Hermann Giesecke:
Braucht die Pädagogik Bildungsphilosophie?

In: EWE (Erwägen Wissen Ethik) 25 (2014) Heft 2,
Stuttgart 2014, S. 235-240

© Hermann Giesecke

 
(Vorbemerkung: Krassimir Stojanov hat in der oben genannten Zeitschrift S. 203 - 212 unter dem Titel "Bildung: Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften" einen Beitrag zur Diskussion gestellt, der vor der Veröffentlichung einer Reihe von möglichen Autoren für einen kritische Stellungnahme zur Verfügung gestellt wurde. An der Debatte haben sich außer mir noch 56 andere Autoren beteiligt.  Stojanov hat abschließend auf diese Stellungnahmen  geantwortet.  H.G)
 
((1)) Krassimir Stojanov nimmt mit seinem Beitrag einen neuen Anlauf zur Formulierung einer Bildungsphilosophie, verbunden mit der Einladung an andere Humanwissenschaften, sich an der weiteren Differenzierung und Präzisierung des Bildungsbegriffs interdisziplinär zu beteiligen. Ich greife diesen Vorschlag aus der Perspektive der Pädagogik/Erziehungswissenschaft gerne mit einigen Hinweisen auf.
 
((2)) Stojanov fasst seine Überlegungen folgendermaßen zusammen.
 
"Bildung ist als die Entwicklung der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Selbst-Transformation durch begrifflich-objektivierende Artikulation der Wünsche, Bedürfnisse, Werte und Ideale der Person im Zuge ihrer verstehenden Befassung mit überindividuellen wissenschaftlichen und künstlerischen Wissensinhalten zu verstehen, welche Befassung zur Überschreitung der Grenzen der unmittelbar gegebenen natürlichen und soziokulturellen Umwelt der Person und somit zur Ermöglichung ihrer Autonomie und Freiheit führt." ((39)).
 
An diesem Zitat lassen sich einige Probleme für die weitere pädagogische Diskussion des Themas aufzeigen.
 
((3)) Seitdem der moderne Begriff der Bildung im geistigen Milieu der deutschen Klassik entdeckt und entfaltet wurde, hat es nicht an bildungsphilosophischen Bemühungen gefehlt, ihn nicht nur als Leitmotiv eines gelingenden geistig fundierten Lebens, sondern auch als Prinzip eines daran orientierten Unterrichts in der Schule zu verwenden. Diese Versuche einer Übertragung von der Philosophie auf die Pädagogik sind jedoch vor allem daran gescheitert, dass die Komplexität der philosophischen Reflexion, wie sie auch in Stojanovs Zusammenfassung ((39)) und überhaupt in seinem Beitrag zum Ausdruck kommt, zur Begründung von Unterrichtsstoffen, Fächern oder didaktischen Strategien wenig hergab - und zwar umso weniger, je engagierter die philosophische Bearbeitung wurde. Theodor Wilhelm hat diese Fehlentwicklung hin zu einer philosophischen Überhöhung der pädagogischen Realität schon zu einem frühen Zeitpunkt am Beispiel Georg Kerschensteiners nachgezeichnet (1). Die Schwierigkeiten der Realität seien aus dem Blick geraten, durch moralische Postulate und für das Handeln irrelevante weil weltfremde Erwartungen überwuchert worden, die eigentümliche Substanz des Politischen und Sozialen würde so missverstanden und verfehlt. Anders gesagt: Die pädagogische Realität ist nicht logisch-systematisch strukturiert, sondern wird sozial-wechselseitig immer wieder neu hergestellt - u.a. in Familien, Klassenzimmern, Resozialisierungseinrichtungen.
 
((4)) Ein wichtiges Motiv für die philosophische Verführung war die Hoffnung, die Pädagogik durch Bildungsphilosophie in den Kreis der anerkannten Wissenschaften führen zu können. Später und bis zur Gegenwart reichend wurde zu diesem Zweck ein neuer Anlauf durch eine sozialwissenschaftliche Fundierung der nun Erziehungswissenschaft genannten Pädagogik unternommen. Aber auch diese Fassung verfehlt u.a. deshalb weitgehend die tatsächlichen Probleme der pädagogischen Praxis, weil und insofern diese sich nicht dem dabei geltend gemachten quantifizierenden Wissenschaftsideal unterwirft.
 
((5)) Ein wichtiger Grund des Scheiterns ist ferner darin zu sehen, dass sich der Leitbegriff "Bildung", wie Stojanov
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ihn verwendet, nicht in zielgerichtetes Handeln umsetzen lässt, weil er kognitive, moralische und emotionale Komponenten zugleich enthält und dabei nahezu alles umfasst, was man sich für eine optimale persönliche Entwicklung des Menschen wünschen mag. Umgekehrt lassen sich konkrete pädagogische Handlungen und Strategien nicht von diesem Leitbild her begründen, rechtfertigen oder kritisieren, weil auch etwas anderes als das didaktisch-methodisch Geplante dem Bildungsprozess des Schülers dienlich werden könnte. Letztlich gilt ja das lernende Subjekt selbst als Produzent seines Bildungsprozesses und hat deshalb die Freiheit, auch Falsches und Misslungenes dabei durch angemessene Interpretation bildend wirken zu lassen. Die Pädagogik, auch die wissenschaftliche, muss sich aber prinzipiell beschränken auf das, was sie planmäßig veranstalten kann, und auch Kritik an ihr ist letzten Endes nur sinnvoll, insofern sie das Handeln tatsächlich zu korrigieren vermag.
 
((6)) Zudem ist das zentrale Ziel der "Selbst-Transformation" weder empirisch noch auf der Ebene der Selbsterfahrung mit hinreichender Gewissheit zu überprüfen. Dieser Mangel führt leicht zu illusionären Selbsteinschätzungen im Hinblick auf die eigene Bildungsbiographie, aber auch in Bezug auf die darauf bezogenen Ziele und Wirkungen des Unterrichts und der Lehrertätigkeit überhaupt. Diese Diskrepanz zwischen überhöhtem, weil idealisiertem Anspruch einerseits und einer eher banalen Wirklichkeit andererseits führt in der Fachdiskussion wie in der Öffentlichkeit inzwischen teilweise zu einem eigenartigen Imponierjargon, zu dem etwa Worte wie Kompetenz, Inklusion, Selbsttätigkeit, Selbstwirksamkeit, Lernzuwachs, "Haus des Lernens", Qualitätssicherung, Schlüsselqualifikation, Selbstoptimierung und paradoxerweise auch Bildung gehören.
 
((7)) Die eben angedeuteten Einwände sind selbstverständlich kein Argument dafür, bildungsphilosophische Überlegungen nicht weiter zu verfolgen, wohl aber dafür, dass die Pädagogik von ihrem wissenschaftlichen und praktischen Fundus her von einem bestimmten Punkt der Argumentation an dazu prinzipiell keinen eigenen Beitrag mehr zu leisten vermag. Ihr Gegenstand ist nicht in erster Linie im System der Wissenschaften, sondern in derjenigen gesellschaftlichen Praxis zu finden, die sich in vielfacher Weise um das Aufwachsen - Sozialisation, Erziehung, Bildung - der Kinder kümmert. Diese Praxis ist letzten Endes begründet durch die nicht hintergehbare biographische Differenz zwischen dem Status der Geburt und dem der verantwortlichen Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben und sie gehört in eine Reihe mit anderen fundamentalen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie etwa Wirtschaft, Politik, Rechtsprechung. Die Pädagogik kann folgerichtig ihre Existenz und ihre inhaltlichen und methodischen Variationen nicht aus wissenschaftlichen Ableitungen bestreiten - auch nicht aus philosophischen. Das hat die Geisteswissenschaftliche Pädagogik als "Primat der Praxis" immer wieder zu Recht betont. Pädagogik gibt es, weil es Kinder, nicht weil es Wissenschaften über diese Kinder gibt
 
((8)) Aus diesem Zusammenhang entsteht zwangsläufig der von Stojanov monierte Eklektizismus gegenüber den Ergebnissen anderer Wissenschaften, wenn sie einen Beitrag zu pädagogischen Fragen und Problemen zu leisten scheinen. Die Pädagogik muss sich zwar darum bemühen, das Aufwachsen der Kinder in einem Gesamtzusammenhang der dabei wichtigen und wirksamen Faktoren zu beschreiben - schon um vernünftige Formen und Ziele des pädagogischen Handelns herauszufinden, das im Kern als Intervention in die sowieso ablaufenden Prozesse der Sozialisation zu verstehen ist. Sobald sie aber darüber hinaus Einzelheiten dieser sich historisch wie biographisch ständig ändernden 'Strukturlandkarte' genauer aufklären will, kommt ihr eigenes wissenschaftliches Repertoire schnell an seine Grenze und ist auf die Mithilfe anderer thematisch relevanter Wissenschaften angewiesen. Dabei entsteht das Problem, dass deren Methoden und Ergebnisse nicht einfach additiv in die pädagogische Argumentation übernommen werden können, sondern stets als Antworten auf pädagogische 'Anfragen' neu interpretiert werden müssen. Aussagen ändern ihre Bedeutung, wenn sie in einen anderen argumentativen Kontext übernommen und so aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst werden. Die damit gemeinten Schwierigkeiten lassen sich aktuell vielleicht am Beispiel der empirischen Bildungsforschung zeigen. Trotz ihres erheblichen nicht zuletzt auch finanziellen Aufwandes leistet sie wenig zur Aufklärung und Verbesserung der unmittelbaren pädagogischen Praxis, weil sie je nach ihren Forschungsinteressen bzw. ihrer Wissenschaftslogik diese Praxis allenfalls einseitig oder nur teilweise erfasst. Gleichwohl sind manche ihrer Resultate 'brauchbar' zu machen, allerdings kaum ohne eine Übersetzung in den jeweiligen Handlungskontext. Die "Theorieimporte aus anderen Humanwissenschaften" ((7)) sind insofern unvermeidlich, aber eben auch in der Tat stets problematisch, worauf Stojanov zu Recht hinweist.
 
((9)) Stojanovs oben erwähnte Zusammenfassung seiner bildungsphilosophischen Analyse ((39)) dürfte wegen ihrer Komplexität in der aktuellen bildungspolitischen Debatte kaum mehrheitsfähig sein. Die gegenwärtig dominierende Tendenz zur 'Verbetriebswirtschaftlichung' auch des kulturellen Denkens im Allgemeinen und des bildungspolitischen im Besonderen hat mit dem Leitmotiv der "Kompetenz" das der "Bildung" zumindest einstweilen werbewirksam verdrängt.
 
((10)) Gegen diese Tendenz lässt sich kaum mit Bildungsphilosophie, wohl aber vielleicht erfolgreicher mit dem klassischen Konzept der "Allgemeinbildung" argumentieren, wie es Wilhelm von Humboldt in seinem Rechenschaftsbericht über seine bildungspolitischen Reformen an den preußischen König 1809 formuliert hat, dem er offenbar nicht mit in die Tiefe gehenden philosophischen Erörterungen kommen konnte.
 
"Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besondern Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hiezu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum andern überzugehen.
Fängt man aber von dem besondern Berufe an, so macht man ihn einseitig, und er erlangt nie die Geschicklichkeit und Freiheit, die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andere vor ihm gethan,
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nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen."(2)
 
Diese Argumentation ist immer noch von besonderer Aktualität und als Ausgangspunkt bildungspolitischer und pädagogisch-didaktischer Strategien geeignet, weil sie das Grundproblem aller Bildungsbemühungen in rasch sich verändernden Gesellschaften in den Mittelpunkt stellt: Was soll und muss man heute - z.B. in der Schulzeit - lernen, wenn man nicht wissen kann, was man morgen - etwa beim Berufseintritt - wissen und können muss? Humboldts Antwort darauf - zunächst berufsunspezifische Allgemeinbildung, erst danach berufliche Spezialisierung - hat immer noch eine große Chance, bis in Kreise der Wirtschaft hinein mehrheitsfähig zu werden, weil sie schon von der allgemeinen Lebenserfahrung her plausibel ist: Wer flexibel auf Veränderungen reagieren soll, braucht dafür ein Potenzial, dass diesem Veränderungsbedarf deutlich überlegen ist. Eine möglichst breite und vertiefte Allgemeinbildung ist demnach die beste Voraussetzung für eine jeweils aktuelle berufliche Spezialisierung, "employability" würde dafür wohl nicht reichen.
 
((11)) Damit ist natürlich noch nicht geklärt, was unter "Allgemeinbildung" im Einzelnen zu verstehen ist, welche Lehrpläne, Fächer sowie didaktische und methodische Strategien dafür zu veranschlagen sind. Das kann hier im Einzelnen auch nicht zum Thema werden. In dem Humboldt-Zitat ist faktisch die politische Bildung als wichtiger Teil bereits erwähnt, unter modernen demokratischen Ansprüchen lässt sich vielleicht der Gesichtspunkt der Partizipation geltend machen, wonach Allgemeinbildung zur politischen, beruflichen und kulturellen Teilhabe befähigen soll.
 
((12)) Von diesem Ansatz aus dürfte es möglich werden, wenigstens einige Elemente von Stojanovs bildungstheoretischen Zielen dem veranstaltbaren pädagogischen Handeln zugänglich zu machen:
Distanzierung von den Determinanten des unmittelbaren jeweiligen Milieus und von den unreflektierten - scheinbar individuellen - Wünschen und Bedürfnissen; Konfrontation mit kulturellen Objektivationen nach deren Regeln und nicht nach der jeweiligen subjektiven Gestimmtheit; Öffnung für den Reichtum und die Vielfalt kultureller Lebensformen und ihrer Maximen.
Dies und manches andere lässt sich pädagogisch veranstalten, und die kognitiven Resultate solcher Bemühungen lassen sich sogar messen. Aber wie sie jeweils in die persönliche Entwicklung integriert werden, ob eine "Bildung" in Stojanovs Sinne überhaupt stattfindet, oder ob alles vielleicht bloß zum Abfragen 'gepaukt' wird, bleibt weitgehend ein Geheimnis. Wer sich bildet, merkt es nicht, wer sich nicht bildet, merkt es auch nicht.
  
Anmerkungen:
 
(1) Theodor Wilhelm: Die Pädagogik Kerschensteiners. Verhängnis und Vermächtnis. Stuttgart 1957
 
(2) Wilhelm von Humboldt: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts. 1. Dezember 1909. In: Wilhelm von Humboldt: Studienausgabe in 3 Bänden, hrsg. von Kurt Müller-Vollmer, Bd. 2., Frankfurt 1971, S. 142 - 152, hier S.144 f.
 

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