcher Vorwurf scheint nicht unberechtigt, wenn man liest: Ziel des politischen Unterrichtes in der Schule sei "Deutung und Ergänzung der Erfahrungen, welche die Schüler selbst machen, der Erkenntnisse, die ihnen aus allen Fächern zuwachsen; die bewußte Realisierung der sozialen Umgebung; die Erschließung der politischen Wirklichkeit, die ihnen entgegen tritt und in der sie sich zu bewähren haben werden; ist die Vorbereitung der politischen Reife, der politischen Urteilskraft, ohne die keine freiheitliche Ordnung auf die Dauer und über politische und wirtschaftliche Krisen hinweg bestehen kann. Dazu gehören sachliche Information, Orientierung, Entwicklung von Maßstäben für praktisches politisches Verhalten".(2) Bergstraesser geht noch weiter. Der "urteilsfähige politische Zeitgenosse" müsse "imstande sein, mit anderen Staatsbürgern und gleichsam für den handelnden Staatsmann die Entscheidung auf die Zukunft hin vorauszudenken".(3)

Die Diskussion der Zielsetzung spitzt sich immer wieder zu auf das Problem der politischen Aktivität, und sie zielt letztlich auch immer auf eine gesellschaftskritische Einstellung. Wer wie Hennis und Sontheimer für eine Beschränkung der staatsbürgerlichen Aktivität auf wenige "Reaktionen" in entscheidenden Fragen plädiert, steht der Erhaltung der demokratischen Freiheiten und der weiteren Entwicklung der Demokratie relativ optimistisch gegenüber. Außerdem wird unterstellt, daß im Haushalt der kulturellen Wünsche und Erwartungen des Einzelnen die Politik glücklicherweise an Bedeutung verliere und kulturelle Energien stärker auf andere Bereiche hin orientiert werden könnten. Demgegenüber sehen andere,

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durchaus in der Tradition liberal-rechtsstaatlicher Vorstellungen, die Freiheit der Gesellschaft prinzipiell als gefährdet an, wenn sich nicht eine erhebliche Zahl von Bürgern an ihrer unaufhörlichen Reproduktion beteilige. Sie mißtrauen dem reinen Funktionsablauf des politischen und gesellschaftlichen Lebens.
 
 

1. Die Kontroverse Hennis - A. Flitner

Die Kontroverse zwischen Wilhelm Hennis und Andreas Flitner wirft gleichsam exemplarisch ein Licht auf diese Aporie. Hennis hat eine Reihe von "Erziehungsmodellen", die er in der politischen Pädagogik zu finden glaubte, kritisiert. Sein Maßstab war dabei ihre Realisierbarkeit. Seine Kernthese ist: "Die Parteien, Verbände und Kommunen sind in der Gestalt, wie sie heute dem Einzelnen gegenübertreten, unmöglich mehr als vermittelnde Zwischengewalten ... zu verstehen, Die Bewältigung des unvermittelten Gegenübertretens von Einzelnem und Herrschaft ist sowohl verfassungspolitisch wie pädagogisch eine der dringendsten Aufgaben der Zeit".(4) Unter Hinweis auf die problematische Aktivität der Bürger in der Vergangenheit folgert er schließlich: "Die Aufgabe des Lehrers in der Schule ist nicht unmittelbar Erziehung zur rechten Aktion, sondern zur rechten Re-Aktion".(5) In ähnlicher Richtung argumentiert Sontheimer.(6) Nur scheinbar im Gegensatz zu Hennis verweist W. Besson auf die Tatsache, daß der Bürger nicht als Einzelner, sondern nur als Glied einer Gruppe, die ihm "Solidarität" gewährt, sich politisch beteiligen könne. Insofern sei die Forderung

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nach der "politisch-mündigen Persönlichkeit" ein "tiefes Mißverständnis"(7). Dieses Postulat trifft in unserer sozialen Wirklichkeit auf keinen entsprechend erziehbaren Menschen mehr. Es verharmlost die tatsächliche dämonische Bindung des Menschen an die technische Welt und erweckt in den also Betrogenen falsche Hoffnungen".(8) Gerade an diesem Satz wird deutlich, daß Besson genau so wenig wie Hennis an eine Art stufenweiser Mitwirkung des Bürgers glaubt, die von einfachen zu komplizierten Verbänden sich schließlich auf das Staatsganze hin erstrecke. Damit gelangen beide, wenn auch aus anderen Begründungszusammenhängen, zur Auffassung Litts und Wenigers, die ja ihrerseits das Verhältnis des Einzelnen zum Staat unvermittelt sahen. Aus der Sicht Bessons zeichnet sich aber noch eine weitere Konsequenz ab. Wenn es zutrifft, daß es politisch den Einzelnen gar nicht gibt, sondern nur insofern er einer bestimmten Gruppe "solidarisch" verbunden ist, dann muß politische Bildung sich wesentlich aus den Perspektiven solcher immer partikularer "Gruppenräson"(9) entwickeln und kann nicht mehr vom Staatsganzen ausgehen. Folgerichtig erscheint Besson denn auch politische Bildung als "kritische Distanzierung von der eigenen Gruppe und ihrer Perspektive". Sie entsteht "erst, wenn man in gewisser Weise der eigenen Interessennatur sich entfremden lernt."(10).

In der Kritik an Hennis wendet sich A. Flitner gegen die Trennung von Politischem und Sozialem bei Hennis. "Jeder Verband kann durch Forderungen, durch Opposition, durch Meinungsbildung aus seinen sozialen Zwecken oder Interessen zu einem politischen Faktor werden im kleinen oder im großen. Die politische Wirklichkeit ist eine unendlich differenzierte, sie schießt aus einer Fülle von Rinnsalen und Bächen

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zusammen".(11) Die von Hennig diagnostizierte politische Wirklichkeit dürfe nicht allein den Maßstab des politischen und pädagogischen Handelns abgeben. "Wir können nicht wissen, was aus den gegenwärtigen Tendenzen und was vielleicht aus einem erzieherischen Gegenstreben wird. Wir müssen vielmehr festhalten an dem, was wir erzieherisch und in unserem politisch-öffentlichen Leben erreichen wollen".(12)

Demgegenüber geht es Hennis aber gerade um die Realisierbarkeit einer solchen Forderung. Seine These, das unvermittelte Gegenübertreten von Einzelnem und Herrschaft, konnte Flitner nicht widerlegen. Vollends fraglich muß der Rückzug auf das subjektive Ethos des Erziehers in diesem Zusammenhang erscheinen. Flitner wendet sich dagegen, daß Hennis, anstatt Modelle überhaupt zu vermeiden, nur ein neues Modell angeboten habe. "Erziehen, das heißt nun ein für allemal nicht in bestimmte Formen gießen, nach bestehenden Bildern modellieren, zu festgelegten Positionen führen. Erziehen heißt vielmehr, sich mit den jungen Menschen unter Ansprüche zu stellen, ihnen begegnen innerhalb eines Werthorizontes, sie zu gewinnen und aufzuschließen für das, was für den Erzieher besteht und gilt, was ihn selber angeht und was ihm wertvoll ist. Erziehen läßt sich nicht 'zu' diesen oder jenen Zielen hin ... . So wird ein Erzieher nie mehr bieten können, als er selber glaubhaft repräsentiert."(13) So wichtig gerade im Zusammenhang der politischen Bildung dieser Appell an die Erzieher ist, so wenig kann zweifelhaft sein, daß Hennis eben gerade das kritisiert, was empirisch feststellbar die Erzieher "glaubhaft repräsentieren". Das sind nämlich notwendigerweise Vorstellungen, Bilder der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Möglichkeit. Sie müssen zwar nicht voll mit dem gesellschaftlichen Sosein übereinstimmen, aber im Falle

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des Widerspruchs muß doch gefragt werden, ob sie grundsätzlich, d.h. nach der Änderung des Änderbaren, zu verwirklichen sind. Sonst gilt das Bedenken, das Landshut für den Fall anmeldete, daß die Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit übersehen würde; denn davon ist dieses Problem in der Tat ein Teil, weil die Mitbestimmung aller an der Reproduktion von politischer und gesellschaftlicher Macht als Illusion erscheinen muß:

"Wenn aber der Jugendliche merkt, daß diese Darstellung gar nicht mit der Realität übereinstimmt, so hat die Pädagogik das Schlimmste angerichtet, was sie anrichten kann. Zwei Gefahren, die damit verbunden sind, müssen unbedingt verhindert werden. Einmal die, daß der Jugendliche gerade durch diese Darstellung dazu verleitet wird, sich abseits zu stellen mit der Bemerkung, daß ja alles Schwindel sei. Zum anderen die Gefahr, die uns in der Vergangenheit eigentlich alles gekostet hat, daß die Vorstellung entsteht, diese Welt könne durch einen bisher noch nicht entdeckten Trick geändert werden und es gäbe etwas, durch das man alles verbessern kann ... .Es ist die Aufgabe, pädagogisch zu erreichen, daß das Bewußtsein nicht mit solchen Gedanken spielt."(14)

Das Dilemma, das sich hier einstellt, daß nämlich trotz aller Bemühungen der politischen Bildung zunehmend eine Gesellschaft sich bildet, die ohne kontinuierlichen Übergang zwischen politischen und gesellschaftlichen Machtträgern und der Masse der Bürger eine scharfe Trennung vollzieht, ist auch Hennis bewußt geworden. So argumentiert er schließlich gegen seinen eigenen Ansatz. "Alle politische Erziehung muß auf lange Sicht scheitern, wenn die Realität unseres Verfassungslebens nicht eine reale Möglichkeit der Mitbestimmung zuweist." Der dafür gegebene Rahmen beschränke sich auf die politische Wahl. Kor-

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rekturen der Verfassungswirklichkeit vorzunehmen, sei nicht Aufgabe des politischen Unterrichts. "Diese Forderung lebendig zu machen, sollte man ihm allerdings nicht verwehren".(15) Damit nähert sich Hennis wieder weitgehend an Flitner an. Nun ist die Betonung der politischen Wahl sicher richtig. In diesem Instrument stecken für den politisch Gebildeten ganz erhebliche Einflußmöglichkeiten. Aber kann sie als Mittel staatsbürgerlicher Aktivität ausreichen? Schließlich überspringt sie den ganzen Bereich der gesellschaftlichen, vorstaatlichen Willensbildung. Im Grunde geht es hier um das Problem, ein Bild sowohl von der Gesellschaft wie den wünschbaren und realisierbaren Eingriffsmöglichkeiten des durchschnittlichen Bürgers zu entwerfen. Dieser Gesichtspunkt des Utopischen ist in dieser Diskussion letztlich ausgeschaltet geblieben und das macht sie unbefriedigend; denn selbst wenn man Hennis recht gibt mit seiner Theorie des reaktiven Verhaltens, so bleibt eben immer noch offen, nach welchen Maßstäben eigentlich der Bürger etwa in der Wahl reagieren soll. Diese Frage zielt nicht nur auf das Problem der politischen Tugenden der politischen Akteure, wohin es Hennis verweist, sondern vor allem auf die inhaltliche Substanz eines solchen Maßstabes. Ohne Zweifel ist er nicht aus der Analyse der politischen Gegenwart selbst zu gewinnen; dies käme einem blinden Reagieren auf eine ebenso blinde Dynamik gleich. Wird die historische Erinnerung, gleich welcher Ausprägung, zum alleinigen Maßstab, so würde die Reaktion notwendig "reaktionär", feindlich gegen alles, was von solcher historischen Erinnerung abwiche.(16) Offensichtlich

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muß das Vermögen hinzukommen, das gegebene Wirkliche auf das Mögliche hin zu transzendieren. Dies könnte man das utopische Moment der politischen Bildung nennen.
 
 

2. Politische und pädagogische Bedeutung der politischen Aktivität

Die hier zitierten Stellungnahmen politischer Wissenschaftler müssen von der politischen Pädagogik sorgfältig geprüft, dürfen aber nicht einfach übernommen werden. Sie stellen sich unter pädagogischem Aspekt etwa folgendermaßen dar:

a) Der Vorwurf, nicht realisierbare Erziehungsziele aufzustellen, muß ernsthaft bedacht werden. Wenn im politischen Unterricht Sein und Seinsollen so weit auseinanderfallen, daß das eine im anderen nicht mehr wiederzuerkennen ist, büßt er jede Wirkung ein. Andererseits ist - darin ist Flitner recht zu geben - nie ganz ausgemacht, welche Realisationsmöglichkeiten sich künftig bieten werden. Die Spannung zwischen dem Wünschbaren und dem Möglichen, die Politik kennzeichnet, kennzeichnet auch das politische Bewußtsein. Genau wie in der Politik selbst dabei das Wünschbare das gegenwärtig Mögliche immer übersteigt, kann und muß die Zielsetzung der politischen Bildung das übersteigen, was gegenwärtig realisierbar erscheint. Daß heute die Chancen eines politischen Einflusses der Vielen denkbar gering sind, sagt nichts gegen die Vernünftigkeit des Postulats, diese schlechte Wirklichkeit zu verbessern, weil die politische Wissenschaft wohl die Tatsächlichkeit, nicht aber die Unveränderbarkeit der gegenwärtigen Lage belegen kann. Die zitierten Einwände können für die politische Bildung nur die Folge haben, daß sie die politischen Bedingungen ihrer eigenen Zielsetzung in ihre Überlegungen einbezieht, daß sie sich bewußt wird, daß sie auch zur

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Gesellschaftskritik gezwungen wird, wenn sie ihre Zielsetzung aufrecht erhält. Insofern die politische Bildung allerdings das richtige Postulat der politischen Beteiligung mit illusionären Realisierungsvorstellungen ausstattet, trifft die Kritik sie zu Recht.

Auch die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder die aktive Mitwirkung in einem Interessenverband heben das unvermittelte Gegenüber von Einzelnem und Herrschaft nicht auf. Hier wiederholt es sich vielmehr nur auf neuer Ebene; denn auch in einer Partei haben die Mitglieder nicht gleiche Chancen gegenüber dem Parteiapparat, der nötig ist, um das "Parteivolk" zu einer einheitlichen Willensbildung zusammenzufassen. Die Kanäle von unten nach oben sind weniger durchlässig als die von oben nach unten. Die hauptberuflichen Funktionäre der Apparate sitzen immer am längeren Hebel gegenüber den Mitgliedern, die Politik nur in ihrer Freizeit treiben können. Wenn man schon Jugendliche im Unterricht animiert, einer solchen Gruppe beizutreten, dann darf die Aufklärung über diese Zusammenhänge nicht fehlen. Ebenso sind die Appelle zu bewerten, Briefe an Zeitungen oder die zuständigen Abgeordneten zu schreiben. Dies kann nur dort erfolgreich sein, wo es sich um das Aufdecken eines bisher nicht bekannten öffentlichen Mißstandes handelt. Betrachtet man also die Mitwirkung von Jugendlichen in politischen Erwachsenenverbänden unter dem Aspekt der politischen Wirksamkeit, der Verwirklichungschance der eigenen Meinung und des eigenen politischen Willens, so kann den zitierten politikwissenschaftlichen Stellungnahmen nur recht gegeben werden. Dennoch kann eine solche Beteiligung pädagogisch sinnvoll sein, insofern nämlich die Mitwirkung unter dem Gesichtspunkt des sozialen Lernens gesehen wird. Sie öffnet dann zweifellos den Blick dafür, wie es etwa in der Ortsgruppe einer

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politischen Partei zugeht und warum es so und nicht anders zugeht. Solche "Erfahrungen" kann der Unterricht nicht vermitteln. Sie können gerade für Oberschüler zu einer heilsamen Ernüchterung gegenüber dem Politischen führen. Die Mitwirkung kann aber auch dazu verleiten, daß der Jugendliche frühzeitig in den politischen Organisationen verbraucht wird und seine kritische Bewußtheit in einem Alter verliert, wo sie sich am wirksamsten aufbauen könnte.

b) Die politische Pädagogik hat keinerlei Legitimation, zu bestimmten politischen Aktivitäten zu ermuntern, weil es ihr um Lernen geht und nicht um Wirksamkeit, und weil ihr die Quellen, aus denen eine politische Entscheidung im Einzelfalle fließt, zum größten Teil gar nicht zur Verfügung stehen. Indem es ihr aber darum geht, die je subjektive Befindlichkeit der Einzelnen mit den objektiven Gegebenheiten von Staat und Gesellschaft in Beziehung zu setzen, legt sie unter Umständen Loyalitäten zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen nahe. Wer etwa politische Bildungsarbeit mit Lehrlingen treibt, kann ihnen nicht einreden, daß deren politische Interessen von Unternehmerverbänden vertreten würden. Wenn der Zusammenhang zwischen subjektiver Situation und objektiven Gegebenheiten richtig interpretiert wird, folgt daraus zwar nicht die Aufforderung, der Gewerkschaft beizutreten, aber doch immerhin der Hinweis darauf, daß es vor allem die Gewerkschaft ist, bei der Solidarität für das eigene politische Interesse gesucht werden muß. Alles andere kann nur Ideologie sein, die sich objektiv gegen die Lehrlinge wendet.

c) Gegenüber den "sekundären Systemen" der Gesellschaft ist der Appell zur Aktivität nur mit äußerster Zurückhaltung zu vertreten. Worauf es dem politischen Unterricht ankommen muß, ist das Üben des politischen Urteils an Ernstfragen des Öffentlichen Lebens. Dabei muß sich die politische Pädagogik

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vor allem wieder mit dem Aktivitätsgehalt des Denkens gelbst befreunden. Unsere Skizzierung der Spiegel-Kontroverse hatte gezeigt, daß das in der Auseinandersetzung damit gewonnene Bewußtsein breiter Massen auch dann einen hohen Aktivitätsgrad hatte, wenn es sich gar nicht weiter in konkreten Maßnahmen äußerte. Je mehr sich in den Menschen eine politische Bewußtheit bildet, die den Sachverhalten angemessen ist und die normativen Implikationen der demokratischen Staatsform verstanden und sich zu eigen gemacht hat, umso stärker wird dieses Bewußtsein selbst zu einer Art "passiver Aktivität", insofern es sich nichts vormachen läßt und die politischen Akteure zwingt, bestimmte Dinge nicht zu tun.

d) Politikwissenschaft und Soziologie haben erhebliche Bedenken dagegen vorgebracht, die für den normalen Bürger und den Jugendlichen von der Gesellschaff freigelassenen Räume des politischen Umgangs überzubewerten. Habermas erhebt hier den Vorwurf der Ideologie und meint, daß die Reduktion auf solche Aktivitätsreservate die tatsächliche Einflußlosigkeit der Bürger nur bestätige.(17) Wenn etwa politische Erzieher den Jugendlichen einreden, in der SMV oder in den freien Jugendgruppen würde gleichsam exemplarisch Politik gelernt, und dieses Modell sei auf die politische Gesellschaft übertragbar, ist jene Kritik berechtigt. Die pädagogische Forderung nach Kooperation mit den Jugendlichen zielt aber auf etwas anderes. Wenn wir in unseren Tagungen die Jugendlichen in "institutionalisierter" Weise mitwirken ließen, dann ging es vor allem darum, sie als Partner ernst zu nehmen. Dazu gehört vor allem das Eingeständnis, daß Jugendliche bestimmte Bedürfnisse, Wünsche und Interessen haben, die nicht mit denen des Pädagogen übereinstimmen und auf deren Berücksichtigung sie gleich-

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wohl ein Recht haben. Wird dieses Recht im unmittelbaren Umgang nicht ernst genommen, dann kann auch nicht erwartet werden, daß Jugendliche die abstrakte Gesellschaft darauf hin befragen, welche Rechte und Pflichten sie bereit hält. Die Freiheitlichkeit des Menschen ist unteilbar. Wird sie im unmittelbaren Umgang des Alltags verweigert, ist sie auch für den Bereich des nicht mehr unmittelbar Zugänglichen uninteressant. Politisches Lernen ist eben nicht nur auf rationale Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge zu beschränken. Es enthält zahlreiche Voraussetzungen, unter anderem die, daß der Lernerfolg durch Anerkennung von außen "belohnt" wird. Wo das selbständige Urteil, die Aktivität des Denkens, Vorschläge zur Gestaltung der alltäglichen Umgebung, Kritik gegenüber dem, was ist, nicht honoriert werden - und sei es auch nur in Form der sorgsam begründeten Ablehnung - da wird das Selbstbewußtsein des Jugendlichen schon demontiert, bevor es noch sich stabilisieren konnte. Die Kooperation zwischen einander ernst nehmenden Partnern ist nicht schon deshalb verdächtig, weil es sich nicht um Politisches handelt, das dabei geregelt wird.

e) Charakteristisch für die zitierten politikwissenschaftlichen Einwände gegen die politisch-pädagogischen Zielsetzungen ist der nahezu vollständige Mangel an utopischem Bewußtsein. Auf seine Bedeutung hat nur Eugen Lemberg mit großem Nachdruck hingewiesen.(18) Wenn Politik dasjenige im Leben der Gesellschaft bezeichnet, das offen und damit veränderbar ist, so muß in den Staatsbürgern wenn schon nicht die Fähigkeit, so doch wenigstens das gute Gewissen dafür freigelegt werden, solche Veränderungen vorzunehmen. Die Vorstellungsinhalte solcher Veränderungen sind die utopischen Momente politischer Ideen, die eine bessere Möglichkeit als Wirklichkeit

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antizipieren. Sofern die politische Bildung die Gesellschaft unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit zeigt, werden mindestens zwei utopische Hoffnungen impliziert. Sie hat die Hoffnung, daß die Menschen Herren ihrer Verhältnisse, der technischen wie der gesellschaftlichen, werden können, daß die menschliche Kooperation die Zustände menschlicher machen könne. In dieser Hoffnung liegt letztlich die Möglichkeit von Verantwortung beschlossen, - soll sie mehr sein als resignierende Identifikation mit dem Faktischen unter dem Vorbehalt vorgeblich innerer Freiheit; denn Verantwortung hat nur dort einen Sinn, wo eine humanere Gestaltung menschlicher Verhältnisse erreichbar erscheint.

Dazu gehört die weitere Hoffnung, daß die Daseinszusammenhänge wenigstens soweit erkennbar sind, wie zu ihrer verantwortlichen Mitgestaltung nötig. Beides ist wohl deshalb so selten gesehen worden, weil man aus gutem Grund vor der Verführbarkeit einer utopischen politischen Haltung zurückschreckt. Aber offensichtlich zerstört man auch die Chance der Verantwortung, wenn man das Risiko der Verführung scheut.

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Anmerkungen zu Kap. 9

1) Kurt Sontheimer, Das Staatsbewußtsein in der Demokratie ..., S. 82

2) Felix Messerschmid, Die Ausbildung der Lehrer ..., S. 123

3) A. Bergstraesser, Die Lehrgehalte ..., S. 78

4) Wilhelm Hennis, Das Modell des Bürgers ..., S. 333

5) ebd. S. 338

6) Kurt Sontheimer, Politische Bildung zwischen Utopie und Verfassungswirklichkeit ...

7) Waldemar Besson, Politische Bildung im Zeitalter der Gruppengesellschaft ..., S. 304

8) ebd.

9) ebd.

10) ebd. S. 308

11) Andreas Flitner, Ein neues Bürgermodell? ..., S. 450

12) ebd., S. 451

13) ebd., S. 448

14) Siegfried Landshut, Die Schwierigkeiten der politischen Erziehung ..., S, 315

15) W. Hennis, a.a.0., S. 339

16) Vgl. Tietgens' Kritik des historischen Ansatzes in der politischen Bildung (Falsche Ansätze ..., S. 298): "Belastet mit dem Eindruck alltäglicher Ärgernisse, sieht man den Zustand, unter dem man zu leben hat, am Maßstab einer vom Geschichtsbild bestimmten Kritik. Das Wissen über einzelne Epochen ist aber, wenn nicht auf ihre bleibenden Werte, so doch auf ihre weiterwirkenden Momente oder auf Imponierendes reduziert. So beruht der Vergleich auf ungleichen Prämissen."

17) J. Habermas, Student und Politik ..., S. 244

18) Eugen Lemberg, Ideologie und Utopie ... 

 

 

10. Kap.: Das Problem der Stoffauswahl


Alle bisher behandelten "Brennpunkte" der politischen Didaktik bestimmen das Problem der Stoffauswahl mit. Ebensowenig wie in anderen Fächern kann im politischen Unterricht die ganze Fülle des Stoffes gelehrt werden. Bisher lassen sich kaum Prinzipien für die Auswahl ermitteln. Vielmehr wurde die Stoffauswahl weitgehend von der politischen Praxis her entschieden. Schutz vor den totalitären Verführungen der Vergangenheit und sehr bald auch des Kommunismus diktierten lange Jahre die Stoffpläne. Dabei gerieten Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, also innenpolitische Fragen, immer mehr aus dem Blick. Nun ist Schutz vor totalitären Angriffen mit Recht eine der wichtigsten Interessen der Gesellschaft an der politischen Bildung ihrer Bürger. Aber es mußte fraglich werden, ob ein solcher Schutz wirklich in der Behandlung politischer Gegenstände liegen konnte, die beide wenigstens nicht unmittelbar die eigene Gesellschaft betrafen. An welche Adresse in unserer Demokratie sollte sich ein Bewußtsein richten, das gegen den faschistischen und kommunistischen Totalitarismus sich entschieden hatte?
 
 

1. Die Alternative Demokratie - Diktatur

Politische Entscheidungen von demokratischer Legitimation aus dem negativen Gegenbild totalitärer Entscheidungen zu präzisieren, spielt vor allem in dem Vorschlag von Fischer-Hermann-Mahrenholz eine bedeutende Rolle. "Die politisch-existentielle AIternative der Epoche lautet Demokratie oder Diktatur. Wir haben keine andere Wahl".(1) Im Durchdenken dieser These stoßen die Verfasser auf 9 "Grundeinsichten", die als wesentliche politische Urteile im politischen Unterricht zu vermitteln seien. Sie seien in allen politischen Stoffen wenigstens teilweise enthalten. Da diese Grundeinsichten als das

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eigentliche Ziel des politischen Unterrichts gelten, sie andererseits allen politischen Stoffen angeblich immanent sind, geben sie folgerichtig schließlich kein Prinzip für die Stoffauswahl mehr her:

"Die Stoffe sind auswechselbar. Sie sind Mittel zum Zweck".(2)

Gegen diesen Ansatz haben sich mancherlei Einwände erhoben. Einmal wurde die sachliche Richtigkeit einiger dieser Grundeinsichten bezweifelt.(3) Vor allem aber wurde kritisiert, daß auf jede theoretische Begründung dieser Einsichten verzichtet wurde, daß sie also letztlich sich als didaktische Prämissen erweisen. Außerdem sei nur die rationale Seite des Lernens gesehen worden; es müsse aber zweifelhaft bleiben, ob diese Grundeinsichten ohne emotionales Engagement, d.h. ohne daß sie als Ergebnis einer persönlich erlebten Verlegenheit sich anböten, im Gedächtnis haften blieben.(4) Hinzu kam schließlich der kritische Verweis darauf, daß die von den Verfassern am Schluß ihres Buches gegebenen Unterrichtsbeispiele ihrer eigenen Theorie widersprächen. Es stellte sich heraus, daß nur mit einiger Gewalt die Einsichten aus dem konkreten Stoff zu erzielen waren.(5) Darüber hinaus ist zu bemerken, daß die angeführten Unterrichtsbeispiele tatsächlich unpolitisch sind. Sie beziehen sich nicht zufällig ausnahmslos auf Gegenstände, die der aktuellen Auseinandersetzung weitgehend enthoben sind, und wo dennoch zeitnahe Materialien verwendet werden, erweist sich das Verfahren als sehr problematisch.(6) Lediglich als Einstiege werden aktuelle Bezugspunkte zu-

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gelassen und gelten dabei als ebenso austauschbar wie die Stoffe selbst. Nur vordergründig handelt es sich bei diesen "Grundeinsichten" um Prinzipien der materialen Stoffauswahl. In Wirklichkeit vertreten sie die formale Seite. Denn wenn angesichts ihrer die Stoffauswahl beliebig ist - wenn auch in dem Sinne, daß es sich um politische Stoffe handeln müsse -, müssen die "Grundeinsichten" als formales Element verstanden werden. "Politische Einsicht kann nur an politischen Materien gewonnen werden, weil ihr das Denken in politischen Kategorien vorausgesetzt ist".(7)

Aber eben die Fixierung der "politischen Materie" ist auf diese Weise nicht zu gewinnen. Gegen den Versuch, vom Gegenbild des Totalitarismus her die Lehrinhalte zu bestimmen, hat vor allem Hans Tietgens berechtigte Bedenken angemeldet. Dieses Verfahren führe zur Herauskristallisierung klarer, alternativer Modelle. Die Tatsache der Problemverschränkung käme aus dem Blick, Wirklichkeitssinn und Differenzierungsfähigkeit könnten sich nicht entwickeln. Ein solcher Unterricht mache schließlich sich unglaubwürdig, weil er in einer Sphäre des des Als-Ob stattfinde. "Dadurch mehren sich die Verdachtsmomente, mit einer Fassade des Grundsätzlichen solle eine Praxis getarnt werden, die diesen Grundsätzen nicht entspricht."(8)
 
 

2. Hilligens politische Analyse

Einen anderen Weg hat Hilligen beschritten. Er geht aus von drei Merkmalen, die neuartig und bestimmend für unser Dasein seien: "Die weltweite Abhängigkeit aller von allen; die technische Massenproduktion, die es ermöglicht, Güter für alle zu schaffen; und die technischen Macht- und Vernichtungsmittel, die es nicht mehr erlauben, Gegensätze bis zur letzten Konsequenz auszutragen."(9) Alle wesentlichen poli-

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tischen Sachverhalte ließen sich in diese drei Bereiche einordnen. Diese drei "Grundtatbestände" unseres gegenwärtigen Daseins verlangten keine eindeutigen, sondern "dialektische" Reaktionen: "Gehorsam und Widerstand; Gleichheit und Auslese; Ausgleich und Kampf".(10) Die Analyse führe zu der Folgerung, daß wir heute "auf entgegengesetzt verschiedene Weise scheitern" könnten, wenn nämlich nicht in diesem dialektischen Sinne auf sie reagiert würde, sondern eindeutig.(11) Obwohl nun diese Grundtatbestände sich im Grunde in allen wichtigen politischen Problemen widerspiegelten, entsprächen drei Stoffgebiete diesem dialektischen System besonders. "Der Ost-West-Gegensatz, die Entwicklungsländer und der Umgang mit technischer Macht und den Massenkommunikationsmitteln."(12)

Hier haben wir in der Tat einen möglichen Maßstab für die politische Stoffauswahl vor uns. Hilligen hat auf Grund einer politischen Analyse der politischen Weltsituation drei Grundprobleme ermittelt, deren tatsächliche Relevanz unbestreitbar ist. In einer weiteren, wiederum politischen Überlegung fand er drei Unterthemen, in denen sich heute diese Grundprobleme am sichtbarsten manifestieren. Zu fragen wäre höchstens, ob diese Aufstellung ausreichend sei. Die Problematik dieses Vorschlages stellt sich erst ein, wenn seine formale Bewältigung zur Debatte steht. Darauf müssen wir noch zurückkommen.

Hilligens Vorschlag für die Stoffauswahl scheint aber zu beweisen, daß die Festsetzung der Stoffe als politische Stoffe nur ein Akt des politischen Bewußtseins selber sein kann, nicht das Ergebnis einer Deduktion aus pädagogischen Grundsätzen.

3. Das Problem des Exemplarischen
 
 

Diese Vermutung wird bestätigt durch eine kurze Betrachtung der Versuche, aus den Maßstäben des

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"Exemplarischen" Prinzipien für die Stoffauswahl zu gewinnen. Von Anfang an ist die "exemplarische Methode" für alle geisteswissenschaftlichen Gegenstände problematisch geblichen. In der politischen Bildung ist sie systematisch nie dargelegt worden; wohl aber ist gelegentlich in Ansätzen auf sie hingewiesen worden. Im Grunde meint sie den Versuch, im Stoff, also im jeweiligen Gegenstand selbst die Maßstäbe für die Stoffbeschränkung und die Stoffauswahl zu entdecken. Mit Hilfe dieses Prinzips sollte die Willkürlichkeit der Auswahl durch einen mit allgemeiner Anerkennung ausgestatteten Modus ersetzt werden, der entweder in den Gegenständen selbst oder in ihren "Bildungsgehalten" jeweils ermittelt wurde. Angesichts des spezifischen Gegenstandes der Politik ist dieser Versuch vor allem von H. Weber zurückgewiesen worden.(13) Welche Gegenstände hier für welche stellvertretend oder repräsentativ erscheinen können, könnte vom Sachbereich her erst dann ermittelt werden, wenn der ganze Sachbereich der Erkenntnis erschlossen ist. Erst dann könne sein Wesen auf exemplarische Verdichtung

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reduziert werden. Aber eine solche Aussicht muß dem Wesen des prinzipiell Offenen widersprechen. Hilligen hat von seinem didaktischen Vorschlag gemeint, er ermögliche "exemplarisches Lehren und Lernen; denn dieses setzt ein Ganzes voraus, von dem das Beispiel Kunde gibt". (14) Hilligen kann wohl geltend machen, seine Stoffauswahl sei als eine politische Analyse einsichtig. Aber keinesfalls gibt sie als Beispiel Kunde vom Ganzen; denn dieses Ganze enthält doch wesentlich mehr als die von ihm zitierten "Herausforderungen". Man sollte sich darauf beschränken, ein Auswahlprinzip der politischen Stoffe als pragmatische Maßnahme anzusehen; denn eine Identifizierung mit dem Prinzip des Exemplarischen müßte den Eindruck der Allgemeingültigkeit und damit berechtigte Kritiken an einem sonst brauchbaren Modell hervorrufen.

Als Ergebnis bleibt aber festzuhalten, daß die Prinzipien für die Stoffauswahl des politischen Unterrichts nur in der politischen Wirklichkeit selbst auffindbar sind. Dieser Ansatz bei Hilligen bleibt festzuhalten. Das heißt mit anderen Worten: Der politisch-gesellschaftliche Prozeß entscheidet darüber, welcher Gegenstand als politisch anzusprechen ist. Die Auswahl der politischen Stoffe kann von der politischen Pädagogik immer nur dynamisch ermittelt werden, indem sie sich selbst immer wieder mit diesem Prozeß einläßt. So wird sie, von der materialen Seite der politischen Bildung her, selbst notwendigerweise Teil dieses politischen Prozesses. Damit scheint nun die politische Didaktik in der Gefahr, ständig nur diesen Prozeß geistig nachzuvollziehen, ohne die geringste Möglichkeit, sich von ihm zu distanzieren oder gar ihrerseits ihm andere Maßstäbe als die reine Anerkennung des Faktischen entgegenbringen zu können.

Wenn wir unsere Unterscheidung von Orientierungs-

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und Aktionswissen an dieser Stelle wieder einfuhren, können wir den Sachverhalt näher bestimmen. Alle hier zitierten Didaktiker sind sich über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Aufstellung eines Stoffkanons weitgehend einig, wie er unserem Begriff des Orientierungswissens entsprechen würde. Sie sehen aber zwei Schwierigkeiten. Einmal beweist die Unterrichtserfahrung, daß für das Erlernen solcher Stoffe sich kaum eine Motivierung zeigt. Zum anderen erweist sich, daß ein solcher Stoffkanon zunächst immer unpolitisch ist, - was vielleicht das fehlende Interesse der Jugendlichen teilweise erklärt. Politisch im Sinne der subjektiven Erfahrung ist eben nur das, was in einer politischen Gemeinschaft umstritten ist. Unsere These ist nun, daß politisches Orientierungswissen nur über das angesichts einer Öffentlichen Kontroverse sich bildende Aktionswissen im Individuum aufzubauen ist. Selbst Hilligens aus einer politischen Analyse ermittelten Stoffe bleiben so lange Bestandteil eines an sich unpolitischen Orientierungswissens, wie ihre politische Bedeutung nicht angesichts eines Konflikts einsichtig wurde.

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Anmerkungen zu Kap 10

1) Fischer/Herrmann/Mahrenholz, Der politische Unterricht ..., S. 93

2) ebd. S. 84

3) Heinrich Weber, Theorie und Präzis der politischen Bildung ..., S. 434

4) Theodor Wilhelm, Für und wider die politische Gefühlsbildung .... S. 444

5) H. Weber, a.a.O., S. 439 f.

6) ebd.

7) Fischer/Herrmann/Mahrenholz, a.a.0., S. 86

8) Hans Tietgens, Falsche Ansätze ..., S.3ol/2; - Vgl. auch die Bedenken bei Martin Greiffenhagen, Nationalsozialismus und Kommunismus ...,

9) Wolfgang Hilligen, Worauf es ankommt ..., S. 346

10) ebd. S. 349

11) ebd. S. 348

12) ebd, S. 353

13) H. Weber, Exemplarisches Lehren und Lernen im politischen Unterricht ... . Es gebe unter Pädagogen keine einheitliche Auffassung darüber, was unter exemplarischem Lehren und Lernen zu verstehen sei; außerdem sei Hauptgrund für die Einführung der exemplarischen Methode die Stoffülle gewesen, die es aber für den politischen Unterricht nicht gebe. "Unsere hauptsächliche Lehrweise im politischen Unterricht sollte die induktive, vom Einzelfall und erlebten Beispiel ausgehende Methode sein". (S. 838) - Auch Th. Wilhelm (Bausteine der Demokratie ... S. 38) meldet Bedenken an: "Die Grundstruktur der Gesellschaft ist nicht logisch, sondern geschichtlich. Mit dem 'reinen Fall' ist in der politischen Elementarlehre so wenig anzufangen wie im Geschichtsunterricht" - Ähnlich H. H. Grotthoff, Struktur und Problematik der Diskussion ..., S. 289: "Die Elementarisierung des Politischen bringt die Gefahr mit sich, einen Teil für das Ganze zu halten und somit das Ganze ein für allemal zu verfälschen".

14) W. Hilligen, a.a.0., S. 352

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