Hermann Giesecke

Die Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag, 5. völlig neu bearb. Aufl. 1980

Kapitel 3: Aspekte einer pädagogischen Theorie der Jugendarbeit

© Hermann Giesecke
Inhaltsverzeichnis
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Zu dieser Edition:

Dieses Buch behandelt die Jugendarbeit von 1945 bis 1980 in Westdeutschland bzw. der westlichen Bundesrepublik und schließt an das Buch Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend an, das die Entstehung und Entwicklung der Jugendarbeit von 1900 bis 1945 beschreibt.
Weggelassen wurden das Vorwort des Herausgebers, das Vorwort des Verfassers zur neuen Ausgabe und die weiterführenden Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1980.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke

Inhalt 3. Kapitel:
Aspekte einer pädagogischen Theorie der Jugendarbeit

Jugendarbeit und Theorie des Jugendalters
Das pädagogische Feld der Jugendarbeit
Spezifische pädagogische Chancen in der Jugendarbeit
Dimensionen der pädagogischen Interaktion

3. Kapitel

Aspekte einer pädagogischen Theorie der Jugendarbeit

 

 
 
 

Die Überlegungen des letzten Abschnittes haben sich auf das politisch-gesellschaftliche Selbstverständnis der Jugendarbeit bezogen, obwohl Gegenstand der Erörterung pädagogische Konzepte der Jugendarbeit waren. Daß pädagogische Konzepte immer auch politische Implikationen haben, ist nicht zu bestreiten. Diese können jedoch nicht der einzige Maßstab für die Formulierung und Beurteilung pädagogischer Theorien sein.

Gerade die Konzepte der antikapitalistischen Jugendarbeit haben mit Nachdruck pädagogische Vorstellungen unter allgemeine politische Leitvorstellungen subsumiert. Sie wurden z. B. daraufhin befragt, ob sie auf einer unzureichenden oder gar falschen gesamtgesellschaftlichen Analyse beruhten. Dadurch verlagerte sich das Interesse von den konkreten pädagogischen Bedingungen und Interaktionen hin zur prinzipiellen pädagogischen Zieldebatte.

Dabei zeigt sich ein Problem, das für jede Theorie über eine pädagogische Realität gilt: daß nämlich von einem bestimmten Abstraktionsgrad an viele Einzelheiten der Realität als nicht mehr bedeutungsvoll im Sinne der Theorie erscheinen, Einzelheiten, die jedoch von den in der Praxis miteinander Handelnden durchaus als bedeutungsvoll erlebt werden. Allgemeine Zieldebatten, wie sie jahrelang mit der Intention der Vollständigkeit geführt wurden, d. h. mit der Absicht, das pädagogische Handeln, also das, was die Menschen an der Basis tatsächlich miteinander tun, mit politischen und ideologischen Totalerklärungen "beweissicher" zu verbinden, verfehlen die pädagogische Realität an entscheidenden Punkten.

Wie wenig die politische Analyse die pädagogische ersetzen kann, zeigt allein schon die Tatsache, daß der pädagogische Ausgangspunkt immer das Individuum sein muß, im Hinblick auf seine Lernfähigkeit und Lernbereitschaft. Lernen können nur Individuen, keine Kollektive oder Gruppen, diese können das Lernen ihrer Mitglieder nur fördern oder hemmen. Die politisch-gesellschaftliche Analyse jedoch - gleich, welcher Provenienz - hat es gerade mit überindividuellen Zusammenhängen zu tun, hier spielt das Individuum - das leidende, lernende, politisch handelnde Individuum - lediglich eine statistische

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Rolle, es ist z. B. Teil eines kollektiven Machtfaktors, aber es ist für den politischen Anspruch gleichgültig, welches Individuum worüber wieviel gelernt hat, so lange nur das kollektive Bewußtsein den gewünschten Erfolg hat.

Andererseits ist in jedem didaktischen Konzept ein wichtiges Stück des Lernergebnisses unkalkulierbar und unplanbar. Wenn Liebel z. B. forderte, daß nur das gelernt werden soll, was für den Klassenkampf nützlich ist, so läßt sich die einfache Gegenfrage stellen: was ist denn dafür nützlich und was wieso nicht? Das Problem, daß politische und pädagogische Analysen nicht identisch sein können, läßt sich auch zeigen am derzeit beliebtesten didaktischen Arrangement des antikapitalistischen Konzeptes, am "erfahrungsbezogenen" Ansatz. Er beruht auf der didaktischen Annahme, daß die je subjektiven (Konflikt-)erfahrungen so interpretiert werden können, daß dabei einerseits Einsicht in die kapitalistischen Strukturen, andererseits der Wille zu deren Veränderung entsteht. Aber diese Annahme enthält eine ganze Reihe von weiteren Hypothesen, die mehr oder weniger ungesichert sind, und zwar sowohl im statistischen Sinne - mit welcher Häufigkeit ein entsprechender Erfolg zu erwarten ist - wie auch vor allem in jedem Einzelfall. Es kann z. B. sein, daß jemand die sogenannten Erfahrungen gar nicht in dieser Weise deuten lassen, sondern in seinem Sosein nur bestätigt werden will, etwa weil ihm die Schuld für seine Misere abgenommen wird; oder es kann sein, daß die Erfahrung eines relativ harmonischen Gruppengesprächs gerade darüber hinausgehende Einsichten blockiert, weil sie das Wohlbefinden beeinträchtigen würden; oder es kann sein, daß in den pädagogischen Situationen die Bereitschaft zu radikalem Engagement groß ist, während in den Alltagskommunikationen davon nicht mehr viel übrig bleibt. Das bedeutet: Für keine allgemeine politische Zielsetzung, also für keinen in diesem Sinne erwarteten Lernerfolg gibt es ein zwingendes didaktisches Arrangement, das gilt auch für das Konzept "Lernen durch Kampf". Es kann sein, daß die Freude am Provozieren sich selbst genug ist und durch Lernerwartungen nur beeinträchtigt würde.

Das bisher Gesagte gilt übrigens auch für den emanzipatorischen Ansatz. Es kann z. B. sein, daß die Chance, einen Freiraum durch Selbstbestimmung auszufüllen, derartige Ängste bewirkt, daß man sich lieber an vorgegebenen Normen oder Erwartungen orientiert, oder sich gar in einem Kollektiv "verstecken" möchte, als jene Chance tatsächlich zu nützen.

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Es wäre also eine problematische Erwartung, man könne eine systematische, perfekte, gegen jeden denkbaren Einwand gefeite pädagogische Theorie "der" Jugendarbeit formulieren, die zudem auch noch alle gesellschaftlichen und staatstheoretischen Probleme gleich mitlöst. Weder demokratische noch antidemokratische Erziehungsideale lassen sich didaktisch so präzise arrangieren, daß deren Konstrukte erfolgreich auf Serie gelegt werden könnten. Ursache dafür ist letztenendes die Tatsache, daß Menschen in komplexen Lebenszusammenhängen stehen, deren Ansprüche und Erwartungen sie mit ihrer eigenen Identität ausbalancieren müssen, und die kein didaktisches Arrangement auch nur annähernd zu erfassen oder gar vollständig zu manipulieren vermag.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß im Unterschied zur Schule in der pluralistisch verfaßten Jugendarbeit die Träger ihre partikularen weltanschaulichen und politischen Ziele verfolgen dürfen, daß sich aber keine pädagogische Theorie formulieren läßt, die allen diesen Zielen und Perspektiven gleichermaßen gerecht werden kann.

Außerdem sind die pädagogischen Felder in der Jugendarbeit sehr unterschiedlich strukturiert: Eine pädagogische Theorie, die für eine Bildungsstätte paßt, kann für eine Jugendverbandsgruppe oder für ein Freizeitheim unergiebig sein und umgekehrt. Und schließlich sei noch einmal an das Ergebnis des Abschnittes "Theorie und Professionalität" erinnert, daß nämlich pädagogische Theorien keineswegs nur aus praktischen Bedürfnissen erwachsen und keineswegs per se zur Verbesserung der pädagogischen Interaktion und für die Bedürfnisse der jugendlichen Partner erfunden wurden.

Aus diesen Gründen sollen die Überlegungen dieses Kapitels möglichst nah an den Determinanten, Bedingungen und Möglichkeiten des pädagogischen Feldes Jugendarbeit bleiben. Ich gehe dabei davon aus, daß es keinem Praktiker nützen würde, wenn ihm eine möglichst vollständige und geschlossene Theorie angeboten würde, die er dann vielleicht lernt, übernimmt und anwendet. Aus Erfahrung wissen wir, daß so in der Praxis theoretische Vorstellungen und ein professionelles Bewußtsein nicht entstehen. Ergiebiger sind vielmehr offene theoretische Modelle, die der Handlungssituation angepaßt sind, die Platz lassen für je individuelle Erfahrungen und vor allem auch für den Zuwachs an Erfahrungen, Modelle also, die sich im Verlaufe der Berufspraxis ausfüllen, modifizieren und verändern

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lassen. In diesem Sinne will ich in diesem Kapitel - nach einer ausführlichen Problematisierung des "Jugendbildes" in der Jugendarbeit - die pädagogischen Chancen und Möglichkeiten beschreiben, wobei ich davon ausgehe, daß diese Chancen solche einer emanzipatorischen Jugendarbeit sind. Insofern setze ich hier die Überlegungen über emanzipatorische Jugendarbeit aus dem 2. Kapitel fort - in der Hoffnung, daß auch diejenigen, die den Begriff Emanzipation nicht mögen bzw. der damit verbundenen pädagogischen Konzeption skeptisch gegenüberstehen, etwas davon haben.
 
 

Jugendarbeit und Theorie des Jugendalters

Eine zentrale Bedeutung im Rahmen einer pädagogischen Theorie der Jugendarbeit muß zweifellos ihr eigentlicher Gegenstand, nämlich die Jugend selbst haben. Wie man Jugend definiert, welche spezifischen Probleme bei ihr vermutet werden und welche erzieherischen Erwartungen man an sie heranträgt, kurz: das "Jugendbild", das die Gesellschaft bzw. die in der Jugendarbeit Tätigen haben, wird auch die praktischen Überlegungen und die pädagogischen Konzepte mit bestimmen. Wie solche "Bilder" zustande kommen und öffentliche Resonanz erhalten, ist schwer zu rekonstruieren, weil es sich da um komplexe wechselseitige Beeinflussungen handelt. Gewiß ist es aber nicht so, daß irgendwer ein solches Bild einfach definiert und das Definierte (nämlich die Jugend) damit zum bloßen Objekt macht; derartige Definitionsprozesse sind in den modernen Sozialwissenschaften möglich - und kennzeichnen dabei zugleich eine Grenze ihrer Kompetenz - nicht aber in realen historischen Abläufen. Im Gegenteil ist die öffentliche Definition des Jugendbildes immer zu einem nicht unerheblichen Teil von Jugendlichen mit beeinflußt worden, von der frühen Jugendbewegung ohnehin in einem ganz erheblichen Maße, aber auch später einfach durch jugendliche Verhaltensweisen selbst - vor allem dann, wenn sich diese Verhaltensweisen deutlich wahrnehmbar änderten. Jugendkundliche bzw. sozialwissenschaftliche Theorien waren bei Licht betrachtet eigentlich immer Reaktionen auf solche Veränderungen, interpretierten diese und führten dann auch in der Öffentlichkeit und auch in der Jugendarbeit zu neuen Vorstellungen.
Wenn also oben davon die Rede war, daß es pädagogische

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Theorien zur Jugendarbeit erst seit Anfang der sechziger Jahre gibt (jugendkundliche Theorien gab es selbstverständlich schon länger), so heißt das nicht, daß es vorher kein solches "Jugendbild" als praktische Handlungsorientierung gegeben hätte.

Wie immer man nämlich Jugendarbeit betreiben will - immer geht man dabei von theoretischen Gesamtvorstellungen aus, nach denen man seine Motive, Ziele und Handlungen interpretiert. Ob diese Theorien wissenschaftlich durchstrukturiert und reflektiert sind, spielt dabei grundsätzlich keine Rolle, es kann sich auch um eine Mischung aus mehr oder weniger unbewußten traditionellen Überlieferungen, Vorurteilen, "herrschenden Meinungen" und wissenschaftlichen Teilerkenntnissen handeln. Wichtig ist nur, daß der pädagogisch (und überhaupt praktisch-gesellschaftlich) Handelnde über einen für ihn einsichtigen Zusammenhang von Aussagen verfügt, die ihm die Totalität dessen erklären, was er bearbeitet.

Die "Theorie" der Praktiker in der Jugendarbeit muß also keineswegs eine "wissenschaftliche" sein, sie kann dies ohnehin nur in einem begrenzten Maße sein, weil dafür das pädagogische Handlungsfeld viel zu komplex ist - eine Tatsache, die der Sozialwissenschaftler weitgehend ignorieren kann, wenn er seine Forschungsgegenstände definiert, nicht aber der pädagogisch Handelnde, weil er sonst in seiner beruflichen Kommunikation scheitern würde. Wissenschaftliche Theorien können immer nur mehr oder weniger wichtige Teilstücke des praktischen Bewußtseins korrigieren - so insbesondere auch das "Jugendbild", aber kaum konstituieren. Wenn das zutrifft, dann ist die Vermutung naheliegend, daß Veränderungen im Selbstverständnis der Jugendarbeit und in ihrer Praxis irgendwie mit Veränderungen des "Jugendbildes" korrespondieren, von daher auch bis zu einem gewissen Grade mit verursacht werden.

Da es aber eine Jugendforschung, nach der sich das öffentliche Jugendbild orientieren kann, erst seit Beginn des Jahrhunderts gibt, stellt sich die Frage, welche Theorien die Vorstellungen über Sinn und Aufgabe der Jugendarbeit beeinflußt bzw. verändert haben. Man kann - mit anderen Worten - davon ausgehen, daß sich Rechtfertigung und Kritik auch in irgendeiner Form auf wissenschaftliche Jugendtheorien stützen - so wie z. B. die "Reformer" der sechziger Jahre mit der soziologischen Theorie Schelskys argumentierten. Andererseits ist zu vermuten, daß die Adaption wissenschaftlicher Jugendtheorien weitgehend selektiv erfolgt, so daß die eigenen Interessen möglichst bestärkt

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werden. Das gilt weniger für individuelle Ansichten und ihre Änderungsfähigkeit, als vielmehr vor allem für das Bewußtsein von Gruppen sowie für die öffentliche Meinung. In dem Maße nun, wie die Jugendarbeit sich professionalisiert und somit bestimmte wissenschaftliche Konzepte sich in der Ausbildung institutionalisieren, können sich Lehrmeinungen zum Komplex "Jugend" auch zu Doktrinen verfestigen, die möglicherweise auch die öffentliche Meinung in den Massenmedien bestimmen.

Seit Beginn der Jugendbewegung läßt sich beobachten, daß "Jugend" zu den existentiell bedeutsamen Themen der Gesellschaft gehört, die sich vorzüglich als Vehikel für den Transport vieler Hoffnungen und Erwartungen eignen. Mit der Begründung, es nütze oder schade der Jugend, läßt sich jedes wichtige "Anliegen" verbreiten oder kritisieren. Deshalb ist es - auch im Rahmen wissenschaftlichen Denkens - ungemein schwierig, die tatsächlichen Probleme des Jugendalters von dem immer damit beladenen "Umfeld" von Hoffnungen und Erwartungen zu trennen. Das aber ist für jemanden, der beruflich mit Jugendlichen umgeht, unerläßlich.

Die folgende historische Skizze soll daher den Blick für dieses Problem schärfen.

Wir setzen ein mit einer kurzen Charakteristik der bürgerlichen Familienerziehung, die um die Jahrhundertwende - gleichzeitig mit dem Entstehen der Jugendbewegungen und der psychologischen Jugendforschung - problematisch zu werden begann. Die bürgerliche Familie war um die Jahrhundertwende das Kernstück der bürgerlichen Sozialisation überhaupt, sie galt als "Keimzelle des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft". In der offiziellen Ideologie stellte sich der Zusammenhang so dar, daß Staat und Gesellschaft gehalten waren, diese familiäre Sozialisation als vorrangig zu betrachten und dafür zu sorgen, daß sie durch außerfamiliäre Maßnahmen lediglich "unterstützt" und "ergänzt" wurde - Vokabeln, die wir auch im Jugendpflegeerlaß von 1911 finden. Der Vorrang der bürgerlich-familiären Sozialisation wurde deshalb so stark betont, weil durch sie zugleich auch optimal der Nachwuchs für die Bedürfnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sozialisiert werden konnte. In den "Studien über Autorität und Familie" (1936) ist dieser Zusammenhang in vielfältigen Aspekten analysiert worden, der sich in der Fassung von Max Horkheimer kurz so resümieren läßt:

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Die Zentralfigur der Familie ist der Vater, "der Rechtsvertreter, der nicht kontrollierte Gewalthaber, der Brotherr, der Seelsorger und Priester seines Hauses" (S. 51). Er ist dem Kinde physisch überlegen, und die Erfahrung dieser physischen Überlegenheit wird zum Grundmuster für soziale (und politische) Beziehungen überhaupt. So wie das Kind die physische Überlegenheit des Vaters als unabänderliche Tatsache hinnehmen muß, an der es nichts zu ändern vermag, so lernt es, "die herrschenden Verschiedenheiten der Existenzbedingungen, die das Individuum in der Welt vorfindet", ebenfalls als natürliche, unabänderliche Gegebenheit "einfach hinzunehmen, es muß unter ihrer Voraussetzung seinen Weg machen und soll nicht daran rütteln. Tatsachen erkennen heißt, sie anerkennen" (S. 51). Der Vater erwartet Achtung und Liebe, weil er der Stärkere ist und "weil er das Geld verdient oder wenigstens besitzt" (S. 55), d. h. auf diese Weise über die künftige ökonomische Existenz des Kindes verfügt. "Sich den Wünschen des Vaters anzupassen, weil er das Geld hat, ist ganz unabhängig von allen Gedanken über seine menschlichen Eigenschaften das einzig Vernünftige" (S. 57). Nicht nur steht die irrationale, einer Naturgewalt vergleichbare väterliche Autorität stellvertretend für die politisch-gesellschaftlichen Autoritäten überhaupt und rät somit zum Erfolg durch Unterwerfung unter diese, im Falle des Mißerfolgs wird dieser Mechanismus zudem nach innen gewendet: Das Kind lernt, nicht den Dingen und Verhältnissen, sondern sich selbst auf den Grund zu gehen. Es lernt, "unter dem Druck des Vaters", "jeden Mißerfolg nicht bis zu seinen gesellschaftlichen Ursachen zurückzuführen, sondern bei den individuellen stehenzubleiben und diese entweder religiös als Schuld oder naturalistisch als mangelnde Begabung zu hypostasieren" (S. 59).

Die Rigorosität dieses vom Vater diktierten und repräsentierten Sozialisationsprozesses wurde zwar von der Mutter gemildert, die die Versagungen durch ihre emotionale Hingabe wenigstens zum Teil auffangen konnte, aber auch sie war letzten Endes der ökonomischen und physischen Stärke des Gatten unterlegen.

In den proletarischen Familien herrschte dieses Modell zumindest für die Kindheit mit ähnlicher Strenge und aus denselben gesellschaftlichen Gründen; in dem Augenblick jedoch, wo der (männliche) Jugendliche einen Beitrag zur ökonomischen Sicherung der Familie leisten konnte, milderte sich dieser Druck, der junge Proletarier wurde gleichsam eher in die Vaterrolle mit aufgenommen als der junge Bürger.

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Um die Jahrhundertwende nun zeigte sich, daß der durch die rigiden Sozialisationsmechanismen hervorgerufene Druck gefährliche Ausmaße annahm; dies äußerte sich in einer aufregenden Zunahme von Selbstmorden Jugendlicher und spiegelte sich in der Literatur, in der die Darstellung von Vater-Sohn-Konflikten auf allen Stufen des literarischen Niveaus geradezu zum Modethema wurde. Die Gründe für diese Zuspitzung sind mannigfaltig und dürften sich ergänzen: Die in dieser Familiensozialisation implizierte Identität von Familie und Gesellschaft war brüchig geworden. Die Belohnungen für die Versagungen im Kindes- und Jugendalter, die in der Versicherung bestanden, man werde auf diese Weise später "seinen Weg machen", blieben immer öfter aus. Die in der bürgerlichen Sozialisation erworbenen Verständnismuster reichten nicht mehr aus für die Behauptung in einer sich rapide entwickelnden, technisch-naturwissenschaftlich geprägten Industriegesellschaft. Das Aufkommen der Arbeiterbewegung zeigte, wie gefährdet die privilegierte gesellschaftliche Position war. Die Widersprüche zwischen dem Erziehungsideal und der gesellschaftlichen Realität wurden von der liberalen Presse und Literatur zunehmend aufgedeckt. Vor allem aber die marxistische Kritik an den Grundlagen der Gesellschaft, die zu diskutieren die bürgerliche Erziehung vermied, führte - selbst wenn sie nicht verstanden und akzeptiert wurde - zumindest zu erheblicher Verunsicherung.

Das Grundmuster der familiären Sozialisation hatte, wie schon erwähnt, zur Konsequenz, daß alle außerfamiliären gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen analog den familiären Subordinationsverhältnissen interpretiert wurden. Wurde nun das Monopol dieses familiären Sozialisationsmusters fragwürdig, so mußte diese Fragwürdigkeit über kurz oder lang auch auf die übrigen gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen übergreifen Insofern brachte die Kritik der bürgerlich-familiären Erziehung die bürgerliche Gesellschaft selbst in eine gewisse Zwangslage.

In dieser Lage bot sich nun die junge Psychologie als Helfer an, indem sie darauf aufmerksam machte, daß Kindheit und Jugend eigenständige Entwicklungsphasen seien mit eigenen Problemen, auf die man Rücksicht zu nehmen habe. Das Kind und der Jugendliche seien keine "unfertigen Erwachsenen", die man möglichst schnell und ohne große Umwege zu fertigen Erwachsenen zu machen habe. Vielmehr stelle das Jugendalter eine Zeit

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der Krise dar, in der der Jugendliche sein "Wesen" entdecken und dazu zahlreiche Konflikte lösen müsse; Aufgabe der Erziehung sei, ihm dabei möglichst schonend zu helfen. In der "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" der zwanziger Jahre (Nohl; Weniger; Spranger) trat dieser Aspekt dann in den Mittelpunkt der jugendpädagogischen Überlegungen.

Wichtig ist nun, daß diese Gedanken der Jugendpsychologie die Möglichkeit einer Anpassung des bürgerlich-familiären Erziehungsideals an die veränderten Verhältnisse eröffneten. Die Zustimmung zu den Ideen der bürgerlichen Jugendbewegung konnte dem Bürgertum insofern leichtfallen, als mit der Forderung nach dem "freien Jugendraum" nicht die obengenannten Erziehungsprinzipien in Frage gestellt wurden, sondern den Jugendlichen vielmehr eine Methode offeriert wurde, diese Prinzipien beim Übergang in den Erwachsenenstatus zu modifizieren und individuell zu verarbeiten.

Eben diese individuelle Bearbeitung der Reifezeit - von einer ebenfalls an der isoliert verstandenen Entwicklung des einzelnen interessierten damaligen Psychologie nahegelegt - erwies sich als wichtigstes Bindeglied zur bürgerlich-familiären Erziehung. Wäre es der bürgerlichen Jugendbewegung - wie der proletarischen - gelungen, sich mit den anderen Gleichaltrigen zu solidarisieren, wären die Prinzipien der Familienerziehung aufs stärkste gefährdet gewesen. Es wäre dann z. B. nicht mehr möglich gewesen, individuelle Mißerfolge als individuelle Schuld oder als mangelnde Begabung nach innen zu verlagern, sie wären vielmehr zwangsläufig nach außen, gegen die den eigenen Bedürfnissen feindlichen Sozialisationsinstitutionen gewendet worden. Trotz - oder gerade wegen - aller Emotionalität schafften die Gruppen der bürgerlichen Jugendbewegung diesen Sprung nicht; "die anderen" blieben das "Material" für die eigene individuelle Bildung und Reife.

Der "jugendgemäße Raum" konnte also dazu dienen, den Widerspruch von familiärer und gesellschaftlicher Struktur - als produktive Leistung der Jugendlichen selber - überbrücken zu helfen, ohne daß die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft oder der bürgerlichen Familie geändert werden mußten. (Folgerichtig verhielt sich die bürgerliche Gesellschaft gegenüber der proletarischen Jugendbewegung, die mehr wollte, entschieden repressiver.) Durch dieses Zugeständnis an die - doch erst durch den Widerspruch zwischen Familienstruktur und liberaler Wirtschaftsgesellschaft hervorgerufene - Sozialisationsproble-

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matik des Jugendalters gelang es bis in die sechziger Jahre, vor allem im Bereich der Sozialpädagogik die wahrnehmbaren Probleme des Jugendalters pädagogisch zu diskutieren, ohne an dem bürgerlichen Familienprinzip oder an den Prinzipien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu rütteln. Und insofern können wir die deutsche Pädagogik als eine "bürgerliche" bezeichnen, d h. als eine solche, die den Prinzipien der bürgerlichen Familienerziehung selbst dort verpflichtet blieb, wo sie es mit proletarischem Nachwuchs zu tun hatte.

Es ist nützlich, das in der öffentlichen Jugendpflege von Anfang an enthaltene "Verständnis" für die Jugendprobleme unter diesem eingrenzenden kritischen Vorbehalt zu sehen. Alle Veröffentlichungen zur Jugendpflege aus der damaligen Zeit wiederholten dieses von der Jugendpsychologie bereitgestellte "Verständnis"-Stereotyp, als wären sie von einem einzigen Autor verfaßt worden: Die Unruhe, Krisenhaftigkeit und Ungebärdigkeit des Jugendalters sei etwas Natürliches, Entwicklungsbedingtes, das sich nicht gegen die normativen Grundlagen der Familie oder Gesellschaft richte, vielmehr zeige sich darin gerade das Bemühen, diesen Normen auf eine persönlich verbindliche Weise gerecht zu werden. Damit dies geschehe, sei eine Zeit der Ruhe nötig (freier Jugendraum), in der verständnisvolle Hilfe der Erwachsenen dafür sorgt, daß aus der Labilität dieser Phase keine "Gefährdung" (nämlich der gesellschaftlichen Normen) wird. Um diese pädagogische Hilfe in der rechten Weise anbieten zu können, müßten die Erzieher möglichst viel über die Probleme des Jugendalters wissen, sie müßten also pädagogisch-psychologisch ausgebildet werden. Am eindringlichsten ist diese Konzeption in Eduard Sprangers "Psychologie des Jugendalters" formuliert worden. Trotz des vorwiegend instrumentell-affirmativen Charakters hat sie im Vergleich zur vorherrschenden autoritär-bürgerlichen Sozialisation einen gewissen Spielraum für Emanzipationsbedürfnisse gelassen - wie die bürgerliche Jugendbewegung zeigt.

Es muß betont werden, daß den einzelnen Trägern der Jugendarbeit die Adaptation dieser jugendpsychologischen Erkenntnisse in unterschiedlichem Maße gelang - je nachdem, wie leicht es ihnen von ihrer politisch-ideologischen Herkunft her fiel, die autoritäre Tradition mit den modifizierenden Aspekten der Jugendforschung zu verbinden. Daher würde eine detaillierte Untersuchung einzelner Autoren oder Verbände jene Nuancen zutage fördern, die in der Kombination beider Dimensionen

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möglich sind. Revolutionäre Versionen, wie Gustav Wynekens Theorie von der "Jugendkultur" (1913), nach der die Jugendgemeinschaft jene kulturelle Innovation erfinden sollte, die dann die offizielle Kultur zu verändern und die menschliche Gesellschaft zu verbessern vermag, blieben schon in der bürgerlichen Jugendbewegung Episode und gewannen in der öffentlichen Jugendpflege überhaupt keinen Einfluß.

Sprangers "Psychologie des Jugendalters" - geschrieben unter dem Eindruck der bürgerlichen Jugendbewegung - beschrieb möglicherweise nicht einmal die Pubertät der ganzen bürgerlichen Jugend zutreffend, sondern vielleicht nur der Gruppe, die er dabei vor Augen hatte, sicher aber nicht die der Arbeiterjugend. Die unruhig-experimentelle Phase der Pubertät ist nämlich als kulturelles Phänomen gebunden an bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen. Einmal daran, daß durch den Prozeß der "Demontage des Vaters" das Jugendalter freigesetzt wird, gleichsam gesellschaftlich zur Disposition gestellt, also nicht mehr eindeutig durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie determiniert wird; ferner daran, daß diese Freisetzung die tatsächliche Möglichkeit einer Wahl zwischen mehreren Lebensperspektiven enthält - seien es politisch-weltanschauliche oder berufliche. Insofern die Arbeiterjugend einen solchen Perspektiven-Spielraum real gar nicht hatte, gab es für sie auch keine kulturelle, sondern nur eine biologische Pubertät. Das änderte sich erst in dem Maße, wie die Arbeiterschaft "verbürgerlichte", also ebenfalls grundsätzlich Aufstiegschancen und damit die Wahl zwischen mehreren Perspektiven erhielt. In diesem Augenblick und in diesem Maße gab es dann auch für die Arbeiterjugend eine "bürgerliche" Pubertät.

Den Einfluß, den die junge Jugendpsychologie auf die Jugendarbeit gehabt hat, würden wir heute mit einem soziologischen Begriff "funktional" nennen, d. h., das Erkenntnisinteresse war gerichtet auf den Zusammenhalt des gesellschaftlichen Systems und darauf, auftretende Störungen (in diesem Fall: die Krisen des Jugendalters) so zu erklären und zu lösen, daß dieser Zusammenhalt möglichst wenig gefährdet wurde. Wegen des individual-psychologischen Aspektes der jungen Psychologie blieben jedoch soziologische Gesichtspunkte ebenso außer Betracht wie aus politischen Gründen psychoanalytische. Die Soziologie der Weimarer Zeit, die vor allem in den Arbeiten von Karl Mannheim (z. B. "Das Problem der Generationen" 1928/29) sich durchaus schon mit der Jugend als soziologischem Phänomen

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beschäftigte, blieb praktisch ohne Einfluß. Vielmehr hat bis weit in die fünfziger Jahre hinein die Entwicklungspsychologie die Jugendarbeit beherrscht. Jugendarbeit war Entwicklungspsychologie, kombiniert mit den gezähmten "jugendgemäßen" Erfindungen der bürgerlichen Jugendbewegung. Auf diesem Hintergrund begann die Jugendarbeit auch nach 1945 wieder.

Erst mit dem Buch von Helmut Schelsky "Die skeptische Generation" (1957) drangen soziologische Gesichtspunkte in das Selbstverständnis der Jugendarbeit ein. Das Interesse an soziologischen Perspektiven beruhte zunächst einmal darauf, daß in der Mitte der fünfziger Jahre die Teilnahme der Jugendlichen gerade an solchen Maßnahmen der Jugendarbeit stark rückläufig wurde, die nach den Grundsätzen des "Jugendgemäßen" veranstaltet wurden. Bei den Trägern breitete sich deswegen eine ähnliche Unsicherheit aus wie bei den kirchlichen Organisationen zu Beginn des Jahrhunderts. Schon aus Gründen des Verbandsinteresses war man daher begierig, für diese Entwicklung Erklärungen und damit auch Korrekturmöglichkeiten zu erhalten.

Schelsky geht von der Hypothese aus, daß das "Grundbedürfnis" der Jugend in modernen Gesellschaften darin bestehe, beim Übergang von der familiaren in die gesellschaftliche Struktur möglichst schnell "Verhaltenssicherheit" zu gewinnen. Damit wolle der Jugendliche den Widerspruch überwinden zwischen den "Vertrautheitsansprüchen", die er aus der eigenen Familie mitbringt, und den "Fremdheitserlebnissen", denen er ausgesetzt ist, sobald er die andersgearteten Rollenerwartungen des "sekundären Systems" der Gesellschaft erfüllen muß. Dieses Bedürfnis sei in diesem Jahrhundert auf drei verschiedene Weisen befriedigt worden: durch die Generation der "Jugendbewegung", durch "die Generation der politischen Jugend" (Hitlerjugend) und durch die "skeptische Generation" nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit ist gesagt, daß dieses "Grundbedürfnis" nach Verhaltenssicherheit je nach den Möglichkeiten, die die sozio-kulturelle Gesamtsituation erlaubt, verschieden befriedigt werden kann. Das Problem der Jugendarbeit besteht nun darin, daß sie diejenige Lösungsform, die die heutigen Erzieher in ihrer Jugend selbst erlebt haben - nämlich die "jugendgemäße" der Jugendbewegung - für zeitlos-allgemeingültig halten und deshalb als Erwartung an die gegenwärtige Jugendgeneration übertragen. Diese Generation sei jedoch geprägt durch die Erfahrung

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des Nationalsozialismus und den verlorenen Krieg, die zu einer "Entpolitisierung und Entideologisierung des gesellschaftlichen Bewußtseins" geführt habe. Zudem habe nie zuvor eine Generation wie diese die Aufgabe gehabt, die "persönliche und private Welt des Alltags, vom Materiellen her angefangen, selbst stabilisieren und sichern zu müssen" (S. 86). Schon von dieser Erfahrung her sei der "distanzierende Skeptizismus" zu verstehen sowie die "auf das Praktische, Handfeste, Naheliegende, auf die Interessen der Selbstbehauptung und -durchsetzung gerichteten Denk- und Verhaltensstile dieser Generation", verbunden mit einer "Absage an romantische Freiheits- und Naturschwärmereien, an einen vagen Idealismus, dem die Konkretisierungsmöglichkeiten fehlen, aber auch an intellektuelle Planungs- und Ordnungsschemata, die das Ganze in einem Griff zu erfassen und zu erklären glauben" (S. 88). Die Schwierigkeit bestehe nun darin, daß dieser Generation, die das epochale Bedürfnis nach Verhaltenssicherheit auf ihre Weise (nämlich als "skeptische") befriedigen will, "einem Bild ihrer selbst in den Köpfen der Erwachsenen gegenüber (steht), auf das sie in irgendeiner Weise in ihrem Verhalten eingehen muß, sei es nun es bestätigend, es ablehnend oder es nach Möglichkeit ignorierend" (S. 98). Dieses Bild sei vor allem von zwei Prämissen geprägt, "die allerdings in der Bewußtseinsverfassung der westdeutschen Gesellschaft schon fast dogmatischen Charakter angenommen haben". Es sind dies

"a) die Auffassung, daß die Jugend als Generationseinheit einen sozialautonomen Bereich, eine sozial eigenständige Jugendwelt, in der Verfassung der Gesellschaft einnimmt, einnehmen will und soll,

b) die Auffassung, daß die kleingruppenhafte Gemeinschaftsbildung die der Jugend schlechthin angemessene, jugendgemäße Sozialform darstellt" (S. 97).
 
 

Gegen die erste Auffassung wendet Schelsky ein, daß der Mensch der fortgeschrittenen industriellen Gesellschaft "gleichzeitig den verschiedenartigen sozialen Gebilden angehört, wobei diese sich in keiner festen strukturellen Zuordnung zueinander befinden. (Er) gehört gleichzeitig einer Familie, einem Betrieb, einer Siedlung, einer Kirche, einer Partei, irgendwelchen Vereinen usw. an, die von ihm jeweils ein bestimmtes soziales Verhalten nur in bezug auf ihren Lebensbereich erwarten und durchsetzen können«. Der moderne Mensch sei also eine Art von Rollen-Ensemble, in dem widersprüchliche Erwartungen zusammenkommen, die erfüllt werden müssen. Jugend sei folglich kein

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"totaler Stand", sondern nur eine Rolle unter anderen. "Man ist als junger Mensch Jugend in der Familie, Berufsjugend und Betriebsjugend, Parteijugend, Gewerkschaftsjugend, junge Kirche, Jugend im Kino usw. Und selbstverständlich gibt es auch die Rolle der Jugend in jugendeigenen Verbänden" (S. 107). Zudem seien alle diese Rollen zunehmend altersunspezifisch geworden, jugendliche Rollen könnten durchaus auch von Erwachsenen, ja sogar von Alten übernommen werden. Daraus nun leitet Schelsky seine Kernthese ab, "daß von der modernen Sozialstruktur her der Jugendliche frühzeitig zum Erwerb von Erwachsenen-Rollen genötigt wird, ... daß vom psychologischen Standpunkt aus eine Verlängerung der Reifezeit, von den Anforderungen der epochalen Sozialstruktur her aber eine Verkürzung der Jugendhaftigkeit zu diagnostizieren sind ... . Demnach liegt die entscheidende soziale Strukturgrenze, der Sprung aus einem sozialen Horizont in den anderen, nicht zwischen Jugend und Erwachsenen, sondern zwischen Kindheit und Jugend bei relativer Aufhebung der Jugend als sozial eigenständiger Verhaltensphase" (S. 108 f.). Alle Versuche, mit pädagogischen Begründungen die Jugendphase zu verlängern, seien "in Wirklichkeit eine Verlängerung der Kindheitsphase". Sie behinderten nur die nötige Integration der Jungen in die Erwachsenenwelt.

Ähnlich lautet Schelskys Kritik an der Aufrechterhaltung der "kleingruppenhaften Gemeinschaftsbildung". Auf diese Weise "werden der Sozialisationsmodus der Spätkindheit zu dem für die Jugend schlechthin besten Weg zur Soziabilität erhoben und so die in der sozialen Übergangsphase 'Jugend' liegenden sozialen und persönlichen Spannungen und Krisen 'nach rückwärts' beseitigt oder erleichtert. Allerdings wird damit die Problematik des Übergangs nur an das Ende der Jugendzeit verschoben, wo er dann abrupter zu erfolgen hat und zur jugendlichen Unfertigkeit von Erwachsenen führt" (S. 122). Auf diese Weise werde die Jugend "unreif" gehalten "in den Bereichen der Geschäfte, der Politik und Öffentlichkeit" (S. 123). Für das Jugendalter fordert Schelsky konsequent ein der damaligen Jugendarbeit (und Pädagogik überhaupt) entgegengesetztes Erziehungsziel: "Erziehung zur Intellektualität und Gefühlsaskese, zur rationalen, zweckbewußten Kooperation anstatt zur 'Gemeinschaft', zum Rollen- und Attitüdenwechsel anstatt zur 'Ganzheit' der Person, zur Bejahung der unanschaulich abstrakten Großorganisation, zur Abdrängung aller sozialen Gefühls- und Vertrautheitsbedürfnisse ins Private" (S. 124).

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Einige Folgerungen aus seinen Thesen für die Jugendarbeit hat Schelsky in dem Kapitel "Jugend und Jugendorganisationen" selbst gezogen. Die Jugend habe erkannt, daß ihr in den Jugendorganisationen die Gesellschaft gegenübertritt. Sie verhalte sich folgerichtig ihnen gegenüber ebenso wie auch gegenüber anderen gesellschaftlichen Institutionen: emotional distanziert, unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und in der Erwartung, eine Dienstleistung zu erhalten, die anderen Freizeitdienstleistungen vergleichbar ist.

Die Wirkungen der von Schelsky entwickelten Argumentationskette in der Jugendarbeit zwischen 1957 und etwa 1965 beruhten darauf, daß sie einerseits die von den pädagogischen Funktionären als Defizit empfundenen Verhaltensweisen (Mitgliederrückgang; Weigerung, sich verbindlich zu organisieren; die passive Grundeinstellung; Ablehnung der festen Gemeinschaft usw.) erklärten, ihnen andererseits aber auch einen positiven Sinn gaben: als ein Ausdruck des Bedürfnisses, möglichst bald erwachsen zu werden, in die Erwachsenengesellschaft integriert zu werden. Der Schluß für die Jugendarbeit, insbesondere für die Jugendverbände, lag nahe, daß man wieder "Erfolg" haben werde, wenn man diesem Bedürfnis Rechnung trage. In der sogenannten "Erklärung von St. Martin" (1962), die im ganzen den Thesen Schelskys keineswegs folgt, sondern einen Kompromiß anstrebt, heißt es unter Punkt 1: "Die Jugendverbände verstehen sich als Glieder der Gesellschaft. Sie sehen ihr Aufgabenfeld im außerschulischen Bildungs- und Erziehungsbereich. Sie erfüllen bewußt eine ergänzende Erziehungsfunktion neben Elternhaus und Schule und isolieren sich dabei nicht vom gesellschaftlichen Leben. Ein 'autonomes Jugendreich' wird nicht angestrebt". Damit wollten sich die Jugendverbände von den Traditionen der bürgerlichen Jugendbewegung befreien und statt dessen eine Form der "sozial-integrativen" Jugendarbeit anstreben.

Während nun die Thesen Schelskys in den Jugendverbänden und bei den meisten Trägern kaum oder allenfalls deklamatorisch rezipiert wurden - sie enthielten ja einen massiven Angriff auf deren Selbstverständnis - wurden sie von jenen Autoren und Mitarbeitern als kritische Waffe gegen die bestehende Jugendarbeit benutzt, die - wie im vorigen Kapitel erwähnt - vor allem in den Jugendbildungsstätten und Freizeitstätten fortschrittlichere, auf Emanzipation angelegte pädagogische Ziele vertraten und realisieren wollten. Dieses Bündnis mit der Ju-

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gendsoziologie der Schelsky-Schule war deshalb möglich, weil ihre Arbeiten eine große Publizität erlangten und weil eine Berufung darauf es gestattete, wichtige pädagogische und politische Prämissen der traditionellen Jugendarbeit als "unwissenschaftlich" zu bezeichnen.

Hier interessiert uns nicht eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Thesen Schelskys, die verständlicherweise eine umfangreiche Diskussion ausgelöst haben (vgl. Flitner 1963). Die Behauptung, es gebe keine jugendliche Teilkultur mehr, ist von anderen Autoren (z. B. Tenbruck) bestritten worden. Und gegen die These, daß die vom Menschen der modernen Industriegesellschaft auszufüllenden Rollen als widersprüchliche von den einzelnen Individuen zu integrieren seien, hat unter anderen Ludwig von Friedeburg (1965) Zweifel angemeldet: "Ob die zweifellos vielfältigen Normen, denen Jugendliche heute begegnen, zwangsläufig und in der Regel einander widersprechen und so den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein strukturell mit Konflikten beladen oder ob sie sich tendenziell ergänzen und, nicht im Widerspruch miteinander, sondern im Verein miteinander, gesamtgesellschaftliche Widersprüche reproduzieren, ist eine der bedeutsamsten Forschungsfragen für die Soziologie der modernen Jugend" (S. 177). Da wir uns hier nicht für die jugendsoziologische Problematik im ganzen interessieren, sondern nur für solche Arbeiten, die auf das Selbstverständnis der Jugendarbeit einen Einfluß gehabt haben, wollen wir diese Diskussion hier nicht weiter verfolgen, vielmehr uns einer weiteren Theorie jugendlichen Verhaltens zuwenden, nämlich Eisenstadts Buch "Von Generation zu Generation" (1966).

Schelskys Argumentation vernachlässigte ein Bedürfnis, das auch in seinem Material erkennbar war, aber ihm offensichtlich nicht besonders wichtig schien: das nach wie vor unverkennbare Bedürfnis aller Jugendlichen, in irgendeiner Form in Gleichaltrigen-Gruppen zusammen zu sein. Dieses Bedürfnis war offenbar auch der "skeptischen Generation" eigen. Im Rahmen der Theorie Schelskys ließe sich nur dann eine befriedigende Erklärung dafür finden, wenn das Zusammensein in Gleichaltrigen-Gruppen auch einen Beitrag zur Verhaltenssicherheit zu leisten vermochte. Eben dieser Frage geht Eisenstadt in seinem Buch "Von Generation zu Generation" nach. Er knüpft an die auch von Schelsky für wichtig gehaltene Erkenntnis an, daß in der moder-

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nen Gesellschaft die für das Erwachsenenleben gültigen Rollen nicht mehr hinreichend in der Familie erlernt werden können, daß infolgedessen auf dem Obergang von der Kindheit zur Erwachsenenwelt eine Übergangslösung für das soziale Verhalten gefunden werden muß, bis die neuen sozialen Rollen gelernt und die Heranwachsenden in die Erwachsenenwelt integriert sind. Diese Phase ist also gekennzeichnet durch "Abwehr der Zukunftsrollen und Orientierung an ihnen" (S. 41). Die Gruppe der Gleichaltrigen erlaubt einerseits, die in der Familie erworbenen Sozialmuster, z. B. deren emotionale Intensität, fortzusetzen, erstreckt die Sozialbeziehungen jedoch zugleich auf Partner, die nicht aus der eigenen Familie stammen. Mit ihnen zusammen kann man jene Rollen lernen, die "universalistisch" sind, d. h. deren Ausfüllung nicht auf Familien-Mitglieder beschränkt werden muß; diesen gegenüber sind die Rollenbeziehungen vielmehr "partikularistisch". In Gestalt der altershomogenen Gruppen (Gleichaltrigen-Gruppen) fallen zwei Notwendigkeiten zusammen: Einmal sind diese Gruppen notwendig, um wichtige Momente des Sozialisationsprozesses für die Individuen beim Obergang in die Erwachsenenwelt zu ermöglichen. Andererseits sind diese Gruppen ebenso nötig für das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems; denn gäbe es sie nicht, so wäre der gesellschaftliche Funktionszusammenhang gefährdet, weil die "universalistischen" Verhaltensweisen sich nicht ausbilden könnten, auf denen das moderne gesellschaftliche System beruht.

Im Lichte dieser Theorie erfährt die bisherige Jugendarbeit implizit eine wichtige Kritik: Nun kann es in der Jugendarbeit nicht mehr darum gehen, die Familienerziehung zu "unterstützen", sondern allenfalls darum, sie zu "ergänzen". Die zu Beginn des Jahrhunderts noch unerschütterte bürgerlich-familiäre Sozialisationsvorstellung, in der die anderen Sozialisationsinstitutionen gleichsam nur als eine Fortsetzung der bürgerlich-familiären Erziehungspraktiken und Erziehungsintentionen mit anderen Mitteln angesehen wurden, muß aufgegeben werden. Ebenso enthüllen sich nun die "jugendgemäßen Formen" der bürgerlichen Jugendbewegung, die später nach Schelsky zu falschen Erwartungen der Erwachsenen gegenüber den Jugendlichen führten, als Variation der partikularistisch-familiaren Erziehungsideale. So gesehen ermöglichten die Theorien Schelskys und Eisenstadts zum erstenmal in der Geschichte der Jugendarbeit eine pädagogische Konzeption, die nicht auf dem

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Leitbild der bürgerlichen Familie gründete, sondern dieses Leitbild mit gesellschaftlichen und pädagogischen Begründungen relativierte. Jugendarbeit dient nun nicht mehr dazu, den außerfamiliären Sozialisationsinstitutionen den Stempel der bürgerlich-familiären Sozialisationsideale aufzudrücken, sondern eher umgekehrt dazu, von diesen Idealen und den daraus erwachsenden Erziehungspraktiken zu emanzipieren, weil sonst Erwachsenwerden gar nicht erfolgen kann.

Schichtenspezifische Unterschiede werden von beiden Autoren nicht weiter berücksichtigt. Entsprechend seiner These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", nach der sich die schichten- und klassenspezifischen Unterschiede immer mehr einebnen, sah Schelsky auch in den Verhaltensstilen und Verhaltenserwartungen der bürgerlichen und proletarischen Jugend keine nennenswerten Unterschiede. Die "skeptische Generation" der jungen Arbeiter und der jungen Mittelständler suchte "Verhaltenssicherheit" auf die gleiche Weise.

Auch die Theorie der Gleichaltrigen-Gruppe von Eisenstadt abstrahierte von schichtspezifischen Modalitäten der jugendlichen Sozialisationen, obwohl sein Modell für derartige Variationen offen wäre.

Wie alle strukturell-funktionalen Theorien, so erliegt auch die Eisenstadts der Gefahr, vorfindbare Realitäten unter Hinweis auf deren Zweckmäßigkeit für das Funktionieren des gesellschaftlichen Gesamtsystems zu rechtfertigen. Es läßt sich jedoch beispielsweise fragen, ob die hierbei unterstellte Nicht-Identität von familiärer und gesellschaftlicher Struktur und Rollenerwartung tatsächlich in diesem Maße besteht, ob sie, wenn ja, prinzipiell unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft bestehen muß oder ob sie lediglich für eine Übergangsphase Gültigkeit hat, in der gleichsam die gesamtgesellschaftliche Entwicklung dem familiären Selbstverständnis davongelaufen war und von diesem sehr bald eingeholt wird. Eine gültige Entscheidung dieser Frage kann nur im Rahmen einer umfassenden Erörterung des Sozialisations- und Erziehungsprozesses erfolgen. Hinzuweisen ist jedoch vordergründig darauf, daß die familiäre Erziehung von Anfang an nicht gesellschaftlich exterritorial vor sich geht, sondern immer auch schon gesamtgesellschaftliche Normen (wie etwa Herrschaftsverhältnisse, Leistungserwartungen) in das sich bildende Ich einpflanzt. Auch gesellschaftliche Antinomien wie Arbeit - reizeit werden schon relativ früh zu kindlichen Erfahrungen. So einleuchtend die Theorien Schelskys und

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Eisenstadts auf den ersten Blick auch sein mögen - "Emanzipation" kann auf ihrem Hintergrund lediglich als Emanzipation von der familiären Herkunft zum Zwecke der optimalen Anpassung an die Rollenerwartungen des gesamtgesellschaftlichen Systems verstanden werden. Trotz aller Fortschritte, die diese beiden Theorien für die Jugendarbeit brachten, so lagen hier doch auch ihre Grenzen. Hatte die individualistisch-psychogenetisch orientierte Jugendpsychologie zu Beginn des Jahrhunderts mehr Verständnis für die Krisenjahre der Pubertät verlangt und damit eine Methode der besseren gesellschaftlichen Anpassung vorgeschlagen, so argumentierten die soziologischen, strukturell-funktional orientierten Theorien Schelskys und Eisenstadts unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ebenfalls für eine solche Anpassung, wobei vor allem Schelsky sich darauf berufen konnte, daß eben dies auch empirisch nachweisbar im Interesse der Jugendlichen selbst liege. Unausgesprochen blieb jedoch dabei die Frage, welcher Zusammenhang zwischen dem Jugendalter und dem gesellschaftlichen Wandel bestehen könnte. Oder genauer gesagt: Formal enthalten die funktionalen Theorien zwar auch die Möglichkeit der Veränderung des sozialen Gesamtsystems, auch im Hinblick auf die besondere Rolle der Jugend darin, und gerade Eisenstadt hat den "Haupttypen abweichender Altersgruppen" ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 319 ff.). Aber da "Veränderung" in diesem Modell keine historische Materialität aufweist, sondern inhaltlich beliebig erscheint, je nach der faktischen Resultante aus Funktionen und Dysfunktionen, so kann die funktionalistische Theorie auch nur in dem Maße emanzipatorische Ideen aufnehmen, wie sie überhaupt ihr Augenmerk auf die Veränderbarkeit sozialer Systeme richtet, die aber in ihrer Substanz ebensogut auch gegen-emanzipatorisch sein kann.

Für die Zeit seit Anfang der siebziger Jahre lassen sich Einflüsse der wissenschaftlichen Jugendtheorie auf die Jugendarbeit nicht mehr durch einzelne Arbeiten bestimmen. Allgemein lädt sich sagen, daß vor allem Theoreme der "kritischen Theorie", zum Beispiel das Diskurs-Modell von Habermas, zur Kritik der eben referierten Theorien führten. Darüber hinaus kamen gruppendynamische und sozialisationstheoretische Vorstellungen zum Zuge. Diese Einflüsse betrafen aber weniger das "Jugendbild" als vielmehr die didaktisch-methodische Ebene. Eine gewisse Wirkung hatte allerdings Liebels Kritik (Lessing/Liebel 1974)

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sowohl an der "bürgerlichen" Jugendforschung wie an den sich darauf stützenden Konzepten der "progressiven" bzw. "emanzipatorischen" Jugendarbeit. Er forderte, die Annahme, daß es "die" Jugend als eine im wesentlichen einheitliche soziale Gruppe gäbe, an die "die" Jugendarbeit sich gleichermaßen wenn auch mit verschiedenen Angeboten wenden könne, müsse aufgegeben werden. Zu ermitteln sei vielmehr der Standort der Jugendlichen im Rahmen ihrer Klasse. Die Ausgliederung des Jugendalters zu einer eigenen sozialen Gruppe sei das Produkt des typischen kapitalistischen Produktionsprozesses und keineswegs notwendige Folge hochentwickelter Industriegesellschaften überhaupt.

"Die spezifisch kapitalistische Form des Produktionsprozesses verhindert auf allen Stufen der technologischen Entwicklung, daß die Menschen in der Arbeit selbst ihre Fähigkeiten entfalten können. Da die Entwicklung von Fähigkeiten somit in der kapitalistischen Gesellschaft prinzipiell auf den Bereich jenseits der Produktionssphäre verwiesen ist, müssen Veranstaltungen, die auf die Entwicklung von Fähigkeiten zielten, getrennt von der Produktion organisiert werden. Der besondere Charakter des kapitalistischen Produktionsprozesses machte die Konstruktion von 'Schonräumen' notwendig, bewirkte jedoch zugleich, daß damit die Heranwachsenden, je länger sie von produktiver Arbeit 'freigestellt' werden, in Abhängigkeit von denen gehalten werden, die ihren Lebensunterhalt bestreiten, in der Regel den Eltern ... Unter nicht-kapitalistischen Bedingungen würde gerade der mit der Industrialisierung gegebene technologische Fortschritt die Möglichkeit bieten, die Heranwachsenden durch pädagogisch organisierte Teilnahme an der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums schon frühzeitig aus 'Naturabhängigkeiten', also Abhängigkeiten von Eltern, Erwachsenen zu befreien" (S. 53).
 
 

Liebel hält die durch persönliche Abhängigkeit und durch Distanz vom Produktionsprozeß geschaffene Altersgruppe "Jugend" für eine "bürgerliche Mystifikation". Mir scheint, Liebel unterschätzt hier die Schwierigkeiten, die entstehen würden, wenn man massenhaft die nötigen Bildungs- und Ausbildungsprozesse im Zusammenhang mit der produktiven Arbeit organisieren würde, denn auch die polytechnische Erziehung in den sozialistischen Ländern hat erhebliche Schwierigkeiten, mit dem Widerspruch von rationeller Arbeitsorganisation einerseits und der ganz anderen "Rationalität" von systematischen (nicht nur gelegentlich-zufälligen) Lernprozessen andererseits fertigzuwerden.

Eine andere Frage wäre, ob die organisierten Lernphasen sich derart auf das Jugendalter konzentrieren müssen, wie dies heute

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der Fall ist, oder ob sich nicht schon früh ein Wechsel von Lernphasen und Arbeitsphasen organisieren ließe. Abgesehen davon diskutiert Liebel hier nicht die Chancen, die in der zeitweiligen Distanz zur Produktionssphäre ja auch enthalten sein können. Aber seine Überlegung, ob nicht die "eigenständige" Jugendphase - entstanden in der bürgerlichen Gesellschaft - mit ihr oder in ihr auch wieder verschwinden könne, scheint bedenkenswert und hätte für die Jugendarbeit bedeutende Konsequenzen, würde diese praktisch in die Erwachsenenbildung aufgehen lassen.

Überblickt man nämlich die Geschichte der Jugendarbeit von der Entstehung der bürgerlichen Jugendbewegung bis zur Gegenwart, so läßt sich folgendes beobachten:

1. Es zeigt sich eine zunehmende Tendenz zur Vergesellschaftung des Jugendalters. Zunächst - etwa mit dem Beginn der bürgerlichen Jugendbewegung - ging es darum, einen "Spielraum" für selbstbestimmtes Handeln gegenüber den determinierenden Sozialisations-Instanzen zu erhalten. In der dadurch entstandenen "Kulturpubertät" (Spranger) bzw. in dem "psychosozialen Moratorium" (Erikson) drückte sich jedoch nur die Tatsache aus, daß die früher für die bürgerliche Jugend weitgehend gesicherte gesellschaftliche und berufliche Perspektive brüchig geworden war. "Kulturpubertät" hieß ja auch, nun unter verschiedenen Lebensperspektiven wählen zu können, ja, zu müssen. Das war die Chance von Emanzipation, und sie wurde durch Jugendarbeit von Anfang an zu kanalisieren versucht. Diese Chance des Wählenkönnens - als die Kehrseite der Kulturpubertät - kam - an bestimmte, z. B. schulische Leistungen geknüpft - mit Verspätung auch einem Teil der Arbeiterjugend zugute, wurde also in diesem Sinne "sozialisiert".

2. Eine Gegenbewegung gegen diese Tendenz war die Jugendpflege bzw. die Jugendarbeit. Den sie betreibenden Erwachsenenorganisationen ging es darum, in dem "Freiraum", den das Jugendalter nun darstellte, die Wahlmöglichkeiten insofern wieder einzuschränken, als dabei möglichst viel Nachwuchs für die eigenen Organisationen rekrutiert werden sollte. Schon in der Weimarer Republik gab es die Tendenz, möglichst jeden Jugendlichen durch Jugendarbeit zu "erfassen", was dann der Nationalsozialismus auch durchgesetzt hat; dieser hatte spätestens im Krieg das Jugendalter als spezifische Lebensphase praktisch abgeschafft.

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Solange dann nach 1945 die "Erziehungsmächte" der Familie und der Erwachsenenorganisationen - insbesondere der Kirchen - noch bestimmenden Einfluß auf die Jugenderziehung behielten, blieb der "Wahlspielraum" begrenzt, kontrolliert und kanalisiert. Erst seit der Studentenbewegung - durch diese mitbewirkt - ist eine Entwicklung eingetreten, die jene Erziehungsmächte so bedeutungslos hat werden lassen, daß der Wahlspielraum - bestimmte Ausbildungsleistungen der Jugendlichen und ein entsprechender Arbeitsmarkt vorausgesetzt - scheinbar unbegrenzt geworden, die "Freisetzung" des Jugendalters fast total geworden ist, Emanzipation des Jugendalters also erreicht zu sein scheint.

3. Diese "Freisetzung" drückt aber nur das hohe Maß an Vergesellschaftung aus, das zu einer Abschaffung der eigenständigen Jugendphase, zu ihrer völligen Integration in die Erwachsenenwelt geführt zu haben scheint. Die früheren Statusmerkmale des Jugendalters - Abhängigkeit und Unselbständigkeit - sind in erheblichem Maße geschwunden, jedenfalls kaum mehr erheblicher als bei Erwachsenen im allgemeinen auch. Erzieherische Abhängigkeiten sind deutlich geringer geworden und materielle Abhängigkeiten werden durch gesellschaftlich geregelte "Jugendrenten" wie die durch Bundesgesetz geregelte Ausbildungsförderung (BAföG) gemildert. Sogar das Studium wird weithin als "gesellschaftlich nützliche Arbeit" verstanden, so daß auch der Student - wie der junge Arbeiter und Angestellte - sich als in den üblichen Arbeitsprozeß eingegliedert verstehen kann. Die Gleichaltrigkeit ist nun weniger von den Jugendlichen gesucht, als vielmehr gesellschaftlich erzwungen.

4. Die Gleichaltrigkeit und damit die Aufhebung des Jugendalters - zuerst unter anderem Vorzeichen von den Nazis verwirklicht - ist vor allem dadurch zustande gekommen, daß die kapitalistischen Wertprinzipien, die sich um die Begriffe "Wachstum" und "Konsum" konzentrieren lassen, alle dem entgegen stehenden Normen (z. B. religiöse) überwältigt haben - was nur die andere Seite der Tatsache ist, daß es keine "Erziehungsmächte" mehr gibt, die mit öffentlicher Wirkung eigene Normen zur Geltung bringen könnten. Ergebnis dieser Entwicklung ist die vielzitierte "Sinnkrise" und die nicht zufällig sich verstärkende Diskussion über die Möglichkeiten, Identität zu gewinnen bzw. zu behalten. Nur sind dies eben längst keine jugendspezifischen Probleme mehr, mögen sie auch altersspezifisch unterschiedlich erlebt werden.

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5. Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann stellt sich natürlich die Frage, ob dies nicht Konsequenzen für die Jugendarbeit haben muß, etwa in dem Sinne, daß Gleichaltrigkeit nicht mehr das einzige Kriterium für ihr Programm sein kann. Andererseits ist die weitere gesellschaftliche Entwicklung nicht abzusehen. Denkbar ist, daß etwa im Rahmen der neuen Umwelt-Bewegung sich neue Werte durchsetzen, die auch zu neuen sozialen Verbindlichkeiten führen, in deren Zusammenhang dann auch die Jugendarbeit wieder neue Funktionen erhalten könnte. Denkbar ist auch, daß die alten Erziehungsmächte wie die Kirchen wieder an Einfluß gewinnen werden.

Unsere historische Skizze hat gezeigt, daß das Jugendalter, seine typischen Probleme und seine gesellschaftliche Stellung, sich seit Beginn unseres Jahrhunderts erheblich gewandelt haben. Verändert haben sich nicht etwa nur die Probleme, die Jugendliche haben, sondern auch die soziokulturellen Kontexte des Heranwachsens im ganzen. Wenn man also von den pädagogischen Chancen und Möglichkeiten der Jugendarbeit sprechen will, muß man solche Veränderungen mit berücksichtigen. Das gilt vor allem hinsichtlich der Frage, wie die Situation und die Probleme der Jugendlichen in der pädagogischen Beziehung definiert bzw. interpretiert werden sollen.
 
 

Das pädagogische Feld der Jugendarbeit

Um die pädagogischen Chancen - hier allgemein verstanden als Lernchancen - der Jugendarbeit genauer sehen zu können, ist es zweckmäßig, die besonderen Bedingungen dieses Sozialisations- und Erziehungsfeldes etwa im Unterschied zur Schule zu bezeichnen.
1. Die Jugendarbeit beruht auf der Freiwilligkeit der Teilnahme, es gibt keinen äußeren Zwang dazu. Dies verschaffte dem Teilnehmer immer schon einen viel autonomeren Status als ihn etwa ein Schüler hat. Die "Rolle" des Teilnehmers ist also viel offener und damit gestaltungsfähiger als die des Schülers.

2. Die Jugendarbeit kennt keine von außen gesetzten Leistungsansprüche (z. B. Richtlinien, Lehrpläne). Insofern ist sie hinsichtlich ihrer Programme und Angebote sehr flexibel und kann z. B. "Leistungen" auswählen, die die Teilnehmer selbst wünschen und die möglicherweise von ganz anderer Art sind als die in Schule oder Beruf geforderten.

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3. Die Jugendarbeit kennt keine von vornherein festgesetzten Kommunikationsrituale wie den schulischen Klassenverband oder die 45-Minuten-Stunde. Dies gibt ihr die Möglichkeit, eine große Variationsbreite von Kommunikationsformen zu realisieren bzw. auszuprobieren.

4. Im Unterschied zum Konsenszwang der staatlich-monopolisierten Schule kann die Jugendarbeit - je nach Träger oder Veranstalter - auch partikulare (politische, weltanschauliche, kulturelle) Identifikationsangebote machen.

Diese allgemeinen Bedingungen eröffnen zunächst einmal einen relativ großen Handlungsspielraum, setzen aber auch Grenzen:

a) Eine kontinuierliche, planmäßige Arbeit ist nur sehr begrenzt möglich, am ehesten noch mit Gruppen, die sich regelmäßig treffen. Aber auch dann werden die Bedürfnisse der Teilnehmer längeres Verweilen bei einer Sache kaum zulassen.

b) Dies einzusehen, fällt manchen Pädagogen schwer, scheint dadurch doch ihre Arbeit relativ bedeutungslos zu sein. In der Tat muß der in der Jugendarbeit tätige Pädagoge andere Ansprüche an sich stellen und andere Erwartungen an seine Partner haben als etwa ein Lehrer. Der "pädagogische Bezug" ist jeweils immer nur von relativ kurzer Dauer, die Partner wechseln häufig, und beides verlangt eine eigentümliche menschliche Einstellung zu den Jugendlichen, um beruflich zufrieden sein zu können.

c) Die relative Offenheit der Situation ermöglicht einen breiten Spielraum für pädagogische Konzepte, Intentionen, Experimente usw. Von daher könnte die Jugendarbeit pädagogische Innovationen leisten, neue didaktisch-methodische "Erfindungen" machen, kulturelle, politische und kommunikative Alternativen inszenieren, die z. B. emanzipatorische Tendenzen gegen die Einseitigkeiten bestehender ökonomischer Prinzipien zu realisieren vermögen.

Andererseits steht diese Offenheit - wie schon erwähnt wurde - im Gegensatz zu den Interessen und Bedürfnissen professioneller Pädagogen, die ja - wie jeder andere Beruf auch - Anspruch zum Beispiel auf geregelte Arbeitszeit und auf Freizeit haben. Mobilität, Dynamik, Erfindungsreichtum können von einem professionellen Pädagogen nur bis zu einem gewissen Grade erwartet werden. Wie jeder andere Beruf, so bedarf auch dieser eines Mindestmaßes an im voraus kalkulierbarer Routine.

Wegen der - gerade auch in rechtlicher Hinsicht - besonderen

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Bedingungen der Jugendarbeit waren und sind Absichten problematisch, die Aufgaben der Jugendarbeit in ein erweitertes Gesamtschulkonzept einzubeziehen, wie es der Bildungsgesamtplan vorgesehen hatte. Die spezifischen Bedingungen der Schule würden hier enge Grenzen setzen. Zudem ist die Frage, ob es nicht auch zu den Aufgaben oder zumindest zu den Chancen der Jugendarbeit gehört, pädagogische Mängel und Einseitigkeiten der Schule auszugleichen bzw. zu kompensieren.

Um diesen "Spielraum", den die Jugendarbeit für ihre pädagogische Arbeit haben könnte, realistischer einzuschätzen, empfiehlt es sich, die jeweilige Maßnahme sich als ein pädagogisch relevantes Feld vorzustellen, in dem verschiedene Faktoren wechselseitig aufeinander wirken, teils sich ergänzend, teils aber auch im Widerspruch zueinander stehend und somit Konflikte erzeugend. Es kann sich im folgenden nur um die Beschreibung allgemeiner Faktoren handeln, ihre jeweilige Konkretisierung muß durch Erfahrung vor Ort erfolgen. Denn diese Faktoren können selbstverständlich eine unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem, ob es sich um einen Jugendverband, eine Jugendfreizeitstätte oder eine Bildungsstätte handelt. Von Nutzen ist eine solche allgemeine Charakterisierung insofern, als dadurch klar wird, daß in einem Feld der Jugendarbeit die pädagogischen Interaktionen (der pädagogische Bezug) nicht nur vom Willen der unmittelbar Beteiligten abhängen.
 
 

1. Die Träger

Die Einwirkung der Träger (Verbände, Kommunen, Vereine) auf die pädagogische Arbeit sind verschieden intensiv, erfolgen aber immer in irgendeinem Maße in folgenden Zusammenhängen:

a) Die Träger finanzieren die Arbeit, sei es aus eigenen, sei es aus öffentlichen Mitteln. Von daher werden sie zunächst im Sinne einer allgemeinen Programmplanung Einfluß auf die pädagogische Arbeit nehmen. Werden Maßnahmen aus öffentlichen Mitteln finanziert, muß der Träger garantieren, daß die Mittel auch entsprechend den Förderungsrichtlinien verwendet wurden. Die Abhängigkeit des Trägers von solchen Förderungsrichtlinien ist hinsichtlich der pädagogischen Arbeit selbst relativ gering, hinsichtlich der Mitarbeiter jedoch größer. Beispielsweise werden seit einigen Jahren Jugendbildungsstätten gezwungen, ihre staatlich finanzierten pädagogischen Mitarbeiter so ein-

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zusetzen, daß ihre Arbeitszeit mit dem Stundendeputat von Lehrern vergleichbar wird; sie werden also gezwungen, entsprechend viele Kurse durchzuführen. Daß dadurch die Bereitschaft zu Experimenten und Innovationen nicht gefördert wird, liegt auf der Hand.

b) Der Träger stellt das Personal ein. Dadurch kann der Träger selbstverständlich auch Einfluß auf bestimmte Prinzipien des pädagogischen Programms nehmen.

c) Der Träger kann von seiner Funktion her die Grundsätze des pädagogischen Programms bestimmen. In welchem Ausmaß dieses geschieht, hängt unter anderem ab von seinem politischen und weltanschaulichen Engagement. Bei einem kirchlichen Jugendverband ist dieser Anspruch von anderer Art als etwa bei der Sportjugend.

Der Träger setzt also für die praktische pädagogische Arbeit einen gewissen mehr oder weniger großen Spielraum, der aber nicht unbegrenzt sein kann. Dabei ist der Träger jedoch - abgesehen von seinen eigenen Intentionen - keineswegs ein Souverän, sondern mehr oder weniger gebunden an gesellschaftliche Abhängigkeiten. Von den finanziellen Abhängigkeiten war schon die Rede; aber hinzu kommen können auch normative Grenzen, die von der öffentlichen Meinung gesetzt werden. In den fünfziger Jahren z. B. war es für jeden Träger wegen der sexuellen Tabus ein Risiko, gemischt-geschlechtliche Wanderfahrten zu unternehmen, was heute kaum noch ein Problem darstellt. Heute muß dagegen jeder Träger mit empfindlichen öffentlichen Reaktionen rechnen, wenn aus seinem Bereich mißliebige politische Äußerungen oder Aktivitäten bekannt werden.

Erfahrungen sprechen dafür, daß die Träger im allgemeinen sich den Tendenzen der öffentlichen Meinung anpassen; so haben die meisten die jugendliche Protestwelle mehr oder weniger widerstandslos übernommen, so wie sie danach sich auch wieder von der "Tendenzwende" tragen ließen. Es ist schwer, verallgemeinernd zu sagen, ob es hinsichtlich der Beeinflussung des pädagogischen Feldes Unterschiede zwischen "freien" und staatlichen Trägern gibt. In Finanzierungsfragen ist ein staatlicher Träger insofern unbeweglicher, als die Haushaltsmittel für jeden einzelnen Zweck lange im voraus beantragt werden müssen und sie dann bei den Etattiteln fehlen können, wo sie gerade gebraucht werden. Ein staatlicher Träger neigt darüber hinaus eher dazu, zwischen Fachaufsicht und Rechtsaufsicht zu trennen und von daher eine gewisse pädagogische Autonomie zu garan-

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tieren - zumindest solange es keine öffentlichen Konflikte gibt. Allgemein läßt sich jedenfalls nicht sagen, daß die freien Träger der pädagogischen Autonomie einen größeren und mehr gesicherten Spielraum bieten als die staatlichen. Abgesehen von den gesellschaftlich-partikularen Erwartungen dieser Träger - ein wesentlicher Unterschied zum staatlichen Träger - ist bei ihnen der Grad der Bürokratisierung kaum noch geringer als beim Staat (vgl. Lüers 1973, 1975, 1979).

Entscheidend für das Maß der Einmischung des Trägers in das pädagogische Feld ist wohl letztenendes, wie er seine Funktion hier definiert: ob er sich eher als Garant, als Schutz seiner pädagogischen Felder versteht - ob sein Interesse also primär überhaupt ein pädagogisches ist - oder ob es ihm eher um die Nachwuchsrekrutierung für den eigenen Verband geht. Das Maß der Einflußnahme steht aber letztenendes bis zu einem gewissen Grade zur Disposition, ist also insofern eine politische Frage, als darüber verhandelt werden kann: die pädagogischen Mitarbeiter können die ihnen gesetzten Grenzen durchaus verändern, und die Jugendlichen können notfalls "mit den Füßen abstimmen".

Unter emanzipatorischem Aspekt gesehen, ist der Einfluß des Trägers keineswegs nur hinderlich, vielmehr gelangt über ihn ein wichtiges Stück gesellschaftlicher Realität in das pädagogische Feld, mit der sich realitätsgerecht auseinanderzusetzen unter dem Aspekt der Selbstbestimmung nötig ist. Emanzipatorische Jugendarbeit ist keineswegs schon dadurch garantiert, daß Pädagogen und jugendliche Teilnehmer beliebig "im eigenen Saft schmoren" können.

Abgesehen davon garantiert der Träger ja auch die für das pädagogische Feld nötigen Bedingungen und Ausstattungen, er bietet auch "Dienstleistungen" für die "Kunden". Auch insofern wäre es unrichtig, den Träger lediglich unter dem Aspekt der Herrschaft zu sehen, wie das in Auseinandersetzungen vor allem über Jugendzentren gelegentlich geschah.
 
 

2. Das soziale Umfeld

Der pädagogische Spielraum wird aber nicht nur vom Träger beeinflußt, sondern auch vom jeweiligen sozialen Umfeld. Eine relativ einsam gelegene Jugendbildungsstätte ist von solchen Einflüssen sehr viel weniger abhängig als etwa ein Jugendzentrum mitten in einem Wohngebiet. Weitere Unterschiede er-

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geben sich daraus, ob z. B. ein Jugendzentrum in einer Großstadt oder Kleinstadt, ob es in einem konfessionell einheitlichen Wohngebiet oder ob es in Bayern oder Berlin liegt. Das soziale Umfeld hat Erwartungen an das pädagogische Feld, die allerdings selbst mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung einem Wandel unterliegen. Über "poussierende" Pärchen z. B. wird sich heute kaum jemand mehr aufregen, wie in den fünfziger Jahren, gegenüber von einem Freizeitheim ausgehendem Lärm dagegen ist man heute vielleicht eher empfindlicher geworden als damals. Welche Einflüsse bzw. Erwartungen jeweils vorliegen, kann nur an Ort und Stelle ermittelt werden; darüber Allgemeingültiges zu sagen, ist kaum möglich. Es scheint jedoch eine rückläufige Tendenz zu geben in dem Sinne, daß die Felder der Jugendarbeit weniger öffentliche Aufmerksamkeit finden als früher - falls man sich nicht etwa unmittelbar durch Lärm belästigt fühlt und falls es keine politischen "Mißliebigkeiten" gibt.
 
 

3. Die Ausstattung

Unter "Ausstattung" verstehen wir alle nicht-personalen Elemente des pädagogischen Feldes, die die Qualität der pädagogischen Interaktionen mitbestimmen.

Dazu gehören etwa architektonische Faktoren wie: Größe und Ausstattung (z. B. Sportanlagen) des unbebauten Geländes; Zahl und Größe der Räume im Verhältnis zu den Personen, Art und Maß der Zweckbindung der Räume; Art und Qualität der innenarchitektonischen Ausstattung.

Zweitens gehören dazu die Lehrmittel, die zu unterteilen wären in rezeptive, kreative und gesellige.

Zu den rezeptiven gehören etwa neben den von der Schule her bekannten: Radio, Plattenspieler, Tonbandgerät, Fernsehgerät, Video-Recorder; Tonstudio.

Zu den kreativen gehören solche, mit denen man selbst etwas Neues herstellen kann, also: Schreibmaschine, Kopiergerät, Vervielfältiger, in unterschiedlichem Maße natürlich auch bei entsprechender Verwendung die oben genannten rezeptiven technischen Anlagen.

Zur geselligen Ausstattung gehören neben den entsprechenden architektonischen Voraussetzungen all die Dinge, die thematisch unbestimmte Kommunikationen ermöglichen: etwa Bar, Restaurant, Getränkeautomaten, Tischspiele, Brettspiele usw.

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Daß die Ausstattung auf Art und Qualität der pädagogischen Interaktionen einen großen Einfluß hat, kann seit den Jugendtourismus-Untersuchungen Helmut Kentlers (1970) und seit den früher zitierten Berliner Untersuchungen C. Wolfgang Müllers (1962) als gesichert gelten. Welcher Art im einzelnen diese Auswirkungen sind, ist jedoch noch nicht erforscht.

Zudem ist die Frage zu untersuchen, in welcher Relation diese Faktoren zum pädagogischen Ziel stehen. Aus C. Wolfgang Müllers Programm der "kultivierten Kommunikation" ergab sich seinerzeit die Forderung, dem Geselligkeitskomfort große Bedeutung beizumessen, die Freizeitstätten z.B. grundsätzlich mit dem auch sonst im Cafebetrieb üblichen Standard auszustatten; eine mindere Ausstattung stelle eine Unterprivilegierung jugendlicher Bedürfnisse dar. Gleichwohl ist die Frage, ob dabei nicht mittelständische Konsumleitbilder zu vorschnell verallgemeinert wurden; denn andererseits hat sich auch gezeigt, daß Jugendliche aus der Unterschicht sich durch den von einem solchen mittelständischen Standard ausgehenden Verhaltensanspruch verunsichert und leicht diskriminiert fühlen. Zudem ist es schwierig, einen solchen mittelständischen Standard so einzurichten, daß die Einrichtung je nach den wechselnden Bedürfnissen "umfunktioniert" werden kann.

Die Vorstellungen über eine wünschenswerte bzw. optimale Ausstattung verändern sich allerdings. Was Jugendliche als "gemütlich" oder als Objekt kultureller Aufmerksamkeit empfinden, in welche Richtung ihre kreativen und geselligen Interessen gehen, das alles unterliegt heute gewiß anderen Kriterien als z. B. nach dem Kriege. Gleichwohl bleibt es wichtig, in dem jeweiligen Feld die entsprechenden Einflüsse und Wirkungen zu ermitteln.
 
 

4. Die Jugendlichen

Mit voller Absicht nenne ich erst an dritter Stelle - obwohl die Aufzählung keine Rangfolge implizieren soll - die in diesem Feld agierenden Personen, hier zunächst die Jugendlichen; denn vor allem unter dem Diktat einer von der Schule ausgehenden, auf die Person des Lehrers (und allenfalls noch des Schülers) sowie auf die Lehrmittel konzentrierten Didaktik werden die nicht-personalen didaktischen Faktoren immer noch sträflich unterbewertet. Aus den Erfahrungen der Jugendarbeit läßt sich jedoch sagen: Wenn die eben genannten drei Faktoren in

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einer für die pädagogische Arbeit negativen Weise kumulieren sollten, dann kommt keine noch so gut durchdachte pädagogische Interaktion dagegen an.

Die Jugendlichen nun, die in das Feld der Jugendarbeit eintreten, unterscheiden sich auf die mannigfachste Weise: durch ihre soziale Herkunft; durch ihre bisherige Lebensgeschichte; durch ihren Bildungsgang; durch ihre gegenwärtige berufliche bzw. schulische Situation; durch ihre augenblicklichen Stimmungen und Bedürfnisse; durch ihre längerfristigen Motivationen und Interessen usw. Je näher man an diese Jugendlichen herangeht, um so unbestimmter werden alle sozialwissenschaftlichen Kategorien und Kriterien für deren Beurteilung, weil sie jeweils neu auf die konkrete Situation hin "übersetzt" werden müssen. Das ist jedem Pädagogen geläufig. Aber diese Tatsache impliziert eine Folgerung, die weniger häufig gezogen wird: daß nämlich der Faktor "die Jugendlichen" erst in den Interaktionen des pädagogischen Feldes selbst genau bestimmt werden kann, und zwar nicht von Pädagogen allein, sondern unter Beteiligung der Jugendlichen selbst.

Oder anders ausgedrückt: Wie die Jugendlichen sich geben, welche Bedürfnisse sie artikulieren, das wird vom Zusammenhang der Faktoren in diesem Feld entscheidend mitbestimmt und verändert. Es gibt keine "Jugendlichen an sich", sondern nur solche, die sich unter den Bedingungen eines bestimmten Feldes real präsentieren. Daß diese Bedingungen motivationshemmende bzw. -fördernde Wirkungen haben, kann nach den bisherigen Untersuchungen und Experimenten als gesichert gelten (vgl. Giesecke 1966; Kentler 1962; Müller/Nimmermann 1968).
 
 

5. Die Pädagogen

Auch die in das pädagogische Feld eintretenden Pädagogen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht und bestimmen dadurch die "Wirklichkeit" des Feldes mit: durch ihre soziale Herkunft; durch die Art ihrer Ausbildung; durch ihre Lebensgeschichte; durch ihre aktuellen Bedürfnisse und Probleme; durch ihre Motivationen und Interessen; durch ihr berufliches, politisches und privates Selbstbild usw.

Auch hier werden die allgemeinen sozialwissenschaftlichen Kategorien (z. B. "Rolle", "Status" usw.) undeutlich und verführen leicht zu problematischen Verallgemeinerungen, wenn es um den konkreten Einzelfall geht. Auch hier gilt, was oben von den

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Jugendlichen gesagt wurde: Die tatsächliche Wirkung des Faktors "der Pädagoge" realisiert sich erst in der konkreten Interaktion selbst. Damit soll jedoch die Bedeutung verallgemeinernder sozialwissenschaftlicher Kategorien und Denkmodelle für die Erkenntnis dieser Faktoren nicht geleugnet werden. Ohne sie wären rational kontrollierte Deutungen der individuellen, situativen Realität des pädagogischen Feldes gar nicht möglich, aber bei ihrer unkritischen Benutzung geht leicht die Einsicht verloren, daß die konkrete Situation eines bestimmten pädagogischen Feldes immer eine je neue "Übersetzung" verlangt.

Aber ebenso wie bei den Jugendlichen wird der Faktor "der Pädagoge" durch die Wechselwirkungen des Feldes verändert. Unter anderem ist die Frage entscheidend, ob und in welchem Maße die Erwartungen und Einstellungen der Pädagogen mit denen der Jugendlichen übereinstimmen und was geschieht, um solche Übereinstimmungen gegebenenfalls zu erreichen. Über die Kommunikationen zwischen Pädagogen und Jugendlichen wird später noch zu sprechen sein.

Zunächst aber ist noch darauf hinzuweisen, daß im Feld der Jugendarbeit sehr unterschiedliche Gruppen von Pädagogen tätig sind, die im unterschiedlichen Maße vom Träger abhängig sind:

1. Die hauptamtlichen pädagogischen Mitarbeiter, deren Zahl in den letzten zehn Jahren erheblich gestiegen ist, sind Angestellte des Trägers und insofern von ihm abhängig. Andererseits müssen sie ein spezifisches professionelles Selbstbewußtsein entwickeln, wozu zumindest auf Dauer auch gehört, ökonomisch mit der eigenen Arbeitszeit und mit den eigenen Kräften umzugehen. Was für die Teilnehmer "Freizeit" ist, ist für sie "Arbeit".

2. Die nebenamtlichen Mitarbeiter (z. B. studentische Teamer), die ohne festen Anstellungsvertrag zumeist zeitlich begrenzt auf Honorarbasis arbeiten, sind im allgemeinen weniger von den Trägern abhängig. Für sie ist die Mitarbeit Teil ihrer Freizeittätigkeit, und insofern ihre Tätigkeit zeitlich begrenzt ist, können sie auch flexibler und experimentierfreudiger agieren - mit weniger Rücksicht auf die Einhaltung ihrer "Arbeitszeit".

3. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die sich vor allem in den Jugendverbänden finden, sind einerseits am wenigsten von dem Träger abhängig, dürften sich andererseits aber entweder mit dessen Zielen oder mit "ihrer" Arbeit in relativ hohem Maß identifizieren.

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Es liegt auf der Hand, daß diese verschiedenen pädagogischen Mitarbeiter sich auch unterschiedlich in das pädagogische Feld einbringen werden. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Tendenz zur Professionalisierung für die Jugendarbeit auch problematische Aspekte hat, z. B. hinsichtlich der Gefahr der Verschulung. Während noch in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die Jugendarbeit zu einem erheblichen Teil von ehren- und nebenamtlich tätigen Gymnasiasten und Studenten getragen wurde, ist die Zahl dieser Freiwilligen in den letzten zehn Jahren erheblich zurückgegangen. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, daß die Bedingungen des Numerus clausus in der Oberstufe des Gymnasiums die Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeengt haben. Andererseits scheinen die nun "berufsorientierten" Studiengänge an den Hochschulen, verbunden mit der Perspektive möglicher Arbeitslosigkeit, den "Luxus" freiwilliger kultureller und politischer Tätigkeit nicht mehr zuzulassen. Möglicherweise kommt darin auch eine allgemeine gesellschaftliche Tendenz zum Ausdruck, nämlich derartige Aufgaben immer weniger als Möglichkeit eigener Freizeittätigkeit zu sehen und sie immer mehr staatlich bezahlten "Profis" zu überantworten.
 
 

Spezifische pädagogische Chancen in der Jugendarbeit

Auf dem Hintergrund der spezifischen Bedingungen der Jugendarbeit einerseits und der allgemeinen Faktoren des pädagogischen Feldes andererseits lassen sich die pädagogischen Möglichkeiten in der Jugendarbeit etwas genauer fassen, nämlich in der Form allgemeiner Ziel- und Handlungsperspektiven. Die Frage ist ja, wie dieser "Spielraum", den die Jugendarbeit bietet, ausgefüllt werden soll. Die Antwort darauf kann natürlich unterschiedlich ausfallen, je nach den Intentionen des Trägers bzw. den Vorstellungen der Jugendlichen und der Pädagogen. Wenn vom spezifischen Handlungsspielraum die Rede ist, die das Feld der Jugendarbeit bietet, so heißt das ja nicht, daß da eine Leerstelle wäre, die nun unbedingt durch pädagogische Maßnahmen ausgefüllt werden müßte. Vielmehr geschieht immer etwas, auch ohne daß pädagogische Intentionen dabei erkennbar sind; Jugendarbeit - vor allem in den Jugendzentren und den Jugendverbänden - ist über weite Strecken einfach ein Modus gemeinsamen Lebens, ein Stück Subkultur, wo gar nicht planmäßig
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etwas gelernt wird oder werden soll. Eine Jugendgruppe, die auf Fahrt geht, ist nicht von vornherein eine pädagogische Veranstaltung, und die Besucher eines Jugendzentrums haben nicht unbedingt eine pädagogische Erwartung, sondern wollen vielleicht nur ihre Freizeit verbringen mit dem, was ihnen Spaß macht. Würde man also versuchen, die Jugendarbeit im Ganzen pädagogisch durchzuorganisieren, so würde man einen wichtigen Teil ihrer Realität verkennen bzw. unterdrücken. Eine pädagogische Theorie der Jugendarbeit kann also immer nur eine solche ihrer pädagogischen Möglichkeiten sein. In diesem Sinne lassen sich die spezifischen pädagogischen Chancen - verstanden als Lernchancen - in vier Dimensionen darstellen, die nun etwas genauer beschrieben werden sollen .
 
 

1. Vier Dimensionen der Lernchancen

a) Die lebensbegleitende Dimension

In die Veranstaltungen der Jugendarbeit kommen junge Menschen nicht als "unbeschriebene Blätter", vielmehr bringen sie immer schon mit ihre Sorgen und Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen, Pläne und Perspektiven, Erfolge und Mißerfolge. Sie sind schon mehr oder weniger "fertige" Produkte ihrer bisherigen Sozialisation, haben dabei bestimmtes gelernt, anderes nicht. Aus dieser ihrer Lebensgeschichte und aktuellen Befindlichkeit heraus bestimmen sie die Inhalte der pädagogischen Kommunikationen mit.

Die Bedürfnisse, die sich da artikulieren, können unterschiedlich sein. Es kann sich um Bildungsbedürfnisse handeln, die etwa in der Schule nicht richtig zum Zuge kommen, oder es kann sich um den Wunsch nach problemloser Entspannung und Unterhaltung handeln. Die Chance der Jugendarbeit besteht darin, diese Bedürfnisse "begleitend" aufzugreifen. Das kann auch ganz informell geschehen, wenn z. B. in einem Jugendzentrum in einem Gespräch ein Rat erteilt wird. Es sind keineswegs nur die "großen" pädagogischen Veranstaltungen, die da von Bedeutung sind.

Der Gegensatz zu dieser Dimension wäre die "lebensvorbereitende" Perspektive: Das zu Lernende dient nicht in erster Linie der jeweils aktuellen Lebensbewältigung, sondern wird gleichsam für die "spätere" Benutzung "eingefroren". Der klassische Lehrplan der Schule ist hierfür das beste Beispiel. So wenig es sich bei der "lebensbegleitenden" und "lebensvorbe-

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reitenden" Perspektive um einander ausschließende Vorstellungen handelt - auch die aktuelle Lebensbewältigung stellt das dabei Gelernte für die Zukunft bereit - so sehr verschieben sich andererseits jedoch verschiedene Prämissen. Liegt der Akzent nämlich auf der "lebensvorbereitenden" Aufgabe einer pädagogischen Institution, so kann die Mitbestimmung der jugendlichen Partner folgerichtig keinen besonders hohen Stellenwert haben; das Jugendalter wird dann vielmehr als ein Lernalter bestimmt, das spätere Mitbestimmung erst ermöglichen soll. Gibt man jedoch der "lebensbegleitenden" Dimension den Vorzug, so erklärt man damit auch in ganz anderem Maße die Jugendlichen zu Subjekten ihrer Lernprozesse: an der Ermittlung dessen, was für ihn "gut" sei, muß der Jugendliche nun selbst mitwirken.
 
 

b) Die korrigierende Dimension

Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Erziehungs- und Sozialisationsinstanzen nicht mehr in dieselbe Richtung wirken, nicht mehr am gleichen Strang ziehen. Dies hat zur Folge, daß Sozialisationsergebnisse immer wieder korrigiert werden müssen, daß also Identität immer wieder neu erarbeitet werden muß. Bei diesem Problem kann die Jugendarbeit eine korrigierende Dimension haben.

a) Die Normen der bisherigen Sozialisation werden überprüfbar;

b) erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen werden überprüfbar und mit anderen vergleichbar;

c) Erfahrungen aus anderen Sozialisationsbereichen (Schule, Familie, Betrieb) können neue Deutungen erhalten;

d) die in der bisherigen Sozialisation erworbenen Bedürfnisse und Interessen können dadurch ergänzt oder erweitert werden, daß neue Interessen und Bedürfnisse ausprobiert werden.

Die korrigierende Dimension ist die eigentlich pädagogische, insofern hier der Aspekt des Lernens im Vordergrund steht. In gewisser Weise gilt sie natürlich auch für die Schule, allerdings können in der Jugendarbeit auch solche Sozialisationswirkungen zur Debatte gestellt werden, die von den übrigen Sozialisationsinstitutionen ausgehen und als problematisch empfunden werden. Insofern geht es hier auch um kompensatorische Aspekte. Der Gegensatz zur "korrigierenden" Dimension wäre die "bestärkende": Die Verstärkung und Verdoppelung dessen, was ohnehin schon gelernt wurde. Dabei ist zu bedenken, daß Bestätigung bisherigen Wissens, Verhaltens usw. auch ein wichti-

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ges menschliches Bedürfnis ist und Korrekturen nur in einem begrenzten Maße und in der Kontinuität der bisherigen Lebensgeschichte ertragen werden können.

Die konkreten Inhalte der Korrektur sind nicht nur individuell unterschiedlich, sondern hängen auch vom Wandel der anderen Sozialisationsinstanzen ab. Solange z. B. die Schule mehr oder weniger lehrerzentrierten Unterricht über relativ unaktuelle Stoffe betrieb, hatten für die Jugendarbeit Formen der Gruppenarbeit und andere Variationen pädagogischer Kommunikation eine kompensierende Bedeutung. In dem Maße jedoch, wie solche schülerzentrierten Kommunikationsformen sich im Schulunterricht durchsetzen, könnte in der Jugendarbeit zumindest für Minderheiten von Jugendlichen das Bedürfnis nach sachorientierter Seminararbeit - ohne schulischen Zensurzwang - entstehen.
 
 

c) Die aktuelle Dimension

Gleichwohl dürfte Aktualität das vorherrschende Strukturprinzip der Inhalte der Jugendarbeit sein - im Unterschied zur Schule, wo die Lehrpläne doch auf einen langfristigen Bildungsgang hin konzipiert sein müssen. Aktuell ist einerseits, was von den Bedürfnissen und Interessen der Teilnehmer her so empfunden wird, andererseits das, wovon in der Öffentlichkeit die Rede ist. Aktuell ist aber auch das, was aktualisiert wird, z. B. die bisher erworbenen Kenntnisse, Einsichten und Erfahrungen. Aktualisiert werden kann auch Vergangenes: der Rückgriff der frühen bürgerlichen Jugendbewegung auf romantische Vorbilder des Vagantentums aktualisierte diese. Die Wiederentdeckung alter bündischer Formen des Jugendlebens würde diese aktualisieren. Aktuell ist also das, was in der relativ offenen pädagogischen Kommunikation in der Jugendarbeit zur Geltung und zur Sprache kommt. Insofern enthält diese Dimension eine Fülle kreativer und innovativer Möglichkeiten.
 
 

d) Die solidarisierende Dimension

Sowohl die sozialwissenschaftliche Forschung (Eisenstadt) wie auch die praktisch-pädagogischen Erfahrungen zeigen das durchgängige Bedürfnis der Jugendlichen, in Gleichaltrigen-Gruppen zusammenzusein. Darin zeigt sich ein solidarisches Verhalten derjenigen, die die gleichen Probleme und Konflikte haben und gemeinsame Lösungen durchprobieren wollen - mag eine solche Solidarität nun bewußt sein oder nicht.

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Diese Tatsache ist von großer Bedeutung für die Jugendarbeit. Sie ermöglicht nämlich, die zunächst nur individuell erfahrenen Probleme als kollektive zu entdecken, für die also auch kollektive Lösungen ausprobiert werden können. In dieser Dimension könnten die an individuelle Konkurrenz und Notenwettbewerb orientierten Schulerfahrungen und die ähnlichen Erfahrungen am Arbeitsplatz produktiv aufgegriffen und verarbeitet werden.

Auf diese Dimension sind in den letzten Jahren große politische Hoffnungen gesetzt und zum Teil notwendigerweise enttäuscht worden. Deshalb scheinen hier einige genauere Überlegungen angebracht.

Die solidarisierende Dimension muß sich keineswegs immer in einem Engagement für feste Gruppen oder für politisch aktive Kollektive niederschlagen. Zunächst einmal ist nichts weiter gemeint als die Tatsache, daß Jugendliche als Jugendliche ähnliche Probleme und Bedürfnisse haben oder dies zumindest so empfinden, und daß diese gemeinsame Erfahrung beim Akzeptieren und Bewältigen der Probleme behilflich sein kann. Fraglich ist aber, inwieweit sich diese Erfahrung politisch organisieren läßt, denn Jugend ist keine politisch homogene Gruppe. Fraglich ist außerdem, inwieweit sich "Solidarität" überhaupt in Gruppen organisieren läßt und nicht letzten Endes auf die freigewählte Gleichaltrigen-Gruppe beschränkt bleiben muß.

"Gruppe" ist ja ambivalent: sie kann solidarische Erfahrungen und gemeinsame Problemlösungen ermöglichen, sie kann aber auch emanzipatorische Möglichkeiten verhindern, insofern sie selbst zu dem wird, wovon man sich emanzipieren muß. Extreme Beispiele sind die kriminellen Wirkungen von Banden oder von terroristischen Gruppen. Aber auch im Normalfall gehen von Gruppen immer auch repressive Wirkungen auf den einzelnen aus.

Die Geschichte der Jugendarbeit kann als ein Versuch gedeutet werden, das jugendliche Bedürfnis nach der Gleichaltrigen-Gruppe zu manipulieren und zu instrumentalisieren - von außen unter "Ziele" zu setzen, die in der Gruppe "umgesetzt" werden sollen.

In diesem Zusammenhang stellt sich das schon früher erwähnte Problem, ob sich die solidarisierende Dimension nur auf die Gleichaltrigkeit erstrecken kann. Historisch herausgebildet hat sich ja die Trennung von Erwachsenenbildung und Jugendarbeit. In der Regel sind in den Veranstaltungen der Jugendarbeit die

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einzigen Erwachsenen die haupt- oder nebenamtlichen pädagogischen Mitarbeiter, die dann die Beziehung zu den Jugendlichen auf eigentümliche Weise pädagogisch gestalten. Man kann dies eine gesellschaftlich erzwungene - also nicht unbedingt von den Jugendlichen gewählte - Gleichaltrigkeit nennen. Zu erinnern ist daran, daß in den fünfziger Jahren schon in Bildungsstätten und Nachbarschaftsheimen - einer besonderen Form des offenen Freizeitheimes - versucht wurde, alle Generationen zu einer "Begegnung" zu ermutigen. Diese Versuche standen damals vor allem unter dem Zeichen des Wiederaufbaus von Staat, Gesellschaft und Kultur nach dem Ende des Nationalsozialismus - sie waren also politisch motiviert. Durchgesetzt hat sich dann jedoch das Bedürfnis der Jugendlichen nach altersspezifischer Separierung. Heute stellt sich jedoch die Frage, ob derartige generationsunspezifische Formen der Kommunikation nicht eine neue Chance gerade unter dem Aspekt der solidarisierenden Dimension haben könnten; denn mehr als je zuvor ist fraglich, ob die Probleme und Konflikte des Jugendalters hinreichend im Rahmen der Gleichaltrigkeit bzw. im Rahmen eines professionellen pädagogischen Bezugs aufgegriffen und bearbeitet werden können. Im Rahmen der Umweltbewegung scheinen sich solche Kommunikationen zwischen den Generationen wieder zu bilden.
 
 

2. Konflikte und Widersprüche im Jugendalter

Wir haben bisher versucht, die Struktur des pädagogischen Feldes der Jugendarbeit und anschließend allgemeine Dimensionen für spezifische pädagogische Chancen zu skizzieren. Nun bleibt zu fragen, bei welchen Problemen des Jugendalters die pädagogische Arbeit ansetzen kann. Unterstellt wird ja - wie bei jeder anderen pädagogischen Arbeit auch - daß Jugendliche mit solchen Bedürfnissen und Interessen in die Jugendarbeit kommen, die durch Lernen bzw. durch Lernangebote zumindest teilweise befriedigt werden können. Nun kann man diese Frage empirisch durch das Ausprobieren von Angebot und Nachfrage lösen: in dem Maße, wie Jugendliche ein Programmangebot annehmen, trifft es auch ihre Interessen und Bedürfnisse. Auf diese Weise sind über lange Zeit die Programme der Jugendarbeit entstanden und auch wieder verschwunden, und es scheint so, daß dieses Verfahren, nämlich im Umgang mit den Jugendlichen deren Bedürfnisse zu ermitteln, durch keine pädagogische

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Theorie ersetzt werden kann. Trotzdem bleibt ein solches Verfahren unbefriedigend. Einmal nämlich kann es Bedürfnisse und Interessen geben, die noch gar nicht bewußt sind, die man vielleicht erst entdeckt, wenn man sich auf etwas eingelassen hat, für das man vorher kein Interesse gezeigt hat. Von den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen auszugehen, ist also eine unsichere Strategie, insofern es sie erkennbar nur gibt in der konkreten praktischen Realisation.

Andererseits hat es sich als wenig fruchtbar erwiesen, sogenannte "objektive" Interessen und Bedürfnisse zu unterstellen, die aus politisch-ideologischen oder auch aus anthropologischen Prämissen abgeleitet werden, die dann aber mit den empirisch vorfindbaren Bedürfnissen und Interessen nicht vereinbar sind bzw. diesen widersprechen.

Und schließlich ist die Frage, was man denn mit den Interessen machen soll, wenn sie sich zeigen. Man kann sie natürlich unmittelbar befriedigen - was dem üblichen Konsumprinzip entspräche - man kann sie aber auch ausdehnen auf andere Bereiche, in Frage stellen, vor mehr oder weniger schwierige Aufgaben stellen usw. All dies zeigt, daß die gebräuchliche pädagogische Maxime, man solle bei den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen ansetzen, nicht sehr weit führt. Richtig bleibt natürlich, daß kein pädagogisches Angebot an den unmittelbaren, empirischen Bedürfnissen und Interessen so weit vorbeigehen kann, daß eine produktive Kommunikation nicht mehr zustande kommt.

Weiter führt vielleicht die Überlegung, wie Jugendliche ihr Dasein im ganzen erleben und erfahren. Es gibt in der Regel wohl Bereiche, die als mehr oder weniger harmonisch, konfliktlos erlebt und erfahren werden. Andererseits ist aber ebenso zu vermuten, daß andere Bereiche als widersprüchlich und konflikthaft gelten, so daß das Bedürfnis entsteht, diese Konflikte zum Thema zu machen. Diese Konflikte und Widersprüche können persönlicher Art sein - Konflikte mit Freunden, mit den Eltern, mit dem Partner - sie können auch von der Art sein, daß sich in ihnen allgemeine gesellschaftliche Widersprüche spiegeln. Insofern handelt es sich dann um Konflikte, die möglicherweise im Jugendalter auf besondere Weise erlebt werden, aber tatsächlich keineswegs auf das Jugendalter beschränkt sind. Damit ist angedeutet, daß es nicht mehr ausreichend ist, von den früher so bedeutsamen "Pubertätsproblemen" allein auszugehen. Vieles spricht vielmehr dafür, daß die Bedeutung dieser Pro-

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bleme abgenommen hat zugunsten eben jener allgemeinen gesellschaftlichen Probleme, die im Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters auch hier voll wirksam geworden sind.

Als Beispiel mag das Problem der Jugendarbeitslosigkeit dienen. Selbstverständlich hat es dieses Problem auch früher gegeben, z.B. nach 1918 und nach 1945. Damals aber betrachtete die Gesellschaft es in erster Linie als ein pädagogisches Problem im Hinblick auf den Schaden, den solche "Berufsnot" für die persönliche Entwicklung des Jugendlichen verursachen könnte. Heute gilt Jugendarbeitslosigkeit als ökonomisch-arbeitsmarktpolitisches Problem der allgemeinen Arbeitslosigkeit überhaupt, und die pädagogisch-psychologische Dimension des Themas ist weniger deutlich zu hören - allenfalls noch von pädagogischen Experten. Möglicherweise unterscheidet sich die jugendliche Arbeitslosigkeit subjektiv in der Tat kaum noch von der der Erwachsenen. Jedenfalls scheint sich die Frage jugendspezifischer Konflikte und Widersprüche historisch neu zu stellen.

Trifft es nämlich zu, daß der pädagogische "Schonraum", in dem sich jugendliches Leben doch letzten Endes abspielte, heute weitgehend verschwunden ist, dann müßte man eigentlich allgemeine gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche entdecken können, die auf alle lebenden Generationen irgendwie wirken, wenn diese auch unterschiedlich mit ihnen umgehen. Dann hätte übrigens auch die Gleichaltrigkeit keine so überragende Bedeutung mehr, im Gegenteil, es spräche viel für die Erfahrung, wie unterschiedlich verschiedene Generationen - und da auch wieder mit individuellen Varianten - mit denselben gesellschaftlichen Widersprüchen fertig werden, je nach Lebensgeschichte, unterschiedlicher Generationserfahrung, Sozialisationsmodus, Sozialstatus usw.

Bevor wir versuchen, solche allgemeinen Widersprüche auszumachen, seien zwei mögliche Mißverständnisse ausgeräumt. Zunächst einmal kann jeder allgemeine Konflikt als ein rein persönlicher erscheinen, der auch nur persönlich zu lösen sei. Der Widerspruch z. B. zwischen der Arbeitsfähigkeit - also dem, was ein Mensch eigentlich könnte, wenn er dürfte - und der Arbeitserwartung - also dem, was davon am Arbeitsplatz oder in der Schule erwartet wird - kann sowohl als subjektive Unfähigkeit zur Anpassung wie auch als generelles Problem gesellschaftlicher Arbeitsteilung gesehen werden. Das ist eine Frage der Interpretation. Insofern ergibt sich hieraus nicht notwendigerweise eine Dimension für politische Interpretatio-

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nen, sondern nur dann, wenn man eine derartige Aufklärung auch tatsächlich will.

Das andere Mißverständnis könnte darin bestehen, daß die Beschreibung solch allgemeiner Widersprüche gleichsam logisch zwingend auch die Intention zu ihrer "Endlösung" zur Folge haben müsse. Auch das ist eine Frage des politischen Willens: Man kann nach den "Ursachen" dieser Widersprüche forschen, um sie dann - notfalls revolutionär - zu beseitigen. Ich halte eine solche Sicht zwar für logisch plausibel, aber auch für geschichtslos und damit letzten Endes für unpolitisch. Die Ursachen von Problemen, die im historischen Prozeß entstehen, können nicht einfach wieder beseitigt werden, eher geht es darum, die Folgen aufzufangen und zu mildern. Die Logik der Sozialwissenschaft ist nicht auch die Logik historisch-komplexer Politik.

Sinn der folgenden Überlegungen kann also lediglich sein, didaktisch-produktive Grundstrukturen anzudeuten, die die subjektiven Erfahrensmodi mit der politisch-gesellschaftlichen Realität in Verbindung zu bringen vermögen.

1. Der Widerspruch von ideologischer und realer Lebensperspektive. Die westlichen Gesellschaften kennen allgemeine Leitbilder für die reale Lebensperspektive der Menschen, die etwa durch die Begriffe "sozialer Aufstieg", "hohes Einkommen", "hoher Lebensstandard", "Macht und Einfluß" gekennzeichnet werden können. Andererseits sind die Chancen, diesen Leitbildern - sozusagen der offiziellen Ideologie - zu genügen, außerordentlich unterschiedlich verteilt. Es gibt Unterschiede des sozialen Status, der Begabung und Fähigkeiten usw. Gemessen nun an jenen allgemeinen Leitbildern müssen diejenigen, die sich bescheiden müssen - also weniger erfolgreich sind - sich als "Versager" einschätzen, sofern sie nicht andere Maßstäbe an sich anlegen, also nach anderen Werten leben wollen (z. B. religiösen). Dieser Widerspruch hat sich durch die Abnahme konkurrierender gesellschaftlich relevanter Normen noch verstärkt. Verschiedene Formen des "Aussteigens" (Drogen, Sekten, aber auch psychosomatische Erkrankungen) können unter anderem als Reaktion auf diesen Widerspruch gedeutet werden.

2. Der Widerspruch von angesonnenen und tatsächlichen Bedürfnissen. Angesichts jener Leitbilder der gesellschaftlichen Ideologie und angesichts der im Prinzip unbegrenzten Konsumangebote ist es schwierig, die eigenen Bedürfnisse und Interessen

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(und insofern ein Stück der eigenen Identität) herauszuarbeiten und durchzuhalten. Ob man nun in diesem Zusammenhang von "objektiven" Bedürfnissen und Interessen spricht, die sich gegen die vom gesellschaftlichen System produzierten Geltung verschaffen müßten, oder ob man die inhaltliche Konkretisierung jener objektiven Interessen für unmöglich hält und damit diesen Gegensatz nur als ein die Realität transzendierendes Denkmodell betrachtet - jedenfalls kann es keinen Zweifel daran geben, daß die angesonnenen Konsumbedürfnisse nicht mit denen, die man eigentlich hat (oder haben möchte) identisch sind. Dabei geht es keineswegs mehr nur um materielle Güter, vielmehr sind die Prinzipien des Konsums längst durchgeschlagen sowohl auf kulturelle Erwartungen wie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen.

3. Der Widerspruch von Bedürfnissen und Befriedigungschancen. Abgesehen von der Frage, welche Bedürfnisse nun "eigentlich" die eigenen sind, besteht eine Diskrepanz zwischen ihnen und den ökonomischen und zeitlichen Möglichkeiten ihrer Befriedigung bzw. ihrer Realisierung.

4. Der Widerspruch von Leistungserwartung und Leistungsfähigkeit. In der Schule wie auch im Beruf werden nicht Leistungen überhaupt, sondern ganz bestimmte Leistungen erwartet. Daß diese Erwartungen mit den Fähigkeiten bzw. Motivationen völlig übereinstimmen, wäre eine utopische Hoffnung. Diskrepanzen können einmal hinsichtlich der Fähigkeit bestehen, woran gemessen die Leistungserwartung eine Überforderung bedeutet. Wichtiger ist aber eine fast durchgängige Unterforderung in dem Sinne, daß nicht die ganze Leistungsfähigkeit des Menschen erwartet wird, sondern eben nur ein begrenztes Stück davon - je nachdem, an welcher Stelle der Arbeitsteilung jemand tätig ist bzw. welche Erwartungen die Schule jeweils hat.

5. Der Widerspruch von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Daß jeder Mensch ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen soll, gehört zu den gesellschaftlichen Erwartungen und Versprechungen aller westlichen Gesellschaften. Andererseits nehmen Fremdbestimmung (also Herrschaftstendenzen) in allen Lebensbereichen eher zu als ab.

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6. Der Widerspruch von Arbeit und Freizeit. Die partikularen Leistungserwartungen, die entweder wie in der Schule durch bürokratische Reglementierungen oder wie im Beruf durch Prinzipien der technologischen bzw. hierarchischen Rationalität bestimmt sind, können nur in der Freizeit kompensiert werden. Auf diese Weise teilt sich das Leben in zwei Bereiche auf, die nicht nur deutlich voneinander getrennt sind, in denen vielmehr auch ganz unterschiedliche Seiten der Persönlichkeit zum Ausdruck kommen können.

7. Rollen-Widersprüche. Die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft verlangt in unterschiedlichen Situationen unterschiedliches Verhalten, das die Soziologie "Rollenverhalten" genannt hat. Ein Jugendlicher ist z. B. Lehrling, Schüler, Freund/Freundin, Mitglied einer Familie, Konsument, Discobesucher usw. In diesen Situationen wird ein unterschiedliches Verhalten erwartet, z. B. emotionale Distanz am Arbeitsplatz und emotionale Expressivität in der Disco.

Diese Widersprüche, die hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne systematische Intention skizziert worden sind, sind im gesellschaftlichen System begründet, sind dessen Widersprüche. Von den Individuen werden sie als Konflikte erfahren, als widersprüchliche Erwartungen bzw. Entscheidungsdimensionen, die in eine jeweils persönliche Balance gebracht werden müssen, um Identität zu erlangen bzw. zu erhalten. Im Erleben und Bearbeiten dieser Widersprüche bzw. Konflikte ergibt sich die Chance, Einsicht sowohl in die gesellschaftliche Realität zu erlangen wie auch in die eigene Bedürfnis- und Interessenstruktur.
 
 

3. Selbsterfahrungen

Unabhängig von der eben beschriebenen Möglichkeit, didaktisch bei gesellschaftlichen Widersprüchen und ihrer subjektiven Erfahrung anzusetzen, bietet das relativ offene Feld der Jugendarbeit eine Reihe von Chancen, mit sich selbst neue Erfahrungen zu machen, wie sie so in der Schule und im Beruf im allgemeinen nicht möglich sind.
 
 

1. Die Erfahrung verminderter Repressionen. Im Vergleich zur Schule und zum Beruf etwa, wo das Leben nach relativ festen

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Regeln abläuft, kann die Jugendarbeit Situationen schaffen, die wenig vorstrukturiert sind, die also in hohem Maße frei gestaltet werden können. Dies ermöglicht einmal die Erfahrung eines relativ machtfreien Handlungsraumes, andererseits aber auch die Erfahrung, was man mit dieser Situation anfangen kann, ob die Selbstregulierung z. B. auch wieder zu Machtverhältnissen führt (z. B. Gruppendruck), oder wie sonst dabei mit den Bedürfnissen und Interessen der Individuen umgegangen wird. In diesem Zusammenhang sind vor allem auch gruppendynamische Konzepte von Bedeutung.

2. Die Erfahrung von Verhaltensalternativen. Im allgemeinen hat jeder Mensch ein bestimmtes Verhaltensrepertoire, das er in bestimmten Situationen und bei der Lösung "bekannter" Probleme anzuwenden trachtet. In der Jugendarbeit ergibt sich die Chance, andere Lösungsstrategien von anderen wahrzunehmen und mit den eigenen zu vergleichen. Diese Chance ist um so größer, je unterschiedlicher der Teilnehmerkreis zusammengesetzt ist. Aber auch die homogene Gruppe (z. B. eine Lehrlingsgruppe) bietet dafür Möglichkeiten angesichts gleichartiger Probleme.

3. Die Erfahrung selbstbestimmter Leistungsfähigkeit. Leistungserwartungen in Schule und Beruf sind überwiegend fremdbestimmt und zudem von partiellen Ansprüchen an die Person geprägt. Die Jugendarbeit bietet einerseits Möglichkeiten, ohne äußeren Leistungsdruck Tätigkeiten, wie sie etwa in der Schule verlangt werden, neu zu erleben. "Unterricht" in einer Bildungsstätte etwa ist etwas anderes als in der Schule. Andererseits können Leistungsfähigkeiten in solchen Bereichen entdeckt werden, die bisher vernachlässigt wurden, weil sie z. B. in Schule oder Beruf nicht von Bedeutung sind (z. B. soziale, kulturelle, kreative Fähigkeiten). Die Entdeckung derartiger Fähigkeiten kann sich verbinden mit der Entdeckung neuer Interessen.

4. Die Erfahrung unvermuteter Erfolge. Wer neue Leistungsfähigkeiten entdeckt, kann auch neue Erfolgserlebnisse haben. Diese können dazu ermutigen, auch in anderen, bisher eher erfolglosen Bereichen mehr Selbstbewußtsein zu zeigen. Oder sie können zu der Einsicht führen, daß "Erfolg" oder "Mißerfolg" in erheblichem Maße eine Frage der Definition ist. Wer z.B. sein Bemühen um berufliche Karriere irgendwann zur Ruhe

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kommen läßt, weil ihm etwas, was er statt dessen in seiner Freizeit tun kann, wichtiger ist, der gilt in den Augen der Öffentlichkeit eher als erfolglos, nach seinen eigenen Maßstäben jedoch keineswegs.

Diese Selbsterfahrungen sind von den Bedingungen des pädagogischen Feldes her möglich, aber sie können nicht planmäßig hergestellt werden, d. h., man kann nicht angeben, unter welchen Bedingungen sich solche Erfahrungen tatsächlich einstellen werden. Zudem wird es auch weiterhin wohl so bleiben, daß viele Jugendliche in der Jugendarbeit das tun möchten, was sie sonst in ihrer Freizeit auch tun. Deshalb ist in diesem Kapitel auch nur von pädagogischen Möglichkeiten die Rede, denn die Jugendarbeit ist eben - im Unterschied zur Schule - keine ausschließlich pädagogische Institution, sondern über weite Strecken auch einfach ein Teil des Freizeitsystems, also ein Stück "normalen Lebens". Und es hängt von vielen Faktoren ab, ob Jugendliche sich der pädagogischen Dienstleistungen hier überhaupt bedienen wollen.

Man könnte die pädagogisch-didaktische Aufarbeitung der Erfahrungen mit gesellschaftlichen Widersprüchen wie mit sich selbst als eine pädagogische Dienstleistung für die Identitätsfindung von Jugendlichen bezeichnen; aber das setzt voraus, daß Jugendliche überhaupt ein Identitätsproblem verspüren. Vielleicht gilt dies aber nur für Minderheiten, und möglicherweise besteht ein großer Mangel der etablierten Jugendarbeit gerade darin, daß sie zu wenig attraktive Minderheiten-Programme anbietet.
 
 

Dimensionen der pädagogischen Interaktion

Die Selbsterfahrungen, von denen eben die Rede war, wurden zwar aus der Perspektive der Jugendlichen beschrieben, gelten jedoch im Prinzip für die Pädagogen auch; die offene Struktur des pädagogischen Feldes ermöglicht den hier tätigen Pädagogen sehr viel eher als z. B. einem Lehrer, derartige Erfahrungen zu machen. Auch die gesellschaftlichen Widersprüche sind nicht jugendspezifisch, sondern gelten für die erwachsenen Pädagogen ebenfalls.
Je mehr in der Jugendarbeit hauptamtliche Pädagogen tätig werden, um so mehr erwächst auch das Bedürfnis, den für die

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Jugendarbeit eigentümlichen "pädagogischen Bezug" zu klären, also das Selbstverständnis beim Umgang mit den Jugendlichen zu definieren. Diese Beziehung läuft tatsächlich auf mehreren Ebenen ab.

1. Auf der Ebene der Verwaltung. Der Leiter eines Jugendzentrums z. B. muß eine Reihe von Verwaltungsaufgaben übernehmen, die durchaus relevant sein können für den Umgang mit den Besuchern (z. B. kann er möglicherweise bestimmte Wünsche aus Verwaltungsgründen nicht erfüllen, oder er hat wegen der Verwaltungsaufgaben zu wenig Zeit für pädagogische Aufgaben). Wohl jeder Mitarbeiter in der Jugendarbeit dürfte in irgendeiner Weise Verwaltungstätigkeit ausüben.

2. Auf der Ebene technischer Dienstleistungen. In einem bestimmten Maße muß der Pädagoge die technischen Bedingungen herstellen für das, was Jugendliche (ohne ihn) tun wollen. Obwohl auch diese Handlungsebene den pädagogischen Bezug betreffen kann - z. B. kann bei den Teilnehmern Unzufriedenheit entstehen - handelt es sich hier nicht um eine pädagogische Tätigkeit.
 
 

3. Auf der Ebene der pädagogischen Interaktion. Die pädagogische Interaktion kann in der Jugendarbeit sehr viele Formen haben: von einem eher beiläufigen Gespräch aus Anlaß eines defekten Plattenspielers bis hin zu einem planmäßigen Seminar. Diese Ebene läßt sich allgemein vielleicht als "Erfahrungsaustausch" bezeichnen: Pädagogen und Jugendliche bringen sich in die pädagogische Situation (z.B. ein Gespräch) ein auf dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungen. Das gilt für die kognitive Ebene ebenso wie für die affektiv-emotionale, und es ist dabei zunächst einmal gleichgültig, ob es sich nur um eine flüchtige Gesprächssituation handelt oder um eine planmäßige Bildungsveranstaltung. Mit dem Begriff (oder besser: Bild) des "Erfahrungsaustausches" läßt sich der eigentümliche Charakter des pädagogischen Bezugs in der Jugendarbeit vielleicht am besten kennzeichnen; denn da es keine Lehrpläne und Richtlinien gibt, also keine von außen gesetzten inhaltlichen Zielnormierungen, kann der Pädagoge hier für das, was er in die Kommunikation einbringt, keine Autorität beanspruchen außer seiner eigenen Glaubwürdigkeit bzw. der Plausibilität dessen,

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was er sagt. Das ist eine große Chance für den pädagogischen Bezug, insofern hier die Gleichberechtigung der Partner von vornherein gegeben ist; denn keine Erfahrung, die mit anderen ausgetauscht wird, ist von vornherein mehr wert oder wichtiger oder richtiger als andere. Gleichberechtigung der Pädagogen und ihrer Partner ist also nichts, was politisch postuliert werden müßte, oder was von "fortschrittlichen Pädagogen" großzügig eingeräumt wird - sie ist vielmehr von den charakteristischen Bedingungen des pädagogischen Feldes her konstitutiv (was natürlich nicht ausschließt, daß sie dennoch mißachtet wird).

Dies ist auch für die Pädagogen eine Chance; denn sie können deshalb tatsächlich auch von ihren Partnern lernen, nämlich davon, wie ein und dieselbe Sache, ein und dasselbe Problem, sich durch deren Erfahrung spiegelt. So entsteht in jeder Kommunikation eine durch unterschiedliche Erfahrung geprägte Differenz des Wahrnehmens und Beurteilens, die den eigentlichen Reiz der pädagogischen Kommunikation ausmacht.

Es ist ähnlich wie in der wissenschaftlichen Kommunikation: Alle Seminarteilnehmer haben denselben Text gelesen, aber der Referent bringt Aspekte, Gesichtspunkte, Problematisierungen ein, auf die der Seminarleiter gar nicht gekommen ist; denn derselbe Text wird ganz unterschiedlich adaptiert, geht eine spezifische Verbindung mit der jeweiligen Erfahrung ein, und genau dies macht - gerade auch für den Seminarleiter - den Reiz der wissenschaftlichen Kommunikation aus - allerdings nur dann, wenn das Ergebnis des gemeinsamen Denkprozesses wirklich offen ist und nicht z. B. durch Lernzielsetzungen vom Seminarleiter vorweggenommen wird.

In dem Maße, wie sich die Jugendarbeit pädagogisch professionalisiert, entsteht jedoch die Gefahr, die charakteristische Offenheit der pädagogischen Situation durch in der Ausbildung erworbene "pädagogisierte Handlungsmuster" einzuschränken und so von vornherein zu einem problematischen pädagogischen Bezug zu finden - problematisch nicht zuletzt deshalb, weil in der Regel Jugendliche in der Jugendarbeit (also in ihrer Freizeit!) allergisch auf alles reagieren, was nach "Pädagogik" aussieht.

Der pädagogische Bezug in der Jugendarbeit ist sehr viel offener und unstrukturierter als z. B. in der Schule, wo ein erheblicher Teil der Beziehung durch institutionelle Reglementierun-

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gen von vornherein festgelegt ist. Dies ist für die Jugendarbeit eine Chance, aber zugleich auch für den Pädagogen eine Belastung, insofern er sich im Grunde immer ganz in die Beziehung einbringen muß, als Person, als der, der er ist, was zunächst auch erhebliche Unsicherheit verursachen kann. Dennoch ist der Pädagoge kein Jugendlicher, wird auch von diesen nicht als "gleich" angesehen.

Was heißt also, sich als Person - und nicht in einer institutionell vorgegebenen Rolle - einzubringen und trotzdem kein "Gleicher" zu sein?

Man kann davon ausgehen, daß die Beziehung zwischen Pädagogen und Jugendlichen in verschiedenen Dimensionen verläuft, die je nach der Situation unterschiedliche Bedeutung haben können, trotzdem aber Maßstäbe des Verhaltens ermöglichen. Auf die gruppendynamischen und unbewußten Implikationen sei dabei lediglich verwiesen, weil sie nicht spezifisch für den pädagogischen Bezug in der Jugendarbeit sind (vgl. dazu Fritz 1973, 1975).

1. Repräsentant des Trägers und Gast. Der Mitarbeiter ist im Auftrag seines Trägers tätig. In dieser Eigenschaft hat er einmal die allgemein gültigen Rechtsnormen zu vertreten, was jedoch nur in Ausnahmefällen von Bedeutung ist, da ja Jugendliche nicht deshalb zur Jugendarbeit kommen, um Rechtsbrüche zu begehen. Dennoch gab es in den siebziger Jahren - z. B. in der Auseinandersetzung um Jugendzentren - Situationen, wo dieser Aspekt relevant wurde.

Abgesehen davon hat der Träger möglicherweise auch weitergehende Erwartungen an seinen Mitarbeiter, z. B. daß er seine politische Position vertritt. Und wer etwa in der katholischen Jugend mitarbeitet, muß auch in seinem Verhalten gewissen normativen Vorstellungen des Katholizismus genügen.

Die Jugendlichen dagegen sind an derartige Vorstellungen nur dann gebunden, wenn sie selbst Mitglieder eines solchen Verbandes sind. Im übrigen jedoch sind sie Gäste der Veranstaltung des Trägers und haben z. B. das Recht, die Intentionen des Trägers mit höflicher Distanz zur Kenntnis zu nehmen. Der Mitarbeiter dagegen schuldet dem Träger ein Mindestmaß an Loyalität (was übrigens im Konfliktfall auch arbeitsrechtlich verlangt werden kann); setzt er sich ohne zwingenden Grund darüber hinweg, so verfälscht er - von allem anderen abgesehen - die Beziehung zu den Jugendlichen.

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2. Erwachsener und Jugendlicher. Die Zeiten sind vorbei, in denen Erwachsene sozusagen grundsätzlich ein Erziehungsrecht gegenüber Jugendlichen und damit einen Vorsprung an Autorität hatten. Vielmehr ist unklar geworden, was erwachsenes Verhalten im Unterschied zu jugendlichem Verhalten eigentlich bedeutet. Was erwarten Jugendliche von dem Verhalten eines Erwachsenen und wie sehen Erwachsene das selbst? Die Unsicherheit geht oft so weit, daß Mitarbeiter sich mit den Jugendlichen identifizieren, so sein wollen wie diese.

In diesem Punkte muß der erwachsene Pädagoge sich selbst definieren und die Art seines erwachsenen Selbstverständnisses in der Beziehung präsentieren. Vermutlich erwarten Jugendliche immer noch von einem Erwachsenen eine gewisse Gelassenheit, die Fähigkeit zur emotionalen Distanz und ein gereifteres Problemlösungsverhalten. Von blinder Identifikation mit den Partnern und mit dem Verhalten Jugendlicher hätten diese jedenfalls wenig, eher etwas von der Erfahrung, daß man mit zunehmendem Alter und entsprechenden Statusveränderungen (Beruf, Familie) auch teilweise andere Probleme hat bzw. dieselben Probleme anders sieht und beurteilt. Wenn dies der Hintergrund von Argumentationen ist, sind diese für Jugendliche sicher einleuchtender, als wenn sie aus einem didaktischen Hintersinn resultieren.

3. Fachmann und Laie. Aufgrund seiner Ausbildung oder seiner Interessen oder seiner Geschicklichkeit kann der Pädagoge bestimmte Dinge besser als der Jugendliche. Für anderes gilt das aber auch umgekehrt. Auch in diesem Punkte verstellen oft falsche Pädagogisierungen die Beziehung; denn auf das, was der Pädagoge kann, hat der Jugendliche auch einen Anspruch, ohne daß er da erst didaktischen Winkelzügen ausgesetzt wird, die ihn vielleicht zu irgend etwas motivieren sollen. Und derjenige, der etwas kann, was für die anderen von Interesse ist, hat auch einen Anspruch darauf, daß ihm dafür ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zuteil wird.

4. Mann und Frau. Ohne Zweifel spielen in einer pädagogischen Interaktion Sympathien und Antipathien eine wichtige Rolle - auch solche, die dem anderen Geschlecht gelten. In der Ausbildung lernt man zwar, daß man seine Zuwendung jedem Jugendlichen gleichmäßig geben solle, und in der Tat ist dies eine Fähigkeit, die professionelles von privatem Verhalten unter-

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scheidet. Andererseits ist dies gerade in der Jugendarbeit, wo distanzierende institutionelle Rollenvorgaben weitgehend fehlen, nicht leicht zu realisieren. Die sexuelle Liberalisierung hat erotisch-sexuelle Verkrampfungen abgebaut, und die Möglichkeit sexueller Beziehungen unter den Jugendlichen hat die Pädagogen weitgehend davon befreit, als Ersatzobjekt für unbefriedigte Bedürfnisse dienen zu müssen. Gleichwohl kommen Liebesbeziehungen zwischen Pädagogen und Jugendlichen vor und sind dann - von rechtlichen Fragen abgesehen - problematisch genug (vgl. Kraußlach u. a. 1980 und die Diskussionsbeiträge dazu in "deutsche jugend" H. 4 und 5/1980).

Aber es geht in dieser Beziehungsdimension nicht in erster Linie um Liebesverhältnisse, sondern um die Frage, wie der Pädagoge überhaupt seine Männlichkeit bzw. seine Weiblichkeit einbringt, wie dieser Aspekt seinen Umgangsstil prägt. Auch in dieser Dimension muß der Pädagoge seine Haltung weitgehend selbst definieren, da es eindeutige gesellschaftliche Leitbilder dafür nicht mehr gibt. Andererseits dürfte für Jugendliche, die ja in dieser Frage selbst noch nach einer Identität suchen, die Haltung der Pädagogen von besonderem Interesse sein - sei es im Sinne eines Vorbildes, sei es um sich damit auseinanderzusetzen. Auch hier ist die Präsentation der eigenen Identität wichtiger als irgendwelche "pädagogischen" Überlegungen

5. Arbeit und Freizeit. Was für die Jugendlichen Freizeit ist, ist für die Pädagogen Arbeit - das jedenfalls unterscheidet die professionellen von den ehrenamtlichen Mitarbeitern. Damit geraten aber in die pädagogische Beziehung alle Implikationen, die dem modernen Arbeitsbegriff anhaften: die Arbeit wird bezahlt, sie muß zeitlich begrenzt sein und muß durch Freizeit kompensiert werden können; sie darf also nur einen Teil der menschlichen Kraft beanspruchen. Die Jugendlichen hingegen haben Freizeiterwartungen an die Jugendarbeit, erwarten etwa Kompensation für Einschränkungen im Betrieb und in der Schule. An diesem Punkt wird ein qualitativer Unterschied zwischen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern deutlich: die ehrenamtlichen sind in ihrer Freizeit mit den Jugendlichen zusammen.

Über die Gefahren der professionellen pädagogischen Arbeit wurde schon wiederholt gesprochen: Minderung der Flexibilität, Tendenz zur Verschulung und Routinisierung der Arbeit. Welche Konsequenz diese Dimension für den pädagogischen Bezug

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hat, ist sehr schwer generell zu sagen. Gewiß ist es für die Unbefangenheit einer Kommunikation ein Problem, wenn der eine dafür bezahlt wird und der andere nicht. Andererseits ist wohl entscheidend, wie der Pädagoge diese Dimension einbringt, ob er sie z. B. verdrängt und so Illusionen über den Charakter der Beziehung aufkommen läßt. Richtig wäre wohl, diese Dimension in dem Sinne offen zu präsentieren, daß deutlich wird, wie er selbst seine berufliche Arbeit sieht und wo er auch die Grenzen setzt.

Der Versuch, den pädagogischen Bezug in der Jugendarbeit in derartigen Dimensionen zu beschreiben, hat gewiß noch keine "Theorie" zum Ergebnis; es gibt auch außerhalb der Jugendarbeit keine verbindliche Theorie des pädagogischen Bezugs mehr. Der pädagogische Mitarbeiter muß sein berufliches Selbstverständnis und damit auch seine Vorstellungen über den pädagogischen Bezug selbst finden und kann dabei nicht auf allgemein anerkannte Vorbilder zurückgreifen. Dafür können die eben beschriebenen "Dimensionen" vielleicht eine Hilfe sein.

Eine Hilfe bei der Notwendigkeit, das Profil der pädagogischen Beziehung ohne Rückgriff auf anerkannte gesellschaftliche oder professionelle Leitbilder weitgehend selbst bestimmen und damit in die persönliche Verantwortung übernehmen zu müssen, ist sicher auch die Tatsache, daß die Jugendarbeit besondere Möglichkeiten zur Team-Arbeit hat: Man kann seine eigene Arbeit von Kollegen beobachten und kritisieren lassen, problematische und konflikthafte Situationen gemeinsam interpretieren und nach Lösungen suchen. Arbeiten haupt-, neben- und ehrenamtliche Mitarbeiter zusammen, so ergibt sich darüber hinaus die Möglichkeit, den pädagogischen Bezug entsprechend differenziert zu gestalten. Während z. B. die Hauptamtlichen sich aus Gründen der Arbeitsökonomie mehr an routinisierte Arbeitsabläufe halten, können die anderen mehr die dynamischen experimentellen und energieaufwendigen Tätigkeiten favorisieren.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/juga3.htm

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