Hermann Giesecke

Anmerkungen zum Kopftuchstreit

In: Neue Sammlung H. 3/2004, S. 398-400

© Hermann Giesecke



Das gegenwärtige Verhältnis der christlichen Kirchen untereinander und zum Staat ist in Deutschland durch teilweise schwer errungene historische Kompromisse geprägt worden, bei denen alle Seiten Federn lassen mussten. Die christlichen Symbole in unserem öffentlichen Leben, die Regelungen für den Religionsunterricht an den Schulen, überhaupt die Beziehungen zwischen Staat, Schule und christlichen Kirchen, die Möglichkeit für Angehörige christlicher Orden, in ihrer besonderen Tracht an Schulen zu unterrichten – diese und viele andere Einzelheiten sind ein Resultat dieser Kompromisse, die – das darf man nicht vergessen – zu einem relativ stabilen inneren Frieden geführt haben. Andere westliche Länder haben diese Probleme in ihrer jüngeren Geschichte teilweise anders gelöst.

Nun wollen einige muslimische Lehrerinnen unter Hinweis auf die erlaubte christliche Symbolik per Gerichtsbeschluss durchsetzen, das Kopftuch als islamisches religiöses Symbol während des Unterrichts tragen zu dürfen. Das haben einige Bundesländer inzwischen ausdrücklich gesetzlich verboten, was wiederum die Befürchtung aufkommen ließ, "dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse Zeichen und Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt". Was dem Kopftuch verwehrt wird, könnte also das Verfassungsgericht auch auf christliche Zeichen und Symbole ausdehnen.

Eine entsprechende Entscheidung mag formaljuristisch korrekt sein, würde jedoch den historischen Zusammenhang ignorieren und deshalb vermutlich in großen Teilen der Bevölkerung auf Widerstand oder zumindest Unverständnis stoßen. Islamische Religionsgemeinschaften haben bei uns noch keine Tradition, sie stellen noch keine an demokratischen Prinzipien orientierte, Staat und Gesellschaft stützende Werteagenturen dar, leisten dem Gemeinwohl noch keine vergleichbaren Dienste, sie haben sich an den Auseinandersetzungen über ein modernes Verhältnis von Kirche und Staat noch nicht beteiligen können, die stehen ihnen vielmehr noch bevor. Dabei wird es vor allem um folgende Fragen gehen:

- Welche rechtlich verbindliche Verfassung haben die islamischen Gemeinden oder wollen sie sich geben? Ohne ein solches Fundament fehlt die Möglichkeit einer rechtsfähigen Repräsentation gegenüber Staat und Gesellschaft. Mit wem kann man Verträge schließen, verbindliche Vereinbarungen treffen, Konfliktlösungen anstreben? Wer spricht hier mit welcher Legitimation für wen?

 - Welche Ausbildung haben die Geistlichen und Koranlehrer, wem sind sie verantwortlich, wer setzt sie ein und kontrolliert sie? Wer steht für deren Tätigkeit gerade, wenn sie etwa verfassungsfeindliche oder andere rechtswidrige Inhalte während ihrer Tätigkeit verbreiten? Bei einem christlichen Geistlichen

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stünde so etwas am nächsten Tag in der Zeitung. Was in Moscheen und Koranschulen geschieht, weiß dagegen nicht einmal der Verfassungsschutz so genau. Gegenwärtig ist der Islam in Deutschland noch eine Religion mit Priestern ohne Kirche, was angesichts der Größenordnung der darin involvierten Bevölkerung nach Transparenz an Stelle der gegenwärtigen Undurchsichtigkeit verlangt.

- Wie finanzieren die Gemeinden sich, ihre Aktivitäten und insbesondere ihre Moscheen? Woher kommt das Geld für die sprunghaft steigende Zahl neu errichteter Moscheen, wenn andererseits nicht wenige Gemeindemitglieder von Sozialhilfe leben?

- Seit Jahrzehnten leben in Deutschland muslimische Frauen und nehmen am islamischen religiösen Leben teil, ohne dass das Tragen des Kopftuches zum öffentlichen Problem (gemacht) und als unbedingtes Signum des Bekenntnisses verstanden wurde. Offensichtlich sind die einschlägigen Vorschriften des Koran in dieser Frage nicht eindeutig, sondern lassen Spielräume der Interpretation zu. Wer beendet also aus welchen Gründen und mit welchen Interessen diese Offenheit und setzt eine solche Definition durch, die zum Konflikt führen muss? Auf diesem Hintergrund erscheint es naheliegend, die Prozesse, die um das Kopftuchtragen von Lehrerinnen in der Schule angestrengt wurden, als politisch motiviert anzusehen, nämlich um auszuloten, bis zu welcher Grenze der Rechtsstaat die radikal-religiöse Interpretation gelten lässt. Das ist für sich genommen nicht ehrenrührig, wirft aber die Machtfrage auf, lässt jedenfalls erhebliche Zweifel an den rein religiösen Motiven der Kopftuchinitiative aufkommen. Demnächst könnte ja auch eine andere radikal-islamische Version das Recht einklagen, dass Lehrerinnen aus ebenfalls religiösen Gründen unter der Burka zum Dienst erscheinen; das Feld der Zumutungen ist offen.

 - Eine religiös nicht zwingende Verschärfung lässt sich auch im Umgang mit der Schule feststellen. Diese hat – neben anderen Aufgaben – auch die Funktion, durch gemeinsamen Unterricht zur Integration der religiös, weltanschaulich und politisch unterschiedlich orientierten und fundierten Bevölkerungsgruppen beizutragen. Dafür bietet sie – bei allem Respekt vor diesen berechtigten Unterschieden – auf der Grundlage der in der Verfassung festgeschriebenen Grundrechte einen Unterricht an, der einerseits der Aufklärung auf wissenschaftlicher Grundlage verpflichtet ist, andererseits zu selbständigem Urteilen über sich und die Welt befähigen soll. Das kann Konfrontation mit anders lautenden familiären und eben auch religiösen Orientierungen zur Folge haben. Auch die christlichen Kirchen sind in der Vergangenheit teilweise nur mühsam mit dem damit verbundenen kritischen Potential zurecht gekommen, das sie manchmal sogar als subversiv betrachtet haben. In den bei uns heimischen islamischen Milieus tritt diese Differenz erneut zu Tage, und sie geht weit über den Sportunterricht und das Übernachten von Mädchen in Schullandheimen hinaus. Die Versuche, Einfluss auf die aufklärerische Dimension von Schulfächern wie etwa Biologie zu nehmen, häufen sich. Bei allem Respekt vor den teilweise massiven Wertkonflikten, die darin vor allem für muslimische Mädchen zum Ausdruck kommen, muss der staatliche Schulträger – und

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nicht nur der einzelne Lehrer vor Ort! - darauf bestehen, dass die Grundrechte für Jungen und Mädchen gleichermaßen gelten und dass innerhalb der Schulen keine Parallelgesellschaften entstehen. Es darf – vom Religionsunterricht abgesehen - keinen Lehrplan für muslimische und einen anderen für nicht-muslimische Schüler geben; wenn Sport als Pflichtfach zum Kanon der Fächer gehört (was ja durchaus nicht unstrittig ist), muss diese Maßgabe für alle Schüler gelten. Das schließt Kompromisse zwischen dem Staat und den islamischen Religionsgemeinschaften nicht aus, aber um diese zu verhandeln, wird eine überregionale Verfasstheit gebraucht; statt dessen immer wieder individuelle Rechte einzuklagen, obwohl sie als solche gar nicht gemeint sind, ist eine Flucht vor politischer Auseinandersetzung und Verantwortung und gewiss auch vor internen Diskussionen und Konflikten.

Wenn die islamische Religion in Deutschland heimisch und ein öffentlich anerkannter Partner werden will, muss sie sich als Kirche - im Singular oder Plural - konstituieren. In diesem Prozess wird sie sich - wie früher die christlichen Kirchen - abarbeiten, sich jedenfalls an der ihr weitgehend fremden kulturellen Tradition abschleifen und dabei ihre moderne Identität finden müssen. Die in unserer öffentlichen Meinung weit verbreitete Multikulti-Romantik ist dafür wenig hilfreich, weil sie den damit notwendig verbundenen Konflikten aus dem Wege geht. Das Kopftuchverbot für den Öffentlichen Dienst in einigen Bundesländern bewegt sich vielleicht eher auf einem Nebengleis, signalisiert aber den berechtigten Versuch, Widerstand gegen eine radikale Version des Islam zu leisten, die mit dem bei uns historisch erreichten religiösen Frieden und vor allem mit wichtigen Maßgaben des Grundgesetzes nicht vereinbar ist. Es geht gewiss darum, den Islam als eine Bereicherung des religiösen und kulturellen Lebens willkommen zu heißen, aber auch darum, entschieden und offensiv die Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer er sich bewegen muss und die er wegen seiner besonderen kulturellen Tradition von sich aus nicht ohne weiteres kennen kann. Nicht die individuellen religiösen Überzeugungen sind das Problem, sondern die diesen aufgesetzten politischen Implikationen.

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