Hermann Giesecke:
Kleine Didaktik des politischen Unterrichts 
Schwalbach: Wochenschau-Verlag 1997
© Hermann Giesecke
 

Inhalt
1 Was ist Didaktik? 
2 Didaktische Konstruktionen des Politischen   
3 Die Kunde   
3.1. Die biographisch orientierte Kunde   
3.2 Die systematische Kunde   
3.3 Orientierungswissen   
4 Konflikt- und Problemorientierung   
5  Ein vereinfachtes Modell   
6 Zusammenfassung   

 
1 Was ist Didaktik?
(Definition)
Der Begriff "Didaktik" wird heute meist in einem umfassenden Sinne benutzt, als Bezeichnung für alle planmäßigen pädagogischen Arrangements, ob es sich dabei nun um Unterricht handelt oder um die Organisation eines Kinderferienlagers. Ursprünglich war er lediglich auf den Unterricht, also auf die planmäßige Lehre vor allem in der Schule begrenzt. Seine Ausdehnung verdankt er in erster Linie der Erweiterung der pädagogischen Studiengänge in den letzten Jahrzehnten, wobei insbesondere die Diplomstudiengänge eine Rolle spielen, in deren Mittelpunkt das Unterrichten nur teilweise steht. Die pädagogischen Grundbegriffe, zu denen auch "Didaktik" gehört, sollten in diese Studiengänge dennoch sinngemäß übernommen werden können.

Im folgenden geht es aber wieder um die engere Fassung, und zwar im Hinblick auf den politischen Unterricht - welche Bezeichnung ("Sozialkunde"; "Gesellschaftskunde" usw.) er in der Schule auch haben mag.
(Didaktische Konstruktion)
    Wie jede kulturelle oder natürliche Wirklichkeit ist auch die politische als solche nicht lehr- und lernbar und übrigens auch nicht erforschbar. Sie muß vielmehr zu diesem Zweck erst in geeigneter Weise definiert werden. Die Wissenschaft hat dafür bestimmte Methoden (z.B. empirische; hermeneutische) entwickelt, die einerseits die Wirklichkeit in bestimmter Weise definieren, andererseits deswegen aber auch einen nur jeweils begrenzten Erkenntniswert aufweisen, - ein Mangel, der durch die Anwendung verschiedener Methoden ausgeglichen werden soll. Diese Begrenztheit gilt auch für jede didaktische Konstruktion: Wenn ich etwas lehren will, muß ich für diesen Zweck die Wirklichkeit erst in eigentümlicher Weise konstruieren. Lehren wie Forschen setzen also stets Vereinfachen voraus. Deshalb besteht immer die Gefahr, daß diese Vereinfachungen, weil sie das Ganze der Wirklichkeit nicht erreichen können, durch ideologische Zusätze aufgefüllt werden. Vertretbar sind solche Reduktionen daher nur dann, wenn sie nicht als etwas Endgültiges, z.B. Dogmatisches betrachtet werden, sondern dem Weiterlernen offen bleiben. Ähnlich wie im wissenschaftlichen Verfahren ist deshalb auch im Unterricht Methodenvielfalt eine Möglichkeit, Einseitigkeiten zu vermeiden.

    Didaktische Analysen haben also den Sinn, eine bestimmte Wirklichkeit - in unserem Falle: die politische - lehrbar und damit für Lernende verstehbar zu machen. Methodik dagegen bezieht sich auf
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die Planung des Unterrichts als eines zeitlichen Prozesses; wenn ich die Lehrbarkeit eines Sachverhaltes herausgefunden habe, habe ich ihn ja anderen Menschen noch keineswegs tatsächlich beigebracht. Methodische Aspekte sollen im folgenden jedoch ausgeklammert bleiben.
(Vermittlung)
    Didaktisches Denken kreist also um einen prinzipiellen Vermittlungsprozeß zwischen Mensch und Welt. In der Praxis jedoch sollen objektive Sachverhalte und Zusammenhänge nicht an und für sich, sondern bestimmten Menschen erklärt werden, z.B. Grundschulkindern, Schülern der gymnasialen Oberstufe oder auch Erwachsenen. Voraussetzung dafür, daß dies überhaupt möglich ist, ist immer eine bereits vorhandene Erfahrung, an die sich dabei anknüpfen läßt. Was neu gelernt werden soll, muß sich immer auf bereits vorhandene Erfahrungen beziehen, um diese erweitern, ergänzen, korrigieren und differenzieren zu können. Deshalb kann man Grundschulkindern einen politischen Sachverhalt nicht in derselben Weise und in demselben Umfang erklären wie Professoren oder Abiturienten, und manches kann man z.B. Grundschulkindern mangels vorgängiger Erfahrung noch gar nicht erklären, - worauf die schulischen Lehrpläne ja auch Rücksicht zu nehmen versuchen.

Didaktische Konstruktionen bewegen sich also immer in einem Spannungsverhältnis zwischen der Lehrbarkeit einer Wirklichkeit überhaupt und der Lernbarkeit durch eine bestimmte Gruppe von Menschen. Die beiden möglichen Extreme sind demnach die geistige Erschließung dieser Wirklichkeit ausschließlich von den Bedürfnissen der Lernenden oder umgekehrt von den Ansprüchen der sachlichen Analyse her. Didaktische Konzepte versuchen in der Regel, eine Balance zwischen beiden Extremen zu finden, wobei die Grundschule eher an dem einen Pol, die Universität eher an dem anderen Pol angesiedelt ist.
(Partizipation)
    Diejenigen jedoch, die auf der Basis didaktischer Analysen etwas lernen sollen, müssen dafür einen Grund haben, der sie dazu motivieren kann. Generell gilt, daß mit Hilfe des allgemeinbildenden Schulunterrichts - auf den ich mich hier beschränken will - die Voraussetzung dafür geschaffen werden soll, daß die Kinder gegenwärtig wie in Zukunft am kulturellen, politischen und beruflichen Leben unter Ausnutzung ihrer Fähigkeiten optimal partizipieren können. Daraus folgt, daß der politische Unterricht in erster Linie auf die in unserer Gesellschaft vorgesehenen institutionalisierten Partizipationsmöglichkeiten vorbereiten muß. Das sind für die meisten Menschen vor allem drei: Teilnahme
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 - an politischen Wahlen;
 - an der beruflich-wirtschaftlichen Interessenvertretung    (Gewerkschaften);
 - an der politischen Publizistik.

Während die ersten beiden Partizipationen ohne weiteres einleuchten, wird die Bedeutung der politischen Publizistik oft unterschätzt. Aber auf deren regelmäßige Informationen und Meinungsbildungen sind die Bürger ein Leben lang angewiesen. Das gilt insbesondere dann, wenn politische Sachverhalte bzw. Entscheidungen sie nicht unmittelbar, in täglicher Anschauung, sondern nur mittelbar betreffen. Was läge also näher, als das politische Urteil an den Produkten dieser Publizistik zu schulen, diese also nicht nur als Unterrichtsmittel (Lehrmittel), sondern auch als Unterrichtsgegenstand zu verwenden? Die politische Bildung im Rahmen der allgemeinbildenden Schule orientiert sich jedenfalls an diesen Teilhabemöglichkeiten und unterstellt dabei, daß diese durch eine zunächst unspezielle, z.B. nicht von vornherein berufsorientierte unterrichtliche Förderung der dazu benötigten formalen geistigen Fähigkeiten sowie durch den Aufbau angemessener Vorstellungen über die politische Wirklichkeit entwickelt werden können. Allerdings ergeben sich aus diesen Partizipationschancen noch keine präzisen Unterrichtsstoffe, die dafür bedeutsam sind. Was ist dafür nötig, worauf kann man verzichten? Darüber läßt sich trefflich streiten.

(Nebenzwecke)
Dieser Gesichtspunkt der Verwertbarkeit der Aufklärung, die der politische Unterricht im Blick haben muß, macht diesen ebenso wie die schon erwähnte Notwendigkeit der Vereinfachung anfällig für ideologische Füllsel. Auf seiner Schiene lassen sich nämlich zusätzliche Nebenzwecke z.B. moralischer Art transportieren, daß aus dem Unterricht etwa eine besondere Gesinnung bzw. ein spezifisches Verhalten etwa gegenüber Ausländern oder Neonazis folgen soll. Didaktische Analysen jedoch, die sich an solchen Nebenzwecken orientieren, werden schnell beliebig, weil der Unterricht bzw. die Lehrer, die ihn erteilen, über die außerschulische bzw. spätere Verwendung des im Unterricht Gelernten bekanntlich nicht verfügen können und insofern alle entsprechenden Erwartungen auf Spekulation beruhen. Diese Nebenzwecke sollen hier jedoch aus Raumgründen nicht weiter erörtert werden.

Die erwähnten Partizipationsmöglichkeiten sind für Schüler allerdings teilweise noch gar nicht (Teilnahme an Wahlen und an der beruflichen Interessenvertretung), teils nur in modifizierter Form (Mitwirkung in der Schülervertretung und im Rahmen von Jugend-
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verbänden) vorhanden. Gleichwohl liegt im Begriff der Allgemeinbildung die Idee der Vorwegnahme künftiger Partizipationschancen beschlossen, auf die die Schule vorbereiten soll.
    Ich beschränke mich im folgenden auf die sachbezogene Analyse und stelle dabei vergleichend zwei verschiedene didaktische Ansätze vor: die Kunde und die Konflikt- und Problemorientierung. Ich gehe also davon aus, daß der politische Unterricht wie jeder andere auch primär die Objektivität der Sachverhalte im Blick haben muß, nicht einfach von der subjektiven Bedürfnis- und Interessenlage ausgehen kann; diese muß sich vielmehr immer wieder neu in der Auseinandersetzung mit den objektiven Verhältnissen und Bestrebungen profilieren. Jeder Unterricht muß davon ausgehen, daß die objektive Welt sich nicht aus der Fortschreibung der subjektiven Bedürfnisse erklären läßt, sondern diesen vorgegeben ist. Meine Leitfrage lautet deshalb: Wie ist Politik als objektive Realität lehr- und lernbar?

Dabei lasse ich das Problem des Lehrplans auf sich beruhen. Für den Schulunterricht gibt es ja Richtlinienvorgaben, die den didaktischen Entscheidungen der Lehrer Vorgaben und insofern Grenzen setzen. Wenn diese Vorgaben jedoch nicht lediglich additiv, im Sinne einer bloßen Stoffanhäufung, oder bloß willkürlich formuliert sind, dann beruhen sie ebenfalls auf didaktischen Analysen und müssen sich insofern auch einer didaktischen Überprüfung stellen. Hier geht es also um die sowohl den Unterricht als auch die Richtlinien übergreifende Frage, was warum im politischen Unterricht gelehrt werden soll.
 

Wegen des begrenzten Umfangs dieses Bändchens kann ich mich hier leider nicht im einzelnen mit anderen Autoren und Positionen auseinandersetzen, die der Leser jedoch in anderen Beiträgen dieser Reihe finden wird.
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2 Didaktische Konstruktionen des Politischen

Um also Politik lehren zu können, müssen wir sie dafür erst einmal definieren. Diese Definitionen können wegen ihres begrenzten Zweckes von vornherein nicht beanspruchen, "das Politische" im ganzen abzudecken. Der Sinn dieser Begrenzung und Vereinfachung ist vielmehr, Schneisen des Verstehens zu schlagen, von denen aus neue Erkenntnisse möglich sind, - sei es durch weiteren Unterricht, sei es durch Teilnahme an den üblichen Informationsmitteln z.B. der Medien. Ferner müssen diese Definitionen geeignet sein, eine Verbindung herzustellen zu den bereits vorhandenen Erfahrungen der Schüler. Dann bieten sich u.a. die folgenden vier Definitionen von Politik an, die einerseits als Grundlage didaktischer Konstruktionen dienen können und andererseits für die gegenwärtige und künftige Lebenspraxis der Schüler von Bedeutung sind.

(Definitionen des Politischen)
    1. Politik läßt sich verstehen als ein Funktionszusammenhang von Institutionen und deren Regeln und Beziehungen.
    2. Politik läßt sich verstehen als ein System aufeinander bezogener Handlungen, die auf der Grundlage der regelnden Institutionen Probleme des Zusammenlebens definieren und diese zu lösen oder wenigstens im Sinne einer höchstmöglichen Akzeptanz zu minimieren trachten.

    3. Politik läßt sich verstehen als jeweils aktuelles soziales Handeln, das von bestimmten staatlichen oder verbandlichen Mandatsträgern oder von Repräsentanten staatlicher oder verbandlicher Institutionen ausgeht und vom Souverän - den jeweils Wahlberechtigten - beurteilt und kontrolliert wird.

    4. Politik läßt sich verstehen als ein interessenbedingtes Miteinander und Gegeneinander von Gruppen, deren Widersprüche sich in manifesten Konflikten äußern, die ihrerseits auf relativ dauerhafte Probleme verweisen.

    Diese Auswahl ist keineswegs vollständig, in der Forschung treffen wir noch mehr Definitionen an, aber sie trifft doch wohl die bekanntesten didaktischen Ansätze. Im folgenden beschränke ich mich auf die 1. und die 4. Definition, wobei die letztere eine gewisse Nähe zur 2. und 3. verrät.
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3 Die Kunde
 
Der ersten Definition entspricht didaktisch eine mehr oder weniger systematische Kunde, wie sie in Bezeichnungen wie "Gemeinschaftskunde" oder "Sozialkunde" zum Ausdruck kommt. Das Politische wird dabei verstanden als ein relativ dauerhaft existierender Gegenstand wie die Stoffe anderer Schulfächer auch. Zu unterrichten sind dann bestimmte Ausschnitte dieses Gegenstandes in einer plausibel erscheinenden Reihenfolge. Eine solche Kunde läßt sich deswegen einigermaßen dauerhaft entwerfen, weil die gesellschaftlichen Institutionen und Regeln sich zwar im Laufe der Zeit verändern, gleichwohl aber im allgemeinen die stabilsten Faktoren der politischen Realität darstellen; denn sie binden das konkrete politische Handeln in hohem Maße. Da gibt es also Stoffe, die sich einigermaßen genau bestimmen lassen, die nacheinander im Unterricht behandelt werden können und die sich in Klassenarbeiten auch überprüfen lassen. Insofern ist die Kunde für den Schulunterricht besonders geeignet, zumal sich die Ausbildung der Lehrer auf solche relativ dauerhaften Stoffe hin leicht organisieren läßt. Manche meinen sogar, daß die Kunde die einzige der Schule angemessene Form sei, Politisches zu unterrichten.
(Stoffauswahl)
    Gleichwohl ist damit das Problem der Auswahl der Stoffe noch nicht gelöst, das ja nicht zuletzt durch die begrenzte Stundenzahl bedingt ist. Zudem läßt sich in die Form der Kunde eine Fülle von einzelnen Stoffen verpacken, die jedoch von sich aus weder einen geistigen Zusammenhang enthalten noch auch sich zwingend auf die eben erwähnten gegenwärtigen und künftigen Partizipationsmöglichkeiten der Schüler beziehen müssen. Wir müssen also versuchen, weitere Definitionen einzuführen, um den Spielraum noch enger zu fassen. Ganz beseitigen läßt er sich jedoch nicht; das Problem der Stoffauswahl ist prinzipiell unentscheidbar, d.h. es gibt kein Verfahren, das schlüssig zu beweisen vermag, welchen Stoffen aus der Fülle der möglichen der unbedingte Vorrang zu geben sei. Das ist letztlich eine pragmatische und im Hinblick auf die staatlichen Richtlinien eine politische Entscheidung. Am Bedeutungsunterschied von "Richtlinien" und "Lehrplänen" läßt sich dabei eine wichtige Differenz ablesen. Während "Richtlinien" lediglich einen Rahmen abstecken, den die Lehrer im einzelnen nach eigenen Vorstellungen ausfüllen sollen, gehen die Vorgaben bei "Lehrplänen" sehr viel weiter, im Extremfall bis dahin, daß die Lehrer nur noch eine exekutierende Funktion dabei haben. Letzteres kennen wir aus der alten
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DDR-Schule, die den Lehrern für die Stoffauswahl kaum einen Spielraum ließ, so daß ihre Tätigkeit sich im wesentlichen auf die Methoden des Beibringens reduzierte. Didaktische Analysen wurden in der DDR zwar auch vorgenommen, aber nicht vom einzelnen Lehrer, sondern von einer zentralen Instanz, der "Akademie der pädagogischen Wissenschaften", die mit ihren didaktischen Überlegungen die Lehrplanentscheidungen durch die Politik vorbereitete. Das Beispiel zeigt, daß die relative Offenheit der bei uns üblichen Richtlinien einen politischen Hintergrund hat, insofern in unserer pluralistischen politisch-gesellschaftlichen Verfassung Detailregelungen wie früher in der DDR nicht mehr durchsetzbar sind. Der inhaltliche Entscheidungsspielraum der Lehrer im Rahmen der Richtlinien macht Didaktik als ein Art von Berufswissenschaft überhaupt erst möglich, weil dieser Spielraum ohne entsprechende Reflexionsmuster willkürlich und öffentlich nicht diskutierbar bliebe.

    Für eine weitere Präzisierung der politischen Kunde lassen sich nun zwei verschiedene Ordnungsmuster nennen, die eine gewisse pragmatische Plausibilität beanspruchen können: ein biographisches und ein systematisches .
 
3.1. Die biographisch orientierte Kunde
 
Man kann den biographischen Weg des Kindes zum Maßstab machen. Dann ergibt sich in etwa die Themenfolge von Familie - Gemeinde - Freizeit - Wirtschaft - Beruf - Tarifpartner - Wirtschaftspolitik - Bundeswehr - Wahlen - das parlamentarische System.
Diese thematische Anordnung würde also auf die Entwicklung des Kindes bezogen sein und Bereiche der Gesellschaft und des Staates dann zum Thema machen, wenn sie auch praktisch in den Horizont des Kindes bzw. Jugendlichen treten, um ihm zu diesem Zeitpunkt Aufklärung über seine Teilhabechancen anzubieten. Der Leitgedanke ist dabei, daß das Kind allmählich in seine Gesellschaft hinein wächst und in diesem Prozeß sowohl seinen geistigen Horizont wie seine Teilhabemöglichkeiten entwickeln muß und auch will. Auf dieser Annahme beruhte auch die frühere "Heimatkunde". Aber sofort fallen auch die Grenzen dieses Vorgehens ins Auge.
(Grenzen des Konzeptes)
    1. Es geht ja nicht nur um die persönliche Teilhabe des Kindes, die mit zunehmendem Alter fortschreitet; vielmehr bringen sowohl die Massenmedien wie auch die Eltern schon vorher gesellschaftliche Realitäten in sein Blickfeld. So sind die Eltern bereits wahlberechtigt, und das Kind wird schon früh nachfragen, um was es sich dabei
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handelt. Kommt die Schule erst zu einem späteren Zeitpunkt darauf zu sprechen, unterschätzt sie wahrscheinlich die dann bereits vorhandenen Kenntnisse und geht hinter die bereits erworbene Erfahrung zurück, anstatt sie zu erweitern. Wann etwas wirklich in den Fragehorizont des Kindes tritt, kann die Didaktik so einfach nicht voraussehen.

    2. Je jünger das Kind ist, um so mehr braucht es die dumpfe, unaufgeklärte Selbstverständlichkeit seines unmittelbaren Alltags. Deshalb sind Themen wie "Familie" oder andere, die das unmittelbare soziale Umfeld betreffen, zunächst einmal wenig geeignet für eine kritische Reflexion. Nicht Aufklärung wäre das Resultat, sondern Verunsicherung. Umgekehrt sind die sozialen Familienerfahrungen und die Nahbeziehungen überhaupt für lange Zeit ein unverzichtbarer Fundus für darüber hinausgehende gesellschaftliche und politische Einsichten, wie sie der Unterricht vermitteln will. Lediglich dann, wenn dieser selbstverständliche Nahbezug zusammenbricht, sind auch Reflexionen für eine neue Orientierung nötig. Soziales und Politisches kann das Schulkind nur verstehen, insofern es damit bereits Erfahrungen gemacht hat, von deren Vertrauenswürdigkeit auch die Glaubwürdigkeit der darüber hinaus reichenden Einsichten abhängt. Allerdings darf man die Reichweite der bereits vorhandenen sozialen Basiserfahrungen, an die der Unterricht anknüpfen soll, auch nicht unterschätzen. Die wichtigsten politischen Sachverhalte können durchaus schon relativ früh erklärt werden, die Frage ist nur, ob und inwieweit solche Kenntnisse in der sozialen Umgebung des Kindes - in der Familie, unter seinen Freunden - kommunizierbar sind. Wächst das Kind z.B. mit politisch engagierten Eltern auf, ergeben sich dafür andere Chancen, als wenn es sich z.B. um eine primär konsumorientierte Familie handelt.

    3. Die biographisch orientierte Struktur kann von sich aus keine innere Systematik konstituieren, sondern bleibt additiv: erst kommt das dran, dann dieses, dann jenes. Das Kind muß deshalb bei diesem Verfahren selbst eine Integration dieser einzelnen Stoffe im Zuge seiner fortschreitenden persönlichen Selbstvergewisserung leisten. Je jünger die Schüler sind, um so weniger wird ihnen eine solche geistige Integrationsleistung zugemutet werden können. Deshalb besteht die Gefahr, daß bei dieser didaktischen Struktur Jahre vorher Behandeltes wieder vergessen ist, wenn das Neue drankommt. Nur das aber, was systematisch verstanden wurde, also in Zusammenhängen, ist transferierbar auf künftige Verwendungssituationen. Jedes unterrichtliche Lernen findet zwar in einem zeitlichen Nacheinander
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statt, aber es ist wichtig, daß dabei an früher Gelerntes angeknüpft werden kann, was nur dann möglich ist, wenn alles durch eine innere Logik zusammen gehalten wird und nicht bloß additiv aneinander gefügt ist.

    4. Nach aller Erfahrung ist fraglich, ob der enge Bezug zum fortschreitenden Leben des Kindes auch besonders motivierend wirkt. Darauf ist generell schwer zu antworten, weil viele Faktoren dabei eine Rolle spielen, z.B. die Generationsgestimmtheit, das Milieu, in dem das Aufwachsen erfolgt (Stadt; Land) und wohl auch das geistige Niveau des Elternhauses, aber nicht zuletzt auch die Lernbedürfnisse des einzelnen Kindes. Der biographische Weg des Kindes wird ja schon von früh an begleitet durch die Massenmedien, vor allem durch das Fernsehen. Die machen - wenn auch nur aus zweiter Hand - Erfahrungen zugänglich, die keine Rücksicht auf Alter und Reife des Kindes nehmen, sondern die ihm in seinem konkreten sozialen Umfeld sonst gar nicht zugänglich würden. Möglicherweise sind diese Erfahrungen dem Kind aber wichtiger und interessanter als das, was in der Schule nach dem biographischen Konzept gerade "dran" sein soll. Das biographische Konzept wie das frühere heimatkundliche auch entsprechen einer Gesellschaftsverfassung, in die die Kinder tatsächlich Schritt für Schritt hineinwachsen mußten.
 
3.2 Die systematische Kunde
 
Die zweite Möglichkeit, eine thematische Ordnung für die Sozialkunde zu finden, geht nicht vom Fortschreiten des kindlichen Lebens aus, sondern von der demgegenüber objektiven staatlich-gesellschaftlichen Struktur. Auch dabei stellt sich aber sofort das Problem der Auswahl; denn natürlich kann die Schule schon aus praktischen Gründen nicht alles unterrichten, was etwa die einschlägigen Wissenschaften an Themen und Theorien darüber präsentieren. Die Auswahl kann auch unter diesem Aspekt wieder nur pragmatisch erfolgen, wobei die Zugänglichkeit bestimmter Sachverhalte für die jeweilige Altersstufe ebenfalls zu berücksichtigen wäre. Allerdings ist nun im Unterschied zur biographischen Perspektive die Blickrichtung anders: es geht um den Versuch, das Politische als einen Strukturzusammenhang zu erklären, der gerade unabhängig von der jeweiligen persönlichen Aktualität und Befindlichkeit besteht, so wie es bei der Mathematik und anderen Fächern auch der Fall ist. Die Subjektivität des Schülers würde nur insofern eine Rolle spielen, als sie die geistige Verständnisfähigkeit und die notwendigen Vorerfahrungen bestimmt.
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(Stoffauswahl)
    Selbst wenn wir auch unter diesem Gesichtspunkt die erwähnten politischen Teilhabemöglichkeiten als Selektionsmaßstab für die an und für sich unbegrenzte Stoffülle geltend machen, kommen wir damit nicht sehr weit. Hindert es etwa die vernünftige Teilnahme an politischen Wahlen oder an der Publizistik, wenn der Wähler oder Leitartikelleser sich mit der politischen Philosophie des Aristoteles befaßt hat? Offensichtlich läßt sich aus den politischen Paftizipationen generell nicht ableiten, was man dafür nicht wissen muß; insofern sind auch alle Überlegungen unzulänglich, die positiv fixieren wollen, was man unbedingt wissen müsse. Früher, in vordemokratischen Zeiten, hat man sich mit dem Hinweis begnügt, daß für die unteren sozialen Schichten und Klassen ein begrenztes Wissen genüge, damit jeder Bürger seine öffentlichen Pflichten kennen und befolgen könne. Aber heute haben die Philosophen und die ungelernten Arbeiter das gleiche Wahlrecht. Eine vorgängige Beschränkung des Wissens ist also politisch nicht mehr möglich. Ähnlich ließe sich gegenüber anderen Kriterien argumentieren, welche die allgemeine Didaktik für die Auswahl des "Bildungswirksamen" vorgetragen hat: Wie will man z.B. im voraus wissen, was später einmal Bedeutung für das Kind haben wird, - zumal in einer Gesellschaft, die voller Mobilitäten ist? Deshalb kann es nur darum gehen, jedem Schulkind einen Einstieg in die Aufklärung der politischen Realität anzubieten, von dem aus es dann selbst nach seinen Fähigkeiten und Interessen sich weiteres Wissen erwerben kann.

    Als Ganzes ist Politik als Zusammenhang von Institutionen und deren regelhaften Beziehungen also im Schulunterricht nicht lehrbar, dafür wäre die Stoffülle zu groß. Es gibt aber grundlegende und deshalb weitreichende Verständnismodelle, die zu Rate gezogen werden können.    
(System-Modelle)
    Zum Zwecke der Unterrichtung können wir uns Staat und Gesellschaft als miteinander verbundene Systeme vorstellen. Drei solcher Systeme sind offenbar in diesem Zusammenhang besonders wichtig:
 - das politische System,
  - das ökonomische System,
 - das Kommunikationssystem.
Hinzu käme noch das
 - System der außenpolitischen Beziehungen.

Die Wissenschaften haben uns für diese Systeme grundlegende Erklärungsmodelle zur Verfügung gestellt, die didaktisch vielseitig verwendet werden können, z.B.:
 - das Parlament (politisches System);
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- der Haushalt (ökonomisches System);
 - das Kommunikationsmodell (Kommunikationssystem).
Für das System der Außenpolitik käme vielleicht das
 - Modell des Bündnisses
in Frage.

Stellt man sich diese Systeme als Grundlage eines Lehrplans für mehrere Jahre vor, dann lassen sich wichtige Teilthemen mühelos daran festmachen:    
 - Politisches System: Volkssouveränität und Wahlrecht; Rechtsstaatlichkeit; Grundrechte; Gewaltenteilung;    Sozialstaatlichkeit.      
 - Ökonomisches System: Arbeitsverhältnis; Berufsausbildung; Tarifpartnerschaft; Privater Konsum; Wirtschaftspolitik.
 - Kommunikationssystem: Presse; Fernsehen; Werbung; Datennetze.
 - Außenpolitik: Verträge; Völkerrecht; NATO; Bundeswehr.

(Didaktische Funktionen)
Diese grundlegenden Modelle (Parlament; Haushalt; Kommunikation; Bündnis) können eine vierfache didaktische Funktion wahrnehmen:

1. Sie stellen eine abstrakte Vereinfachung komplizierter Sachverhalte dar und geben diesen eine Erklärungsstruktur, die sich z.B. als Tafelbild veranschaulichen läßt. So gibt es Parlamente auf verschiedenen politischen Ebenen, vom Bundestag bis zur Schülervertretung. Hat man Sinn und Funktion dieses demokratischen Modells im Prinzip begriffen, lassen sich damit eine ganze Reihe von konkreten Variationen verstehen.

2. Die Modelle können als Idealtypen dienen, an denen gemessen gerade Abweichungen von der jeweiligen konkreten Realität erkannt und erklärt werden können. Was ist beim Schulparlament anders als beim Bundestag oder beim Gemeindeparlament und warum ist das so?

3. Die Reichweite dieser Modelle ermöglicht, einzelne Themen in einem entsprechenden systematischen Zusammenhang zu unterrichten, wodurch eine bloß additive Reihung vermieden wird, wie sie z.B. beim biographischen Modell unvermeidbar ist. Um das Modell "Parlament" herum lassen sich z.B. weitere damit zusammenhängende Themen wie Wahl und Wahlrecht, politische Parteien, Regierung und Opposition, Gewaltenteilung u.a.m. so gruppieren, daß ein größerer geistiger Zusammenhang erhalten bleibt.

4. Gerade wegen ihrer Abstraktheit lassen sich diese Modelle sowohl in vereinfachter Weise - für jüngere Schüler - wie auch in komplizierteren Formen verwenden, was sie geeignet zur Wiederho-
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lung mit fortschreitender Komplexität in höheren Schulklassen bis hin zur Universität macht. Für die Klassen 8-10 habe ich dieses Konzept in einem (inzwischen vergriffenen) Schulbuch dargestellt.

Allerdings hat sich diese didaktische Konstruktion bisher zumindest unterhalb der gymnasialen Oberstufe kaum durchgesetzt. Sie gilt als zu abstrakt und deshalb als zu schwierig für jüngere Schüler. Dieser Einwand leuchtet jedoch nicht recht ein, wenn man bedenkt, daß dieselben Schüler bereits mit gewiß nicht weniger komplizierten Operationen der Mathematik befaßt werden. Vermutlich ist ein wichtiges Hindernis eher darin zu sehen, daß diese didaktische Konstruktion ein hohes Maß an fachlicher Vorbildung der Lehrer voraussetzt, von denen viele zumal auf den unteren Schulstufen nicht einmal einschlägige Fächer studiert haben. Hinzu kommt, daß der politischen Bildung immer wieder andere Zwecke gesetzt wurden, als in die Objektivität politisch-gesellschaftlicher Strukturen einzuführen. Nach meiner Überzeugung wird jedoch das Ansehen des politischen Unterrichts in der allgemeinbildenden Schule in Zukunft wesentlich davon abhängen, daß er in dieser oder einer ähnlichen Weise sich als ernst zu nehmendes Fach etablieren kann, in dem zu lernen sich auch lohnt.
(Didaktische Grenzen)
    Gleichwohl hat auch dieses didaktische Modell seine Grenzen.
1. Wie schon das biographische so erreicht auch das systematische Modell von sich aus nicht die in der Öffentlichkeit diskutierten Probleme und die dabei zutage tretenden politischen Parteiungen und Konflikte. Allenfalls als Beispiele zur Veranschaulichung von Teilaspekten des jeweils unterrichteten Systems könnten diese dienen.

2. Obwohl diese Modelle auch anschaulich vereinfacht werden können, bleibt die Frage, wie lange man mit ihnen arbeiten kann, ohne die Motivation vor allem jüngerer Schüler zu verlieren. Deshalb spricht einiges dafür, beide möglichen Ansätze - den biographischen und den systematischen - zu kombinieren bzw. zwischen beiden zu wechseln.

Sie akzentuieren die Sachverhalte jedoch unterschiedlich. Nähern wir uns dem Thema "Bundeswehr" z.B. aus der Perspektive dessen, der demnächst einberufen werden wird, dann stellen sich Fragen wie: Wie wird man einberufen? Was muß ich tun, wenn ich Ersatzdienst leisten will? Welchen Sinn bzw. Zweck hat meine Einberufung,
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welche Aufgaben habe ich zu erfüllen? Die Wirklichkeit wird unter dieser Fragestellung eigentümlich selektiv wahrgenommen. Fragt man jedoch von der Institution her, so liegen die Akzente teilweise anders: Welche Aufgaben hat die Bundeswehr? Wie wird sie politisch geführt und kontrolliert? Wer darf sie einsetzen? Wofür braucht sie wieviel Geld? Aus diesen beiden Perspektiven ergeben sich also unterschiedliche Fragen und damit auch Stoffe, die für die Antwort benötigt werden, und sie beleuchten das Thema "Bundeswehr" in unterschiedlicher Weise.
 
3.3 Orientierungswissen
 
Die bisher erwähnten Schwierigkeiten, eine unstrittige Stoffauswahl für den politischen Unterricht zu finden, zwingen zu einer Zwischenüberlegung über den Sinn des im politischen Unterrichts zu erwerbenden Wissens überhaupt, die ich in die These fassen möchte, daß es dabei lediglich um Orientierungswissen gehen kann. Damit ist folgendes gemeint.

(Vorläufigkeit)
1. Dieses Wissen hat nichts Endgültiges an sich, sondern markiert immer nur ein Zwischenstadium, das auf weiteren Erwerb von Wissen, Kenntnissen und Einsichten vorbereitet. Der Prozeß der je individuellen politischen Bildung wird also als nach vorne offen, als zu jedem biographischen Zeitpunkt unabgeschlossen betrachtet. Nur unter dieser Voraussetzung sind die genannten Vereinfachungen, die jeder didaktischen Konstruktion notwendig anhaften, überhaupt vertretbar. Sonst könnte keine vor der Kritik der einschlägigen Wissenschaften oder demokratischer politischer Gruppierungen bestehen; denn jeder didaktische Ansatz wäre sofort angreifbar, weil er dieses oder jenes nicht enthalte oder berücksichtige, auf das nicht verzichtet werden könne oder dürfe. Schnell wird dann der Vorwurf laut, das jeweilige didaktische Konzept wolle politisch indoktrinieren oder doch jedenfalls eine bestimmte politische Ansicht favorisieren. Eine Theorie der politischen Didaktik darf nicht an der inhaltlichen Reichweite anderer einschlägiger Theorien aus der Philosophie oder der Politikwissenschaft gemessen werden. Weil dieser Unterschied in der Vergangenheit nicht immer beachtet wurde, ergaben sich viele sachlich unnütze Diskussionen bis hin zu erbitterten Kontroversen über Richtlinien in den 70er Jahren. Der Umfang des Orientierungswissens kann jedoch nur pragmatisch festgelegt werden, sein Anspruch nicht auf Vollständigkeit gerichtet sein. Es hat nur vorläufigen Charakter, und seine Funktion wie auch seine Rechtfertigung besteht darin, daß man auf seiner Basis weiterlernen kann, - z.B. durch
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Teilnahme an der politischen Publizistik oder durch weiteren Unterricht. Mehr kann eine didaktische Analyse nicht leisten,- es sei denn, sie zielt auf ideologische Tendenzen.

(Beispiel: Gewaltenteilung)
2. Angestrebt werden kann also nur eine erste grundlegende Einsicht in Zusammenhänge unserer staatlich-gesellschaftlichen Verfassung und Struktur, die der Alltagserfahrung nicht unmittelbar zugänglich sind, sondern nur durch Unterricht erklärt werden können, der seinerseits allerdings an Erfahrungen anknüpfen muß. Nehmen wir als Beispiel die Gewaltenteilung: Sie ist ein Kernstück unserer politischen Verfassung, als solche aber der unmittelbaren Erfahrung nicht zugänglich. Wir sehen im Fernsehen etwa Politiker des Bundestages auftreten, die zu einem Gesetz Stellung nehmen; wir sehen Minister, die das Gesetz umsetzen sollen, und wir wissen, daß Verstöße gegen dieses Gesetz von irgendeinem Gericht abgeurteilt werden. Was wir aber nicht auf Anhieb erkennen können, ist der strukturelle Zusammenhang zwischen diesen Instanzen, eben die Gewaltenteilung. Sie kann nur durch Unterricht ins Bewußtsein genommen werden. Ist dieses Prinzip einmal erkannt und begründet, kann es auch aus der eigenen Erfahrung als sinnvoll begriffen werden. Auch das Kind erlebt ja Gewaltenteilungen, z.B. zwischen Eltern und Lehrern, und es vermag sich vorzustellen, was wäre, wenn es sie nicht gäbe.

(Modell und Realität)
 3. Grundlegende Einsichten treffen allerdings nicht immer auch die Wirklichkeit in vollem Umfange; genau genommen ist das sogar relativ selten der Fall, weil diese Einsichten ja auf Abstraktionen beruhen. Wir wissen z.B., daß heute das Prinzip der Gewaltenteilung durchaus nicht mehr in reiner Form gegeben ist, sondern vielfach durchlöchert wurde; das gilt insbesondere für das Verhältnis von Legislative und Exekutive. Trotzdem muß es im Rahmen des Orientierungswissens in seiner grundsätzlichen Gestalt dargestellt werden, weil der politische Vorstellungshorizont eine Reihe solcher prinzipieller Strukturen braucht, um konkrete Einzelphänomene überhaupt einordnen zu können. Das Orientierungswissen muß also in gewisser Weise immer idealtypisch sein, sonst können grundlegende Einsichten in politisch-gesellschaftliche Strukturen nicht erworben werden. Erst auf einem solchen prinzipiellen, wenn auch notwendigerweise abstrakten Hintergrund können konkrete Einzelfälle der politischen Realität verstanden werden, indem ihre Differenz zum Idealtypus deutlich wird.
(Unterricht als Intervention)
    Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es kein überzeugendes Verfahren gibt, den Stoffkakalog einer Kunde aus irgendeinem wis-
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senschaftlichen, pädagogischen oder bildungstheoretischen System einfach abzuleiten, so daß das Ergebnis jeder weiteren Diskussion enthoben sein könnte. Denkbar sind vielmehr nur allgemeine Strategien, die den möglichen Stoff bzw. die möglichen Themen mit einem groben Raster vorsortieren können, der Rest ist dann eine Frage der politischen (Richtlinien) bzw. pädagogischen (Unterrichtsvorbereitung) Entscheidung. Alle Versuche, den Entscheidungsspielraum z.B. im Rahmen von Curriculum-Strategien bzw. von Lernzieloperationalisierungen weiter einzuengen, haben sich als nicht haltbar erwiesen. Die Konkretisierung der Stoffe kann also nur im wörtlichen Sinne pragmatisch, d.h. durch Handeln hergestellt werden.

    Dieses Dilemma wird nun allerdings dadurch gemildert, daß die Schule nicht der einzige "Sender" ist, von dem politische Informationen und Interpretationen zu bekommen sind. Wäre dies der Fall, dann würde die Schule zumindest gegenüber der Jugend über ein Informationsmonopol verfügen, das genau zu kontrollieren im öffentlichen Interesse liegen müßte. Tatsächlich jedoch ist der Schulunterricht immer auch eine Intervention in Vorstellungen, die sich im Rahmen der außerschulischen Sozialisation sowieso ausbilden; von ihm allein hängt also die Bildung des politischen Bewußtseins keineswegs ab. So gesehen ist eben auch nicht schicksalbestimmend, ob der politische Unterricht diese oder jene thematische Reihenfolge wählt oder mit diesem oder jenen Verständnismodell arbeitet. Entscheidend ist vielmehr, daß dabei die Objektivität der Sachverhalte und Zusammenhänge ins Visier genommen wird.
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4 Konflikt- und Problemorientierung
 
Die bisher beschriebenen systematischen Möglichkeiten für eine politisch-soziale Kunde dringen jedoch nicht bis zur Ebene des politischen Handelns vor. Diese Tatsache hat schon in den 60er Jahren Kritik an diesem Ansatz hervorgerufen. Das, was die Menschen politisch wirklich bewegt, heute z.B. die Schwierigkeiten mit der deutschen Vereinigung, die Arbeitslosigkeit, die weitere Entwicklung der sozialstaatlichen Sicherung, - alles das also, was den politischen Streit der Gegenwart ausmacht und täglich in Zeitungen und Fernsehberichten wahrgenommen werden kann, vermag im Rahmen einer Kunde nicht gründlich behandelt zu werden; dort tauchen solche Auseinandersetzungen allenfalls als Beispiele auf, mit denen aber etwas anderes belegt werden soll, was nämlich im Rahmen der Kunde gerade "dran" ist.
(Politikerhandeln - Bürgerhandeln)
    Der Normalfall - auch schon je nach Alter für Schüler - ist aber, daß die Bürger von politischen Entscheidungen, also von den Handlungen politischer Akteure betroffen sind, sich darüber eine Meinung bilden und diese - z.B. bei der nächsten politischen Wahl - zur Geltung bringen; sie handeln im allgemeinen also nicht konstruktiv, sondern eher reaktiv. Die meisten Bürger gehören ja nicht zu den professionell politisch Tätigen, und das ist in unserer repräsentativen Verfassung auch so vorgesehen. Entgegen manchen Wünschen in Pädagogenkreisen lebt sie davon, daß die meisten Menschen nicht Politiker werden wollen.

    Gleichwohl ist diese Gegenüberstellung nicht ganz korrekt; denn die politischen Akteure innerhalb von Parlamenten, Parteien oder Verbänden können in der Öffentlichkeit einer demokratischen Gesellschaft nicht einfach handeln, ohne die Reaktionen derer einzukalkulieren, denen sie ihr Mandat verdanken. Auch die normalen Bürger handeln, indem sie z.B. ihre Zustimmung oder Ablehnung bei der nächsten Wahl zur Geltung bringen, oder indem sie in Bürgerinitativen oder anderen gesellschaftlichen Organisationen Zustimmung oder Opposition äußern bzw. sich für bestimmte politische Ziele einsetzen. Im Unterschied nämlich zu technischem Handeln, das auf die Veränderung natürlicher Gegebenheiten zielt, richtet sich soziales Handeln auf die Veränderung von Menschen bzw. von menschlichen Verhältnissen; das politische Handeln ist eine Variation davon. Charakteristisch für soziales und also auch politisches Handeln ist nun, daß es sich immer am Handeln anderer orientiert, also in diesem Sinne wechselseitig verstanden werden muß. Diejenigen z.B., gegen
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die sich ein Handeln richtet oder mit deren Hilfe man zum Erfolg kommen will, haben immer ein mehr oder weniger großes Maß an Freiheit, ihrerseits aktiv zu werden und so z.B. die ursprünglichen Ziele der anderen zuzulassen, zu verhindern oder zu modifizieren; im letzteren Falle ist oft ein Kompromiß das Ergebnis. Wegen dieses wechselseitigen Zusammenhangs ist es oft schwer, ursprüngliche Handlungsabsichten in den schließlich erreichten Resultaten wiederzuerkennen. So gesehen handeln die Bürger immer mit, wenn Berufspolitiker aktiv werden, allerdings im allgemeinen nicht ständig, sondern nur zu bestimmten Anlässen oder Gelegenheiten.

Diese knappen Hinweise zeigen schon, daß der didaktische Versuch, Lehr- und Lernprozesse von realen politischen Handlungen aus zu inszenieren, auf eine Reihe von Schwierigkeiten stößt, die schon in der Sache selbst begründet sind. Die Frage ist nämlich, ob es eine dafür geeignete didaktische Konstruktion gibt.
(Interessenbedingte Fragehaltung)
    Eine Antwort darauf sucht der konflikt- bzw. problemorientierte didaktische Ansatz. Er geht davon aus, wie die Menschen sowieso über Politik denken, wie sie zu Urteilen kommen und wie von daher ihr Verhalten bestimmt wird. Die politischen Alltagseinstellungen der Menschen beruhen nach aller Erfahrung auf verhältnismäßig wenigen fundamentalen Einstellungen und Fragehaltungen, z. B.: Geht mich ein bestimmter politischer Sachverhalt überhaupt etwas an? Oder: Wird durch diesen Sachverhalt meine Lage besser oder schlechter? Oder: Kann ich in dieser Sache selbst etwas ausrichten? Oder: Kann ich diesem Politiker Glauben schenken? Oder: Ist diese Regierung (dieser Politiker, diese Partei usw.) Förderer oder Gegner meiner Interessen? Solche fundamentalen Grundhaltungen sind selbstverständlich nicht "angeboren", sie werden durch Lebenserfahrung erworben, nämlich dadurch, daß man im Umgang mit anderen, mit Behörden, mit Gruppen, mit Institutionen (z.B. Schulen) Erfahrungen macht. Diese praktische Grundhaltung, die sowohl inhaltliche wie auch schichtspezifische Modifikationen kennt, äußert sich in einem charakteristischen Denkmodell, das relativ beständig ist und sich im wesentlichen angesichts neuer Themen und Konflikte behauptet. Die politische Bildung muß den Menschen also im allgemeinen nicht beibringen, daß sie überhaupt politische Meinungen und Urteile äußern - die haben sie sowieso - , sondern daß sie ihre Meinungen bedenken und dann möglicherweise ändern oder präzisieren.

    Das kann nicht einfach dadurch geschehen, daß man sie mit wissenschaftlichen Theorien konfrontiert. Diese können nämlich
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verhältnismäßig beliebig konstruiert werden, weil die Erkenntnisziele entsprechend gewählt werden können; für das praktische politische Denken dagegen sind die Ziele bezogen auf bestimmte Bedürfnisse und Interessen und insofern keineswegs beliebig. So wie Politiker im Wahlkampf diese ansprechen müssen und nicht etwa irgendwelche beliebigen Welterklärungs-Muster propagieren können, so muß auch der politische Unterricht dieses praktische Denkmuster als vorgegeben betrachten; er kann es weder herstellen noch fundamental ändern, sondern nur korrigieren, erweitern, differenzieren. Auch die vorhin erwähnte Kunde trifft wie jedes denkbare andere didaktische Konstrukt auf eine solche Grundhaltung. Was liegt also näher, als von vornherein von ihm auszugehen?

In den politischen Alltagsvorstellungen drücken sich zudem fundamentale Bedeutungen des Politischen selbst aus, z.B. Fragen nach Freund und Feind, nach Recht und Unrecht, nach Macht und Ohnmacht. Diese Vorstellungen sind nicht einfach falsch, sondern nur begrenzt: im allgemeinen werden nur bestimmte Fragen gestellt, andere nicht. Also kommt es darauf an, das Ensemble der Fragen zu erweitern und die Bedeutung dieser Erweiterung für die eigene Urteilsfähigkeit zu erkennen.

    Die am politischen Handeln selbst orientierte didaktische Konzeption beruht also primär auf Fragen, nicht auf einer vorgängigen sachlichen Systematik; diese soll vielmehr erst durch die Suche nach Antworten erschlossen werden; es geht also primär um ein methodisches Verfahren, das zum Ziele hat, von erkennbaren politischen Handlungen her auf deren Hintergründe vorzudringen, um mit der dadurch gewonnenen Erkenntnis diese Handlungen besser beurteilen und vielleicht sogar Gegenhandeln mobilisieren zu können. Dieser didaktische Ansatz operiert also mit der Unterstellung, daß die Bürger das Handeln der Politiker und Verbandsfunktionäre gleichsam von außen betrachten, wie ein Schauspiel, das sie anschließend zu beurteilen haben. Ob sie es bei dieser Distanz bewenden lassen oder sich in konkreten Fällen zu mehr, z.B. zu einer Demonstration oder einer Mitwirkung in Parteien oder Organisationen entschließen, bleibt dabei grundsätzlich offen. Es geht bei diesem Ansatz also ebenfalls um den Gesichtspunkt der Bildung, nicht um den des eigenen Handelns, das Handeln der politischen Akteure wird gleichsam als Material für diese Bildung benutzt. Die Frage, wie man politisches Handeln lernen kann, ist eine ganz andere, und sie kann in der Schule nicht beantwortet werden, sondern muß den außerschu-
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lischen Organisationen, z.B. den Jugendverbänden, überlassen bleiben.
(Kategorien)
    Wie aber kommt man zu grundlegenden Fragen, die an alle politischen Handlungen vernünftigerweise gerichtet werden können? Wären sie nur für bestimmte Handlungen bzw. nur für bestimmte Gegenstände dieses Handelns plausibel und für andere nicht, dann ließe sich ja aus den politischen Handlungen generell nichts lernen, sie wären per se didaktisch unergiebig. Lassen sich jedoch solche generellen Fragen finden, die wesentliche Aspekte der Politik treffen und deshalb immer wieder auch angesichts neuer Themen gestellt werden können, dann kann man sie als Kategorien des Politischen bezeichnen, weil sie ja - unabhängig von dem jeweils zu untersuchenden Sachverhalt - allgemeine Momente des Politischen zum Ausdruck bringen; d.h. Politik hat es immer mit ihnen in einer jeweils näher zu bestimmenden Weise zu tun.

    In meiner "Didaktik der politischen Bildung" habe ich versucht, u.a. folgende politisch-didaktische Kategorien zu formulieren.
 -  Inwiefern bin ich selbst betroffen (Interesse)?
 - Worin besteht der Kern der Auseinandersetzung (Konflikt)?
 -  Welche Rechtslage liegt vor (Recht)?
 -  Welcher Einfluß kann geltend gemacht werden (Macht)?
 -  Welche Begründungen werden ins Feld geführt (Ideologie)?
 - Mit wem muß ich mich zur Wahrung meiner Interessen verbünden (Solidarität)?
 - Welche Möglichkeiten der Mitwirkung habe ich (Mitbestimmung)?

Wie man an sich selbst und anderen beobachten kann, werden einige solcher Fragen spontan immer gestellt, andere nicht; diese anderen mit Begründung und Einsicht stellen zu lernen, ist bereits ein wichtiger Lernfortschritt. Insofern knüpft dieses didaktische Konzept an den Vorerfahrungen der Lernenden an und versucht diese weiter zu entwickeln. Auf diese Weise werden die schon vorhandenen Fragehaltungen der Schüler ernst genommen, auf andere wichtige ausgedehnt, und die Schüler werden dazu angehalten, darauf einigermaßen vernünftige Antworten zu suchen.

    Der Katalog möglicher Kategorien ist natürlich verhältnismäßig umfangreich, wenn man alle diejenigen ins Auge faßt, die etwa in den
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politischen und historischen Wissenschaften tatsächlich verwendet werden. Wir stehen hier wieder vor dem schon erwähnten Problem, daß für die Entscheidung über die tatsächliche Auswahl der Kategorien kein hinreichendes Kriterium angegeben werden kann. In dem erwähnten Buch habe ich deren elf genauer entwickelt, aber es könnten auch weniger oder mehr oder teilweise sicher auch andere sein. Entscheidend ist, daß der Politiklehrer selbst das didaktische Konzept so gut verstanden hat, daß er es angesichts eines bestimmten Themas und im Hinblick auf die Vorerfahrungen seiner Klasse kreativ anzuwenden in der Lage ist. Dann wird er diejenigen Kategorien auswählen, die den vorhandenen Erfahrungsstand weiter entwickeln können und er wird vielleicht je nach Thema verschiedene Kategorien benutzen, also unter ihnen wechseln.
 

Im Zentrum dieses didaktischen Verfahrens steht also eine bestimmte Methode, sich politischen Sachverhalten über deren Aktualität zu nähern und dabei den Hintergründen auf die Spur zu kommen. Sie knüpft an das an, das die Menschen in ihrem Alltag sowieso denken.
    Um jedoch als didaktischer Theoriezusammenhang Bestand haben zu können, müssen diese Kategorien folgende Bedingungen erfüllen:

(Wissenschaftsorientierung)
    1. Sie müssen in den einschlägigen Wissenschaften ebenfalls zu finden sein und insofern dem Maßstab der Wissenschaftsorientierung des Unterrichts standhalten können. Das ist bei den oben vorgestellten Kategorien durchaus der Fall, wie sich bei der Lektüre einschlägiger wissenschaftlicher Arbeiten schnell erweist.
(Leitfragen)
    2. Die didaktischen Kategorien müssen als Leitfragen an politische Handlungen gerichtet werden und zu sinnvollen Antworten führen können; sonst wären sie zwar vielleicht wissenschaftlich ergiebig, aber didaktisch unbrauchbar. Grundsätzlich führen die Kategorien nun zwar zu brauchbaren Recherchen, allerdings sind sie je nach Thema unterschiedlich ergiebig. Die Frage nach der Ideologie z.B. war in den 70er Jahren, als Neomarxismus und Konservatismus heftig miteinander stritten, produktiver, als sie heute ist. Andererseits zeigte sich in der Praxis schnell, daß die Kategorien von sich aus nur eine allgemeine Fragerichtung angeben, nicht etwa schon zu präzisen, auch dem Schüler auf Anhieb verständlichen und von ihm ohne weiteres bearbeitbaren Fragen führen. Vielmehr müssen sie für den Einzelfall vom Lehrer präzisiert werden, was wiederum eine hohe Sachkenntnis voraussetzt. Es handelt sich in diesem Sinne also um strategische Fragen.
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(Grundeinsichten)
    3. Wenn die politisch-didaktischen Kategorien fundamentale Tatsachen des Politischen zum Ausdruck bringen, müssen sie auch in Grundeinsichten für den politischen Unterricht umformuliert werden können, die dann auch unabhängig von einem konkret zu untersuchenden Handlungskomplex gelten und deshalb auch gleichsam als Quintessenz entsprechender Analysen gelernt werden können. Auch diese Bedingung kann als erfüllt gelten, denn in der Tat hat es Politik immer mit Konflikten, Interessen, Macht, Recht, Mitbestimmung usw. zu tun.

    Diese wenigen Hinweise zeigen schon, daß mein früherer Konfliktansatz ein recht kompliziertes Gebilde war, das verschiedene didaktische Ebenen ins Spiel brachte: Ausgang von einem konfliktauslösenden politischen Handeln; Anwendung der in Leitfragen verwandelten Kategorien; recherchierende Suche nach Antworten, wobei das dabei gewonnene Wissen als Orientierungswissen festzuhalten ist; Formulierung von aus den angewandten Kategorien resultierenden politischen Grundeinsichten.

In diesem didaktischen Modell waren gleichsam alle anderen möglichen Modelle bereits enthalten, auch das oben skizzierte Modell der Kunde. Diese Komplexität hat sich in der pädagogischen Praxis jedoch zumal auf den unteren Schulstufen so nicht durchsetzen können, so daß der Konfliktansatz eher als allgemeines didaktisch-theoretisches Grundmodell angesehen wurde. Da jedoch der Versuch, politischen Unterricht von tatsächlichen politischen Handlungen her zu gestalten, nach wie vor interessant und wohl auch nötig ist, habe ich inzwischen eine andere Fassung vorgelegt, in der die Komplexität insofern reduziert wurde, als nun nicht mehr alle didaktischen Variationen in einem einzigen Modell zusammengefaßt werden; davon wird gleich noch die Rede sein.
(Konflikte)
    Die didaktischen Kategorien eignen sich vor allem für die Analyse von politischen Konflikten, wie sie ständig entstehen. Sie erregen immer eine besondere Aufmerksamkeit und mobilisieren deshalb auch Lerninteressen. Solange das Leben einigermaßen problemlos verläuft, haben die Menschen, die ja im allgemeinen auch noch
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anderes zu tun haben, als sich ständig für Politik zu interessieren, wenig Grund darüber nachzudenken, warum es so und nicht anders abläuft; das gehört einfach zur Ökonomie der Lebensführung. Erst im Falle von Konflikten, die als solche wahrgenommen werden, ändert sich das. In Konflikten manifestiert sich das Politische in besonderer Weise. Sie zeigen nämlich immer neuralgische Punkte der Politik an: Sie können wichtige Veränderungen für das tägliche Leben zur Folge haben und dadurch sogar zu persönlichen und kollektiven Krisen führen.
 

    Der didaktische Zugang zu dieser Ebene der politischen Auseinandersetzungen und Kontroversen ist allerdings schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint, schwieriger jedenfalls als im Fall der Kunde.
 

    1. Die aktuellen politischen Konflikte spielen sich im allgemeinen nicht in unserem Alltagsleben ab. Die Erhöhung der Rentenbeiträge z.B. merken wir zwar an unseren Gehaltskonten, aber die Auseinandersetzungen, die dazu geführt haben, ereignen sich z.B. in Parlamenten außerhalb unseres Wohnsitzes. Die wichtigen Kontroversen und Konflikte müssen wir der Berichterstattung der Medien entnehmen, aber sie verrät uns auf den ersten Blick wenig über deren tatsächliche Qualität. Inzwischen leben die Medien ja auch von Skandalisierungen. Handelt es sich bei dem, was sie in den Vordergrund rücken, um ein ernsthaftes Problem, oder nur um ein publizistisch lanciertes "Sommertheater"? Didaktisch ergiebig im Sinne der erwähnten Kategorien ist ein aktueller Konflikt nur, wenn er ein bedeutsames Problem zum Ausdruck bringt.
(Probleme)
    2. Läßt sich ein solches Problem tatsächlich ausmachen, ist die Frage, worin es eigentlich besteht. Probleme beruhen nämlich auf einer entsprechenden Definition; es gibt sie nicht wie einen natürlichen Gegenstand, sondern nur insofern jemand sie als solche mit öffentlicher Resonanz definieren kann. Die Benachteiligung von Frauen im Arbeitsleben z.B. ist nicht per se ein Problem, sondern erst dann, wenn jemand sie mit öffentlicher Wirkung so bezeichnet. Der Begriff "Problem" impliziert also immer einen Konflikt zwischen Gruppen von Personen in einem politisch-sozialen System, der auf widerstreitenden Interessen beruht. Gäbe es solche widerstreitenden Interessen nicht, so gäbe es auch kein Problem, sondern entweder Konsens oder Gleichgültigkeit.
("Schlüsselprobleme")
Um dieser Definitionsschwierigkeit zu entgehen hat man versucht, "Schlüsselprobleme" zu finden, also solche, die zunächst einmal unabhängig von ihrer konflikthaften, aktuellen Zuspitzung
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gelten und deshalb einer langfristigen Planung des Unterrichts zugrunde gelegt werden können. Dann wären es solche, die aller Voraussicht nach die Zukunft der jungen Generation betreffen werden und von dieser so oder so bearbeitet werden müssen. Insofern wäre Sinn dieses didaktischen Ansatzes, die junge Generation in ihre künftige Verantwortung für Staat und Gesellschaft inhaltlich einzuführen. Solche Schlüsselprobleme könnten z.B. sein:

 - Das Energieproblem (z.B. Atomkraft)
 - Wanderungsbewegungen und Asylrecht
 - Der Nord-Süd-Konflikt
 - Das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie
 - Soziale Gerechtigkeit als Verteilungsproblem

Da solche Probleme im politischen Leben entstehen und auch wieder vergehen bzw. durch neue überlagert werden können, ist ihre Langfristigkeit nicht immer genau vorhersehbar. Deshalb haftet ihrer didaktischen Festlegung immer auch eine gewisse Unsicherheit an; Irrtümer sind da keineswegs auszuschließen, zumal wenn ideologische Anteile dabei eine Rolle spielen. Das beste Beispiel dafür dürfte das Ende des Stalinismus in Osteuropa sein, das niemand vorausgesehen hat und das neue Probleme wie das Wirtschaftsgefälle angesichts offen gewordener Grenzen und daraus resultierende Wanderungsbewegungen hervorgerufen hat.

(Aktualität)
    3. Eine weitere Schwierigkeit entsteht, wenn sich solche Probleme in einem aktuellen Konflikt verdichtet haben und dieser zum Ausgangspunkt des politischen Unterrichts genommen werden soll. Dann haben wir es mit unmittelbar Agierenden zu tun, die z.B. eine Wiederaufbereitungsanlage verhindern wollen, und mit denen, die sie für notwendig halten und sie deshalb durchzusetzen trachten. Das generelle Problem wird nun konkret, aber die Konkretion ist mit der allgemeinen Problematik nicht mehr identisch bzw. nicht einfach nur deren bloße Erscheinung. Vieles mischt sich nämlich in die Konkretion hinein, Handeln und Gegen-Handeln gewinnen ihre eigene Dynamik. Man kann also nicht sagen, daß ein konkreter Konflikt sich einem der genannten oder anderen "Schlüsselproblemen" zweifelsfrei zuordnen ließe, vielmehr können bei einem Konflikt mehrere dieser Probleme eine Rolle spielen. Die politische Wirklichkeit verhält sich nicht nach dem Muster didaktischer Analysen. Anders gesagt: Die grundlegenden Schlüsselprobleme enthalten eine Reihe von latenten Konflikten, die in irgendeiner Form und aus irgendeinem Anlaß manifest werden können. Aber die Art und Weise ihrer Manifestationen ist auch dann nicht präzise prognostizierbar, wenn
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man die dahinter stehenden Probleme verstanden hat. Die Frage ist also, wie man didaktisch-methodisch von den aktuellen Konflikten zu den dahinter stehenden Problemen durchstoßen kann.
("Schlüsselprobleme" als Thema)
    4. Nun kann der politische Unterricht allerdings auch umgekehrt verfahren, indem er von diesen Problemen selbst ausgeht und die daraus erwachsenden aktuellen Konflikte lediglich als Beispiele oder Anlaß für deren Aufklärung ansieht; sonst müßte er ja auch immer warten, bis ein entsprechender Konflikt entstanden ist. Die didaktische Konstruktion kann auch so erfolgen, daß die als solche definierten "Schlüsselprobleme" selbst im Zentrum stehen, die unabhängig von der Aktualität nacheinander zu behandeln sind und auf diese Weise sogar in Lehrplänen bzw. Richtlinien verankert werden können. Die Metapher "Schlüssel" soll darauf hinweisen, daß von diesen Problemen aus weitere grundlegende Aspekte des Politischen erschlossen werden können. Vielfach wird heute sogar gefordert, den gesamten Lehrplan der allgemeinbildenden Schulen oder wenigstens einen erheblichen Teil davon auf derartige Probleme zu gründen, damit möglichst viele Fächer sich daran orientieren können. In diesem Falle wären wir jedoch wieder bei einer ähnlichen Konstruktion, wie sie uns schon bei der Kunde begegnet ist: es geht dann primär um die systematische Erschließung von Sachverhalten, die aktuellen Konflikte des pädagogischen Handelns selbst sind nur ein Aufhänger oder Beispiel dafür.
(Parteilichkeit)
    5. Im Unterschied zur Kunde, wo der Lehrer in erster Linie derjenige ist, der seinen sachlichen Vorsprung - wie in anderen Fächern auch - an den Schüler weitergibt, ist er beim konflikt- und problemorientierten Ansatz von der Sache her in die Parteilichkeit des Themas in ganz anderem Maße involviert, weil politisches wie jedes soziale Handeln naturgemäß parteilich ist, d.h. indem es für etwas optiert, richtet es sich immer auch gegen etwas. Die Frage ist also, wie der Lehrer mit dieser Tatsache gegenüber seinen Schülern umgeht. Auch bei diesem didaktischen Ansatz hat der Lehrer - hoffentlich! - einen sachlichen Vorsprung vor seinen Schülern, den er entsprechend zur Geltung bringen muß; andererseits aber steht er ihnen bei der normativen und politischen Bewertung der Sachverhalte als gleichrangiger Bürger gegenüber, mit sozusagen gleichem Stimmrecht. Der Lehrer muß also im Verlauf eines solchen Unterrichtsprojektes - vielleicht sogar mehrmals - einen Positionswechsel vollziehen, je nachdem, ob er in der Rolle des den Stoff darstellenden Lehrenden oder in der Rolle des politisch bewertenden Mitbürgers agiert. Diese letztere Rolle darf er selbstverständlich nicht zur Agitation oder Indoktrination benutzen; das würde seiner professionellen Rolle widersprechen. Vielmehr steht er hier gemeinsam mit seinen
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Schülern vor Problemen, deren künftige Wirkung oder Lösung auch er nicht wissen kann und deren normative Implikationen er nicht stellvertretend für die Schüler einfach entscheiden kann und darf. Nur wenn der Lehrer diese Differenz gestalten kann, vermag er dem Vorwurf zu entgehen, er mißbrauche seinen Unterricht für die Verbreitung seiner eigenen politischen Überzeugungen, - ein Mißtrauen, das immer wieder einmal auftaucht.
(Weiterbildung)
    6. Hinzu kommt, daß der Lehrer bei diesem didaktischen Ansatz nicht nur über eine einmal erlernte profunde Sachkenntnis verfügen, sondern sich auch fachlich weiterbilden sowie die aktuellen Entwicklungen in der Politik ständig studieren muß. Sonst ist er nicht in der Lage, die in den Kategorien enthaltenen Leitfragen an die politische Wirklichkeit zu stellen bzw. sie für ein bestimmtes Thema zu präzisieren und für die Suche nach Antworten entsprechendes Material zu erheben und zu ordnen. Die Benutzung didaktisch vorgefertigter Materialien, die inzwischen für wesentliche "Schlüsselprobleme" zur Verfügung stehen, reicht dafür allein nicht aus. Ohne eine fortwährende politische Selbstbildung droht dieser didaktische Ansatz leicht zur plaudernden Vordergründigkeit oder zur oberflächlichen Moralisierung zu verkommen.
(Emotionalität)
    7. Ein auf Aufklärung zielender Unterricht, der sich auf die aktuellen Konflikte einläßt, mobilisiert in ganz anderem Maße als die Kunde auch die Gefühle der Schüler; denn auch diejenigen, die den Schülern nahestehen - z.B. ihre Eltern und Freunde - haben dazu Meinungen und Interessen. Die pädagogische Erfahrung zeigt immer wieder, wie groß die Gefahr ist, solche Gefühle entweder unterstützend zum Mittelpunkt eines moralisiernden Unterrichts zu machen, oder sie durch eine dagegen gerichtete Aufklärung zu verletzen. Aufklärender Unterricht ist aber nicht dazu da, vorhandene Gefühle einfach zu bestätigen oder gar erwünschte emotionale Einstellungen zu provozieren. Das gehört zum politischen Handwerk, nämlich zur politischen Werbung und Propaganda. In sehr viel höherem Maße als die Kunde spricht der konflikt- bzw. problemorientierte Ansatz unter Umständen tiefliegende, moralisch fundierte Emotionen an, die keineswegs nur individuellen Charakter haben, sondern sich um kollektive Parteilichkeiten ranken, ja sogar die Identität berühren können.
(Soziales Lernen)
Gerade in solchen Fällen hoher Betroffenheit und vielleicht sogar aggressiver Polarisierung muß der politische Unterricht seine aufklärende Strategie durchhalten, muß die Schule zu erkennen geben, daß die Art und Weise, wie im Unterricht mit Problemen umgegangen wird, sich deutlich davon unterscheidet, wie sonst im Alltag der
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Jugendlichen über Politik geredet oder auch geschwätzt wird. Deshalb sind hier auch in besonderem Maße soziale Verhaltensweisen gefordert: In der Schule darf jeder ausreden, muß jeder versuchen, die Meinung anderer möglichst genau zu verstehen, ihr mit Gründen und Argumenten zu begegnen, zu überzeugen und nicht zu überwältigen. Dazu gehört selbstverständlich auch ein entsprechender Umgangston. Der Lehrer andererseits muß alle Meinungen zulassen, auch "rechte", und er darf auch seine eigene sagen, aber er darf sich als Profi nicht in leidenschaftliche Dispute verwickeln lassen. Er behält vielmehr seine aufklärende Strategie bei, indem er z.B. radikale Äußerungen in Probleme oder Fragestellungen zurück verwandelt, neue Fragen aufwirft, neues Material mit neuen Gesichtspunkten zur Sache vorlegt und auf unmittelbare - nicht bereits ideologisch überhöhte - Interessen und Bedürfnisse der Streitenden zurückgeht: Welche Wünsche und Bedürfnisse für ihr weiteres Leben haben sie, und wie könnten sie mit wessen Hilfe deren Realisierung näherkommen? So oder so aber kann der konfliktorientierte Ansatz wegen der unvermeidlichen Mobilisierung von Emotionalität problematisch werden.
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5 Ein vereinfachtes Modell
 
Wegen der erwähnten Schwierigkeiten mag es zweckmäßig sein, zumal für jüngere Schüler ein vorhin schon erwähntes vereinfachtes Verfahren für die Analyse politischer Konflikte anzuwenden, das im wesentlichen auf den fünf folgenden Leitfragen beruht.

    1. Welche verschiedenen Problemdefinitionen sind erkennbar?
Diese Frage zwingt die Schüler zu einem Perspektivenwechsel, also dazu, einen Konflikt aus der Perspektive der Beteiligten zu sehen, z.B. einmal aus der Sicht derer, die ein atomares Zwischenlager durchsetzen wollen, und andererseits aus der Perspektive derer, die dies zu verhindern trachten. Dieser Perspektivenwechsel muß jedoch wirklich aufklärend sein, d.h. die jeweils subjektiven Sichten möglichst genau treffen. Der Lehrer muß Material vorlegen, aus dem diese Standpunkte entnommen werden können, und für die Präsentation gibt es eine Reihe methodischer Möglichkeiten, z.B. können die verschiedenen Standpunkte von unterschiedlichen Gruppen erarbeitet und vorgetragen werden.

    2. Welche verschiedenen Interessen sind erkennbar?
Diese Frage ist schwerer zu beantworten, als es auf den ersten Blick scheint. Es gibt da nämlich nicht nur die Interessen der unmittelbar Beteiligten (z.B. der betroffenen Politiker oder Industrievertreter), sondern auch die mittelbaren Interessen etwa der Politiker unterschiedlicher Parteien, die den Konflikt benutzen, um etwa politische Gegner auch unabhängig von dem Konfliktanlaß zu bekämpfen. Oder es gibt Journalisten "linker" und "rechter" Provenienz, die derartige Konflikte als Material zur Stützung ihrer politischen Grundauffassung verwenden möchten, und manchmal werden auch Interessen von Therapeuten und Pädagogen - bzw. ihrer Berufsverbände - geltend gemacht, die eine Lösung oder Milderung des Problems versprechen, wenn nur mehr Mitglieder ihrer Profession tätig werden könnten. Bricht ein politischer Interessengegensatz auf, dann mobilisiert dies in aller Regel weitere Interessen, die sich entweder an die ursprünglichen anlehnen, oder andere der öffentlichen Aufmerksamkeit hinzufügen möchten. Die komplexen Interessenverschränkungen auf der politischen Ebene unterscheiden sich also deutlich von den Interessenkonstellationen, die die Schüler aus ihrer eigenen unmittelbaren Erfahrung kennen, und schon diese Differenz vor Augen zu führen, ist ein vernünftiges Lernziel. Dazu gehört auch die Einsicht, daß die Aufklärung dessen, was da wirklich geschieht, selbst bei journalistischen und pädagogischen Profis keines-
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wegs immer das leitende Erkenntnisinteresse war und ist. Vielmehr ist die Versuchung groß, die Komplexität solcher Konflikte unter ein vorgegebenes moralisches oder ideologisches Schema zu subsumieren bzw. den parteipolitischen Gegner zum Schuldigen für eine bestimmte Sachlage zu stempeln.

    Interessen werden zudem nicht immer einfach und gradlinig öffentlich geäußert. Deshalb muß immer auch zwischen vorgegebenen und tatsächlichen Interessen unterschieden werden. Die Handelnden können versuchen, ihre wirklichen Interessen möglichst im dunkeln zu lassen, zumal im Medienzeitalter politische Aussagen in erster Linie von ihrer Wirkung her kalkuliert werden; da ist es nicht immer opportun, die tatsächlichen Interessen offen zu legen, die verfolgt werden. Das hat zu einer öffentlichen Sprache geführt, die nicht immer auf den ersten Blick entschlüsselt werden kann. Deshalb reicht es nicht, die Verlautbarungen der Parteiungen über ihre Interessen nur zur Kenntnis zu nehmen, sie müssen vielmehr mit dem voraussichtlichen Nutzen für das eine oder andere Interesse in Verbindung gebracht werden.
 

Wie die Geschichte lehrt, gibt es keineswegs nur materielle, sondern auch immaterielle Interessen - nach Sicherheit, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Anerkennung, Freiheit von Angst - die unter Umständen engagierter vertreten werden können als materielle. Weil das so ist, können die Interessen von Menschen eben auch zum Nutzen anderer manipuliert werden.

    3. Welche Ursachen für den Konflikt werden genannt?
Während die Frage nach den Interessen die subjektive Seite der Betroffenen bzw. einzelner Parteiungen analysiert, geht die Frage nach den Ursachen an die objektive Seite der Sache. Dafür sind die einschlägigen Wissenschaften zuständig, wozu ich hier auch die wissenschaftlich fundierte Publizistik rechne. Aber wie schon bei der Analyse der Interessen zeigt sich auch hier bei genauerem Hinsehen: Die Frage nach den Ursachen ruft die weitere nach den angemessenen politischen Reaktionen hervor, und diese sind nicht frei verfügbar, sondern erwachsen aus weitgehend festgelegten, z.B. parteipolitischen Handlungsstrategien. Wer etwa Talkshows über aktuelle politische Probleme verfolgt, stellt fest, daß der Hinweis auf die Ursachen, die es zu beseitigen gelte, oft stereotyp ist, so daß man die Antwort selbst formulieren könnte, wenn man weiß, welcher politischen oder auch wissenschaftlichen Position sich der Betreffende zugehörig fühlt. Wer eine fundamentalkritische Position zu unserer Gesellschaft einnimmt, wird versuchen, konkrete Konflikte als von
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dieser verursacht zu beweisen. Wer mit randalierenden vermummten Autonomen sympathisiert, wird deren Ausschreitungen als durch bestimmte gesellschaftliche Strukturen bedingt deuten und diese zum "eigentlichen" Täter erklären. Die Frage nach den Ursachen ist oft lediglich eine rhetorische, weil man die Antwort längst zu wissen glaubt, und weil diese Antwort zum Instrumentarium des ohnehin vorhandenen politischen Handlungskonzeptes gehört.

    Das Verhältnis von Ursachenanalyse und darauf bezogener politischer Reaktion kann sich auch umkehren: erst setzt der politische Wille eine Handlungstendenz fest und dann wird die dazu passende Ursachenkombination ausgewählt, mit der das eigene Handeln begründet wird. Die hohe Arbeitslosigkeit z.B. kann eine Ursache in den hohen Lohnkosten haben; andererseits kann der politische Wille aber auch die Senkung der Löhne im Blick haben, und zur Begründung anführen, auf diese Weise eine Ursache der Arbeitslosigkeit überwinden zu wollen. Solche Verschiebungen beruhen nicht immer auf bewußter Täuschung, sondern laufen oft unbewußt ab, weil der politische Wille vitaler ist als der rationale Drang nach optimaler Erkenntnis; das Handeln sucht sich dann seine Begründungen, wo immer es sie mit Aussicht auf öffentliche Resonanz findet.

Manchmal ist zudem von den "eigentlichen" Ursachen die Rede. Sie bezieht sich in der Regel auf allgemeine Welterklärungen, wie daß alles Übel und also auch das konkret vorliegende am Kapitalismus liege oder an der traditionellen Unterdrückung der Frau durch den Mann. Solche Verallgemeinerungen werden, zumal wenn sie im Trend des jeweiligen Zeitgeistes liegen und deshalb von den Medien immer wieder verbreitet werden, auch von Schülern geltend gemacht, weil sie sie aus ihrem unmittelbaren Milieu übernehmen. Der Unterricht muß sie wie andere vorgefaßte Meinungen auch durch neue Fragestellungen bzw. durch die Vorlage entsprechenden Materials zu relativieren trachten. Jedenfalls zeigen die Beispiele, daß der Kampf um die Definition der Ursachen selbst Teil der politischen Auseinandersetzung ist, und es ist keineswegs so, daß es auf diese Frage eine objektive, des Streites enthobene Antwort gibt; selbst wenn es sie gäbe - z.B. mit Hilfe der Wissenschaften - würde sie von den streitenden Parteiungen nicht unbedingt akzeptiert. Die Frage nach den Ursachen bzw. der Hinweis auf die angeblich "wahren" bzw. "eigentlichen" Ursachen sind oft lediglich weltanschaulich gemeint, der konkrete Konflikt ist dann nur ein Beispiel, das die eigene Ideologie wieder einmal bestätigt. Oft wird aus diesem Grunde keine Lösung des Konfliktes, sondern nur seine Instrumentalisierung ange-
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strebt. Die Ursachen für wirklich bedeutsame Probleme, z.B. politische Unterdrückung oder soziale Ungerechtigkeit, lassen sich auch gar nicht einfach beseitigen; allenfalls lassen sich deren Folgen mindern, abschwächen oder kompensieren. Darauf beruht z.B. das Konzept der "sozialen Marktwirtschaft". Würde die Politik diese Grenze ihrer tatsächlichen Möglichkeiten ignorieren, käme sie schnell zu Endlösungs-Phantasien.

    4. Welche Folgen hat diese oder jene Handlungsstrategie, wenn sie sich durchsetzt?
Zu jedem bewußten und vor allem verantwortlichen sozialen Handeln gehört die Abschätzung der Folgen, deren Antizipation also. Da solche Überlegungen sich auf die noch offene, ungestaltete Zukunft beziehen, bleiben sie letzten Endes unentscheidbar, auf mehr oder weniger begründete Vermutungen angewiesen. Eben deshalb aber sind sie Inhalt des politischen Streites. Mit dem Hinweis auf die schlimmen Folgen eines bestimmten Handlungskonzeptes läßt sich dieses leicht attackieren, und umgekehrt lassen sich mit der plausiblen Aussicht auf Besserung für ein Konzept Anhänger und Zustimmung mobilisieren. So wird folgerichtig in der veröffentlichten Meinung nicht nur über die Ursachen von politischen Handlungen gestritten, sondern auch über deren Folgen. Wird die Ausländerfeindlichkeit einer Minderheit nicht doch zu neofaschistischen Strukturen führen können? Tragen diejenigen Parteien oder Politiker, die "Das Boot ist voll!" rufen, nicht ebenfalls zu einer solchen Tendenz bei? Wird diese oder jene Kürzung im Sozialhaushalt nicht zu innenpolitischen Krisen führen? Wird die Lohnerhöhung zu einer Verstärkung der Arbeitslosigkeit führen? Derartige Prognosen erwachsen leicht aus bestimmten politisch-ideologischen Grundpositionen, für deren Durchsetzung sie als Waffe dienen. Damit sind sie nicht vorweg abgewertet oder als falsch deklariert; welche dieser Prognosen in Zukunft eintreffen werden, kann jedoch niemand genau wissen, weil wir die politischen Handlungen, die diese Zukunft konstituieren werden, nicht voraussehen können. Dennoch müssen die möglichen Folgen des politischen Handelns bedacht werden.

    5. Wie ist die Rechtslage?
In unserer demokratisch verfaßten Gesellschaft muß sich jedes politische Handeln im Rahmen einer vorgegebenen Rechtlichkeit bewegen. Im Unterschied zu den bisher erörterten Grundfragen ist diese Frage verhältnismäßig klar zu beantworten. Allerdings schafft das politische Handeln auch neues Recht, indem es z.B. neue Gesetze verabschiedet oder bereits vorhandene ändert. Zudem wird es in
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vielen Fällen den Spielraum des rechtlich Möglichen auszuschöpfen trachten, so daß von politischen Gegnern eine rechtliche Überprüfung, z.B. vor dem BVG, angestrebt wird. Rechtliche Vorgaben stehen also nicht ein für allemal fest, sie werden vielmehr nicht nur in korrekten Verfahren geändert, sondern oft auch übergangen, solange sich kein Widerstand meldet. Die ständigen Interventionen der Datenschutzbeauftragten sind dafür nur ein Beispiel unter vielen. Auch kann über Auslegungen des Rechtes Streit entstehen (hat die Polizei angemessen in einer bestimmten Situation gehandelt?) und natürlich darüber, ob rechtliche Grundsätze geändert werden sollen oder nicht.

    Die knappen Hinweise zeigen noch einmal, daß es sich bei diesen Leitfragen nicht um solche handelt, die einfach zu beantworten wären; dies wäre nur dann der Fall, wenn die Antwort aus einem ideologischen Hintergrund heraus erfolgen würde und insofern von vornherein feststünde. Darauf kann aber der auf Aufklärung zielende politische Unterrichts in der Schule nicht setzen. Die Leitfragen sind vielmehr selbst immer auch schon Teil des politischen Streites.

    Entscheidend bei diesem konfliktorientierten didaktischen Ansatz ist also nicht die Summe der dabei zustande gekommenen Lernziele; entscheidend ist vielmehr die Methode des Fragens und der Suche nach Antworten. Grundsätzlich ist ein solcher Unterricht offen, sein Ergebnis ist nicht in vollem Umfang vorhersehbar und deshalb auch nicht restlos planbar. Die Suche nach Antworten wird vielmehr immer unvollständig bleiben. Das wichtigste Ziel dieses diaktischen Ansatzes ist Fragen zu stellen, die noch nicht gestellt wurden, - sei es durch den Lehrer, sei es durch die Schüler. Die fünf Leitfragen, die hier entwickelt wurden, sollen dazu anregen. Sie ließen sich mit guten Gründen vermehren und der Politiklehrer mag dies auch tun, wenn er es für opportun hält. Zudem werden weitere auch durch die Schüler aufgeworfen. Ich halte aber diese fünf Fragen für das Minimum dessen, was ein an Aufklärung orientierter politischer Unterricht strukturieren muß, um sich den großen, in die Zukunft weisenden Problemen angesichts manifester Konflikte angemessen zu nähern. Dabei geht es nicht um fertige Ergebnisse, sondern um einen sachlich fundierten Zugang, der wie beim erwähnten Orientierungswissen weiteres Lernen in der Zukunft fundieren und ermöglichen soll. Das Einüben der Fragehaltung ist dabei ebenso wichtig wie die dadurch recherchierten Ergebnisse selbst, denn diese können sich im Einzelfalle schnell verändern.
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    Vielleicht mag überraschen, daß hier auf eine subjektive Kategorie, etwa auf die Frage nach dem persönlichen Interesse oder der individuellen Betroffenheit des Schülers verzichtet wird. Selbstverständlich kann man die Frage: "Was geht mich das an?" als eine ständige Leitfrage aufnehmen. Im allgemeinen wird der Schüler sich jedoch diese Frage sowieso stellen, wenn das Thema ihm dafür brisant genug erscheint, und dann wird er dies auch zum Ausdruck bringen. Wenn er hingegen nicht durchschaut, daß ein Thema ihn auch selbst betrifft, kann die Leitfrage nach den Folgen ihn darauf bringen. Im übrigen muß den Schüler nicht alles, was er an Wichtigem lernt, immer auch betroffen machen. Andererseits hat er auch das Recht, seine Gefühle und Überzeugungen für sich zu behalten, solange er dies aus welchen Gründen auch immer so will. Bezieht sich die Frage nach der persönlichen Betroffenheit jedoch nicht auf den einzelnen Schüler, sondern auf bestimmte Gruppen von Menschen, sind wir wieder bei einer objektiven politischen Kategorie, nämlich der des Interesses.

    Auch eine auf die normative Dimension des Politischen zielende Kategorie wird mancher in der Aufzählung vermissen, zumal gerade diese oft für erzieherisch besonders wichtig gehalten wird. Es widerspricht diesem Ansatz nicht, sie zu stellen, und es gibt Themen, angesichts derer dies sachlich zwingend geboten erscheint. Das gilt z.B. für die Diskussion über das Abtreibungsrecht und überhaupt für die Behandlung der Grund- und Menschenrechte. Zudem kommen sie zu ihrem Recht, wenn entsprechende Argumente für die Begründung eines politischen Handelns vorgetragen werden, das im Unterricht analysiert werden soll. Anderseits ist aus schlechten Erfahrungen Zurückhaltung dagegen angebracht, moralische Aspekte grundsätzlich zur Geltung zu bringen, als seien sie ein spezifisches Kriterium der didaktischen Analyse. Im politischen Unterricht kommt es darauf an, moralische Fragen dort aufzusuchen, wo sie implizit oder explizit tatsächlich eine Rolle spielen, nicht darauf, sie von außen einfach moralisierend an politische Sachverhalte anzulegen.
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6 Zusammenfassung
 
Der Vergleich zwischen der Kunde und dem konfliktorientierten Ansatz hat für eine didaktische Theorie der politischen Bildung folgendes ergeben:

    1. Die Frage nach der Stoffauswahl und damit auch nach den Richtlinien für den politischen Unterricht ist nur in begrenztem Rahmen durch wissenschaftliche Argumentationen entscheidbar. Die Antwort kann letzten Endes nur durch Handeln erfolgen, - durch didaktisch-methodisches im Unterricht, durch politisches im Hinblick auf die Richtlinien.

    2. Was tatsächlich im politischen Unterricht der Schule gelehrt wird, wird also von verschiedenen Entscheidungsebenen her bestimmt: Die Erziehungswissenschaften, insbesondere die Didaktik der Politik, entwerfen einen allgemeinen Rahmen dafür unter der Fragestellung, was warum im politischen Unterricht überhaupt gelehrt bzw. gelernt werden soll. Die staatliche Richtlinien orientieren sich im allgemeinen daran. Dazu sind sie jedoch keineswegs verpflichtet. Allerdings beziehen sie von didaktischen Konzepten zumindest einen wichtigen Teil ihrer Legitimation; denn sonst würden sie in der öffentlichen Diskussion den Einruck von Beliebigkeit bzw. von politischer Willkür erwecken. Aus diesem Rahmen planen die Lehrer ihren konkreten Unterricht, dessen jeweiliger Verlauf wiederum von den Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern abhängt.

    3. Es gibt zwei prinzipielle Möglichkeiten, die Frage nach dem Was des politischen Unterrichts zu beantworten: Von den objektiven politischen Strukturen her (Kunde), oder vom tatsächlich stattfindenden politischen Handeln her (Konflikt- bzw. Problemorientierung). Allerdings lassen sich diese Antworten jeweils modifizieren; die Kunde kann biographisch oder systematisch orientiert sein, der Konfliktansatz seinen Ausgang von aktuellen Konflikten oder von relativ dauerhaften Schlüsselproblemen her nehmen, die die Aktualitäten übergreifen. Einem auf Langfristigkeit und Kontinuität bedachten Unterricht entspricht eher das letztere Verfahren.

    4. Es hat sich gezeigt, daß der Ausgang des Unterrichts vom tatsächlichen politischen Handeln mit besonderen inhaltlichen Schwierigkeiten verbunden ist. Das liegt daran, daß dieses Handeln wie jedes andere soziale Handeln nach vorne offen ist, sein Ergebnis also noch vor sich hat, und daß es andererseits nicht einfach aus vorgegebenen Zielen folgt. Selbst wenn präzise Ziele an seinem
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Anfang stehen, gewinnt das Handeln durch das Gegenhandeln anderer - z.B. der politischen Gegner - eine eigene Dynamik. Selbst mit Hilfe der erwähnten Kategorien sind deshalb Rückschlüsse auf seine ideologischen oder interessenbedingten Hintergründe nur annäherungsweise möglich. Diese Unsicherheit ist nicht weiter aufhebbar, weil sie auch dem politischen Handeln selbst immanent ist. Zu rechtfertigen ist dieser didaktische Ansatz deshalb auch nur, insofern er dabei auf genau jene Einstellung zurückgeht, die der Bürger im Hinblick auf politische Handlungen sowieso einnimmt. Es geht dabei also in erster Linie um das Training der Beurteilung politischer Handlungen bzw. Handlungsstrategien, das im wesentlichen darin besteht, bereits vorhandene Fragehaltungen und Einstellungen zu überprüfen und zu erweitern.

    5. Für die politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen ist wegen der genannten Schwierigkeiten der konflikt- und problemorientierte Ansatz nicht ausschließlich verwendbar. Vielmehr muß er mit der Kunde in geeigneter Weise kombiniert werden.

    6. Alle genannten didaktischen Ansätze, insbesondere die systematische Kunde und der konflikt- bzw. problemorientierte Ansatz sind ohne eine profunde Sachkenntnis des Lehrers und seine ständige politisch-pädagogische Weiterbildung nicht realisierbar. Überhaupt ist Didaktik eine für seine Nutzung formulierte Theorie, die solides Fachwissen nicht ersetzt, sondern voraussetzt. Ohne diesen Hintergrund dringen unaufhaltsam unaufgeklärte ideologische Versatzstücke an den genannten Schwachstellen der didaktischen Argumentation (Zwang zur eigenständigen Definition des Politischen; Verwertbarkeit des Gelernten) in den politischen Unterricht ein.
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