Hermann Giesecke

Das Pädagogikstudium

Orientierung für die ersten Semester

Stuttgart: Klett-Cotta-Verlag 2001, 159 S., € 13,50


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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Was heißt "Studieren"?

I. Wissenschaft und pädagogischer Beruf
1. Berufsorientierung
2. Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens und Argumentierens
3. Die Verwissenschaftlichung pädagogischer Berufe
4. Wissenschaft und pädagogische Berufspraxis

II. Die Lehrveranstaltungen
1. Vorlesungen
2. Seminare
3. Übungen
4. Kolloquien
5. Praktika und Hospitationen

III. Die Studienplanung
1. Umgang mit Prüfungs- und Studienordnungen
2. Maßstäbe für ein selbstorganisiertes Studium

IV. Die Arbeitsorganisation
1. Lesen und Bearbeiten
2. Arbeitsmittel und Arbeitsbedingungen

V. Studienleistungen
1. Das Referat
2. Gesprächs- und Diskussionsbeiträge
3. Die schriftliche Arbeit

VI. Wissenschaftlich-formale Anforderungen
1. Quellenangabe und Zitierweisen
2. Fußnoten
3. Stil und Diktion
4. Die Herstellung von schriftlichen Arbeiten als Lernprozess

VII. Prüfungen

 Einleitung: Was heißt "Studieren"? (Auszug)

Wer ein Pädagogik-Studium aufnehmen will, stellt sich eine Reihe von Fragen: Was ist dabei im Vergleich zur bisherigen Schulerfahrung anders? Wie kann ich mein Studium möglichst effektiv im Hinblick auf die künftigen Prüfungen und auf den danach erwarteten Beruf gestalten? Wie sind die Berufsaussichten einzuschätzen?
Diese und andere praktische Fragen sollen im folgenden erörtert werden. Voraussetzung für die zweckmäßige Anwendung der folgende Ratschläge ist jedoch, dass eine zutreffende Vorstellung darüber besteht, was "Studieren" eigentlich heißt.
...

Wie das Wort schon sagt, handelt es sich um eine bestimmte Aktivität des Studenten selbst, die ihm niemand abnehmen kann. Der Student selbst studiert, niemand sonst kann das an seiner Stelle tun. Was immer ihm als Vorgabe dafür in den Lehrveranstaltungen seiner Hochschule angeboten wird, er muss es in eine eigene Aktivität verwandeln. Dabei stehen die "Hausaufgaben" im Mittelpunkt, es reicht nicht, in den Lehrveranstaltungen gut zuzuhören.
Das Studium knüpft an den bisherigen Bildungsgang an und ist dessen Fortsetzung. Die bisherige Allgemeinbildung wird erweitert und zugleich spezialisiert auf einen Bereich hin, der den künftigen Beruf ausmachen soll. Die Bedingungen, die die Hochschule dafür zur Verfügung stellt, können besser oder schlechter sein, aber sie werden an der grundsätzlichen Notwendigkeit nichts ändern, dass das Studieren eine selbständige geistige Aktivität darstellt. Dazu gehören auch eine bestimmte Disziplin und Zeitökonomie, weil über weite Strecken niemand kontrolliert, was der Student leistet. Die Hochschule bzw. Universität erscheint dem Studienanfänger nicht nur als "Massenbetrieb", sie ist es auch, und daran wird sich nichts Grundlegendes ändern, weil Institutionen dieser Größenordnung kaum anders zu organisieren sind. In diesem Punkte darf man auch von Hochschulreformen oder Studienreformen keine Wunder erwarten.
Im Unterschied zur gymnasialen Oberstufe beruht das wissenschaftliche Studium auf einer Reihe von Freiheiten, die die Schule so nicht gewähren kann. Die Freiheit des Studenten, seine akademischen Lehrer, seinen Studienort und unter den verschiedenen Lehrangeboten zu wählen, ist konstitutiv für ein Studium. Wie jede andere Freiheit ist aber auch diese eine Last, weil sie nicht nur ständig zu Entscheidungen zwingt, sondern auch den Willen voraussetzt, entsprechende Entscheidungen überhaupt zu treffen. Meist kümmert sich niemand darum, ob jemand überhaupt studiert, was er tut und wie er sich dabei fühlt. Wer diese Freiheit nicht aushält, sollte vielleicht eine andere Ausbildung wählen. Was immer man in Zukunft an Hochschulreformen sich ausdenken und verwirklichen wird - an dieser Lage wird sich grundsätzlich wenig ändern. Der Student muss lernen, damit umzugehen.
Voraussetzung für den Erfolg des selbständigen wissenschaftlichen Studierens ist zunächst einmal eine typische Grundeinstellung gegenüber der Wirklichkeit, die für die Hochschullehrer genauso gilt wie für die Studenten: der Wille, die Realität mit Hilfe des Verstandes planmäßig und systematisch erkennen zu wollen. Diese wissenschaftsorientierte Einstellung zur Umwelt ist keineswegs die einzig mögliche, sie ist sogar eher eine künstliche. Normalerweise treten wir der Welt gegenüber, indem wir sie entweder in ihrer Ganzheitlichkeit auf uns einwirken lassen - bis hin zur romantischen Verklärung - oder indem wir durch Handeln in sie eingreifen. Die wissenschaftliche Betrachtung, von der hier die Rede ist, kann deshalb nur zeitweise im Vordergrund stehen, für den täglichen Umgang z.B. mit uns nahestehenden Menschen ist sie unangebracht. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck der planmäßigen Aufklärung der sachlichen Zusammenhänge. Damit ist folgendes gemeint:

Fragehaltung
Wissenschaftlich vorgehen heißt, begründete Fragen an die Wirklichkeit zu stellen und nach Antworten zu suchen. Die wissenschaftliche Grundeinstellung beruht auf Fragen, nicht auf den Antworten, die immer nur als vorläufig gelten. In diesem Prozess stellen sich weitere Fragen, auf die ebenfalls eine befriedigende Antwort gesucht wird, und so setzt sich der Wechsel von Frage zu Antwort prinzipiell ohne endgültiges Ende fort. Für das planmäßige Suchen nach Antworten hält die Wissenschaft verschiedene Methoden bereit, die der Student im Verlauf seines Studiums kennenlernen wird.

Selbstaufklärung
In diesem ständigen Wechsel von Frage und Antwort erschließen wir uns die Wirklichkeit Stück für Stück und klären sie uns auf. Indem wir dies tun, klären wir uns aber auch selbst auf, und dies gibt dem Studieren seinen Bildungssinn. Gerade bei einem für den Alltag so wichtigen Fach wie Pädagogik, wo es im wesentlichen um das Aufwachsen von Kindern geht, können uns die Ergebnisse unserer Recherche nicht gleichgültig lassen. Vielleicht widersprechen sie unserem bisherigen Vorverständnis derart, dass wir verunsichert werden und manche Erkenntnisse möglicherweise sogar verleugnen oder abwehren wollen. Oft erwachsen die Fragen an die pädagogische Wirklichkeit aus bestimmten subjektiven Einstellungen und Erwartungen, aus Kindheitserlebnissen zum Beispiel oder weil wir ein uns falsch erscheinendes Erziehungsverhalten beobachten. Aus welchem Grunde wir eine Frage an die pädagogische Wirklichkeit stellen, ist zunächst gleichgültig, wenn wir bei der Suche nach der Antwort nur wissenschaftlich verfahren. Problematisch wird die Fragehaltung nur dann, wenn sie sich allzu sehr begrenzt auf bestimmte Fragen und dann einseitig wird; denn rein logisch liegt auf der Hand, dass wir eine Wirklichkeit um so genauer aufklären können, je mehr Fragen wir an sie richten.

Perspektivenwechsel
Neben der grundlegenden Fragehaltung gehört der Perspektivenwechsel zu den Grundeinstellungen des Studierens. Es reicht nicht aus, nur den eigenen Standpunkt zu sehen und zu vertreten, er muss sich vielmehr durch andere Positionen korrigieren lassen können, wenn diese durch ihre Argumentation überzeugen.
...

Salopp ausgedrückt könnte man zusammenfassend sagen: Man muss als Wissenschaftler das Märchen vom Rotkäppchen auch aus der Perspektive des Wolfes lesen und erzählen können.

Argumentationsarbeit
Der Perspektivenwechsel, den die Studierenden immer wieder vornehmen müssen, ist eine methodische Grundeinstellung, nicht jedoch das letzte Wort. Ergebnis muss sein, dass der Student durch argumentative Arbeit, also durch das Abwägen und Beurteilen der verschiedenen Perspektiven, sich ein Bild von dem jeweils zur Debatte stehenden Teil der Wirklichkeit macht, um es in seine eigene Vorstellung von der Sache einzugliedern. Er kann also z.B. bei einem Referat nicht urteilslos die verschiedenen Perspektiven nebeneinander stehen lassen, weil das keinen Sinn ergäbe, aber nur was Sinn macht, kann in die eigene Bildungsgeschichte übernommen und anderen Menschen mitgeteilt werden. Das gilt auch für den Umgang mit kontroverser wissenschaftlicher Literatur. Der Studierende muss, wenn er etwa für ein Referat kontroverse Literatur bearbeitet hat, die Fragen, die er bearbeitet hat, auch beantworten - wie vorläufig diese Antwort auch immer sein mag. Es könnte durchaus sein, dass, wenn er ein Referat zum gleichen Thema zwei Jahre später halten würde, die Antwort eine andere wäre; denn er wäre dann eben zwei Jahre älter, und das heißt: Seine Bildungsgeschichte hätte sich ebenfalls um diese Zeit verlängert.

Der eigentliche Gegenstand: Pädagogisches Handeln
Wer das Studium eines Faches beginnt, braucht eine Vorstellung davon, worum es in diesem Fach eigentlich geht, was sein zentraler Gegenstand ist. Die Wissenschaft im Ganzen ist in verschiedene Fächer aufgeteilt. Das ist im Prinzip schon deshalb nicht zu ändern, weil die Dozenten nur ein begrenztes Wissen zur Verfügung haben, auch sie haben schließlich nur einen einzigen Kopf. Zwar gibt es fächerübergreifende Forschungen und auch Lehrangebote, aber auch sie beruhen letztlich auf der jeweils begrenzten fachlichen Kompetenz derer, die daran mitwirken.
Der eigentliche Gegenstand der Pädagogik ist das pädagogische Handeln, wie es vielfach in der Gesellschaft, in Familien, Schulen oder sozialpädagogischen Einrichtungen stattfindet. Pädagogikstudium ist also im Kern das Trainieren der Beurteilung von pädagogischem Handeln, seiner Begründungen und seiner Bedingungen, aber auch schon Vorwegnahme eigener Handlungen in der Phantasie (Wie würde ich mit welcher Begründung in einer bestimmten Situation handeln?). Dieser Handlungsaspekt ist das Leitmotiv des pädagogischen Studiums. Benachbarte Wissenschaften wie Psychologie und Soziologie klären mit ihren Methoden und Fragestellungen zwar auch Teile der pädagogischen Wirklichkeit auf, aber im allgemeinen nicht unter dem Leitmotiv des pädagogischen Handelns.

Selbstbildung durch Aufklärung
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Student bringt zu allen wichtigen pädagogischen Fragen eine eigene, aus seiner bisherigen Biographie resultierende Vor-Einstellung mit; diese zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren ist ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Bearbeitung pädagogischer Probleme. Aufklärung über die pädagogische Wirklichkeit und Selbstaufklärung bedingen einander.
In diesem Wechselspiel liegt aber auch eine Zumutung: Das Bewusstsein des Studierenden wird dadurch ständig attackiert; stets soll er seine Gedanken überprüfen und einer Kritik aussetzen. Deshalb kann die Universität kein genereller Sinnlieferant sein, im Gegenteil bewirkt sie durch ihre Anforderungen eher Verunsicherung. Das Bedürfnis nach allgemeiner und ganzheitlicher Sinngebung muss an andere soziale Orte - z.B. an politische oder weltanschauliche Gruppierungen - gerichtet werden. Die Hochschule kann nur denjenigen Sinn anbieten, der aus den Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens erwächst.
Studieren ist also ein subjektiver, biographischer Prozess der Selbstbildung, der dann als erfolgreich erlebt wird, wenn er als Fortschritt an Wissen, Kenntnis und Können erfahren werden kann. Diese subjektive, individualisierende Bildungsperspektive kann jedoch nicht in den administrativen Regeln, wie sie etwa die Prüfungs- und Studienordnungen enthalten, formuliert werden. Diese Ordnungen müssen sich vielmehr an das halten, was gemessen und verwaltet werden kann, und das ist das, was der Student am Ende seines Studiums - oder für eine Zwischenprüfung - als Wissen und Argumentationsfähigkeit äußerlich erkennbar vorweisen soll. Diese Differenz zwischen dem, was in Prüfungen messbar ist, und dem, was darüber hinaus das eigentliche Bildungsergebnis des Studiums ausmacht, ist erheblich. Die spätere berufliche Eignung hängt keineswegs in erster Linie vom Prüfungsergebnis ab, sondern auch davon, wie sich die Persönlichkeit des Studenten überhaupt weiterentwickelt hat. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Studium, sondern auch in Bezug auf andere Erfahrungen während der Studienzeit - etwa im Hinblick auf Mitarbeit in der studentischen Selbstverwaltung oder auf die für den Lebensunterhalt notwendige Erwerbsarbeit; diese sollte man sich übrigens immer bescheinigen lassen, weil für manche Anstellungsträger nicht nur die Noten des Abschlusszeugnisses zählen, sondern auch solche Erfahrungen, die der Student außerhalb des Studienbetriebs gemacht hat.

Zu diesem Buch
Dieser Ratgeber ist verfasst für solche Pädagogikstudenten, die im eben skizzierten Sinne studieren wollen. Dabei ist vor allem an den Studienanfang gedacht. Aller Anfang ist schwer, lautet ein Sprichwort, und das gilt auch hier. Die meisten Ratgeber, die es auf dem Markt gibt, sind viel zu umfangreich und verwirren deshalb den Anfänger, der ja z.B. nicht schon im ersten Semester wissen muss, wie man eine Dissertation verfasst. Was er mühelos im Verlaufe seines Studiums erfahren kann, muss man ihm nicht alles schon am ersten Tag nahe bringen.
Zunächst stehen noch einige grundsätzliche Fragen über den Zusammenhang zwischen dem künftigen pädagogischen Beruf und dem darauf bezogenen Studium im Mittelpunkt; falsche Erwartungen an die "Praxisnähe" des Studiums, die die eigene Aktivität in die Irre leiten könnten, sollen gar nicht erst aufkommen (Kap. I). Danach geht es vor allem um praktische Fragen, nämlich welche typischen Lehrveranstaltungen es an der Hochschule gibt und wie sie zu handhaben sind (Kap. II), wie man seine Studienplanung am besten organisiert (Kap. III), wie man seine wissenschaftliche Arbeit am besten plant und welche Techniken dafür nützlich sind (Kap. IV), und wie geforderte Studienleistungen möglichst erfolgreich und effektiv erbracht werden können (Kap. V). Das VI. Kapitel fasst die für die Abfassung einer schriftlichen Arbeit wichtigsten formalen Anforderungen zusammen und Kapitel VII gibt Hinweise für eine sinnvolle Vorbereitung auf die Prüfungen.