Hermann Giesecke
Über meine Erfahrungen mit Jugendbewegung und Jugendbewegten
In: Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung. Jugendbewegung und Erwachsenenbildung. NF Band 8/2011. Schwalbach 2012, S. 260-262
 
© Hermann Giesecke



(Vorbemerkung: Im Rahmen der Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung im Jahre 2011 fand am 30. Oktober 2011 ein Zeitzeugenpodium auf der Burg Ludwigstein statt, an dem außer mir Gertrud Hardtmann,  Urs Müller-Plantenberg, Adolf Brock und Johannes Weinberg teilnahmen. Die Teilnehmer  trugen einen kurzen Text für die Diskussion vor. Der folgende Text ist mein Beitrag. Über die anschließende Diskussion wird auf den folgenden Seiten des Buches zusammenfassend unter Einschluss einiger wörtlicher Zitate berichtet. ( H.G.)

Wie ich schon auf der Tagung sagte, treffen die den Zeitzeugen gestellten Fragen auf meine Biographie nicht recht zu. Ich hatte als Jugendlicher keinen Kontakt zur Jugendbewegung oder auch nur zu Personen, die nach meiner Kenntnis Mitglieder der Jugendbewegung waren. Ich unternahm zwar von Duisburg aus im Freundeskreis Fahrten mit Bahn und Fahrrad etwa nach Venedig oder an die Mosel, ohne jedoch etwas von Jugendbewegung zu wissen - abgesehen von der gerade überwundenen 'Pimpfenzeit' in der HJ, der niemand von uns nachtrauerte. Dass unsere Unternehmungen vermutlich gar nicht möglich gewesen, gesellschaftlich jedenfalls kaum akzeptiert worden wären, wenn die Jugendbewegung dafür Jahrzehnte vorher nicht erfolgreich Recht und Raum erstritten hätte - wenn man etwa an die Übernachtungsmöglichkeiten denkt - wurde mir erst im Studium klar.
 

Erst während meiner Studienzeit in Münster (1954-1960), als ich im Jugendhof Vlotho ab 1955 als Student ("Teamer") und später auch hauptamtlich im Jugendhof Steinkimmen (1960 bis 1963) tätig wurde, lernte ich Mitglieder der Jugendbewegung kennen, die allerdings meist eher der Generation meiner Eltern angehörten. Beide Einrichtungen wurden nachhaltig von ihnen und ihrem 'Geist' bestimmt, auch in den verschiedenen Ebenen der öffentlichen Verwaltung waren sie zu finden. Überhaupt wurde damals der Komplex "außerschulische Jugendarbeit" in der öffentlichen Meinung, in den zuständigen Ressorts der Administration sowie in den Führungspositionen der einschlägigen Verbände von Personen getragen, die sich grundlegenden Vorstellungen der Jugendbewegung verbunden fühlten und sie zum Maßstab ihres Handelns und ihrer Erwartungen an die jüngere Generation - also auch an mich - machten. Darin drückten sich u.a. gesamtgesellschaftlich geteilte - also Parteien und Verbände weitgehend übergreifende - Selbstverständlichkeiten zur Rolle und Bedeutung des Jugendalters aus, die sich in der Vorstellung vom "Jugendgemäßen" zusammenfassen lassen.
 
Demnach haben Jugendliche - biologisch-kulturell bedingt - noch kein Interesse daran, einfach an der Erwachsenenkultur teilzunehmen, vielmehr wünschen und benötigen sie eine eigentümliche, auf die Gleichaltrigen zentrierte kulturelle Umgebung, die etwa durch Nähe zur Natur, Distanz zur komplexen Zivilisation, die Suche nach ganzheitlichem Erleben in reduzierten Sozialformen (Kleingruppen) und sexuelle Enthaltsamkeit bestimmt ist. Der Kern des "Jugendgemäßen" galt als ebenso überparteilich wie sein ärgster Feind - "Schmutz und Schund" - wovor der Jugendschutz die Jugendlichen bewahren sollte. Jugendarbeit wurde offiziell als "präventiver Jugendschutz" verstanden.
 
Meine Erfahrungen mit dieser Position waren ambivalent. Habitus und Charakter der handelnden Personen gewannen meinen Respekt, mit der sie verbindenden
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jugendpflegerisch-pädagogischen 'Ideologie' hatte ich jedoch von Anfang an Schwierigkeiten.

Sie führte u.a. zu vereinfachten kulturkritischen Gut-Böse-Unterscheidungen der kulturellen Umwelt, die im Wesentlichen die bekannten bildungsbürgerlichen Favorisierungen von Literatur, Theater, Klassischer Musik und damit verbunden eine grundsätzliche Kritik oder gar rigorose Ablehnung der tatsächlichen jugendlichen Freizeitwünsche enthielten.
  
Vor allem aber wurde aus dieser Unterscheidung ein Recht - und gelegentlich sogar die Pflicht - zur pädagogischen Instrumentalisierung abgeleitet: Man soll etwas Bestimmtes tun, um damit etwas anderes zu erreichen. Man sollte zum Beispiel immer etwas tun, was den Gruppengeist stärkte - "Gemeinschaft" herstellte. Das kulturelle Interesse selbst, das Interesse an der Sache, war eher verdächtig, auch weil es nicht Interessierte eben von der "Gemeinschaft" ausschloss. In der Jugendarbeit galt etwa der Film, solange er Jugendliche interessierte, also vor der Verbreitung des Fernsehens, lediglich als 'Gruppenfutter' - Hauptsache, die Leute redeten hinterher gemeinsam darüber. Diese Einstellung konnte ich nicht teilen, was ich auch sagte und publizierte, was mir wiederum keineswegs nur Freunde verschaffte. Aber geblieben ist von daher bei mir ein Misstrauen gegen Pädagogisierungen, die nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigen sind.
 
Vor allem aber: Auf diese Weise ließen sich unsere Tagungen, die mit Oberschülern und später auch mit Lehrlingen zu politisch bildenden Themen in den Jugendhöfen Vlotho und Steinkimmen zwischen 1956 und 1963 veranstaltet wurden, nicht mit Inhalt füllen. Sie wurden von studentischen "Teamern" - also Gruppenleitern - mitgestaltet. Dabei mussten wir, wie wir glaubten, von der Sache her vorgehen. Die Politik als Sachverhalt ist bekanntlich nicht "jugendgemäß", die gesellschaftliche Realität überhaupt - der Markt, die Kneipe, das Fernsehen, die Fabrik - ist nicht "jugendgemäß". Am deutlichsten zeigte das der Konsummarkt, der schon am Ende der Weimarer Zeit und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Angeboten die der Jugendarbeit zu verdrängen begann. Wie schon Karl Marx vorausgesehen hatte, unterwirft der kapitalistische Markt unaufhaltsam auch die letzten Winkel der Gesellschaft seinen Regeln, Interessen und Formaten.
 
Diese Bildungsarbeit und deren äußere Umstände wurden für mich zu einem zentralen Jugenderlebnis. Die studentischen Mitarbeiter organisierten sich zum "Studienkreis für West-Ost-Fragen", der zweimal im Jahr Fortbildungstagungen veranstaltete und Dozenten gewinnen konnte, die damals besonders kompetent für politische, zeitgeschichtliche und marxismusorientierte Themen waren. Weil andererseits damals an den Universitäten für solche Themen nur wenige Dozenten qualifiziert waren, entstand für uns Studierende eine kleine 'Parallel-Universität' in der Doppelfunktion von sachbezogenem Spezialstudium und didaktisch orientierter Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Die menschlichen Bezüge, die dabei entstan-
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den, waren wohl ungefähr vergleichbar mit denen, die von der Jugendbewegung berichtet werden - abgesehen davon, dass einige von uns auch in bündischen Jugendgruppen aktiv waren, wie sich schnell herausstellte. Jedenfalls treffen sich die Beteiligten inzwischen nach Jahrzehnten der familiär und beruflich bedingten 'Trennung' als Senioren jährlich wieder zu Tagungen - allerdings ohne erneut eine pädagogische Tätigkeit anzustreben.

Die Erfahrungen mit dieser Arbeit und den daran beteiligten Menschen prägten auch nachhaltig mein Studium. So schrieb ich über unsere Tätigkeit in den Jugendhöfen meine Dissertation (Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung, 1964) und die Geschichte der außerschulischen Jugendarbeit (Die Jugendarbeit 1971; Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, 1981) beschäftigte mich publizistisch eine Reihe von Jahren. Die Texte sind auf meiner Homepage zu finden (www.hermann-giesecke.de).

Ein Resultat der damit verbundenen Recherchen ist unter anderem, dass ich meine frühere Konfrontation mit dem 'Jugendbewegten' zumindest teilweise in einem etwas anderen Licht sehe. Das "Jugendgemäße" fiel spätestens seit der Zeit der 68er der Radikalisierung des Marktes allmählich zum Opfer, die 'Jugendbewegten' an den jugendpolitischen Schaltstellen in der Gesellschaft sind verschwunden. Aber damit verschwand auch das besondere Interesse der Gesellschaft am Schicksal ihrer Jugend. Jugend ist inzwischen wie alle sonstigen Arbeitslosen im öffentlichen Bewusstsein kaum mehr als ein Kostenfaktor, auch der öffentliche Ruf nach "mehr Bildung" folgt keiner besonderen pädagogischen Idee, sondern der Erwartung künftiger Marktchancen. Dem historischen Blick zeigt sich schnell, dass das "Jugendgemäße" in der Tradition der klassischen Bildungsidee stand, nämlich Kindheit und Jugend dem staatlichen und ökonomischen Zugriff wenigstens zeitweise zu entziehen, damit in Distanz dazu sich Zeit und Gelegenheit für geistige und sozio-emotionale Zugänge zur Welt ergeben könnten, die nicht bereits unter Verwertungsgesichtspunkten sortiert werden. Das aber gilt heute eher als unmodern und schädlich für den Wirtschaftsstandort.
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