Hermann Giesecke


Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung

Ein Beitrag zur Didaktik der außerschulischen Politischen Bildung

Diss. Kiel 1964 (Phil. Fak.)

III. Teil: Didaktisches und methodisches Modell für den politischen Unterricht in der Tagungssituation

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© Hermann Giesecke

Zu dieser Edition:
Meine Dissertation mußte damals nicht gedruckt, sondern der Fakultät lediglich in einer Reihe von Kopien der maschinenschriftlichen Fassung  übergeben werden.  Aus dem Material entstanden  zwei Publikationen: Didaktik der politischen Bildung (München 1965) und Politische Bildung in der Jugendarbeit (München 1966). Die Dissertation habe ich teilweise bereits während meiner Tätigkeit im Jugendhof Steinkimmen (1960 - 1963) verfasst, deshalb spiegelt sie die aus dieser Arbeit erwachsenen pädagogischen Erfahrungen und Urteile unmittelbarer wider als die beiden Publikationen,  in die  Ergebnisse weiterer Diskussionen und zusätzliche Reflexionen aus größerer zeitlicher Distanz eingegangen sind.
Offensichtliche Tippfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert. Im Original befinden sich die Fußnoten - nach Kapiteln gezählt - auf der jeweiligen Textseite; für diese Edition wurden sie an den Schluß des jeweiligen Kapitels gesetzt, die ursprüngliche Numerierung wurde beibehalten.
Die Edition ist vollständig, es fehlen lediglich das Deckblatt und der übliche Lebenslauf.
Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten,  wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere  Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen. (H. Giesecke, März 2003)

III. Teil: Didaktisches und methodisches Modell für den politischen Unterricht in der Tagungssituation


Unsere letzte These hat bereits zu einer weiteren Überlegung übergeleitet. Wir versuchen nun, das didaktische und methodische Modell zu beschreiben, mit dem wir in der Tagung politischen Unterricht betrieben haben. Mit diesem Modell, das aus dem Nachdenken über die im II. Teil beschriebenen Schwierigkeiten einer politischen Lehre erwuchs, soll gleichzeitig der Grundstein zu einer wissenschaftlichen politischen Didaktik gelegt werden. Dennoch beschränken wir seine Gültigkeit zunächst für die Tagungssituation selbst. Inwieweit es darüber hinaus für den politischen Jugendunterricht schlechthin gültig sein kann, soll den Überlegungen des IV. Teiles vorbehalten bleiben.


 

11. Kap.: Kategorien der Begegnung mit dem Politischen


Alle Versuche, das Politische materialiter festzulegen, sind - wie wir sahen - zum Scheitern verurteilt. Sie führten nur dazu, den Begriff des Politischen ins Uferlose auszuweiten oder umgekehrt die Auswahl der politischen Sachverhalte zu subjektivieren, weil das Politische selbst nicht seine Definitionsmerkmale verrät. Materialiter ist alles politisch und zugleich nichts: Worin bestand es zum Beispiel in der Spiegel-Affäre? In einigen geheimnisvollen Telefongesprächen; in der Wirkung eines Reporters; in der Verhaftung von Bürgern; in Demonstrationen; in Fernseh- und Rundfunkberichten; in Zeitungsartikeln und anderen öffentlichen Stellungnahmen; in Parlamentsdebatten und vielem anderen mehr.

Stofflich lassen sich alle diese Tatsachen und Zusammenhänge auf bestimmte unpolitische Fachzusammenhänge zurückführen: Staatsrecht, Ethik, Straf-

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recht, Journalistik, Massenkommunikation und anderes. Nur ein Phänomen ist nicht darauf zurückzuführen: Der Tatbestand der Kontroverse. Wäre gegen die Maßnahmen gegen das Nachrichtenmagazin kein Widerstand entstanden und hätte auch das Magazin selbst sich nicht widersetzt, wäre die ganze Angelegenheit ein reiner Verwaltungsakt geblieben. Wir schlagen vor, - was sich bereits durch unsere ganze Untersuchung als roter Faden hindurchzog - in Zukunft nur noch in diesem engen, dafür aber jeweils verifizierbaren Sinne von Politischem zu sprechen. Politisch wäre dann das, was in einer Gesellschaff umstritten ist oder wird. Die Auseinandersetzung um die Strafrechtsreform ist dann nicht minder politisch als die Gotteslästerungsprozesse der letzten Jahre oder die Vereinbarung über die Passierscheinfrage in Berlin. Demnach wäre Politik kein eigener Seinsbereich wie Literatur oder das Religiöse, sondern eine Implikation aller Seinsbereiche. Oder anders ausgedrückt: Politik ist kein ontologisch fixierbarer "Gegenstand", sondern ein jeweiliges Problematischwerden der Massenkommunikation.

Wenn diese Definition des Politischen der politischen Didaktik zu Grunde gelegt werden kann, dann haben wir zunächst eine gewisse Sicherheit, im Unterricht nicht unpolitisch zu verfahren, - ein Verdacht, der der politischen Pädagogik, wie wir sahen, immer wieder nicht zu Unrecht entgegengebracht wird. Wir können uns dann auch nicht mehr täuschen lassen von Stoffen, die selbst so politisch seien, daß man sie eigentlich gar nicht unpolitisch behandeln könne. Dagegen wissen wir, daß man an sich so politische Themen wie den Ost-Westkonflikt oder die Spiegelaffäre unpolitisch behandeln kann. Davor schützt niemals der Stoff selbst. Das Ergebnis einer Diskussion der Spiegel-Affäre kann etwa in der politisch irrelevanten Feststellung bestehen, daß die Menschen eben schwache Geschöpfe seien.

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Alles, was wir an "Orientierungswissen" lehren können - historisches, erdkundliches, sozialkundliches Wissen - ist nur potentiell auch politisches Wissen, insofern es nämlich politische Implikationen enthält. Ob diese Implikationen im Bewußtsein realisiert werden oder nicht, hängt davon ab, ob sie angesichts eines Konfliktes sich zum Aktionswissen strukturieren.

Diese Feststellung bleibt nun solange rein formal, wie es nicht gelingt, diese Implikationen näher zu bezeichnen, und zwar sowohl inhaltlich wie auch normativ. Gibt es vielleicht politische "Kategorien", die diesen Anspruch halten können? Lassen sich, subjektiv gesehen, bestimmte Grundfragen bestimmen, die als eigentümlich politische Fragestellungen solche Implikationen von Fall zu Fall mit inhaltlichem Leben füllen? Ließe sich der immer wieder auftauchende Verdacht der "politischen Einseitigkeit", ja der "Unangemessenheit" des politischen Unterrichts entkräften, wenn sich herausstellte, daß eben diese Einseitigkeit dadurch zustande kommt, daß nur bestimmte und zu wenige Kategorien verwendet wurden?

Indem wir im folgenden versuchen, solche Kategorien zu ermitteln, wollen wir gleichzeitig die bisher noch kontroversen Positionen innerhalb der politischen Pädagogik zu einer Synthese zusammenfassen; denn keine der nun folgenden Kategorien ist neu in der Diskussion, neu ist lediglich die Art und Weise der Zusammenfassung. Es geht also um "eine Art Koordinatensystem des Nachdenkens" (1)

1. Situation

Diese Kategorie ist bereits eingegangen in unsere Erörterung zur Rolle des "Einstiegs" und der Aktualität. Politische Entscheidungen sind hinsichtlich ihres Anlasses wie hinsichtlich ihrer Folgen konkrete und einmalige Entscheidungen. Die objektiven Konflikt-

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te werden nur konkret manifest, die "Spiegel-Kontroverse" etwa in den Maßnahmen, die sie auslösten und mit denen darauf geantwortet wurde. Die Beschäftigung mit objektiven Konflikten in ihrer abstrakten Allgemeinheit bliebe unpolitisch, würde sie nicht mit der Genauigkeit eines am Detail orientierten Unterrichts verbunden. Der pädagogische Gewinn einer Auseinandersetzung mit der Spiegelkontroverse liegt also nicht nur in der Aufdeckung des objektiven Widerspruchs von Staatsschutz und Pressefreiheit, sondern ebensosehr in der genauer Verfolgung dessen, was sich hier wirklich ereignet hat. Das politische Bewußtsein soll sich ja letztlich nicht an jenem abstrakten Konflikt engagieren - wo es über ein bloßes "sowohl als auch" nicht hinauskommen könnte - sondern an eben dieser Auseinandersetzung, wie sie so und nicht anders zur Entscheidung stand. Politische Entscheidungen können sich immer nur auf konkrete Situationen beziehen. Wir haben gesehen, wie gerade unsere Oberschüler sich den Blick für die politische Wirklichkeit dadurch verbauten, daß sie - jedenfalls zunächst - nicht bereit waren, ihr Wissen und Denken am konkreten Ereignis zu disziplinieren. Die überlieferte Bildung war ja insgesamt hilflos gegenüber dem politischen Detail, eben weil sie dafür keine Kategorien entwickelt hatte. Hier dürfte in der Tat auch heute noch einer der Hauptgründe dafür liegen, daß der politische Unterricht der Oberschulen die politische Bewußtheit so wenig gefördert hat. Auch die Rahmenvereinbarung hat, wie wir sahen, diesen Teil des Problems nicht nur nicht erkannt, sondern durch die großangelegte Tendenz der "übergreifenden Gehalte" nur weiter aus dem Blick gebracht. Es ist nicht einzusehen, warum der politische Unterricht nicht sich dem Detail (und das heißt immer: der politischen Aktualität) verpflichten soll, während andere Fächer wie Deutsch und Geschichte gera-

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de darin einen ihrer wesentlichen Bildungsaufträge sehen. Dabei ist die noch offene, ungelöste Gegenwartssituation nicht austauschbar etwa mit den konkreten Analysen des Geschichtsunterrichts. Das sogenannte "genetische Prinzip", historische Gewordenheiten auf den Prozeß ihres Werdens zurückzuführen, ist sicherlich eine gute Vorübung für das, was wir hier meinen. Aber niemals kann die historische Analyse - etwa der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges - den Ernstfall des möglichen dritten Weltkrieges ersetzen. Während man im Geschichtsunterricht weiß, wie es ausgegangen ist, weiß man eben nicht, ob die Kubakrise oder der Streit um Berlin gut ausgehen. Dieses Moment des Ernstes und der Gefahr darf aus dem politischen Unterricht nicht hinausoperiert werden. Die didaktische Kategorie der "Situation" soll das unter anderem verhindern.

2. Macht

Die Kategorie der Macht hat in den bisherigen Diskussionen der politischen Bildung eine erhebliche Rolle gespielt. Viele Autoren äußerten die Befürchtung, daß der Macht- und Kampfcharakter des Politischen übersehen werden könne. Die aus der Tradition des deutschen Idealismus und der Romantik stammende Philosophie der Macht wurde damit wieder aufgegriffen. Es zeigte sich allerdings, daß damit eine ganz bestimmte Sicht nicht nur der Macht, sondern auch des Politischen gemeint war.(2) Man erinnerte an den Ambivalenzcharakter der Macht, an die Dialektik zum Recht. Charakteristisch für diese Äußerungen war, daß sie in der Regel das Phänomen der Macht an die Institution des Staates ketten wollten. Die Einwände ergaben sich denn auch vor allem aus dem Hinweis, daß Macht heute ein so totaler Faktor des politisch-gesellschaftlichen Lebens sei, daß der Rekurs auf ihre staatliche Seite das Bild des

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Politischen erheblich verfälschen müßte.(3) Auch nur eine flüchtige Betrachtung der politischen Wirklichkeit erweist in der Tat, daß jene Beschreibungen zu kurz greifen. Der Druck handfester Machtansprüche reicht heute von dem "Trommelfeuer" der Wirtschaftsreklame über die Gesetzgebung bis zu den allmächtigen staatlichen Verwaltungen. Selbst die spontane und gleichzeitig manipulierte "öffentliehe Meinung", in der sich Machtansprüche immerwährend reproduzieren, stellt eine Machtform dar, der der Einzelne sich kaum entziehen kann, von der Macht alltäglicher "Rollenerwartungen" ganz zu schweigen. Die Möglichkeiten, gesellschaftlichen Gehorsam zu erzwingen, haben zugenommen und durchwalten das ganze Gefüge des öffentlichen Lebens. Ob und unter welchen Bedingungen staatliche Macht einen wenigstens moralischen Vorrang einnimmt, kann vorweg nicht einfach durch philosophische Spekulation entschieden werden, Wir müssen uns im politischen Unterricht darauf beschränken, die Frage nach der Macht unter anderen Fragen zu stellen, als eine

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wichtige und unerläßliche, aber keineswegs ausreichende. Sie muß sich dabei auf alle Formen des Gehorchensollens erstrecken, soweit sie von allgemeiner gesellschaftlicher Relevanz sind.(4)

3. Recht

Alle politischen Entscheidungen bewegen sich innerhalb rechtlich fixierter Zusammenhänge. Der Respekt vor ihnen ist nicht nur eine für einen "Rechtsstaat unabdingbare moralische Forderung, vielmehr gehört die Kenntnis der rechtlichen Zusammenhänge auch zu jenen Tatsachenkomplexen, ohne deren Klärung im konkreten Fall kein Urteil entstehen kann".(5) Aber Rechtslagen sind in der Regel änderbar, wenn auch nicht willkürlich zu umgehen. Es genügt also nicht, den Tatbestand einer rechtlich fixierten Situation hinzunehmen, er muß vielmehr auch von anderen Kategorien, etwa der Menschenwürde, befragt werden.(6) Zur Kategorie des Rechts gehören aber nicht nur die positiv fixierten Rechtszusammenhänge, sondern vor allem auch alle normativen "Selbstverständlichkeiten". Auch sie müssen damit rechnen, im Falle des Konflikts von der öffentlichen Diskussion in Zweifel gezogen zu werden. Sie geraten dann ins Bewußtsein und müssen sich ebenso der rationalen Überprüfung stellen wie die Begründungen für das politische Handeln auch.

4. Konflikt

Der politische Unterricht sieht politisch-gesellschaftliches Geschehen immer unter dem Aspekt der Auseinandersetzung zwischen Menschen. Wir bringen mit dieser Kategorie nur auf dem Begriff, was der materialen Entscheidung bereits zu Grunde lag, indem wir aktuelle politische Kontroversen als den

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eigentlichen Gegenstand des politischen Engagements und Erkennens ansahen, In der Spiegel-Kontroverse lag der Konflikt im Widerspruch von Staatsschutz und Pressefreiheit bzw. zwischen den ihn repräsentierenden Personen beschlossen. Die Konflikte sind also allgemeiner Natur, sie können demnach auch durch neue aktuelle Auseinandersetzungen wieder aufbrechen. In der Soziologie hat man versucht, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen mit Hilfe einer "Konflikt-'Theorie" zu deuten.(7) Die Tatsache, daß es wenigstens vorläufig nicht möglich ist, die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Konflikte zu einer einheitlichen Theorie zusammenzufassen, wie Dahrendorfs Ansatz zeigt, soll uns hier nicht weiter stören, da es uns nicht um fachwissenschaftliche Systematik geht. Mit dieser Kategorie tragen wir den Bemühungen Litts und Wenigers Rechnung, das Politische wesentlich als Auseinandersetzung zu begreifen, um den Andersdenkenden nicht als "Abweichler" zu denunzieren. Im Sinne von Dahrendorfs Begriffsbestimmung gelten uns hier die Konflikte als "objektive", d.h. nicht nur als unabhängig von ihrer Bewußtheit, sondern auch als unabhängig von ihrer "Manifestation".(8) Daß sich politische Bildung heute auf die Annahme des Konfliktcharakters des politischen Lebens stützen kann, ohne den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sprengen, führt Dahrendorf darauf zurück, daß sich die Gegensätze der Klassengesellschaft so vermindert haben, daß ihre "Institutionalisierung" und damit eine Regelhaftigkeit ihres Austrags möglich geworden sei. "Wer eine Gesellschaft ohne Konflikte herbeiführen will, muß dies mit Terror und Polizeigewalt tun; denn schon der Gedanke einer konfliktlosen Gesellschaft ist ein Gewaltakt an der menschlichen Natur".(9)

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5. Funktionszusammenhang

Diese Kategorie sucht der Tatsache Rechnung zu tragen, daß unter modernen politisch-soziologischen Bedingungen alle politischen Einzelaktionen und -situationen auf zahlreiche andere einwirken, daß es also in der arbeitsteiligen Gesellschaft keine isolierten politisch-gesellschaftlichen Erscheinungen gibt. In dieser Kategorie kommt sachlich wie ethisch das Ganze des politischen Zusammenlebens in den Blick. Sie enthält zudem die Forderung, die Verantwortung für Folgen zu übernehmen, die durch eine politische Maßnahme oder Unterlassung im Rahmen des Ganzen hervorgerufen werden. "Politische Bildung verlangt Klarheit über den dynamischen Zusammenhang des Ganzen der Politik ... . Erkennen zu können, was wichtiger ist, darauf kommt es an".(10) Mit dieser Kategorie kommt auch der Begriff des Gemeinwohls in den Blick. Nur daß er hier seiner abstrakten Allgemeinheit entkleidet und der Versuchung der Inanspruchnahme für partikulare Zwecke enthoben wird. Statt dessen wird er als Produkt eines ständig zu überprüfenden politischen Prozesses verstanden. (11)

Die wertvollste Hilfe der Wissenschaften für die politische Urteilsbildung liegt zweifellos in ihrer Möglichkeit, die Art und Weise des Zusammenhangs der politischen Erscheinungen material zu konkretisieren. Je mehr die ökonomischen und sozialen Wissenschaften in der Lage sind, Wirkungen und Folgen von Maßnahmen oder Unterlassungen im Ganzen des menschlichen Zusammenlebens mit hinreichender Genauigkeit vorauszusehen, um so mehr kann das politische Bewußtsein auch diese Wirkungen und Folgen in seine Verantwortung übernehmen. Es ist zu erwarten, daß

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die Rationalisierung des Politischen vor allem in diesem Aspekt noch sehr viel weiter fortschreiten wird, daß die Möglichkeiten sorgfältiger Datenverarbeitung noch keineswegs erschöpft sind.

6. Integration

Unter der Kategorie der "Integration" können wir die folgenden drei Kategorien des "Interesses", der "Solidarität" und der "Mitbestimmung" zusammenfassen. Sie haben alle unmittelbar die Art und Weise des Einbezogenseins der Menschen in die apparathaften Zusammenhänge der modernen Gesellschaft zum Inhalt.

a) Interesse

Die Kategorie des subjektiven Interesses hat es aus Gründen, auf die schon Oetinger eindringlich hingewiesen hat (12), im allgemeinen Bewußtsein der politischen Bildung am schwersten sich durchzusetzen. Nicht zu Unrecht setzt hier ein Teil der politikwissenschaftlichen und soziologischen Kritik an der politischen Bildung ein. Für Sontheimer etwa ist ein Denken, das von den konkreten Interessen abstrahiert, "unangemessen" "und begünstigt nur jene, die ihre Parteiinteressen verabsolutieren und dann als Herrschaft einer einzigen Machtgruppe ... das Gemeinwohl unangefochten deklarieren wollen." (13) Adorno fordert von der politischen Pädagogik den einleuchtenden Verweis auf die unmittelbaren Interessen.(14)

Nun ist natürlich im politischen Unterricht allenthalben von Interessen die Rede, vor allem in der Formel von den "Interessenverbänden". Es ist aber ein Unterschied, ob solche Interessen lediglich als eine Art verobjektiviertes Gegenüber dem Jugendlichen vorgestellt werden, als hätte er zu ihnen selber keinen Bezug, oder ob die Jugendlichen

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von der politischen Pädagogik selbst dazu ermuntert werden, ihre eigenen Interessen zu ermitteln und nach den Chancen der Verwirklichung sich umzusehen. Dabei kann es keinen Zweifel daran geben, daß politische Beteiligung und Verantwortung nur dort sinnvoll übernommen werden kann, wo dem ein subjektives Interesse zu Grunde liegt - ein Zusammenhang, der in der Lerntheorie längst Gültigkeit erlangt hat. Interessen sind gleichsam die subjektive Seite von Politik, und wenn man die Grundrechte des Grundgesetzes nicht abstrakt, sondern in ihrer historischen Entstehung interpretiert - als einen gewissen Abschluß der Phase des Klassenkampfes und der Emanzipation -, dann versteht sich politische Beteiligung vornehmlich als das Recht, die je individuellen Interessen ins politische Spiel zu bringen. Der Begriff des Interesses muß dabei weit gefaßt werden. Er betrifft alle persönlichen Wünsche - nicht nur die materiellen -, deren Erfüllung irgendwie an politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, also nicht allein im Bereich der persönlichen Lebensführung zu erreichen ist. Unsere Kategorie des Interesses bezieht sich also nicht bereits auf die gesellschaftliche Objektivierung - diese äußert sich u.a. in den Konflikten - sondern aufs je einzelne Individuum. Im Hinblick auf die politische Jugendbildung könnte der Einwand erhoben werden, Jugendliche hätten angesichts ihrer noch nicht festgelegten sozialen Stellung auch keine oder jedenfalls nicht gravierende Interessen zu vertreten. Das trifft für Lehrlinge und berufstätige Jugendliche schon weniger zu als etwa für Oberschüler. Wichtiger aber ist die Erfahrung, daß Jugendliche in der Regel die politischen und sozialen Interessen ihrer Familien oder auch ihrer sozialen Schicht zu ihren eigenen machen, - wie wohl überhaupt solche Interessen zwar je individuell artikuliert werden, aber jeweils auf soziale Beziehungen zurückverweisen.

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In den meisten Fällen aber werden die Interessen von den Jugendlichen gar nicht artikuliert, sondern sogar schlechterdings geleugnet. Sie unterliegen dabei einem Trugschluß, den aufzuhellen vielleicht die wichtigste Aufgabe des politischen Unterrichts ist. Sie haben nämlich sehr wohl "politische" Interessen, nur merken sie oft nicht, daß sie sie in illusionärer Verkennung in der rein persönlichen Lebensführung für erreichbar halten, daß sie in Wahrheit sich unentwegt Versagungen leisten, die sie dann auf Befragung für ihre Interessen halten. So personalisieren sie etwa Konflikte am Arbeitsplatz, als ob der jeweilige Vorgesetzte schuld an der objektiven Zwangslage sei, deren Opfer er doch nur in gleicher Weise ist. Oder sie glauben noch uneingeschränkt an den unaufhaltsamen Aufstieg des Tüchtigen.

Wie sehr scheinbar private Konflikte des Alltags auf objektive Widersprüche zurückzuführen sind, haben wir an einigen unserer eigenen Unterrichtserfahrungen zu demonstrieren versucht. Wie schwer es andererseits ist, aus dem Wust der von außen unermüdlich angesonnenen Interessen das, was man nun wirklich will und wünscht, wieder herauszufiltern, ist jedem bewußt, der sich um möglichst autonome politische Urteile bemüht. Wir hatten bei der Betrachtung der Rahmenvereinbarung kritisiert, daß dort wie in allen Bildungsplänen immer nur abstrakt von der "Aufgabe Demokratie" gesprochen wird und die autonome Urteilsbildung immer gleich auf dieses Abstraktum hin ausgerichtet werden soll. Wenn aber damit nicht immer auch die autonome Beurteilung des je individuellen Interesses gemeint ist, dann bleibt jene Autonomie eine Forderung, die sich letztlich auch wieder nur gegen die Interessen des Einzelnen und damit für andere einsetzt.

b) Mitbestimmung

Die Mitbestimmung ist Grundsatz des Grundgesetzes. Sie gehört im umfassenden Sinne zu den Postulaten

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unserer demokratischen Gesellschaft, und zwar für alle Bereiche des politisch-gesellschaftlichen Lebens. Deshalb darf sie als kategoriale Voraussetzung politischer Situationen und Aktionen gelten. Wendet man sie konkret an, d.h. auf eine bestimmte politische "Situation", so ermöglicht sie die Unterscheidung zwischen illusionären und realistischen Möglichkeiten. Sie legt dann auch gesellschaftskritische Aspekte frei, insofern die Gesellschaft Möglichkeiten der Mitbestimmung vorenthält, die sie im Grundgesetz wenigstens dem Sinne nach verspricht.

Von Mitbestimmung kann aber nur sinnvoll gesprochen werden, wenn es sich dabei um die Durchsetzung von Interessen handelt, die man selbst bewußt vertritt. Deshalb sind diese beiden Kategorien notwendig auf einander bezogen. Die eine wird sinnlos ohne die andere. Insofern alle Erziehungsfelder auch Felder gesellschaftlicher Strukturen sind, gilt auch für sie das Postulat der Mitbestimmung. Eine Schule oder eine Tagungsstätte, die nicht in geeigneter Weise die Mitbestimmung der Schüler oder Tagungsteilnehmer ermöglicht, kann auch im Unterricht nicht überzeugend für sie eintreten.

c) Solidarität

Diese Kategorie zielt auf einen durchgehenden Tatbestand des Politischen. Jede politisch-gesellschaftliche Aktion nützt bestimmten Gruppen und benachteiligt gleichzeitig andere. Andererseits kann der Einzelne heute nicht mehr allein seine Interessen und Wünsche realisieren. Er bedarf dazu der Hilfe einer oder mehrerer Gruppen. Im Anschluß an W. Besson geben wir diesem Sachverhalt jenen positiven Akzent, den der Begriff "Solidarität" ausstrahlt. Der moderne Mensch "lebt in der ständigen Sorge, seine Funktion einmal (z.B. wenn er älter wird) nicht mehr ausreichend erfüllen zu können, oder durch die sich immer weiter fortsetzenden Wandlungen der Produktionsverhältnisse isoliert zu werden und dadurch

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sozial abzusteigen. In dieser Urangst das technischen Menschen liegt der psychologische und soziologische Ursprung der Interessenverbände. Sie sind die politische Manifestation der Solidarität der an den verschiedenen Orten der technischen Welt an ihr Leidenden. Der Gedanke der sozialen Solidarität, ausgedrückt durch die Organisationsformen des modernen Interessenverbandes, ist die Abwehrwaffe der Ohnmächtigen und Abhängigen, der in der technischen Welt Mühseligen und Beladenen".(15)

Wenn aber die gesellschaftlichen Gruppen nicht nur technisches Prinzip sind, die jeweilige politische Beteiligung zu vermitteln, sondern darüber hinaus jene moralische Bedeutung haben, von der Besson spricht, dann können sie umgekehrt auch seitens der Individuen eine gewisse Loyalität erwarten. Neben die Bestimmung des eigenen Interesses als der wichtigsten politischen Leistung des Individuums tritt darum die Identifikation mit den Gruppen, denen es jeweils seine Interessen anvertrauen kann. Beide Leistungen könne ohne Hilfe der politischen Pädagogik nicht erreicht werden. In dem Maße, wie die Klassengesellschaft sich nivelliert und die lebenslange Zugehörigkeit zum Schicksal einer einzigen sozialen Gruppe sich lockert, erstreckt sich die Solidarität immer stärker auf mehrere, möglicherweise konkurrierende Gruppen.

In unserem Modellfall der Spiegel-Kontroverse z.B. erklärten sich Gruppen und Einzelpersonen mit dem Presseorgan solidarisch, die sonst zu seinen Gegnern zählten und inzwischen auch wieder zu Gegnern wurden. Die Identifikation des eigenen Interesses mit einer gesellschaftlichen Partikularität - einschließlich der politischen Parteien - ist also kein einmaliger Akt des Individuums, sondern ein ständiger Prozeß mit häufig wechselndem Partnern.

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Vielleicht ist heute überhaupt die Möglichkeit des Wechsels der Solidarität die wirksamste Form politischer Beteiligung. Jedenfalls gehört zum politisch bewußten Staatsbürger die Fähigkeit, die Vertretung seines Interesses ständig kontrollieren zu können. Angesichts dieses nüchternen Zusammenhangs kann Lembergs pathetischer Verweis auf überindividuelle Gebilde, insbesondere die Nation, nur als unangemessen gelten.(16)

7. Ideologie

Diese Kategorie unterwirft Begründungen für das politische Handeln einer rationalen Kontrolle. Alles politische Handeln wird schon deshalb immer mit Begründungen versehen, weil, selbst in totalitären Staaten, Menschen dafür gewonnen werden müssen. In der pluralistischen Gesellschaft gehen solche Ordnungsvorstellungen in der Regel von bestimmten sozialen Gruppen aus, erstrecken sich aber auf die Gesamtheit der Gesellschaft. Die Doppelbödigkeit des Ideologiebegriffes, Verdeckung des partikularen Interesses und Theorie für die Ordnung des Ganzen, müßte sich in der Relation zur Kategorie der Solidarität ergeben. Es kommt für die politische Beurteilung auf beide Seiten an: Keine politische Aktion erfolgt letztlich ohne ein Minimum an Ordnungsvorstellungen. Jede politische Aktion aber droht gerade diese Theorien zum Vorwand zu machen. Mit der Kategorie der Ideologie bedient sich der Staatsbürger der Erkenntnisse der Ideologiekritik, um seine Interessen wie seine erfolgreiche Interessenvertretung jeweils neu ermitteln zu können.

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8. Geschichtlichkeit

Zu fragen wäre hier nach der Dimension des Geschichtlichen, insofern sie einen Konflikt mitbestimmt oder geradezu mit begründet. Diese Frage öffnet eigentlich erst den Horizont fürs Aktuelle und darf kein einziges Mal unterschlagen werden. Dabei geht es nicht um einen Geschichtsunterricht aus Anlaß eines politischen Konflikts, sondern um die Bereitstellung des historisch Gewußten unter einem spezifischen Aspekt, der allein niemals einen Geschichtsunterricht begründen könnte. Keine wesentliche politisch-gesellschaftliche Streitfrage unserer Tage ist als solche begreifbar ohne diesen historischen Aspekt. Der Verzicht auf ihn müßte also von vornherein den Sinn des politischen Unterrichts in Frage stellen. Der Verlust des historischen Bewußtseins als der Verlust der historischen Dimension unseres Daseins führt auch zum Verlust des demokratischen Selstverständnisses. "Idee und Wirklichkeit fortschrittlichen Zusammenlebens sind ja nicht Produkt des Gegensatzes von kommunistischer und nichtkommunistischer Welt, sondern viel tiefer in der Vergangenheit unseres Kulturkreises verwurzelt". (17) Streng genomen muß die Kategorie der Geschichtlichkeit auf alle übrigen Kategorien selbst wiederum angewandt werden. Eine ideologische Begründung etwa für eine politische Maßnahme ist überhaupt wohl nur durch einen Rückgriff auf ihren historischen Entstehungszusammenhang angemessen zu verstehen. Aber hier geht es zunächst ganz vordergründig um die Kontinuität des Faktischen. In welcher Weise sie politisch bedeutsam ist, hängt wesentlich davon ab, wie sie im Bewußtsein der Zeitgenossen verankert ist. Wenn z.B. die Erinnerung daran, wie in der jüngsten Vergangenheit eine freiheitliche Gesellschaft in Diktatur umschlug, verloren geht, geht auch die Möglichkeit weitgehend verloren, diktatorische Tendenzen in der Gegenwart frühzeitig zu erkennen.

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Von dieser Sicht der Kategorie der Geschichtlichkeit her können wir nun noch einmal die Frage nach dem Verhältnis von politischer und historischer Bildung aufgreifen. Unter der politischen Kategorie der Geschichtlichkeit kann immer nur von einer politischen Verlegenheit der Gegenwart her in die Geschichte zurückgefragt werden. Die Antworten aber, die die Geschichte im Einzelfalle darauf bereit hält, hängen unter anderem davon ab, ob das historische Bewußtsein der Fragenden das, was jeweils gebraucht wird, übersteigt oder nicht. Wenn also auf der Ebene des historischen Bildungswissens nur das zu finden ist, was für die Aktualität der Gegenwart Bedeutung hat, dann gerät das historische Wissen gerade in die Versuchung, als Legitimation für aktuelle Entscheidungen mißbraucht zu werden. Unter dem Aspekt des historischen Bildungswissens ist also nicht nur wichtig, was bestimmte historische Erscheinungen und Erfahrungen für die Gegenwart bedeuten, sondern auch, was die Gegenwart vor dem Anspruch bereits vorliegender historischer Erfahrung bedeutet. Die Bedenken, die man gegenüber der neuen Fächerkombination aus dem Anspruch einer vor der Gegenwart autonomen historischen Bildung vorgebracht hat, sind demnach auch Plädoyers für eine recht verstandene politische Unterrichtung.

9. Menschenwürde

Die Kategorie der Menschenwürde ergibt sich wiederum aus den Maximen der Grundrechte und prüft politische Aktionen und Situationen daraufhin, in welcher Weise sie auf die davon betroffenen Menschen einwirken. (18)

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In ihr kann man die einzelnen Grundrechte wohl zusammenfassen, so daß wir sie hier nicht als einzelne Kategorien aufführen müssen. Ihre Begründung bereitet einige Verlegenheit. Sind sie "naturrechtlich" zu begründen? Dann müßte die Achtung vor den Grundrechten allen denen Schwierigkeiten bereiten, die sich der naturrechtlichen Auffassung nicht anschließen können, mehr noch, diese Menschen müßten "logisch" als Feinde der Verfassung gelten. Sieht man die Grundrechte als bloße Vereinbarung an, dann beanspruchen sie recht wenig Verbindlichkeit, denn Vereinbarungen sind aufkündbar. Trotz der Schwierigkeiten einer grundsätzlichen Begründung ist fast jedermann klar, daß die Grundrechte die Maßstäbe für politisches Handeln in den modernen Großgesellschaften sein müssen. Denn selbst kommunistische Länder, wie die DDR, können wenigstens verbal nicht auf sie verzichten. Uns scheint, daß die Verlegenheit einer so grundsätzlichen Bestimmung der Grundrechte zu umgehen ist, wenn man sie als Produkt eines historischen Prozesses versteht. Alle fortgeschrittenen Gesellschaften haben sie als Ergebnis einer historischen Erfahrung formuliert und für sich als verbindlich erklärt. Für ihre politische Wirksamkeit ist nicht so wichtig, ob ihre Begründung nun auch noch ontologisch zu gewinnen ist. Knüpft sich an sie eine ihrer Natur nach notwendig spekulative Diskussion übers Sein des Menschen, so besteht umgekehrt die Gefahr, daß unter dem scheinhaften Anspruch von Philosophie Normen wegdisputiert werden, die der historischen Erfahrung gerade unseres Jahrhunderts in der Tat als "unveräußerlich" gelten müssen - wie es im Grundgesetz heißt.

Die Hauptschwierigkeit besteht vielmehr darin, daß die Normen der Grundrechte auf keinen Fall abstrakt vorgeführt werden dürfen. Nicht nur sind sie auf diese Weise den Jugendlichen nicht einsichtig und begreiflich zu machen, vielmehr geht auch ihre

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politische Bedeutung verloren - wie gerade das Beispiel der DDR zeigt -, wenn man sie nicht als Maßstab konkreter Politik versteht. Sie legitimieren erst in zweiter Linie demokratische Formalitäten, in erster Linie und substantiell beziehen sie sich auf das konkrete Dasein konkreter Menschen. Auch politische Unterlassungen können demnach gegen die Menschenwürde verstoßen.

10. Drei Voraussetzungen für die Brauchbarkeit der Kategorien

Diese Kategorien können nur dann sinnvoll für den politischen Unterricht sein, wenn sie drei Bedingungen erfüllen.

a) Sie müssen alle in jedem politischen Konflikt enthalten sein bzw. als Fragen an ihn gestellt, zu sinnvollen Antworten führen. Es muß also zutreffen, daß in jeder aktuellen Auseinandersetzung von politischem Gewicht sich darüber hinausgehende Konflikte repräsentieren; daß ein solcher Konflikt dennoch nicht allgemein, sondern konkret entschieden wird (Situation); daß in jeder Auseinandersetzung wenigstens mittelbar das Interesse eines jeden Bürgers getroffen wird; daß der Bürger Möglichkeiten der Mitbestimmung hat; daß er nur in Solidarität mit einer Gruppe diese Mitbestimmung wahrnehmen kann; daß jede politische Entscheidung ausgesprochen oder unausgesprochen mit einem auf das politische Ganze zielenden Begründungszusammenhang versehen ist (Ideologie); daß jede politische Entscheidung in der Kontinuität eines faktischen Zusammenhangs steht (Geschichtlichkeit); daß sie in einem positiven Rechtszusammenhang steht; daß sie, obwohl immer partikular im politischen Geschehen angesetzt, immer auch andere Teile des Funktionszusammenhangs und damit das ganze System verändert; daß sie immer konkrete Daseinsbedingungen von Menschen verändert (Menschenwürde); daß alle politischen Beziehungen solche der Macht sind.

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b) Die zweite Voraussetzung ist, daß die in diesen Kategorien beschlossenen Werteinstellungen als solche eines Konsensus der ganzen Gesellschaft angesehen werden können; denn es ist diesen Kategorien eigentümlich, daß sie die politische Wirklichkeit nicht nur analytisch befragen, um Sachverhalte zu ermitteln, sondern daß zugleich diese Sachverhalte mit einem Wertakzent versehen werden, der letztlich Grund der Fragestellung ist. Diese Werthaltungen lassen sich etwa folgendermaßen skizzieren: Daß Menschen im politischen Raum kontrovers zu einander stehen, ist kein Mangel ihrer moralischen Konstitution, sondern definiert ihre Würde mit (Konflikt); kontrovers im politischen Raum zu einander stehende Menschen haben Anspruch darauf, daß ihre Gegnerschaften auch so verstanden werden, wie sie sie selbst im Augenblick meinen (Situation); es konstituiert die einmalige Personalität der Menschen, daß sie individuelle Wünsche haben und diese im politischen Geflecht durchsetzen wollen (Interesse); daß jeder Bürger in allen Bereichen des politisch-gesellschaftlichen Lebens reale Möglichkeiten hat, seine Wünsche soweit wie möglich zu verwirklichen, ist ein moralischer Sinn des Grundgesetzes (Mitbestimmung); daß diese Realisierung nur möglich ist in Zusammenarbeit mit anderen Menschen gleicher Interessenlage, ist nicht nur notwendiges Übel in einer hochdifferenzierten Gesellschaft, verweist vielmehr auch auf eine ethische Dimension des Menschen als eines Sozialwesens (Solidarität); daß menschliches Denken über Politik immer auch vital besetzt ist und sich untrennbar mit den eigenen Hoffnungen, Wünschen und Interessen verbindet, macht seinen Anspruch, auf der Ebene der rationalen Argumentation ernst genommen zu werden, nicht geringer und enthält von da aus erst die Chance, sich für humane Aspekte zu öffnen (Ideologie); daß alle Entscheidungen in der Kontinuität eines faktischen Zusammenhangs stehen, ermöglicht den

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Menschen, Erfahrungen aufzuspeichern und damit die Möglichkeit irrtümlicher und inhumaner Entscheidungen zu verringern (Geschichtlichkeit); die Respektierung rechtlicher Festsetzungen dient auch dann dem öffentlichen Frieden, wenn sie im einzelnen ungerecht sind und auf den dafür vorgesehenen Wegen geändert werden sollten (Rechtlichkeit); unabhängig von der Frage der Legitimität ist die Anwendung von Macht aller Art nicht nur notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern auch das wesentliche Instrument dafür, daß menschliche Verhältnisse verbessert werden können; der Anspruch eines jeden Menschen, in einem höchstmöglichen Maß auch Subjekt seiner Lebensbedingungen zu sein, ist ein moralisches Hauptanliegen der demokratischen Grundrechte (Menschenwürde); daß alle politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungen miteinander zusammenhängen, ist die sachliche Voraussetzung dafür, die Durchsetzung von Interessen mit einem Höchstmaß an Verantwortlichkeit für das Ganze, und das heißt immer für andere Menschen,wahrnehmen zu können (Funktionszusammenhang).(19)

c) Die unterrichtliche Voraussetzung unserer Kategorien ist, daß sie sich angesichts des konkreten Unterrichtsgegenstandes in sinnvolle Leitfragen umwandeln lassen, die in ihrer allgemeinsten Form etwa

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folgendermaßen formuliert werden können: Worin besteht bei einer politischen Situation (20) oder Aktion die Gegnerschaft (Konflikt)? Worum geht es im einzelnen bei dieser Auseinandersetzung (Situation)? Welchen Vorteil habe ich von einer Situation oder Aktion (Interesse)? Wie kann ich angesichts einer Situation oder Aktion meinen Einfluß geltend machen (Mitbestimmung)? Welcher Gruppe nützt eine politische Situation oder Aktion (Solidarität)? Welche Ordnungsvorstellungen liegen einer Situation oder Aktion zu Grunde (Ideologie)? Welche geschichtlichen Auseinandersetzungen kommen in einer Situation oder Aktion zum Ausdruck (Geschichtlichkeit)? Welcher Zwang kann zur Aufrechterhaltung einer Situation und zur Durchsetzung einer Aktion angewandt werden (Macht)? Welche Rechtsbestimmungen werden durch eine politische Situation oder Aktion verletzt (Recht)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf andere Situationen oder Aktionen ein (Funktionszusammenhang)? Wie wirkt eine Situation oder Aktion auf die davon unmittelbar oder mittelbar betroffenen Menschen (Menschenwürde)?

Wir behaupten nun, daß sowohl über die sachlichen wie moralischen Implikationen dieser Kategorien Übereinstimmung in unserer Gesellschaft hergestellt werden kann. Dies liegt natürlich an ihrer formalen Allgemeinheit. Wenn diese Hypothese zutrifft, müssen die Stellen präzisiert werden, an denen die Meinungsverschiedenheiten einsetzen, die uns ja im politischen Alltag unentwegt entgegentreten. Zuvor aber muß noch einiges zu den Kategorien selbst gesagt werden. Die in ihnen enthaltene Kombination von analytischem und wertmaterialem Charakter zeigt, daß es sich bei ihnen nicht um fachwissenschaftliche Kategorien handeln kann. Zum Ethos des wissen-

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sohaftlichen Fragens gehört, die Trennung von Analyse und Bewertung soweit möglich immer wieder zu vollziehen. Dies gilt auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit politischen Fragestellungen.

Das Interesse des Staatsbürgers hingegen an politischen Fragen ist ein ganz anderes. Er will nicht nur zutreffende Informationen erlangen, sondern zugleich auch immer einen Hinweis darüber, was diese Informationen für sein politisches Selbst- und Weltverständnis bedeuten. Es handelt sich bei diesen Kategorien demnach um pädagogische - insofern sie nämlich dem anthropologischen Zusammenhang von Wille und Erkenntnis, Verstand und Gefühl entsprechen. Wir müssen es uns hier leider versagen, auf einen Vergleich zum moralischen Selbstverständnis eines totalitären, z.B. kommunistischen Staates einzugehen. Er würde aber zeigen, daß die meisten, wenn nicht alle moralischen Implikationen unserer Kategorien dort nicht gelten. Wenn diese moralischen Implikationen allgemeine Zustimmung finden können, dann repräsentieren sie gewissermaßen das moralische Potential unserer Gesellschaft, aber in der Weise, daß dieses nicht in einer abstrakten Gegenüberstellung zum Totalitarismus sozusagen "ein für alle Mal" festgestellt wird, sondern indem es in der konkreten Auseinandersetzung mit konkreten Konfliktstoffen immer wieder zurückermittelt wird.

Dabei erheben unsere Kategorien keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie könnten durchaus ergänzt, kaum aber reduziert werden. Zu bedenken ist dabei, daß eine Vermehrung der Kategorien den politischen Unterricht leicht unpraktikabel machen würde, während ihre Reduktion die Sachverhalte allzu sehr verengen müßte. Ob also eine Interpretation eines politischen Sachverhaltes als angemessen gelten kann, hängt von

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der Anzahl der angewendeten Kategorien ab. Keine einzige von ihnen garantiert für sich genommen ein angemessenes Verständnis des Politischen. Die Kategorien lassen sich auch nicht weiter in einen systematischen Zusammenhang bringen. Auch die Reihenfolge, in der wir sie erläutert haben, ist beliebig, weshalb wir sie auch mehrmals änderten. Deshalb lassen sie sich auch nicht voneinander ableiten. Sie sind gegeneinander autonom. Welche von ihnen im konkreten Falle eine dominante Bedeutung hat, kann nicht vorweg durch eine logische Analyse entschieden werden. Grundsätzlich stehen sie nur im Zusammenhang der Interdependenz. Daß sie keinen systematischen Zusammenhang zu einander haben können, erklärt sich aus der Eigenart ihres Gegenstandes, der Unsystematik des Politischen selbst.

11. Die Umformung der Kategorien in Grundeinsichten

Da wir davon ausgehen, daß die in unseren Kategorien beschlossenen Sachverhalte und Bewertungen allen politischen Auseinandersetzungen immanent sind, lassen sie sich nun auch als politische Grundeinsichten, als Ergebnis eines politischen Unterrichts formulieren. Damit kommen wir auf den kritisierten Ansatz von Fischer-Herrmann-Mahrenholz zurück, übernehmen sogar einige ihrer "Grundeinsichten", glauben sie aber überzeugender im Gesamtzusammenhang begründet zu haben. Solche Grundeinsichten lassen sich für Jugendliche etwa folgendermaßen formulieren, wobei zu bedenken ist, daß diese Formulierungen in der Unterrichtspraxis sowohl den Altersklassen angepaßt wie auch im einzelnen je nach der Art des behandelten Gegenstandes ausführlicher dargestellt werden müssen.

1) Was Politik "eigentlich" sei, ist schwer zu sagen. Im Alltag des politischen Lebens zeigt sie sich darin, daß Menschen verschiedene Interessen, Ziele und Wünsche haben, die miteinander im Widerspruch stehen und so aufeinander abgestimmt werden

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müssen, daß Frieden erhalten bleibt. Diese Widersprüche kennzeichnen nicht einen moralischen Mangel des Menschen, sondern seine individuelle, nicht austauschbare Eigenart. (Konflikt)

2) Politische Entscheidungen sind konkrete und einmalige Entscheidungen. Keine politische Situation gleicht einer anderen, mag sie ihr auch noch so ähnlich sehen. Deshalb muß man sich auch im einzelnen informieren, was jeweils zur Debatte steht. Die Menschen, die im politischen Streit miteinander stehen, haben Anspruch darauf, so verstanden zu werden, wie sie es im Augenblick meinen. Der voreilige Versuch, ihre Wünsche und Meinungen durch allgemeine Schlagworte zu deuten, verletzt ihre Würde. (Situation)

3) Politik hat es im wesentlichen mit dem Ausgleich von Interessen zu tun. Die Klarstellung, welche Interessen jemand hat, gehört zu den wichtigsten politischen Entscheidungen, die jeder einzelne für sich treffen muß. Nur wenn jemand seine eigenen materiellen, kulturellen und sozialen Interessen erkannt hat, kann er sinnvoll politische Verantwortung übernehmen oder an andere übertragen. (Interesse)

4) Daß jeder Mensch in allen politischen und gesellschaftlichen Bereichen Möglichkeiten vorfindet, seine Interessen soweit wie möglich zu verwirklichen, ist ein moralischer Sinn des Grundgesetzes. Deshalb ist es immer wichtig zu wissen, wo es solche Möglichkeiten gibt und wo sie vielleicht erst noch geschaffen werden müssen. (Mitbestimmung)

5) Jedes politische Handeln bringt einigen Gruppen von Menschen Vorteile, anderen gleichzeitig Nachteile. Betroffen davon sind also letztlich alle Bürger eines Staates, unter Umstanden auch Bürger anderer Staaten. Kluge Politik wird die Spannung zwischen den Bevorteilten und den Benachteiligten immer in Grenzen halten. Die Behauptung, politisches Handeln könne gerecht gegen alle Betroffenen sein, ist ein Trick totalitärer Regierungen, die Unzufriedenhei-

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ten nur ausnutzen, aber nicht beseitigen können. Andererseits kann der Einzelne nur mit Hilfe anderer Menschen, die die gleichen Interessen vertreten wie er selbst, seine Wünsche in der politischen Wirklichkeit durchsetzen (Solidarität).

6) Politischem Handeln liegt immer eine Vorstellung darüber zu Grunde, wie das Zusammenleben der Menschen geordnet sein soll. Ohne sie könnte es keinen Maßstab für politisches Handeln geben. Diese Vorstellungen können andererseits aber auch dazu dienen, dem notwendigen Egoismus des politischen Handelns den Mantel des Allgemeinwohls umzuhängen. Politisches Urteil wird beide Seiten immer sorgsam unterscheiden müssen. (Ideologie)

7) Alle wichtigen Streitfragen und Interessengegensätze unserer Tage sind älter als wir selbst, sind geschichtlich bedingt. Gerade ihre Verschärfungen können aus früheren Erfahrungen der Väter erwachsen. Diese Erfahrungen zu kennen und zu prüfen ist notwendig für jedes politische Urteil in der Gegenwart. (Geschichtlichkeit)

8) Jedes politische Handeln hat eine "Kettenreaktion" von Ergebnissen zur Folge: Es wirkt sich im Ganzen der menschlichen Gesellschaft aus, obwohl es vielleicht nur auf eine eng umgrenzte Einzelfrage gerichtet war. Die Wirkung, die eine politische Aktion erzielt, kann als Ursache zurückwirken und so die ursprüngliche Absicht zerstören. Die Wirkung kann Folgen haben, die man nicht wollte. Trotzdem müssen sie mit verantwortet worden (Funktionszusammenhang).

9) Alles politische Handeln muß sich auf seine Rechtlichkeit hin befragen lassen. Auch in scheinbaren "Kleinigkeiten" ist es wichtig, daß Rechtsgrundsätze eingehalten werden. Das Rechtsgefühl eines Volkes ist unteilbar: Ein einmal hingenommener Rechtsbruch kann die Rechtssicherheit des Ganzen gefährden. Die umständliche Genauigkeit der Rechtsprechung hat friedenstiftende Wirkung: Man

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muß sich auf sie verlassen können. Wo das Recht keine selbständige Kraft hat wie im totalitären Staat, verliert es diese Wirkung. Rechtlichkeit und Willkür der Regierenden werden eins. (Rechtlichkeit)

10) Über dem Recht, das sich unter anderem in den Gesetzen ausdrückt, steht das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Maßstab für alles politische Handeln ist also der einzelne Mensch. Eine Politik, die Einzelnen Böses antut, kann das nur in Ausnahmesituationen rechtfertigen (Menschenwürde).

11) Jedes politische Handeln hat es mit Macht zu tun, d.h. mit der Möglichkeit, für eine politische Entscheidung Gehorsam von anderen Menschen zu erhalten. Ohne Macht ist die Ordnung des Zusammenlebens nicht aufrecht zu erhalten. Ohne Macht kann aber auch eine Besserung des menschlichen Zusammenlebens nicht erreicht werden. (Macht)

12. Kategorien und "Umgang"

Unsere Kategorien bezogen sich bisher auf Verhältnisse, von denen der Einzelne zwar betroffen ist, deren Zusammenhang aber seinen Erfahrungshorizont grundsätzlich übersteigt. Die Frage ist nun, ob aus der Betrachtung der unmittelbaren menschlichen Zusammenhänge solche Kategorien nicht ebenfalls gesonnen und auf politische Verhältnisse nachträglich angewandt werden könnten. (21)

In der Tat repräsentieren alle unsere Kategorien Probleme menschlicher Beziehungen, die durchaus auch im primären Bereich ihre Gültigkeit haben. Schließlich bleiben politische Beziehungen menschliche Beziehungen, obwohl sie durch die Notwendigkeit der "Vermittlung" ihren Charakter geändert haben. Immer aber, wenn die Gültigkeit im primären Bereich nachgewiesen wird, muß auf die qualitative

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Veränderung in den gesellschaftlichen Bezügen hingewiesen werden. Dieser Zusammenhang sei beispielhaft für die übrigen Kategorien an der Macht dargestellt.

Die Notwendigkeit der Macht wie auch ihre Gefährdungen und Mißbräuche sind dem Jugendlichen aus seinem Erfahrungsbereich durchaus einsichtig zu machen, wenn wir diesen Grundtatbestand menschlichen Zusammenlebens ähnlich weit verstehen wie schon in der politischen Anwendung: Der Jugendliche wird dabei in der Regel Objekt von Machtansprüchen sein. Gerade dies kann ihn vom vitalen Interesse her kritisch und aufgeschlossen machen. Er findet sich aber auch in Situationen, in denen er selbst Macht ausübt: Der Einfluß das Klassenbesten auf die anderen, das Ansehen des guten Sportlers, auf den die anderen Mannschaftsspieler angewiesen sind. Aber sogleich muß die Korrektur einsetzen: Im Erfahrungsraum des Jugendlichen (und ebenso des Erwachsenen!) ist Macht jeweils konkretisierbar auf einen bestimmten überschaubaren menschlichen Zusammenhang. Man kann mit ihr "umgehen". So kann man sie in ihren Wirkungen und Auswirkungen leicht kontrollieren. Im Bereich des Politisch-Gesellschaftlichen hingegen nimmt Macht den Charakter der Abstraktheit an. Daß sie dennoch nach wie vor als Beziehung zwischen Menschen sich offenbart - wenn auch jetzt als vermittelte Beziehung -, macht den wesentlichen Unterschied aus, auf dessen Klarstellung gerade politischer Unterricht zielen müßte. Der vermittelte Charakter menschlicher Verhältnisse, wie er sich in der modernen Gesellschaft bildet, ist prinzipiell nicht mehr unmittelbar erfahrbar zu machen. Nur durch einen Aufschwung des Denkens können die vermittelten Beziehungen überhaupt als Beziehungen von Menschen rückerinnert werden.

Das "Wiedererkennen" solcher menschlichen Grundbeziehungen im vermittelten Dasein ist das eigent-

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liche Ziel des politischen Unterrichts. Daß es sich nicht von selbst ergibt, sondern ausdrücklich gelernt werden muß, ist letztlich die Ursache für politische Bildung. Gegenüber dem Vorschlag Sprangers ist also zu sagen:

Ein organologischer Aufbau des politischen Denkens, das aus der Reflexion über die unmittelbar erfahrbaren Sozialhorizonte sich ins Politisch-Gesellschaftliche richtet, muß erhebliche Einwände buchen.

a) Die darin enthaltene Voraussetzung, daß Jugendliche ein Bedürfnis hätten, über ihre Erfahrungen in dieser Weise nachzudenken, kann nur mit gehöriger Einschränkung gelten. Die Fülle der Erwachsenenwelt, ihre Möglichkeiten, Chancen und Gefahren, sind der jugendlichen Suche heute weitaus wichtiger. Darin drückt sich u.a. ein gewisser Protest gegen die Beschränkungen des Horizontes aus.

b) Wir sehen keine sachlich überzeugende Möglichkeit, von der überschaubaren Erfahrung aus in angemessener Weise in den Bereich des Nicht-Unmittelbaren vorzustoßen. Ein solch gradliniger Versuch führt im Gegenteil fast immer zur Verfälschung der politischen Zusammenhänge. Haupteinwand wäre, daß politische Kategorien eben nur durch eine Analyse politischer Zusammenhänge zu gewinnen sind. Entwickelt man sie wie Spranger aus den unmittelbaren Lebenszusammenhängen, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie als politische zu klassifizieren. Nicht alle unmittelbaren menschlichen Beziehungen sind auf die politische Dimension übertragbar.(22) Es

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kommt für den politischen Unterricht also auf diejenigen an, die sich sowohl im unmittelbaren menschlichen Umgang wie in der politischen Beziehung der Menschen wiederfinden.

c) Gangbar erscheint daher der entgegengesetzte Ansatz. Wir begeben uns in die Durchdringung der Konflikte des politisch-gesellschaftlichen Soseins. Die Reflexion über unmittelbare Erfahrungen bezieht sich dann auf die in den politischen Räumen gefundenen Ergebnisse. Damit rücken auch die unmittelbaren Erfahrungen selbst in ein anderes Licht. Sie werden angesichts der Andersartigkeit der politischen Einsichten deutlicher und bewußter und dadurch auch für das Denken des Jugendlichen interessanter.

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13. Der didaktische Ort der politischen Parteinahme

Welchen Ort haben aber nun die politischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb unseres didaktischen Modells? Es könnte so scheinen, als ob unsere Kategorien nun doch eine lehrgangsgemäße Systematik des Politischen erstrebten, während wir dies als der Saehe unangemessen vorher ausdrücklich zurückgewiesen haben. Wendet man aber diese Kategorien im politischen Unterricht an, so zeigt sich sehr bald, daß sie mindestens zum Teil Widersprüche repräsentieren. Die politischen Phänomene werden mehrdeutig, und zwar vor allem im Hinblick auf ihre Bewertung. Der Widerspruch kann darin bestehen, daß das subjektive Interesse mit dem der Gruppe nicht übereinstimmt, dem es sich anvertrauen muß; daß zwar Machtmittel für seine Durchsetzung zur Verfügung stehen, sie aber gegen eine bestimmte Rechtssituation verstoßen würden; daß die Durchsetzung eines Interesses zwar rechtlich möglich erscheint, im Gesamtzusammenhang des Gemeinwesens aber Folgen haben muß, die nicht so ohne weiteres in Kauf genommen werden können.

Die Anwendung der Kategorien führt also zu Wertwidersprüchen, zur "Mehrdeutigkeit der Erscheinungen".(23) Eine politische Entscheidung muß aber im konkreten Falle die Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit wenden. In diesem Zwang, die allgemeinverbindlichen moralischen Maßstäbe des Politischen, die, auf eine politische Lage angewandt, nur zu Mehrdeutigkeiten führen können, eindeutig zu machen, liegt der theoretische Ort der verschiedenen Parteilichkeiten innerhalb unserer Gesellschaft und - pädagogisch gesprochen - der Ort der Diskussion. In diesem Prozeß wird das unmittelbare Interesse der Beteiligten insofern "verfremdet", als sie gezwungen werden, dieses Interesse als lediglich einen unter mehreren Aspekten zu begreifen. Läge der

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didaktische Ort der Diskussion schon in dem Augenblick fest, wo interessenbedingte Meinungen aufeinander stoßen, gäbe es für den rationalen Akt zum Urteil hin keine Möglichkeit mehr, der ja die Relativierung der eigenen Interessennatur zur Voraussetzung hat.
 

14. Der didaktische Aufbau des politischen Unterrichts

Auf Grund der bisherigen Überlegungen können wir nun ganz allgemein einen didaktischen Aufbau des politischen Unterrichts fixieren, der, wie noch zu zeigen sein wird, nicht unbedingt mit seinem methodischen Aufbau identisch ist.

1) Eine tatsächliche politische Kontroverse, z.B. die Spiegel-Kontroverse, wird als Einstieg erörtert. Dabei kommt es vor allem darauf an, durch die Kenntnisse und Meinungen der am Unterricht Beteiligten schon einen ersten Eindruck von der Vielschichtigkeit des Problems zu gewinnen. Optimale Unterrichtsform ist hier das Gespräch.

2) Anwendung der in Leitfragen umgewandelten Kategorien auf den Gegenstand; = Mobilisierung des Bildungs- und Orientierungswissens zum Aktionswissen. Optimale Unterrichtsform: Unterrichtsgespräch.

3) Zusammenhängende Darstellung des von den verschiedenen Leitfragen her erworbenen Wissens; = Neustrukturierung des angesprochenen Orientierungs- und Bildungswissens. Optimale Unterrichtsform: Lehrervortrag, je nach Situation unterstützt von Schülervorträgen.

4) Rekurs auf den Einstieg: Vertiefte Beurteilung auf Grund des neu erworbenen Wissens; = Wiederholung dieses Wissens unter neuem Aspekt. Optimale Unterrichtsform: Unterrichtsgespräch.

5) Umwandlung der Leitfragen in Grundeinsichten; = neue Bezugspunkte für das Orientierungswissen. Optimale Unterrichtsform: Lehrervortrag,

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6) Anwendung der aus den Leitfragen gewonnenen Einsichten auf unmittelbare menschliche Verhältnisse des jugendlichen Erfahrungshorizontes; = Wiederholung der formalen Einsichten unter neuem Aspekt. Optimale Unterrichtsform: Gespräch.

7) Vergleich der Leitfragen und ihrer sachlichen und wertmaterialen Ergebnisse. Optimale Unterrichtsform: Die Diskussion.

8) Rekurs auf den Einstieg: Willens- und Urteilsbildung auf Grund der materialen Kenntnisse und formalen Einsichten. Optimale Unterrichtsform: Die Diskussion.

Aus diesem Aufbau ergibt sich, daß der Ort der politischen Diskussion erst auf der 7. und 8. Stufe anzusetzen ist. Bis dahin hat der Lehrende immer einen gewissen sachlichen Vorsprung, da es zunächst vor allem um den Gesichtspunkt der Kenntnisse und des Wissens geht. Dann aber fällt dem Lehrenden eine neue Rolle zu. Sein sachlicher Vorsprung ist zu Ende, und in dem Maße, wie der irrationale Raum politischer Entscheidungen sich öffnet, gilt seine Meinung nicht mehr als die seiner Schüler. Auf dieser Ebene des Problems vor allem entscheidet sich, ob aus der Beschäftigung mit politischen Aktualitäten politische Propaganda wird.
 
 

15. Welche Probleme löst das Modell?

Mit diesem Modell scheint uns folgendes erreichbar zu sein:

1) Das Unterrichtsinteresse der Jugendlichen wird durch das Aufgreifen aktueller Streitfragen geweckt. Das Politische selbst, so wie es sich in der politischen Gemeinschaft abspielt, wird Gegenstand des Unterrichts. So werden die Jugendlichen von dem Erwachsenen ins Vertrauen gezogen. Sie werden nicht mit "Problemen aus zweiter Hand" abgefertigt.

2) Die Jugendlichen erhalten Gelegenheit, ihre außerhalb der Schule gewonnenen Erfahrungen und Meinungen in den Unterricht einzubringen. Diese werden durch

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die Dominanz der unterrichtlichen Gesprächsform ernst genommen und dennoch durch die Anwendung übergreifender Kategorien objektiviert, d.h, zu einer zweiten Erfahrung gewendet.

3) Die kategoriale Durchdringung der politischen Stoffe leistet eine Versöhnung zwischen der prinzipiellen Offenheit und Unstrukturiertheit des Gegenstandes, den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und der subjektiven Befindlichkeit der Jugendlichen. Der hierbei zustande gekommene Kompromiß kann angesichts der politischen Wirklichkeit zwar nicht als "richtig", wohl aber als "angemessen" bezeichnet werden.

4) Unser Vorschlag enthält einen Sinn des politischen Lernens: Die Ausbildung einer politischen Bewußtheit, die sich der konkreten Lösung politisch-gesellschaftlicher Streitfragen zugeordnet weiß. Die politische Verantwortung der Jugendlichen wird aus der abstrakten Appellation in die Disziplinierung der konkreten Denk-, Urteils- und Entscheidungsvorgänge selbst gewendet.

5) Unser Vorschlag nimmt den politischen Aktivitätsgehalt des politischen Denkens ernst, läßt aber gleichzeitig andere Möglichkeiten der politischen Beteiligung offen und präzisiert sie beim jeweiligen politischen Gegenstand.

6) Unser Vorschlag politisiert nicht die Bildungsgehalte, setzt ihre Autonomie gegenüber dem Politischen vielmehr voraus und setzt die Möglichkeit frei, deren normative Ansprüche im konkreten politischen Prozeß zu identifizieren.

7) Unser Vorschlag bringt den Sinn des politischen Lernens in einen Unterrichtszusammenhang, der die jugendliche Erfahrungswelt mit der dem Umgang nicht mehr zugänglichen Dimension des Politischen einsichtig integriert.

8) Unsere Kategorien integrieren das, was wir zunächst als Bildungswissen, Orientierungswissen und Aktionswissen unterschieden haben, zu einer neuen

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Einheit, ohne die darin beschlossenen Mehrdeutigkeiten zu Eindeutigkeiten zu verfälschen. Ihre normative Substanz gehört dem Bereich des Bildungswissens an und zugleich bauen sie über das Aktionswissen das Orientierungswissen auf. Hier wird noch einmal deutlich, welche fatalen Konsequenzen entstehen müssen, wenn man die Problematik der politischen Bildung auf den Bereich des "Orientierungswissens" reduzieren würde.

Der Entwurf eines didaktischem Modells, den wir oben vorgelegt haben, ist selbst noch keine gültige didaktische Theorie des politischen Unterrichts. Sie zu entwickeln, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zur gültigen Explikation einer solchen Theorie gehörte insbesondere eine genauere Beschäftigung mit den Kategorien, ihrem theoretischen Zusammenhang und ihrer zum Teil noch sehr heterogenen Inhaltlichkeit. Vor allem gehörte dazu eine Aufarbeitung dessen, was in den letzten Jahrzehnten als politische Philosophie formuliert wurde.

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Anmerkungen zu Kap. 11

1) H. Schneider, Staatliche Ordnung und politische Bildung ... ,S. 21

2) J. Habermas, Student und Politik ..., S. 245

3) So Lorenz Müller (Und wo bleibt das Politische? ..., S. 2); "Das Politische ist gegeben, wo immer es sich um den Umgang mit der Macht handelt ..., ob es sich um überstaatliche, innerstaatliche oder gesellschaftliche Spannungsfelder handelt ... . Das Politische hat folglich nur deshalb eine besondere Beziehung zum Staat, weil er in der Regel die stärkste Machtballung darstellt, welche die Gesellschaft hervorbringt," - Ebenso W. Klafki (Macht und Ideal ..., S.344) "Dabei umfaßt der Begriff der Macht nicht nur die extremen Formen und Einrichtungen staatlicher Zwangsgewalt... . Vielmehr reicht das Machtmoment bis in die innerste Substanz des Politischen hinein, bis in die politischen Überzeugungen, Anschauungen, Zielsetzungen bestimmter Menschen oder Menschengruppen, die auf Verwirklichung hindrängen."

4) Vgl. auch H. Schneider, Staatliche Ordnung und politische Bildung ..., S. 8 ff.

5) Heinrich Weber, Der rechtskundliche Aspekt ... S. 3

6) Vgl. zum Ganzen auch Wolfgang Scheibe, Grundlagen der Rechtserziehung ... und Th. Wilhelm, Bausteine ... S. 16 und S. 28

7) Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit ..., S. 133ff.

8) ebd. S. 201

9) ebd. S, 128/129

10) A. Bergstraesser, Warum ist politische Bildung nötig? ..., S. 557

11) Vgl. auch H. Schneider, Person, Gesellschaft, Freiheit ..., S. 214: "Das Gemeinwohl als die richtige Ordnung des Zusammenlebens verwirklicht sich in ständigem Dialog von Meinungen, Interessen und Ideen",

12) Friedrich Oetinger, Partnerschaft ..., S. 22 ff.

13) Kurt Sontheimer, Das Staatsbewußtsein in der Demokratie..., S. 76

14) Th. W. Adorno, Was heißt: Aufarbeitung der Vergangenheit? ..., S. 14

15) W. Besson, Politische Bildung im Zeitalter der Gruppengesellschaft ..., S. 303

16) Eugen Lemberg, in Gesellschaft-Staat-Erziehung 1959, S. 1o2: "Diese Hingabe an eine überindividuelle Sache, an eine übergeordnete Gemeinschaft, entspricht einem tiefen menschlichen Bedürfnis. Im Dienst an einer solchen Sache, in der Selbstaufopferung für sie, sucht der Mensch Selbstrechtfertigung, Selbsterhöhung, Inhalt und Sinn seines Lebens".

17) H. Schneider, Person, Gesellschaft,Freiheit ..., S. 210

18) Vgl. H. Schneider, a.a.0., S. 2o3; ebenso H. Schneider, Staatliche Ordnung und politische Bildung ..., S. 24: "Der Satz von der Menschenwürde bedeutet also im Grunde die Bindung aller Politik an die Achtung vor dem Menschen als Inhaber eines Gewissens - die Bindung des Politischen an die Idee der Humanität".

19) Damit ist das Problem der politischen Gefühlsbildung angesprochen, das vor allem von H. Newe (Der politische und demokratische Bildungsauftrag ..., S. 63-82) mit Nachdruck in die Debatte gebracht wurde. Ebensowenig wie Th. Wilhelm (Für und wider die politische Gefühlsbildung ..., S.447 ff.) können wir Newe im einzelnen folgen. Uns scheint vielmehr, daß die in unseren Kategorien implizierten Werteinstellungen nicht nur die guten politischen Gefühle der Jugendlichen mobilisieren können, sondern auch jenes Maß an emotionaler Mobilisierung enthalten, das auf keinen Fall überschritten werden darf. Nicht irgendeinem politischen "Uber-Ich", sondern konkreten Menschen in konkreten Situationen und Bedingungen sollten politische Gefühle gelten. Jugendliche haben für diese Unterscheidung meist einen sicheren Instinkt.

2o) Wir sprechen hier von "Situation" im Unterschied zur "Aktion" im Sinne der Zuständlichkeit eines politischen Zusammenhanges. Wir sahen, daß der politische Unterricht nicht nur auf durch Aktionen hervorgerufene Aktualitäten antwortet, sondern auch selbst durch die Anwendung der Kategorien nicht umstrittene Zuständlichkeiten aktualisieren kann.

21) Diesen Vorschlag hat Eduard Spranger, Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung ..., gemacht.

22) Es war besonders kennzeichnend für das Dritte Reich, daß man die Illusion von der Ungebrochenheit der Face-to-face-Beziehungen im politischem Bereich aufrecht erhalten wollte. Aber weder ist eine politische Gesellschaft eine "Gemeinschaft", noch kann man einen Staatsmann, wenn man ihn nicht zufällig persönlich gut kennt, "lieben", noch ihm "vertrauen", - wenn diese Worte noch einen letzten Rest von Sinn behalten sollen. Noch absurder wird die Lage, wenn der Bürger etwa im Sinne der public-relations einem Industrietrust "vertrauen" soll. Dies sind einige Beispiele für Sozialbeziehungen, die prinzipiell unübertragbar auf die politische Großgesellschaft bleiben. Sich die politische Welt als eine Großfamilie oder einen Club von Freunden vorzustellen, liegt für das rational nicht durchgeformte politische Bewußtsein sehr nahe. Daß politische Pädagogik dies auf keinen Fall auch noch unterstützen darf, ergibt sich nicht nur aus den Erfahrungen der Nazi-Zeit, sondern vor allem aus der nahezu unbegrenzten Manipulierbarkeit eines solchen Politikverständnisses. Vance Packard zitiert das Ergebnis einer amerikanischen Untersuchung über die Idealvorstellung der Amerikaner von ihrem Präsidenten, die zeigt, das es sich hier offenbar nicht nur um ein Problem der deutschen politischen Pädagogik handelt: "(Der Präsident) ist ein Mann mit großer Herzenswärme, der eher Vertrauen als Bewunderung einflößt und nicht so makellos ist, daß es unglaubwürdig erscheint. Er muß auf einem anderen Gebiet als dem der Politik etwas geleistet haben und echten Sinn für Humor besitzen. Seine Ansicht über einzelne politische Fragen ist verhältnismäßig unwichtig ... ." (Die geheimen Verführer, Düsseldorf 1958, S. 223)

23) Vgl. Hans Tietgens, Nationalsozialismus und politische Bildung ..., S. 350



    12. Kap.: Der methodische Aufbau des politischen Unterrichts


1. Unterschiede zwischen didaktischem und methodischem Aufbau

Der methodische Aufbau des politischen Unterrichts unterscheidet sich zum Teil erheblich vom didaktischen Aufbau, wie er eben formuliert wurde. Dem Unterrichtspraktiker wird einsichtig sein, daß jener didaktische Aufbau in seiner Reinheit im Unterricht nicht durchzuhalten ist. Seine logisch zwar einsichtige Struktur würde in ständigem Widerspruch zum Prozeß des jugendlichen Denkens stehen und böte außerdem keinen geeigneten Wechsel von Spannung und Entspannung der geistigen Arbeit.
In unserem Modell ist die politische Aktualität Anfangs- und Endpunkt der Stufung, womit ihre zentrale Stellung im Unterrichtsaufbau unterstrichen wird. Im methodischen Sinne kann der Verlauf je nach den besonderen Bedingungen ebenso verschieden sein wie der Anfangs- und Endpunkt. Wie überall im Verhältnis von Didaktik und Methodik setzt die Aufgabe des Praktikers mit der Klärung der didaktischen Grundsätze erst ein. So ist etwa denkbar, daß man einen Einstieg nur mit einigen Kategorien befragt, einen weiteren, der dem ersten inhaltlich nahesteht, mit anderen, bis man auf diesem etwas längeren Wege zum Gesamtbild kommt. Oder man stellt zwar alle Fragen an den Gegenstand, expliziert aber nur einige, um in einem bestimmten Zeitraum die Schüler nicht zu überfordern; oder man beauftragt im Gruppenunterricht kleine Teams damit, die einzelnen Fragestellungen zu klären und bringt sie nach einiger Zeit im Unterricht geschlossen zur Sprache. Diese wenigen Andeutungen mögen zeigen, daß der methodischen Phantasie durch unser Modell kaum Schranken gesetzt sind.
Aus unserer eigenen Unterrichtserfahrung ist zu sagen, daß selbst bei besonders begabten Oberschülern

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die unterrichtliche Realisierung des didaktischen Modells nie in aller Reinheit möglich war. Wohl war es aber immer möglich, nachdem einige Kategorien im Arbeitsgespräch angewandt waren, die restlichen in einem kurzen Vortrag nachzuholen, und damit wenigstens einen Gesamteindruck der verschiedenen Frageebenen zu vermitteln. Im unterrichtlichen Umgang mit den Lehrlingen war es vollends unmöglich, an einem einzigen Konfliktfall das ganze Modell zu entwickeln. Hier war schon ein Fortschritt, wenn den Jugendlichen an einigen wenigen Einstiegen klar wurde, daß es sinnvoll sei, solche Fragen an jede politische Auseinandersetzung zu stellen.
Hinzu kam ein weiteres. Die Jugendlichen wandten in der Regel einige dieser Kategorien schon immer von sich aus an - wenn auch meist in einer Formulierung, die noch präzisiert werden mußte. Nun unterschieden sich die Oberschüler von den Lehrlingen etwa dahingehend, daß sie jeweils nur bestimmte Fragen stellten. Lehrlinge neigten spontan dazu, die Kategorien der Macht, der Solidarität, des Interesses und des Konfliktes anzuwenden, während Oberschüler eher den Kategorien des Funktionszusammenhangs (über ein mißverstandenes "Allgemeinwohl"), der Ideologie, der Geschichtlichkeit und der Rechtlichkeit zuneigten. Davon ausgehend kann der politische Unterricht, anstatt die ohnehin vorhandenen kategorialen Einstellungen noch zu duplizieren, sich auf die weniger zugänglichen Kategorien konzentrieren.

2. Die Rolle des "Einstiegs"

In unseren didaktischen Überlegungen hatten wir entschieden, daß die für den Unterricht gewählten Einstiege nie zur bloßen Methode werden dürfen, vielmehr immer auch selbst Gegenstand der gedanklichen Klärung sind. (1) Das gilt auch dann, wenn man zum Einstieg

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keine aktuelle politische Auseinandersetzung wählt, die ja verhältnismäßig selten zur Verfügung steht. In diesem Falle aber sollte irgendwann im methodischen Ablauf auf einen aktuellen Streitpunkt verwiesen werden. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß der politische Unterricht auch selbst Aktualitäten herstellen kann, indem er Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Dies ist die theoretische Grundlage dafür, daß Einstiege weitgehend variabel sind.
Zwei Gefahren sind allerdings damit verbunden, die immer beachtet werden müssen. Die Lehrinhalte können zu einer Summe von Belanglosigkeiten anwachsen, wenn sie nicht auf den Ernst tatsächlicher politischer Kontroversen bezogen werden. Andererseits wird das jugendliche Bewußtsein richtungslos dynamisiert, wenn mit dem Infragestellen von Selbstverständlichkeiten nicht sparsam umgegangen wird. Die "Gewohnheiten" (2) haben eine wichtige Funktion nicht nur im sozialen, sondern auch im emotionalen und intellektuellen Haushalt der Person. Nicht alle Jugendlichen interessieren sich nach unseren Erfahrungen für politische Aktualitäten. Bei Lehrlingen kann man in der Regel ein solches Interesse voraussetzen, bei Oberschülern schon weniger und bei Mädchen selten. Nun gilt als unterrichtlicher Erfahrungssatz, daß ein unterrichtliches Interesse, das nicht schon beim Einstieg geweckt ist, sich kaum in der Interpretation des Einstiegs entwickelt. Wir berichten nun von einigen Einstiegen, die sich in unserer Praxis besonders bewährt haben.

3. Beispiele für Einstiege

a) Das Projekt

Im Rahmen des Wettbewerbs auf Lehrlingstagungen baten wir die Wettbewerbsgruppen, ein Tonband-Feature zu jeweils verschiedenen politischen Themen herzu-

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stellen. Dazu wurde nur kurz erklärt, was ein Feature sei, Material konnten die Jugendlichen auf Anfrage von den Mitarbeitern erbitten, die ihnen auch bei formalen und tontechnischen Schwierigkeiten zur Verfügung standen. Maßstäbe für die Bewertung waren formaler Einfallsreichtum und Berücksichtigung möglichst vieler sachlicher Gesichtspunkte. Bei drei Wettbewerbsgruppen hatten wir dann drei Features mit drei verschiedenen Themen für den politischen Unterricht zur Verfügung.
Nehmen wir als Beispiel ein Feature über die Todesstrafe. Es dauerte etwa 2o Minuten - was als Höchstzeit festgesetzt war. Es wurde von der Herstellergruppe dem Gesamtkreis vorgeführt und unter folgenden Gesichtspunkten interpretiert.
a) Welche sachlichen Gesichtspunkte sind berücksichtigt worden?
b) Welche sind nicht berücksichtigt worden?
c) Wie ist die gewählte Form zu beurteilen?
Nachdem die Erörterung abgeschlossen und die Bewertung im Rahmen des Wettbewerbs vorgenommen worden war, diente das Band als Einstieß für das Thema "Todesstrafe".
Das Interesse an diesem Einstieg, den man selbst produziert hatte, war erheblich und trug recht weit. Abschließend kamen wir wieder auf den Einstieg zurück: Wie müßte man das Feature ändern, um es der Sache im Sinne der gemeinsamen Erarbeitung angemessen zu machen? Nun hätte sich eigentlich eine Neubearbeitung des ersten Feature ergeben müssen.. Das wurde in einzelnen Fällen auch versucht, stieß aber auf einige Schwierigkeiten. Meist reichte die Zeit dazu nicht. Außerdem reichten nun oft die handwerklichen und formalen Möglichkeiten der Lehrlinge wie auch der Mitarbeiter nicht mehr aus, die erarbeiteten Ansprüche angemessen umzusetzen; denn jetzt war im Grunde nur noch die Form angemessen, wie sie das journalistische Handwerk kennt. Wenn man Glück hatte, brachte der Hörfunk

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in der Zeit der Tagung ein Feature zum gleichen Thema, das dann mit großem Interesse verglichen wurde. Versuche, von den Rundfunkanstalten Tonkopien solcher Features auszuleiben, scheiterten meist an urheberrechtlichen Schwierigkeiten.
Die Ergebnisse solcher spontanen Features waren übrigens zum Teil sehr erstaunlich. Sie verrieten nicht nur ein hohes Problembewußtsein, sondern auch eine bemerkenswerte Fairneß gegenüber Meinungen, die man gar nicht teilte. Übrigens ließen sich die Features auf einer Tagung nicht gut mit anderen Themen wiederholen. Die in der Auseinandersetzung mit dem ersten gewonnene Bewußtheit der Form erwies sich zunächst als Hindernis für die Gestaltung eines weiteren Themas.

b) Schriftliche Dokumentationen

Während bei Oberschülern der Versuch, auf diese Weise selbst Einstiege herzustellen, schon meist daran scheiterte, daß von vornherein die formalen und handwerklichen Fähigkeiten nicht ausreichten für eine sachlich angemessene Darrstellung, wurde für sie vor allem die schriftliche Dokumentation zu einem geeigneten Einstieg.
Ein einzelnes Dokument zur Interpretation vorzulegen, war nur dann sinnvoll, wenn es einen für die Schüler unvermuteten Aspekt hatte oder gar eine bestimmte Selbstverständlichkeit mit guten Argumenten in Frage stellte. So stellte etwa Brecht mit den "5 Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" ihr Verständnis vom Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in Frage. Ergiebiger war es aber, ein Problem auf mehreren Maschinenseiten so zu dokumentieren, daß Widersprüche offenkundig, gleichzeitig aber die wesentlichen Dimensionen des Problems in Sinne unserer Kategorien enthalten waren. Die Widersprüchlichkeit der Dokumentation galt dabei sowohl als der Sache angemessen, die sie repräsentierte, wie sie andererseits die Art und Weise wiedergab, in der heute im allgemeinen Erfahrungen von Politik zu-

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Stande kommen. In diesem Sinne war die widersprüchliche Dokumentation ein Stück Wirklichkeit und die Aufgabe bestand nun darin, diese Widersprüche zu ordnen. Sie waren bewußt willkürlich aneinandergefügt, um sich in der Auseinandersetzung mit ihnen in der Sache selbst zu engagieren. Bei dieser Art des Einstiegs war es nicht so wesentlieh, ob er sich auf ein politisch aktuelles Thema bezog. Mit ihm ließen sich vielmehr alle möglichen einseitigen historischen Urteile zu neuen Erfahrungen aufschließen, die Sozialpolitik Bismarcks, die Jugendbewegung, die Machtergreifung Hitlers oder was immer. Dann aber war es nötig - in unserem Verständnis von politischem Unterricht - wenigstens die Ergebnisse auf ihre aktuelle Bedeutung hin zu befragen.

c) Der Kurzfilm

Vor allem die Fragezeichenfilme des Münchener "Instituts für Film und Bild" haben sich als Einstiege für alle jugendlichen Gruppen sehr bewährt. Aber auch andere, formal gut gelungene Kurzfilme sind geeignet. Leider ist ihre Zahl sehr viel geringer, als das große Angebot der pädagogischen Verleihstellen zu verraten scheint. Nur formal anspruchsvolle Filme sind als politische Einstiege ertragreich, weil nur sie auch ihren Inhalt aufschließen. Lediglich unter filmkundlichen Aspekten hat es Sinn, auch schlechte Filme zu benutzen. Gegenüber dem abendfüllenden Spielfilm hatte der Kurzfilm für unsere Zwecke praktische Vorteile: Er ermöglichte eher eine filmische Analyse, weil er noch einige Male wieder vorgeführt werden konnte.
Auch der Kurzfilm war eigentlich kein Unterrichtsmittel. Das Wort "Mittel" trifft den Sachverhalt ohnehin nicht genau. Jeder Einstieg, auch der Kurzfilm, kann nur für das zeugen, was in ihm wenigstens mit einer Andeutung schon enthalten ist. Gerade im Umgang mit dem Film wird dieser Zusammenhang in

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der Jugendarbeit oft außer Acht gelassen, indem man sich an die bloße "story" klammert, oder gar nur an einige Ihrer Teile, um sie zum Vehikel von Lehren zu machen, die man auch mit anderen Mitteln hätte verbreiten können. Wenn aber mit einem Kurzfilm als Einstieg ein Unterrichtsergebnis zustande kommt, das ohne ihn auch zustande gekommen wäre, dann ist der didaktische Sinn des Einstiegs ignoriert worden, dann hat der Unterricht das verhindert, was er eigentlich fördern sollte: eine kulturelle Erfahrung. Wählt man also einen Film als Einstieg für ein politisches Unterrichtsgespräch, so kommt der filmisch-ästhetischen Interpretation schon deshalb eine wichtige Bodeutung zu, weil ohne sie der Inhalt gar nicht angemessen zu erschließen wäre. Diese Forderung leitet sich schon allein aus der didaktischen Kategorie der Situation ab. Bei allen primär nicht-politischen Gegenständen wie Literatur und Film, kann unser didaktisches Modell eben nur im Sinne des "Unterrichtsprinzips" angewandt werden, also nur im Zusammenhang mit anderen Kategorien, die dem jeweiligen kulturellen Seinsbereich angemessen sind.
Nach unseren Erfahrungen provozieren gute Kurzfilme eine Fülle sozialer Vorurteile. Einer der besten, "Gesicht von der Stange?", erzählt die Geschichte einer jungen Friseuse, die auf Grund eines sanften Drucks ihrer sozialen Umgebung eines Tages ihre "Kinderfrisur" abschneiden und sich nach dem Vorbild einer bekannten Filmschauspielerin neu frisieren läßt. Nun zeigt der Farbfilm durch die Fotografie die Frisur des Mädchens vorher und nachher als schön, - wenn auch anders und vor allem in jeweils anderer Umgebung. Interessant war nun immer wieder, daß fast alle unsere Oberschüler den Wechsel der Frisur als "Vermassung" ablehnten und behaupteten, auch der Film zeige sie nachher häßlich, während die Lehrlinge mit der gleichen Einmütigkeit meinten, sie sei vorher häßlich und auch der Film zeige

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sie so. Die Leidenschaft, mit der das jeweils behauptet wurde, ließ manches vom Betroffensein und noch mehr von den psychischen Barrieren ahnen, die sich da zur Selbstrechtfertigung auftaten. In diesem Falle war Einstieg des politischen Gesprächs nicht nur der Film selbst, sondern zugleich auch die sozialen Vorurteile, die angesichts seiner produziert wurden.
Dieses Beispiel mag uns zu einer letzten Einsicht über den "Einstieg" führen: In Wahrheit ist Einstieg offenbar nicht nur der objektive Sachverhalt, der vorgeführt wird, sondern zugleich auch die Summe der Meinungen, die ihm gegenüber geäußert werden. Der Zusammenhang von "Material" und daran entwickelten Meinungen der Lehrenden und Lernenden ist im didaktischen Sinne "Einstieg". Dies gilt nicht nur für die hergestellten Einstiege, von denen zuletzt die Rede war, sondern auch etwa für die "Spiegel-Kontroverse", also die tatsächlichen politischen Konflikte.

d) Die politische Fernsehsendung

Von besonderem Reiz für die Mitarbeiter waren Fernsehsendungen als Einstiege. Man kannte vorher weder die Qualität der Sendung, noch konnte man sich inhaltlich auf das anschließende Gespräch vorbereiten. Da also auch der Mitarbeiter erst nach der Sendung sich eine Meinung bilden konnte - und dies fast immer im Gespräch mit den Jugendlichen selbst geschah - bekam das Gespräch eine Ummittelbarkeit, wie bei keinem anderen Einstieg. Hier war natürlich die Versuchung für den Mitarbeiter besonders groß, als Ziel des Gespräches nicht die Klärung des Einstiegs selber anzusehen, sondern ihn als Mittel zu betrachten, um schnell zu dem zu kommen, was er ohnehin schon wußte und wo er sich sicher wähnte.
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Anmerkungen zu Kap. 12:
1) "'Einstiege' sind mehr als einfache 'Anlässe'. Sie greifen einen Stoffzusammenhang nicht nur 'á propos' auf, sondern indizieren bereits die Struktur des 'nächstgrößeren' Zusammenhangs." (Th. Wilhelm, Bausteine ..., S. 4o)
2) Vgl. Th. Wilhelm, Bausteine ..., S. 13/14

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