Hermann Giesecke

Die Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag, 5. völlig überarb. Aufl. 1980

Kapitel 4: Zusammenfassung: Veränderungen in der Jugendarbeit

© Hermann Giesecke
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Zu dieser Edition:

Dieses Buch behandelt die Jugendarbeit von 1945 bis 1980 in Westdeutschland bzw. der westlichen Bundesrepublik und schließt an das Buch Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend an, das die Entstehung und Entwicklung der Jugendarbeit von 1900 bis 1945 beschreibt.
Weggelassen wurden das Vorwort des Herausgebers, das Vorwort des Verfassers zur neuen Ausgabe und die weiterführenden Literaturangaben zu den einzelnen Kapiteln.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1980.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
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© Hermann Giesecke


4. Kapitel
Zusammenfassung: Veränderungen in der Jugendarbeit

Überblickt man die Entwicklung der Jugendarbeit in der Zeit von 1945 bis 1980, so fallen vor allem folgende Veränderungen ins Auge, die offensichtlich begleitet sind von allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen bzw. diese widerspiegeln:

1. Geändert hat sich zweifellos die Stellung der Jugend als sozialer Gruppe im gesellschaftlichen System. Unmittelbar nach 1945 galt das Jugendalter noch als eine gesellschaftliche Problemgruppe, die pädagogisch und materiell besonders zu schützen sei; die Erfahrung mit der durch Nationalsozialismus und Krieg "frühreif" und "erwachsen" gewordenen Jugend bestärkte als negatives Gegenbild diese Tendenz noch. Jugendschutz vor sittlicher Gefährdung (keineswegs auch vor ökonomischer Ausbeutung) einerseits und positive Angebote aus dem Schatz der traditionellen Jugendarbeit andererseits etablierten einen pädagogischen Schonraum, in dem Heranwachsen von Unmündigen zur Mündigkeit möglich werden sollte. Dieser Schonraum war umgeben von der öffentlichen Kontrolle durch die Erziehungsmächte, insbesondere Familie und Kirche. Weltanschauliche Bindung - möglichst an den eigenen Verband - erschien unentbehrlich für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Die primär pädagogische Definition des Jugendalters unter Erziehungs- und Weltanschauungsleitbildern aus der Zeit von vor 1933 erwies sich jedoch bald als historisch überfällig. Schon Mitte der fünfziger Jahre stellte sich heraus, daß in dem Maße, wie sich die Bundesrepublik als moderne Industriegesellschaft entwickelte, der Schonraum nicht mehr zu gewährleisten war. Die eigentümlichen Normen der Konsumgesellschaft und der Massenmedien machten vor dem Schonraum nicht halt, sondern eroberten ihn Zug um Zug. Die Jahre des Wirtschaftswachstums und der Aussicht auf steigenden Konsum ließen frühes Erwachsensein als attraktiver erscheinen. Aber es gab auch schon Ende der fünfziger Jahre eine Rebellion derjenigen, die dabei auf der Strecke blieben ("Halbstarken-Krawalle"). Und als Ende der sechziger Jahre die Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung die klassischen Erziehungsmächte attackierten, da hatten sie wenig Mühe, deren hohlgewordene Ansprüche vom Tisch

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zu wischen und sich insofern von ihnen zu emanzipieren. Die erzieherische Funktion des Meisters in der Lehrlingsausbildung war schon durch das Berufsausbildungsgesetz auf den reinen Ausbildungszweck reduziert worden. Erst die Gegenreaktionen gegen den Terrorismus setzten wieder Grenzen - allerdings lediglich politisch-repressive. Unterhalb dieser Ebene ist das Jugendalter vergesellschaftet und emanzipiert zugleich:

Vergesellschaftet insofern, als die Jugendlichen immer mehr als individuelle Rechtssubjekte und -objekte gesellschaftlich definiert wurden, wobei ihre unmittelbaren sozio-kulturellen Bindungen (familiäre, weltanschauliche, kulturelle Bindungen) nicht nur geschwunden sind, sondern in diesem Prinzip der Vergesellschaftung auch prinzipiell ignoriert bzw. ausgeklammert werden. Jugendliche sind zu konsumierenden, lernenden und arbeitenden Individuen geworden, die für den Arbeitsmarkt bzw. für entsprechende Qualifizierungen zur Disposition stehen. Emanzipiert ist das Jugendalter insofern, als die alten Beschränkungen und Kontrollen durch die klassischen Erziehungsmächte weitgehend entfallen sind, und Erziehung durch massenmediale "Prägungen", eben durch "Sozialisation" weitgehend ersetzt worden ist.

Jugendlich sein ist einerseits kein besonderer gesellschaftlicher Status mehr, der besondere öffentliche Zuwendung - eher öffentliche Gleichgültigkeit - zur Folge hat. Andererseits bleibt aber die Tatsache bestehen, daß Jugendliche individuell-subjektiv durchaus in einer besonderen Lage sind: Am Anfang eines beruflichen Lebensweges, noch ohne eigene familiäre Bindungen, im Abschied von der Herkunftsfamilie. Insofern treffen die im Prinzip für alle Generationen geltenden Vergesellschaftungstendenzen das Jugendalter besonders hart und müssen hier verstärkt desorientieren, zumal dann, wenn die Perspektive ohnehin z. B. wegen drohender Arbeitslosigkeit unsicher ist.

2. Eine Folge dieser Entwicklung ist die gesellschaftlich erzwungene Gleichaltrigkeit. Zunächst war die Gruppe der selbst gewählten Gleichaltrigen diejenige Sozialsituation, die Spielraum verschaffte für selbstbestimmte Verhaltensweisen. Aber dies war nur eine Variante der Kommunikation. Daneben gab es vielfältige Formen der Kommunikation mit anderen Generationen, z. B. über familiäre Beziehungen bzw. im Vereinswesen und im übrigen Kulturbereich. Inzwischen jedoch sind Jugendliche sowohl in Schule und Hochschule wie auch in ihrer Freizeit in

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einem solchen Maße auf sich selbst verwiesen, daß man den Eindruck einer deutlich abgegrenzten Subkultur hat.

Die Folge davon ist nicht nur, daß die Gleichaltrigkeit etwas Borniertes, Beschränktes wird, wo Identität zu gewinnen sich als recht schwierig erweist, sondern auch in einem verschärften Maße manipulierbar und pädagogisch ausbeutbar wird; dies deshalb, weil es immer schwieriger wird, Erfahrungen mit der Realität außerhalb dieses gesellschaftlichen Gettos zu machen und von daher Meinungen und Ansichten nachzuprüfen. Die Lebenswelt vieler Jugendlicher ist geprägt durch massenmediale Desorientierung, durch allgemeine Konsumleitbilder und durch die Künstlichkeit pädagogischer Sozialsituationen (Schule und Hochschule). Das sieht für die Arbeiterjugend am Arbeitsplatz sicher anders aus, in der Freizeit dagegen kaum.

3. Die so entstandene "offene" Lebenssituation der Jugendlichen ermöglicht ihnen in ihrer Freizeit einen sehr großen Verhaltensspielraum, der andererseits aber auch als Last empfunden werden kann: Man "muß etwas daraus machen". Aber die Vielzahl der Möglichkeiten - ausgedrückt etwa durch die ständig wechselnden Moden in allen kulturellen Bereichen - , die Konturen- und Grenzenlosigkeit des Lebenshorizontes sowie seine weitgehende soziale Unverbindlichkeit haben eher lähmende als stimulierende Wirkung. Neue kulturelle Formen, die als sinnvoll erlebbare Beschränkungen erfahren werden könnten, sind allenfalls andeutungsweise in Sicht - im weiten Spektrum der Subkultur- und Alternativszene. Sie müßten, um sich als neue Lebensformen entfalten zu können, die ausschließliche Geltung kapitalistischer Gestaltungs- und Verwertungsprinzipien zumindest relativieren, was wiederum Konsequenzen für die private Lebensgestaltung hätte: z. B. quantitative Reduzierung von Konsumerwartungen und des sogenannten "Lebensstandards", ein eher distanziertes Verhältnis zur beruflichen Karriere und vor allem neue Prioritäten für die Verwendung der Lebenszeit. Die Wut gegen die Konsumgesellschaft, ihre Symbole und Repräsentanten, wie sie sich in Teilen der jungen Generation gegenwärtig zeigt, hat einen plausiblen Erfahrungshintergrund: Wer in einer Gesellschaft herangewachsen ist, in der die Prinzipien des Wachstums und des Konsums alle konkurrierenden Normen (z. B. religiöse und traditionell-kulturelle) weitgehend ausgeschaltet haben, hat es schwer, Identität zu gewinnen; denn eine fundamentale Sozialisationserfahrung war nicht nur, daß

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die Dinge, die man hat und mit denen man umgehe, bedeutungslos sind gemessen an dem, was einem nicht zugänglich ist; daß diese Dinge zudem zum baldigen Wegwerfen bestimmt sind zugunsten "anderer" und "besserer" Dinge, trommelt die Werbung ohnehin unablässig. Wichtiger ist wohl noch die weitere Erfahrung, daß die menschlichen Beziehungen selbst Warencharakter bekommen haben, und daß die Prinzipien des Tausches sogar zu Maximen ganzer therapeutischer Schulen geworden sind: Du bekommst nur soviel, wie Du selbst gibst, also strenge Dich an, damit Du geliebt werden kannst! In dem historischen Augenblick, wo die materiellen Bedingungen ein befriedigendes und kreatives Leben möglich machen könnten, sind die kulturellen, sozialen und damit auch die menschlichen Maßstäbe undeutlich geworden, die dafür benötigt würden. Gerade Jugendliche können solche Erfahrungen radikal erleben, eben weil sie sich in einem noch wenig festgelegten Übergangsstadium befinden.

Alternative Lebensformen werden bereits ausprobiert, und möglicherweise wird in diesem Zusammenhang auch die Umweltbewegung eine Rolle spielen. Ob daraus eine neue Lebensgestaltung entstehen kann, die nicht nur in Nischen der im übrigen unveränderten Gesellschaft sich halten kann, sondern sich mit den gegenwärtigen Prinzipien zu einer Art von Korrektiv der kapitalistischen Kultur verbinden läßt, ist offen. In diesem Zusammenhang fällt einem das Beispiel der Bündischen in der Weimarer Zeit ein. Damals war es einer Minderheit gelungen, abseits der gesellschaftlichen Realität, die als kalt, rechenhaft, unmenschlich und formalistisch erlebt wurde, gerade im Verbund mehrerer Generationen eine subjektiv sinnhafte Eigenwelt zu errichten und nicht nur in ihr zu leben, sondern zumindest teilweise auch deren Normen in der realen gesellschaftlichen Existenz wenigstens als persönliche Verhaltensform zur Geltung zu bringen. Aber bekannt ist auch das Ende: die nahezu mühelose Übernahme bzw. Liquidation durch den Faschismus.

4. Die Jugendarbeit hat diesen Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters im Grunde nur begleitet bzw. sie hat lediglich mitgeholfen, ihn durchzusetzen. Das kann nur den verwundern, der annimmt, pädagogische Ideen oder Konzepte könnten selbst gesellschaftliche Entwicklungen bestimmen. Der Weg von der traditionellen Jugendarbeit zur antikapitalistischen Jugendarbeit - die streng genommen gar keine Jugendarbeit mehr

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ist, sondern deren Beendigung postuliert zugunsten des politischen Kampfes - spiegelt die Vergesellschaftung des Jugendalters nur wider. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der pädagogischen Konzepte: weg von den Ansprüchen der Erziehungsmächte, hin zu den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen. Aber was sind schon diese Bedürfnisse und Interessen, wenn sie sich nicht an durch Personen repräsentierten Ansprüchen abarbeiten und gerade dabei sich entfalten und bewußt werden können? Daß die Personen, die den Jugendlichen zumindest außerhalb der Familie gegenübertreten (Lehrer, Meister, Polizisten) oft als "Agenten des Systems" erscheinen, ist so abwegig nicht. Wo die Jugendlichen Menschen erwarten, treffen sie auf partikularisierte Beziehungsangebote, auf "Rollendimensionen", hinter denen die persönlichen Konturen verschwinden. Auch in diesem Punkte ist eine eigentümliche Veränderung zu verzeichnen: Wurde in den sechziger Jahren die begrenzende Funktionalisierung der pädagogischen Beziehungen in Schule und Beruf als weitgehende Befreiung von totalen Erziehungsansprüchen erlebt, von denen man genug hatte, so wird heute diese Tatsache eher als leer und unmenschlich empfunden. War die zunächst als "fortschrittlich" empfundene Hinwendung zu den Interessen und Bedürfnissen der Jugendlichen, die sich in den pädagogischen Konzepten der sechziger Jahre vollzog, nicht vielleicht auch eine Übertragung von Marktprinzipien auf die Jugendarbeit, also selbst ein Teil der Durchsetzung der heute als fragwürdig erlebten kapitalistisch-kulturellen Prinzipien?

Andererseits steht außer Frage, daß die Funktionalisierung und Rollendifferenzierung der öffentlichen menschlichen Beziehungen eine unverzichtbare Voraussetzung für die individuellen Freiheitsspielräume darstellen. Besteht das Problem vielleicht darin, daß auf die öffentlichen Beziehungen projiziert wird, was in den unmittelbaren sozialen Horizonten nicht mehr erlebt werden kann?

5. Blickt man auf diesen Prozeß zurück, so stellt sich die Frage, für wen eigentlich die Angebote der Jugendarbeit, die ja immer nur von einem Teil der Jugendlichen wahrgenommen wurden, interessant waren und warum sie für diesen Teil interessant waren; denn die anderen verbrachten ihre Freizeit statt dessen ja im normalen gesellschaftlichen Umfeld. Untersuchungen darüber gibt es leider nicht. Einmal gab und gibt es sicher viele

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Jugendliche, die lediglich mit ihren üblichen Freizeitinteressen zu den Angeboten der Jugendarbeit kommen, diese aber auch anderswo befriedigen würden, wenn Geld und Gelegenheit dazu da wären, und die dann auch weg bleiben, wenn sich solche Alternativen einstellen. Schon in den fünfziger Jahren hatte das normale Freizeitangebot dem Heimabend viel von seiner Attraktivität genommen und der Jugendtourismus minderte die Faszination des herkömmlichen "Auf-Fahrt-Gehens" - obwohl er eigentlich etwas ganz anderes ist. Zieht man jene Mitläufer ab, so bleibt früher wie heute ein relativ kleiner Kern von an der Jugendarbeit Engagierten zurück. Das wirft noch einmal die Frage nach dem Sinn einer vergesellschafteten Jugendarbeit auf, die auf die Erfassung großer Mitglieder- oder Teilnehmerzahlen aus sein muß, um die großen Organisationen zu rechtfertigen, und trotzdem an die "Problemgruppen" (z. B. die "Aussteiger") kaum herankommt. Im Grunde wird der ganze Aufwand nur für eine kleine engagierte Minderheit betrieben, für die große Zahl der anderen ist das nur eine Subvention zur Minderung der Freizeitkosten. Ist es z. B. vernünftig, Jugendzentren zu errichten, wo dann die Gleichaltrigen im eigenen Saft schmoren? Warum sollen sie nicht in eine normale Kneipe gehen? Wenn das Bier da zu teuer ist, muß man eben weniger trinken, und daß man sich da nur in normaler Lautstärke unterhalten kann, um die anderen nicht zu stören, ist nun wirklich nicht jugendfeindlich. An diesem Beispiel wird plausibel, was vorhin mit gesellschaftlich erzwungener Gleichaltrigkeit gemeint war. Die Disziplinprobleme, über die viele Mitarbeiter solcher Häuser klagen, entstehen doch zum Teil überhaupt nur in diesem Getto der Gleichaltrigkeit, und was sich in einer Kneipe vielleicht von selbst ergeben würde, nämlich Gespräche zwischen den Generationen, wird hier künstlich mit bezahlten Mitarbeitern inszeniert.

Oder ein anderes Beispiel: Selbstverständlich soll die Gewerkschaft oder eine Kirche Nachwuchsarbeit, also Jugendarbeit in ihrem Sinne treiben können. Aber wieso muß das in diesem Umfang von der öffentlichen Hand bezahlt werden? Die früheren jugendpolitischen Begründungen (durch Teilnahme an einer demokratischen Organisation zum demokratischen Staatsbürger) sind nicht mehr haltbar, und eine allgemeine pädagogische Begründung für die Jugendarbeit ist ebenfalls nicht mehr möglich, wenn sie je möglich war. Anders wäre die Sache, wenn man nur das fördern und subventionieren würde, was nicht oder nur

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unter sehr hohen Kosten vom Freizeitmarkt bereitgestellt werden könnte, nämlich Programme für Minderheiten, Alternativen zum üblichen Freizeit- und Konsumbetrieb (z. B. eben doch wegen seiner besonderen Erlebnismöglichkeiten wieder das alte Zeltlager; oder anspruchsvolle und aufwendige kulturelle Programme). Die schon in der Weimarer Zeit sich durchsetzende Vorstellung, man müsse im Prinzip jeden Jugendlichen durch Jugendpflege erfassen, läßt sich heute weder pädagogisch noch jugendpolitisch mehr begründen.

Jugendpflege bzw. Jugendarbeit ist von Anfang an ein Teil des Freizeitsystems gewesen. Schon in der Weimarer Zeit wollte sie ein pädagogisch begründetes Gegenangebot gegen die kommerziellen Freizeitangebote etablieren, dessen Inhalte aus dem Arsenal der seinerzeitigen neukonservativen Kulturkritik stammten (Volkstanz gegen die "wilden" zeitgenössischen Tänze; Volkslied und Volksmusik gegen Jazz bzw. "Neger-Musik"; "gute" Filme gegen "schlechte" Filme usw.). Erst im Laufe der sechziger Jahre gelangte die Jugendarbeit aus dieser Konfrontation heraus - allerdings nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen; nun stellte sich vollends heraus, daß die Jugendarbeit - wo sie nicht ausdrücklich Bildungsarbeit war - ein eher schlechter ausgestatteter Teil des Freizeitsystems war und ist.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage noch einmal, welche Jugendlichen eigentlich warum solche Angebote wünschen bzw. akzeptieren. Sind es die eher ängstlichen, schlecht angepaßten, die die Gleichaltrigkeit einerseits und pädagogisch konstruierte Felder andererseits als eine Art "Flucht" vor den Ansprüchen der Realität benötigen? Schon der bündischen Jugend wurde nachgesagt, daß sie zum großen Teil aus Leuten bestehe, die mit den normalen Anforderungen und Perspektiven des Lebens nicht zurecht kämen und deshalb eine eigene Welt konstruierten, in der sie sich besser zurechtfanden.

Der Frage, für wen, also für welche Jugendliche die Jugendarbeit eigentlich gemacht wird, sollte vielleicht in Zukunft grundsätzlicher nachgegangen werden. Bietet die Jugendarbeit immer noch einen "Schonraum" für Jugendliche, die das Erwachsenwerden noch etwas hinauszögern wollen (oder von der Familie dazu gedrängt werden), wie weitgehend in den fünfziger Jahren? Oder bietet sie Raum für besonders Engagierte, Tatkräftige, die mehr Anstrengung und Aktivität brauchen als ihnen in Schule und Beruf abverlangt werden? Oder bietet sie solchen jungen Menschen Raum, die "außergewöhnliche" Dinge

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in ihrer Freizeit tun wollen (z. B. Studenten, die sich nicht mit einem dünnen Berufsstudium zufrieden geben; oder jungen Arbeitern, die nach vernünftigen Alternativen zum üblichen Freizeitbetrieb suchen; oder jungen Leuten, die eine Basis für politische Aktivitäten suchen)? Manches spricht dafür, daß in dem Maße, wie die Jugendarbeit ein gleichartiges Angebot für alle Jugendlichen macht, ihre Attraktivität abgenommen hat. Hatte die Jugendarbeit früher mit ihren "jugendgemäßen" Angeboten einen zähen Kampf gegen den modernen Konsum geführt, so ist sie inzwischen weitgehend dessen Prinzipien untertan: sie versucht herauszufinden, was gefällt, ist verunsichert, wenn die Kunden unzufrieden sind. Das gilt bis in die pädagogischen Konzepte hinein. Aus der Hinwendung zu den Jugendlichen als Subjekten ihrer Lernprozesse - das Kernstück der pädagogischen Konzeptionen der sechziger Jahre - ist weitgehend die Anbetung der Subjektivität geworden, die Identifikation mit jedweder Stimmung und Unlust der jugendlichen Kunden - so wie ein Kaufmann gemeinsam mit dem Käufer über die hohen Preise schimpft.

Aber Jugendarbeit ist weder politisch noch pädagogisch unter allen Umständen nötig, weil die meisten Jugendlichen sie gar nicht brauchen; und die, die sie nicht brauchen, sind im allgemeinen nicht schlechter sozialisiert als andere. Insofern ist auch das Konzept der "Perspektiven für den Bundesjugendplan", das die Jugend im ganzen meint, fragwürdig. Die Geschichte der Jugendarbeit und der Jugendpflege zeigt vielmehr, daß Jugendarbeit immer nur ein zusätzliches Angebot innerhalb der allgemeinen Freizeitkultur für - allerdings höchst unterschiedliche - Minderheiten war.

6. Die Schwierigkeit gerade der deutschen Jugendarbeit ist, daß ihre Organisationsform unter geschichtlichen Bedingungen entstanden ist, die längst nicht mehr gelten. Der hohe Stand der Bürokratisierung engt die Spielräume, die eine Chance der Jugendarbeit waren und eigentlich sein könnten, immer mehr ein. Andererseits haben sich die "jugendgemäßen Erfindungen" der frühen bürgerlichen Jugendbewegung offensichtlich verbraucht, bestimmen jedenfalls das Gesicht der Jugendarbeit nicht mehr. Perfekt durchorganisierte Förderungsrichtlinien mit ihren bürokratischen Konsequenzen, eine nicht zuletzt damit zusammenhängende gesteigerte Gremientätigkeit, verwaltungsmäßige und pädagogische Professionalisierung des Feldes produzieren nicht

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nur keine neuen Ideen, die die formende Kraft des alten "Jugendgemäßen" haben könnten, sie würden solche auch kaum zum Zuge kommen lassen.

Natürlich ist es schwer, ein historisch-gewachsenes Struktursystem einfach zu verändern, es ist sogar schwierig, dazu Vorschläge zu machen. Am einfachsten wäre zu sagen, eine neue Jugendbewegung müsse außerhalb des etablierten Systems entstehen, um auf dieses positiv zurückwirken zu können. Aber eine solche ist nicht in Sicht, und die Studenten- und Lehrlingsbewegung hat derartige Impulse nicht erbracht. Die Lehrlingsbewegung vielleicht nur deshalb nicht, weil ihr die politische Kraft bzw. Unterstützung fehlte; die Studentenbewegung schon deshalb nicht, weil sie in erster Linie destruktive Wirkungen hatte: sie beschleunigte den Prozeß der Vergesellschaftung der noch nicht voll davon erfaßten kulturellen Enklaven, hinterließ aber keine prototypische neue Realität, die der Nachahmung wert wäre.

7. In diesen Zusammenhang gehört auch das schon mehrfach erwähnte Problem der pädagogischen Professionalisierung. Spricht man heute mit "alten Hasen" aus der Jugendarbeit, die gleich nach 1945 tätig waren, dann erfährt man, mit wie wenig Mitteln und mit wie wenig Mitarbeitern sie wieviel auf die Beine gebracht haben. Das ist sicher richtig, aber die Bedingungen waren auch andere. Bis Mitte der sechziger Jahre war Jugendarbeit noch ein komplexes Stück eigenständiger Freizeitkultur. Heimabende und Fahrten wurden z.B. von Gymnasiasten organisiert, für die dies ein Stück interessanter Erfahrung war; viele Studenten - auch solche, die gar nicht Pädagogen werden wollten - waren in vielfältiger Weise ehren- oder allenfalls nebenamtlich in der Jugendarbeit tätig - offensichtlich mit dem Gefühl, dabei auch selbst interessante Erlebnisse und Erfahrungen zu gewinnen. Jugendarbeit war also in erheblichem Maße Freizeittätigkeit aller daran Beteiligten. Inzwischen jedoch ist die Zahl der so Engagierten erheblich zurückgegangen, die Zahl der Hauptamtlichen gestiegen. Daß Studium auch dann eine "gesellschaftlich nützliche Tätigkeit" sein kann, wenn sich das Interesse nicht ausschließlich auf eine akademische Berufsausbildung konzentriert, ist den bürokratischen Ideologen längst zum Opfer gefallen.

Auf die damit verbundenen Probleme wurde schon mehrfach hingewiesen: Da die Hauptamtlichen viel weniger unabhängig

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sind als die Ehren- und Nebenamtlichen, wird über sie die Tendenz zur Bürokratisierung verstärkt; da sie außerdem relativ viel Geld - überwiegend öffentliche Mittel - kosten, verstärkt sich die Tendenz, standardisierte Arbeitszeiten und Arbeitsleistungen von ihnen wie etwa von einem Lehrer zu erwarten; der Umgang mit den Jugendlichen wird professionell also einerseits rollengerecht verengt andererseits aber auch so gestaltet, daß die Jugendlichen und ihre Probleme zur Definition des pädagogischen Selbstbildes benutzt werden können.

Alle diese Veränderungen haben eher negative als positive Aspekte; sie addieren sich zu der Tendenz, den für die Jugendarbeit bisher so charakteristischen offenen Handlungs- und Experimentierspielraum einzuengen und die Jugendarbeit zu verschulen. Dies ist natürlich eine Frage der Interpretation, man kann darin auch Vorteile sehen, z. B. eine höhere, nämlich professionelle Qualität der pädagogischen Arbeit.

Jedenfalls ist es schwer, einigermaßen plausible Voraussagen über die Zukunft der Jugendarbeit zu machen. Sie wird wohl - wie in den letzten 30 Jahren auch - davon abhängen, wie der soziale und kulturelle Wandel weitergeht und welche Funktion die Jugendarbeit in diesem Prozeß einnehmen kann. Ohne neue Impulse durch eine Jugendbewegung dürften jedoch Innovationen kaum zu erwarten sein; denn die Geschichte der Jugendarbeit zeigt von Anfang an, daß der Widerspruch von Jugendpflege und Jugendbewegung unaufhebbar ist. Ohne Jugendbewegung hätte es keine Jugendarbeit gegeben, aber Jugendarbeit ist nicht einfach die Fortsetzung der Jugendbewegung mit verbesserten Möglichkeiten, sondern ganz wesentlich auch deren Zähmung und Kanalisierung.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/juga4.htm

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