Hermann Giesecke

Didaktik der Politischen Bildung

München: Juventa-Verlag 1965
 

Erster Teil: Brennpunkte der Diskussion zwischen Politik und Pädagogik

© Hermann Giesecke
Inhaltsverzeichnis
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Zu dieser Edition:
Dieses Buch geht auf einen Teil meiner (ungedruckten) Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" zurück, der für den Druck seinerzeit erheblich überarbeitet wurde. Es basiert auf praktischen Erfahrungen in der außerschulischen politischen Jugendbildungsarbeit, die ich unter dem Titel "Politische Bildung in der Jugendarbeit" 1966 veröffentlicht habe.
Weggelassen wurden zwei vorangestellte Motti und das Vorwort. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die hier wiedergegebene Erstfassung wurde in der 3. Aufl. 1968 durch  den Abdruck  kritischer Einwände und eine Replik darauf erweitert. Mit der 7. Aufl. 1972 ("Neue Ausgabe")  wurde der Text grundlegend umgearbeitet; diese Neufassung wurde  mit der 10. Auflage 1976 um einen Nachtrag ergänzt, der die Diskussion des Themas seit 1972 aufzugreifen versucht.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke
 


Inhalt

Erster Teil: Brennpunkte der Diskussion zwischen Politik und Pädagogik

Die "Spiegel-Kontroverse" als Beispiel
Das Problem des Gegenstandes: Politik als das noch nicht Entschiedene
Das Problem eines Lehrfaches "Politik"
"Politische Bildung" und "AIIgemeinbildung"
Hemmnisse politischen Lernens
Das Problem der Zielsetzung: Politische Aktivität
Das Problem der Stoffauswahl




ERSTER TEIL:

BRENNPUNKTE DER DISKUSSION ZWISCHEN POLITIK UND PÄDAGOGIK

Die "Spiegel-Kontroverse" als Beispiel

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich unserem Thema zu nähern. So können wir etwa auf philosophische Weise die Prinzipien der Politik einerseits und die Prinzipien der Bildung andererseits analysieren, um dann beides zu einer didaktischen Theorie der politischen Bildung zusammenzubringen. Aber damit müßten wir in die Gefahr geraten, auf einer sehr hohen Abstraktionsebene zu argumentieren, die von den Ereignissen des politischen Lebens wie auch von den Schwierigkeiten der pädagogischen Praxis gleich weit entfernt ist. Wir wollen deshalb unsere Überlegungen um ein Ereignis herum ordnen, das erstens unzweifelhaft ein politisches Ereignis war und das zweitens dem Leser noch so in Erinnerung sein wird, daß er es bei der Lektüre dieses Buches als seine politische Erfahrung mit einbringen kann. Ich meine die "Spiegel-Affäre" des Jahres 1962. Was immer politische Bildung sein mag, sicher ist, daß sie dazu führen müßte, bei einem solchen politischen Ereignis vernünftig Stellung zu beziehen und die staatsbürgerlichen Pflichten und Rechte wahrzunehmen. Indem wir uns im folgenden immer wieder auf dieses politische Beispiel berufen, soll der Leser Gelegenheit erhalten, den Fortgang der Überlegungen mit kontrollieren zu können. Dazu ist es vielleicht ganz nützlich, einige Mo-

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mente der Spiegel-Affäre noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, die für unseren Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind. Dazu einige knappe Thesen:

1. Die Spiegel-Affäre war aus mindestens zwei Gründen ein politisches Ereignis. Es handelte sich erstens um eine offene Situation, die noch nicht entschieden war und für deren Entscheidung es verschiedene Möglichkeiten gab; zweitens war der Sachverhalt selbst umstritten. Es gab darüber nicht nur verschiedene Parteiungen in der Öffentlichkeit, sondern sie engagierten auch einen großen Teil der Bevölkerung für sich: die Streitfrage war "aktuell".

Nach Peter R Hofstaetter (60, S. 163) ist ein Problem dann aktuell, wenn sich verschiedene Parteiungen bilden und die Zahl der Meinungslosen verhältnismäßig gering ist.

2. Diese Aktualität entstand nicht von selbst, sie wurde vielmehr mehr oder weniger planmäßig hergestellt. Kaum jemand hatte zum Sachverhalt der Kontroverse oder zu den daran beteiligten Personen eine unmittelbare Beziehung. Beides vermittelten die Massenkommunikationsmittel, insbesondere das Fernsehen. Die Berichterstattung der Massenmedien brachte die Auseinandersetzung erst in den Horizont des Staatsbürgers. Ohne diese Massenmedien hätte das Problem gar nicht aktuell werden können, hätte sich auch niemand politisch informieren und engagieren können.

3. Die Staatsbürger mußten diese "Vermittlung der Beteiligung" verstehen können. Das klingt wie eine Banalität, aber es ist noch gar nicht ausgemacht, ob tatsächlich alle Bürger politische Informationssendungen des Fernsehens wirklich verstehen können. Dazu gehört nämlich erstens eine gewisse sprachliche und vorstellungsmäßige Fähigkeit, die mit den Mitteilungen korrespondiert und ihr Verständnis überhaupt erst ermöglicht. Diese ist allgemeiner Natur und hat zunächst noch nichts mit politischen Fähigkeiten zu tun. Je differenzierter sprachliche und visuelle Fähigkeiten ausgebildet sind, um so genauer wird die Mitteilung verstanden. Zweitens gehört dazu ein ge-

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wisser Kenntniszusammenhang vom Politischen. "Pressefreiheit", "Landesverrat", "Demonstration" sind Vokabeln, die für sich genommen unverständlich blieben, wenn sie nicht gleich in einen wie immer gearteten Kenntnis- und Wertzusammenhang aufgenommen würden.

4. Um die Spiegel-Kontroverse überhaupt verständlich machen zu können, mußten die Massenkommunikationsmittel einen gewissen Interpretationszusammenhang stiften. Die Kenntnisse wurden von den einzelnen Fachwissenschaften her beschafft, ohne daß bei der Verbreitung unbedingt deren Methoden berücksichtigt wurden. Bereits verfügbare Kenntnisse wurden also aktualisiert und aus ihrem ursprünglichen Forschungszusammenhang herausgenommen. Bei der Spiegel-Affäre galt das vor allem für die rechtlichen und politischen Wirkungen der Bestimmungen über den Landesverrat, über die vorher wenige eine genaue Kenntnis hatten, weil sie nicht aktuell waren.

5. Bei der Kritik der Affäre mußte ein Maßstab gefunden werden, der sich irgendwie auf das gemeinsame Ganze bezog. Die Feststellung, daß es sich um einen zweifachen Konflikt handelte - einmal um den Machtkonflikt zwischen einem Minister und einem Presseorgan, zum anderen um einen Wertkonflikt zwischen der Pressefreiheit und dem Staatsschutz - , genügte allein noch nicht. Die Reflexion auf das Ganze des Staatswesens gelang in mindestens zweierlei Hinsicht: Einerseits wurde antizipierend erörtert, welche Folgen für das ganze Gemeinwesen sich einstellen würden, wenn dieser Konflikt so oder anders entschieden würde. Andererseits geriet die Art und Weise des Austrags in die Diskussion, und zwar mit dem Begriff des "Stiles". "Stil" meinte dabei vordergründig den rein pragmatischen Konsensus darüber, wie eine solche Aktion verlaufen dürfe und wie nicht, das heißt welche Verfahrensweisen im politischen Machtkampf zulässig sind.

6. Sowohl der Begriff des Stiles wie auch die Begründungen der kontrahierenden Parteien für ihre jeweilige Position in der Streitfrage enthielten politisch-philosophische Prämissen, die nun ihrerseits überprüft werden mußten.

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7. Viele Bürger empfanden diesen Konflikt als so schwerwiegend, daß sie sich persönlich bedroht sahen. Es ging nicht mehr nur um eine rein pragmatische Lösung eines alltäglichen Interessenkonfliktes, sondern auch um die Frage der künftigen persönlichen Sicherheit. Man überlegte, ob dieser Konflikt sich nicht auf lange Sicht zu einer Bedrohung der Sicherheit des täglichen Daseins auswirken könne. Damit bekam dieser Streit eine existentielle Bedeutung.

8. Im Prozeß der öffentlichen Auseinandersetzung ergab sich zunächst eine Reaktion der Staatsbürger, gleichgültig auf welcher Seite der streitenden Parteien sie standen. Zugleich wurde diese Reaktion zur Aktion -nicht nur in der Form von Demonstrationen, sondern insbesondere in der Weise, daß die Urteilsbildung weit über diese einzelne Kontroverse hinausging. Das Urteil konnte sich nun nicht mehr allein darauf beschränken, wie in diesem konkreten Falle entschieden werden sollte. Es erstreckte sich vielmehr auf bestimmte politische Gruppen als Ganzes, auf ihre Vorstellungen und Begründungen, auf Wert und Wirkung staatlicher Institutionen wie etwa der politischen Rechtsprechung. Indem das öffentliche Bewußtsein von dieser konkreten politischen Kontroverse aus zu einer Reihe ihrer Hintergründe fortschritt und indem es zugleich Massencharakter annahm, wurde es selbst zu einer politischen Aktion innerhalb des Gemeinwesens, die sich zum Beispiel in Wahlen niederschlug, die mit dem Ereignis selbst unmittelbar gar nichts zu tun hatten.

9. So ergab sich eine Art politischer Arbeitsteilung. Auf der einen Seite standen die kontroversen politischen Akteure, auf der anderen Seite die Massenkommunikationsmittel und die Bürger als Kontrolleure. Die Bürger konnten zwar einen gewissen Einfluß entwickeln, dessen positive politische Gestaltung allerdings in die Hände der kritisierten Akteure gelegt war.

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um einige wesentliche Aspekte dieses Ereignisses wieder in Erinnerung zu rufen. Wir werden im folgenden immer wieder darauf zurückkommen.

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Das Problem des Gegenstandes: Politik als das noch nicht Entschiedene

Der Widerspruch von Funktionswissen und politischem Wissen

Der Gegenstand Politik ist offenbar im Vergleich zu anderen von besonderer Art. "Politisch" war bei der Spiegel-Affäre nicht ein bestimmter Sachverhalt, sondern etwas Offenes, Umstrittenes, etwas, was noch zur Entscheidung stand. Der Soziologe Karl Mannheim (84, S. 95ff.) hat bei der Politik einen "wißbaren", rationalisierbaren und einen "irrationalen" Teil unterschieden. Vieles läßt sich wissenschaftlich erklären und begründen, aber immer bleibt ein Spielraum, in dem die zwar motivierte, aber letztlich wissenschaftlich nicht begründete und begründbare Entscheidung ihren Ort hat. Wäre es anders, so würde die politische Entscheidung zu einer eindeutigen, sofern man nur hinreichend viel von dem zur Debatte stehenden Sachverhalt wüßte. Zweifellos werden sich zahlreiche Konflikte durch wissenschaftliche Analysen lösen lassen, gerade insoweit sie vorwiegend durch falsche Informationen und unrichtige Meinungen entstanden sind. Ob etwa eine bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahme diese oder jene Folgen habe, ist weitgehend berechenbar geworden. Damit wird aber der irrationale Bereich politischer Entscheidungen nur eingeschränkt, keinesfalls aufgehoben. Er tritt uns nur klarer in den Blick, weil wir im Unterschied zu früheren Zeiten Konfliktstoffe ausscheiden können, die zu einer Angelegenheit der wissenschaftlich planenden Verwaltung geworden sind. Solange aber das allgemeine Interesse mit den besonderen Interessen nicht voll übereinstimmt - was erst in der Utopie von der klassenlosen Gesellschaft der Fall wäre - , so lange bleiben politische Konflikte auch sachlich und ethisch mehrdeutig, so lange ist ihre Lösung eine Sache der Parteinahme und Entscheidung. Politik ist also offenbar mehr als die Summe der

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Realkenntnisse, die für das politische Handeln nützlich sind. Denn sie sind immer Kenntnisse von gewordenen Dingen, während politisches Handeln abzielt auf Staat und Gesellschaft, insofern sie noch im Werden begriffen sind.

"Das politische Denken ist gerichtet auf die res gerendae, und es ist nicht gerichtet auf die res gestae" (Bergstraesser, 12, S. 59). Noch pointierter Jürgen Habermas: "In dem Maße, in dem Politik wissenschaftlich rationalisiert, Praxis durch technische Empfehlungen theoretisch angeleitet wird, wächst nämlich jene eigentümliche Restproblematik, angesichts derer die erfahrungswissenschaftliche Analyse ihre Inkompetenz erklären muß. Auf der Basis einer Arbeitsteilung zwischen datenverarbeitenden Wissenschaften und wissenschaftlich nicht kontrollierbarer Normsetzung wächst mit der strikten Klärung bestimmter Voraussetzungen gleichzeitig der Spielraum purer Dezision: Der genuine Bereich der Praxis entzieht sich in wachsendem Maße der Zucht methodischer Erörterungen überhaupt" (48, S.17).

Wie sehr immer die politische Pädagogik sich der Wirklichkeit des politischen Lebens öffnen mag, sie kann sie bestenfalls immer nur in dem Stadium begreifen, das durch die nächste bedeutsame politische Aktion wieder verändert wird. Aber gerade diese Aktion will sie dem politischen Urteil möglichst vorweg verfügbar machen.

Nach diesen Überlegungen ist ein politischer Unterricht, der nichts anderes als einen systematisierten Zusammenhang von Wissen bietet, schlechterdings unpolitisch. Denn das eigentlich Politische, zu dem wesentlich Parteinahme gehört, würde so auf wissenschaftliche Erkenntnis reduziert. Andererseits kann es aber keinen Zweifel daran geben, daß nur ein einigermaßen sinnvoll aufeinander bezogenes Wissen die Voraussetzung dafür ist, daß überhaupt noch politische Informationen verstanden werden können. Das lehrte uns schon unser Beispiel. Ein solcher Wissenszusammenhang aber ist seiner inneren Struktur nach auch dann statisch, wenn er dynamisch konzipiert ist, widerspricht also der Orientierung am politischen Ereignis selbst.

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Stoffkataloge sind dafür mehrfach formuliert und den einzelnen Altersstufen angepaßt worden (Messerschmid, 88, S.25; Bergstraesser, 9, S. 82; Wilhelm, 147, S. 36; 20, S.54f., Wilhelm, 151, S. 19; schließlich die "Themenvorschläge" der "Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde in den Klassen 12 und 13 der Gymnasien" 71, S.39f.).

Offenbar trifft ein solcher Wissenszusammenhang für sich allein genommen auch nicht das jugendliche Interesse, weil er aller vitalen Energien beraubt ist. "Der demokratische Formalismus unserer landläufigen politischen Bildung ... ist blind. Er erreicht ... die Wirklichkeit unserer Jugend heute nicht ... " (Messerschmid, 88, S. 29). Genau genommen sind uns gar keine Sachverhalte gegeben, sondern durch die Massenkommunikationsmittel vermittelte Meinungen über Sachverhalte. Ein Durchstoßen zur Sache selbst ist immer nur in relativer Weise durch einen Vergleich der Meinungen über sie sowie durch ein Erfassen ihrer Hintergründe möglich. "Die Lagen, auf die sich die politische Öffentlichkeit bezieht, sind nur bekannt als Meinungen" (Herbert von Borch, 17, S. 377).

Historisches und politisches Wissen

In früheren Zeiten hatte vor allem der Geschichtsunterricht die Aufgabe der politischen Erziehung übernommen. Diese Position ist wohl zum letzten Mal eindrucksvoll von Erich Weniger in seinem Buch "Neue Wege im Geschichtsunterricht" (Frankfurt 1949) vertreten worden. Nach der Saarbrücker Rahmenvereinbarung hat sich Jürgen von Kempski gegen die neue "Gemeinschaftskunde" und für eine Erhöhung der Geschichtsstundenzahl eingesetzt (66). Inzwischen hat sich aber als allgemeine Meinung durchgesetzt, daß "politische Bildung" und "historische Bildung" zwei verschiedene Aufgaben sind. Gegenstand der Geschichte sind Gewordenheiten, Politik aber reicht in jenen offenen Raum, in dem erst durch Entscheidungen Gewordenes entsteht. Dennoch hängen diese beiden Aufgaben eng miteinander zusammen. Eine politische Kontroverse der Gegenwart ist ohne Kenntnis ihrer historischen Dimension nicht zu verstehen. Auch das zeigt unser Beispiel der Spiegel-Kontroverse: Der historische Vergleich

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wird in dem Augenblick notwendig, wo nach einem wertenden Maßstab für die Beurteilung und Entscheidung des Konfliktes gesucht wird. Ein solcher Maßstab spielt immer eine Rolle, auch dort, wo er nicht bewußt, sondern unbewußt angewandt wird. Es ist überhaupt die Frage, ob Wertmaßstäbe für die Beurteilung der politischen Gegenwart aus anderen Bezügen als der historischen Erinnerung gewonnen werden können. So oder so aber hat eine fundierte historische Bildung ihren festen Ort innerhalb einer politischen Lehre. (Vgl. zu dieser Frage: Messerschmid, 88, S. 11; 90; Körner, 74; Hilligen, 58, S. 341.)

Politisches Wissen als Konflikt-Wissen

Bis jetzt können wir folgendermaßen zusammenfassen: Soll eine politische Konfliktsituation angemessen erfahren werden, so ist ein zusammenhängendes Wissen über die politische Gegenwart wie auch über deren historische Bedingungen Voraussetzung. Beides aber reicht nicht aus; denn ein solcher Kenntniszusammenhang allein garantiert noch nicht die vernünftige Anwendung auf den konkreten Konfliktfall. Es ist sogar denkbar, daß er sich so weit von den konkreten politischen Auseinandersetzungen entfernt, daß er für ihre humane und vernünftige Lösung nicht mehr zur Verfügung steht.

Wir haben also einen Widerspruch gefunden zwischen der Notwendigkeit eines zusammenhängenden Wissens über Politik einerseits und dem Wesen des Politischen andererseits. Die politische Didaktik hätte also zu klären, ob dieser Widerspruch auflösbar ist, das heißt ob es einen Weg gibt, sowohl das Politische im Blick zu behalten wie auch gleichzeitig dabei jenen zusammenhängenden Wissensbestand zu lehren, der allein Orientierung und damit eine Erfahrung vom Konflikt ermöglicht. Wenn aber ein solcher Wissenszusammenhang das Politische verfehlen muß, weil er allein einer harmonischen Gesellschaft angemessen wäre, so bleibt nur übrig, das politische Leben grundsätzlich

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kontrovers zu sehen, also als in Konflikten begriffen. Diese Sicht hat sich denn auch immer mehr durchgesetzt. Allerdings gehen die Meinungen über die Inhalte wie über die Partner solcher Konflikte noch erheblich auseinander. Insbesondere fällt es der politischen Bildung schwer, innenpolitische Kontroversen ernst zu nehmen. So findet Martin Friese in den "Bonner Rahmenrichtlinien zur Gemeinschaftskunde" "in sehr erheblichem Maße" "recht präzise gesamtgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen ... Das Kapitel 6 der Themenvorschläge 'Der Mensch in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat' zeichnet sich überhaupt durch einen undifferenzierten Lakonismus aus, der den zwingenden Problemen und Fragestellungen unserer gesellschaftlichen und politischen Verfassung sichtlich aus dem Wege geht' (40, S. 274). Daß der Widerspruch "zwischen der verfassungsmäßig institutionalisierten Idee der Demokratie ... und der tatsächlich praktizierten" (Habermas, 47, S. 33) nicht übersehen werden dürfe, ist auch in einigen pädagogischen Beiträgen betont worden (Messerschmid, 88, S. 30; Kindler, 67, S. 83). Allerdings gehen die Ansichten sofort auseinander bei der Frage, ob sich aus den Verfassungsprinzipien im einzelnen verpflichtende Weisungen für die Praxis des gesellschaftlichen Lebens ableiten lassen oder ob die abweichende Wirklichkeit des politischen Lebens selbst eine Fortentwicklung der Verfassungsbestimmungen darstelle. Abendroth (1) vertritt die These, daß aus der Sozialstaatsklausel Forderungen an die gesellschaftliche Wirklichkeit abgeleitet werden könnten, die noch nicht erfüllt seien. Ähnlich argumentiert Tietgens im Hinblick auf die politische Bildung: "Politischer Bildung kann es ... nicht darum gehen, bestehende formaldemokratische Institutionen zur selbstverständlichen Anerkennung zu bringen, sondern sie muß Eigenschaften und Fähigkeiten wecken und fördern, die den Grundelementen und Tendenzen der Demokratie zur Verwirklichung helfen" (133, S. 220). Das Bundesverfassungsgericht hält im KPD-Urteil die Frage offen: "Die freiheitliche demokratische Ordnung nimmt die bestehenden, historisch gewordenen

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staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen zunächst als gegeben hin. Sie sanktioniert sie weder schlechthin, noch lehnt sie sie grundsätzlich und im ganzen ab ... Damit ist eine nie endende Aufgabe gegeben ..." (zitiert bei Schneider, 119, S. 64).

Politisches Wissen als Wissen vom Staat

Ob und inwieweit man den Konfliktcharakter des Politischen ernst nimmt, hängt wesentlich davon ab, welche Bedeutung man dem Staat in diesem Zusammenhang einräumt. Diese Diskussion hat in Deutschland eine lange und komplizierte Geschichte. Wo man in der Nachfolge Hegels und in der Tradition des deutschen politischen Konservativismus den Staat als autonomes sittliches Subjekt begreift, bleibt wenig Raum für Konflikte. Diese sind dann allenfalls im Bereich der Gesellschaft, vor allem im Erwerbsleben zulässig und nützlich, erhalten aber keinen Einlaß in den staatlichen Hoheitsraum. Da aber nach dieser Auffassung Politik im wesentlichen staatliches Handeln ist, geraten innerstaatliche Konflikte leicht in den Verdacht des Landesverrats.

Diese politisch-philosophische Tradition ist nach dem Kriege noch einmal von Theodor Litt aufgegriffen und modifiziert worden. Gegen Oetinger hatte er auf dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Politischen und dem Sozialen bestanden und das Politische mit dem Staat identifiziert (81, S. 69ff.). Der Staat, so meinte er, ermögliche erst die Ordnung im sozialen Bereich, sei also nicht damit gleichzusetzen. In der Demokratie werde der Staat durch konkurrierende Ordnungsvorstellungen geschaffen, von denen sich jeweils eine durchsetze. Trotzdem komme ihm substantieller Charakter zu, der ihn aus dem Bereich der bloßen Mittel erhebe. Damit hatte Litt der überlieferten konservativen deutschen Staatsphilosophie insofern eine neue Nuance verschafft, als er sie für die demokrati-

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schen Prinzipien öffnete. Ebenso wie er sah auch Erich Weniger den Staat vor allem als Wahrer der Rechts- und Friedensordnung.

Nicht zufällig kam die Kritik an diesen Auffassungen vor allem von sozialwissenschaftlicher Seite. "Was damit nicht in den Blick kommt, ist die Institutionalisierung von Herrschaftsverhältnissen, die in letzter Instanz schwerlich aus einer isolierten Betrachtung der staatlichen Machtausübung, sondern nur aus deren Verflechtung mit objektiven Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung im ganzen verstanden werden kann" (Habermas, 47, S. 245f.). Sontheimer hat darauf verwiesen, "daß der Staat der pluralistischen Demokratie nicht selbst der pluralistischen Struktur enthoben ist, daß die Parteien, die ihn tragen, und die Regierung, die die Führung innehat, sich selbst aus jener pluralistischen Gesellschaft rekrutieren und ein Teil von ihr sind. Sie können und müssen zwar den Versuch machen, das Ganze zu denken, aber sie denken es wiederum fast nur in der überwiegend fragmentarischen Weise wie die anderen Staatsbürger auch" (124, S. 76).

In diesen Stellungnahmen ist die Trennung von Staat und Gesellschaft, die charakteristisch für alle konservative Staatsphilosophie seit Hegel war, aufgehoben. Das Politische erstreckt sich nun durch alle Bereiche gesellschaftlicher Kommunikationen. Die "fortschreitende Politisierung der Gesellschaft" (Habermas, 47, S. 33) wird zum Gegenstand der politischen Bildung. Damit wird aber das objektive Problem einer politischen Lehre nur noch komplizierter. Um wieviel einfacher wäre die Konstruktion einer solchen Lehre, wenn sich das Politische und das Soziale säuberlich voneinander trennen und diese Trennung zur ersten politischen Einsicht sich erheben ließe! Einer der wenigen Didaktiker, die daraus die Konsequenzen gezogen haben, ist Joachim Rohlfes. Er schreibt: "Man kann die zu bildenden Schwerpunkte nicht in Form von Grundthesen bestimmen, sondern nur als offene Fragen, Alternativen, Probleme, Aporien, Perspektiven. Das bedeutet eine Umkehrung des herkömmlichen Unterrichtsweges: Der Aus-

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gang wird statt bei den Tatsachen bei den Problemen genommen" (110, S. 166.

Erste Folgerungen

Der Widerspruch zwischen einer zusammenhängenden Lehre und der Unsystematik des Politischen selbst ist aber damit immer noch nicht gelöst, sondern höchstens präzisiert. Greifen wir noch einmal auf unser Beispiel zurück! Wir haben gesehen, daß die vermittelte Information über einen politischen Konflikt auf ein immer schon vorhandenes Verständnis vom politischen Gesamtzusammenhang trifft. Aber, so können wir jetzt hinzufügen, in dem Maße, wie die Massenkommunikationsmittel gezwungen sind, einen an sich isolierten Konflikt in einen bestimmten Zusammenhang zu bringen, um ihn verständlich machen zu können, durchdringt dieser neue Informationszusammenhang den im Subjekt bereits vorhandenen und verändert ihn. Die Spiegel-Kontroverse stiftete also notwendigerweise einen neuen Zusammenhang politischen Wissens und Wertens bei den einzelnen Bürgern - von den Fällen abgesehen, wo die neuen Informationen auf eine mit affektiven Vorurteilen besetzte Haltung trafen und sie deshalb nicht verändern konnten.

Für unsere didaktische Problematik könnte dieser Zusammenhang fruchtbar gemacht werden. Wir brauchen offenbar eine didaktische und methodische Konstruktion des Unterrichts, die von der Analyse politischer Konflikte ausgeht und dabei den jeweils notwendigen Kenntnis- und Bewertungszusammenhang erarbeitet, ständig reproduziert, verändert, differenziert und präzisiert. Die schon beschriebene Gefahr eines zwar systematisierten, aber fernab aller politischen Auseinandersetzung gewonnenen Wissens wäre damit umgangen.

Eine ähnliche Folgerung wie Joachim Rohlfes hat Hans Mommsen aus der Schwierigkeit der Kooperation der drei Fächer in der neuen "Gemeinschaftskunde" gezogen: "Es scheint mir denk-

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bar, daß diese Koordinierung durch eine Konzentration des Unterrichts auf das politische Entscheidungshandeln erreicht werden könne ... Diese Konzentration auf das politische Entscheidungshandeln würde ersparen, die vielfältigen Aspekte der political science als jeweils selbständige Unterrichtsabschnitte einzubeziehen und neben Geschichte, Politik (und Geographie) eine Miniatursoziologie, eine Miniaturnationalökonomie und einen fragwürdigen Abriß der Staatstheorie zu geben, womit ein positivistisches Auseinanderfallen des neuen Faches unvermeidlich wäre" (112, S. 91f.).

Das Problem eines Lehrfaches "Politik"

Aus der Offenheit des politischen Gegenstandes folgt, daß ihm keine spezifische Fachdisziplin entspricht, auf die ein politischer Unterricht sich stützen könnte. Welches Schulfach oder welche Fachwissenschaft könnte sich anmaßen, allein für die Behandlung der Spiegel-Affäre zuständig zu sein? Politologen, Anthropologen, Sozialpsychologen, Soziologen und Historiker könnten zwar viele Einzelaspekte klären, aber sie müßten dazu das politische Ereignis gewissermaßen erst in einzelne Bestandteile zerlegen.

Grenzen der "Fächerkombination"

Auch die Kombination mehrerer Wissenschaften kann nicht einfach ein Fach "Politik" begründen. Nicht zuletzt deshalb ist die "Fächerkombination" der neuen Gemeinschaftskunde heftig kritisiert worden. Jürgen von Kempski befürchtet, daß man damit "den Schülern irgendeine Ganzheitsvorstellung als Synthese von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft" vermittele. Das aber könne die Schule nicht leisten. "Wenn so etwas versucht wird, so wird, wenn man nicht Dogmen anzubieten hat, nur Schwafel in den Köpfen der Schüler erzeugt werden" (66). Friedrich Minssen hat auf

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diesen Vorwurf geantwortet. Er meinte, daß man durch gemeinsame Bemühungen von Experten der Gesellschaftswissenschaften und des Gymnasiums durchaus zu einer Übereinstimmung über die Lehrgehalte des neuen Bereiches kommen könne (92, S. 132f.).

Minssens Antwort kann deshalb nicht befriedigen, weil sie ein philosophisches Problem in eine organisatorische Frage verwandelt. Ein Expertengremium könnte sich allenfalls auf einen Kanon des Stoffes einigen, den zu wissen für das politische Handeln ganz nützlich ist. Das aber würde gegenüber dem früheren Zustand gar nichts ändern. Die neue "Gemeinschaftskunde" ist doch nicht zuletzt deshalb eingeführt worden, weil man glaubte, damit den politischen Fragestellungen näherzukommen. Es ist aber gar nicht einzusehen, weshalb ein von solchen Experten zusammengestellter Stoffkanon nicht genauso gut in den alten Fächern unterrichtet werden sollte.

Diese Vermutung wird nur bestätigt, wenn man sich die Stoffvorschläge ansieht, von denen in diesem Zusammenhang die Rede ist. Die Fächerkombination geht von der Voraussetzung aus, daß es "die Fächer übergreifende Fragen gebe, auf die die einzelnen Fächer von ihren Gesichtspunkten her antworten müßten" (Messerschmid, 91, S. 480). Sieht man daraufhin die "Themenvorschläge für die Rahmenrichtlinien" durch, so stellt man fest, daß von den sieben großen Themengruppen sechs auf Inhalte zielen, bei denen innenpolitische Kontroversen so gut wie nicht zu befürchten sind. Es sind ausnahmslos Stoffe, die ein moderner, sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientierter Geschichtsunterricht ohnehin behandeln müßte. Lediglich die sechste Themengruppe, "der Mensch in Gesellschaft Wirtschaft und Staat", nennt Probleme, die als politische in dem Sinne bezeichnet werden können, daß sie in der demokratischen Gesellschaft umstritten sind. Aber schon die Überschrift verrät vorsichtige Abstraktion von den konkreten Verhältnissen der gegenwärtigen Gesellschaft, die Unterthemen sind vollends sinnentleert. Sie lauten im einzelnen:

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"a) Individuum - Gesellschaft - Staat

b) Rechtsstaat - Verfassungen - Parteien

c) Selbstverwaltung - Föderalismus - Zentralismus

d) Staat - Wirtschaft - Mensch

e) Gruppen und Verbände in der Wirtschaft

f) Dorf - Stadt - Verstädterung - Raumplanung

g) Flüchtlingsprobleme in aller Welt - Zwangsaussiedlungen - Recht auf Heimat

h) Das politische und sittliche Problem der Macht - die Menschenrechte in Geschichte und Gegenwart" (71, S. 40).

Noch unpolitischer wird der Text, wo von der Zielsetzung der politischen Bildung die Rede ist. Da geht es um "die gegenwärtige Welt" in ihrer "historischen Verwurzelung", ihren "sozialen, wirtschaftlichen und geographischen Bedingungen", ihren "politischen Ordnungen und Tendenzen" (71, S. 38). Die politische Welt wird so vorgestellt, daß sie eigentlich nur in verstehender Hinnahme zu bewältigen ist. Dem entsprechen die Verhaltensweisen, die dem Schüler angeraten werden. "Er soll die Aufgaben des Bürgers unserer Demokratie nicht nur erkennen, sondern auch fähig und bereit werden, sich im praktischen Gemeinschaftsleben der Schule und später in der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Welt zu entscheiden und verantwortlich zu handeln" (71, S. 38). In der Tradition der staatsbürgerlichen Erziehung wird ihm einseitig die Demokratie als Aufgabe zugemutet. Er soll nach diesem Text zum Beispiel nicht lernen, seine eigenen Interessen im Ganzen der Gesellschaft wirkungsvoll zu vertreten. Ähnlich restaurativ ist die Aufgabe der Sozialkunde im Zusammenhang der Fächer bestimmt: Sie "führt in die Ordnung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ein. Sie zeigt Kräftegruppen und Spannungsfelder und die Bedingungen der gesellschaftlichen Neuordnungen" (71, S. 39). Nicht nur wird "die Ordnung" als Singular verstanden und damit die Vorstellung einsinniger sozialer und politischer Vergesellschaftungen impliziert, vielmehr sind die gesellschaftlichen Widersprüche

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mit "Kräftegruppen" und "Spannungsfelder" reichlich abstrakt avisiert (vgl. Friese, 40, S. 262).

Man könnte einwenden, daß solche Richtlinien nur allgemeinen Charakter haben und deshalb die Ausführung im einzelnen den Unterrichtsbeispielen überlassen bleiben muß. Aber die bisher bekanntgewordenen Beispiele bestätigen nur den Zug zur Entpolitisierung. "Ostkunde", "die Menschenrechte", "Mensch und Gesellschaft", "die Sicherung des Weltfriedens", "Europa im 19. Jahrhundert" werden genannt (71, S. 19f.). Solche Themen werden schon wegen ihrer Stoffülle unpraktikabel. K. Mielcke hat etwa 20 Unterrichtsstunden für die Behandlung des historischen Materialismus benötigt, wobei er die philosophischen, anthropologischen, soziologischen und geschichtsphilosophischen Aspekte mit bedachte (GWU 1961, S. 743ff.). Aber gerade sein Beispiel demonstriert modernen Geschichtsunterricht, nicht die Kombination mehrerer Fächer.

Das, was als "fächerübergreifende Gehalte" unterrichtet werden soll, ist also gar nicht politischer Natur. So ist es kein Wunder, daß der Versuch, Castros Krisenpolitik zum Anlaß einer Untersuchung lateinamerikanischer Verhältnisse zu nehmen, von Rudolf Klatt als nicht im Sinne der Rahmenvereinbarung abgelehnt wird (71, S. 19). Der politische Sinn der übergreifenden Gehalte läge aber gerade hier; denn angesichts einer solch aktuellen Kontroverse wie der Kubakrise gäbe es wohl gegeneinander nicht austauschbare Fachgesichtspunkte der Sozialkunde, Geographie und Geschichte. Für das, was man mit der Fächerkombination unterrichten will, braucht man sie nicht; das, wofür sie notwendig wäre, will man nicht unterrichten. Was übrigbleibt, ist bestenfalls ein sozial- und wirtschaftsgeschichtlich verbesserter Geschichtsunterricht. Aber von der politischen Wirklichkeit und den politischen Gegnerschaften hat die Rahmenvereinbarung weitgehend abstrahiert.

Manfred Teschner findet eine solche Tendenz bei allen von ihm untersuchten Bildungsplänen zur politischen Bildung. "Differenzen und Gegensätze zwischen politischen und sozialen

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Gruppen werden in den Bildungsplänen weitgehend verstanden als bloße Unterschiede in der geistigen Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen ... . Indem abgesehen wird vom objektiven Konflikt der Interessen, erscheint die Möglichkeit eines Kompromisses primär abhängig von der inneren Beschaffenheit der Subjekte, von deren geistiger und sittlicher Haltung ... . In den Plänen ist die Tendenz zu beobachten, die Politik aufzuteilen in eine 'höhere' Sphäre, die es mit dem größeren Ganzen zu tun hat, und in eine 'niedrige', in der es um materielle Interessen geht. Die Neigung, für die politische Bildung an der Schule eine von partikularen Interessen gereinigte Ebene der Politik zu schaffen, resultiert wohl nicht allein aus der bildungshumanistischen Tradition. Vielleicht spielt dabei der Gedanke mit, auf diese Weise am ehesten parteipolitisch neutral bleiben zu können, nicht zum Fürsprecher von Zielen und Interessen besonderer gesellschaftlicher Gruppen zu werden" (128, S. 408f.).

Besonders bedenklich wird die Rahmenvereinbarung dadurch, daß sie sich auf die "sichere Grundlage der auf der Hochschule betriebenen wissenschaftlichen Fächer" (71, S. 39) zu stützen trachtet. Darin aber steckt ein dreifacher Irrtum. Erstens tritt auf dem Transport von der Universität zur Schule eine merkwürdige Veränderung des wissenschaftlichen Materials ein. Gerade diese Veränderungen sind ja ein Ansatzpunkt aller neuen kritischen Didaktik. Ein Schulunterricht wird nicht schon dadurch wissenschaftlich, daß die Lehrer eine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben. Zweitens stecken heute alle Geisteswissenschaften in einer mehr oder weniger bewußten methodologischen Krise, wie für unseren Bereich gerade die Arbeiten von Hans Mommsen (96) und Waldemar Besson (13) zeigen. Besson etwa weist an der traditionellen deutschen Geschichtswissenschaft den engen Zusammenhang zwischen historischer Methode, Erkenntnisgegenstand und politischem Engagement nach. Und drittens schließlich stellt sich das Problem der "sicheren wissenschaftlichen Grundlagen" für die Kombination mehrerer Fächer grundsätzlich neu. Entweder ist eine solche Integration politische Praxis - wenn mit ihrem Hintergrund politisch gehandelt wird - , oder sie ist produktive politische Philosophie, wenn sie sich unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Er-

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scheinungen als Urteil engagiert. In beiden Fällen aber könnendie zugrunde liegenden Fachwissenschaften keine ausreichenden wissenschaftlichen Kriterien mehr abgeben. "Es ist offenbar für die geschichtliche Situation der Gegenwart bezeichnend, daß eine wertmateriale Bestimmung des Wesens der Politik nicht mehr auf allgemeine Zustimmung rechnen kann, wobei nicht nur die Erfahrung des Totalitären, sondern auch die analytischen Methoden der Wissenschaften selbst zu einer Formalisierung des Politikbegriffes geführt hat" (Mommsen, 96, S. 360). Politische Wissenschaft und Geschichtswissenschaft stehen vor der "Schwierigkeit des Synopsisproblems, weil sie einem prinzipiell nicht begrenzten Spielraum von Sach- und Wirkungszusammenhängen zugewandt sind" (S. 366). Wenn also heute eine allgemein anerkannte politische Integrationswissenschaft fehlt, wie immer sie heißen möge, so ist das nicht zufällig und auch nicht - wie Friedrich Minssen meinte - ein mehr oder weniger organisatorisches Problem, sondern es ist in den gesellschaftlichen Bedingungen von Wissenschaft selbst begründet.

Es bleibt also festzuhalten, daß die reine Addition verschiedener Fachgesichtspunkte keineswegs mechanisch ein neues, wissenschaftlich kontrollierbares Fach schafft. Nach welchen Gesichtspunkten und Maßstäben sollen also jene "übergreifenden Gehalte" bestimmt und im Unterricht integriert werden? Ein solcher Akt der Integration könnte sich nicht mehr nur auf wissenschaftliche Begründungen verlassen. Falls die übergreifenden Gehalte wirklich politischer Natur sind, dann würden politische Entscheidungen der Jugendlichen um so stärker vorgeformt, je wissenschaftlicher angesichts des Einsatzes mehrerer Fächer sich der Unterricht augenscheinlich gibt. Der polemische Vergleich von Anneliese Thimme ("Die Welt" vom 14. November 1961) mit dem Integrationsversuch des sowjetzonalen Schulwesens ist gar nicht so abwegig.

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"Orientierungswissen" und "Aktionswissen"

Greifen wir, um nicht unser Problem aus dem Auge zu verlieren, noch einmal auf unser Beispiel zurück. Welche Rolle spielten die zuständigen Fachwissenschaften bei der Klärung der Spiegel-Kontroverse? Wir erinnern uns: Ihre Ergebnisse wurden herbeigeholt zur Klärung der zur Debatte stehenden Sachverhalte. Besonders deutlich wurde dies für den juristischen Teil des Problems. Dabei waren die Methoden, das heißt die wissenschaftlichen Fragestellungen, unter denen diese Ergebnisse gewonnen waren, mindestens zunächst uninteressant. Dieselben wissenschaftlichen Ergebnisse führten zu sehr verschiedenen Beurteilungen der politischen Sachverhalte, weil sie sich mit dem politischen Engagement unlösbar verbanden. Wo Wissenschaftler selbst in die Auseinandersetzung eingriffen, verließen sie mehr oder weniger ihren Fachbereich und damit auch die wissenschaftlichen Kontrollen ihrer wissenschaftlichen Fächer. In der Spiegel-Affäre stellten also die Fachwissenschaften für die Urteilsbildung lediglich Ergebnisse zur Verfügung, das heißt Wissen von rational erschlossenen Sachverhalten. Aber diese Sachverhalte determinierten und kontrollierten noch nicht das politische Urteil selbst.

Hier ist nun der Ort, eine wesentliche Unterscheidung vorzunehmen und damit den ersten Ertrag für unsere politische Didaktik einzubringen. Einmal war von der Notwendigkeit eines systematischen politischen Kenntnis- und Bewertungszusammenhangs die Rede. Dazu gehörte auch der Plan der Fächerkombination. Hätte er sich mit der Vermittlung eines systematischen Orientierungswissens begnügt, wäre er schon einleuchtender. Aber auch diesen Anspruch kann er weder dem Umfang noch der inhaltlichen Qualität nach halten, wie die Kritik seiner sozialkundlichen Partien zeigte. Erst sein Anspruch, damit zugleich auch an das Politische selbst heranzukommen, mußte vollends die Kritik auf den Plan rufen.

Bei allen erwachsenen Menschen ist ein solcher Kenntnis- und Bewertungszusammenhang des Politischen immer

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schon vorhanden, er kann aber unter dem Anspruch des politischen Unterrichts nicht unbegrenzt beliebig sein. Ein solcher Kenntnis-Zusammenhang kann sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung befinden, er kann durch fachwissenschaftliche Kooperation wenigstens annähernd hergestellt werden. Wir wollen diesen Kenntnis-Zusammenhang "Orientierungswissen" nennen. Der Begriff meint zweierlei. Einmal wird mit solchem Wissen der durch "Umgang" nicht mehr verfügbare Teil der Umwelt erschlossen. Mit seiner Hilfe verlängert sich die sonst beschränkte Einzelexistenz in den politisch-gesellschaftlichen Raum hinein. Zweitens wird mit seiner Hilfe die eigene politische Standortbestimmung vorgenommen. Die Art und Weise des je zuhandenen Orientierungswissens bestimmt also nicht nur weitgehend die Weltdeutung, sondern auch die Selbstdeutung.

Aber ein solches Orientierungswissen wird von sich aus nicht schon politisch produktiv. Es ist denkbar, daß es im konkreten Konfliktfall gar nicht in der Lage ist, sich auf diesen Konflikt hin zu organisieren. Es ist einer der folgenschwersten Irrtümer der Diskussion nach 1945, daß man annahm, es genüge, die ideologiekritisch diffamierte Politikvorstellung des überlieferten Bildungshumanismus einfach durch eine mehr sozialwissenschaftlich orientierte zu ersetzen. Man übersah dabei, daß auch ein sozialwissenschaftlich orientiertes Bewußtsein an den Kontroversen der Wirklichkeit vorbeidenken kann, weil auch dieses von sich aus nicht unbedingt praktisch wird. Auch ein solches Bewußtsein bleibt viel zu allgemein, als daß es den Sprung zum konkreten Engagement ohne große Hindernisse vollziehen könnte. Es ist offenbar viel leichter, ein "richtiges Bewußtsein" zu haben, als dieses Bewußtsein auch vernünftig und produktiv auf die Wirklichkeit anzuwenden.

Greifen wir auch dafür wieder auf unser Beispiel zurück! Indem der durch die Massenkommunikationsmittel vermittelte Spiegel-Konflikt auf ein Bewußtsein traf, strukturierte sich ein Teil des schon vorhandenen bzw. des mit

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dem Konflikt zusätzlich vermittelten Orientierungswissens auf diesen Konflikt hin. Damit änderte dieses Wissen aber zugleich auch seine subjektive Qualität, das heißt seine Bedeutsamkeit sowie Grad und Art seiner emotionalen Besetzung. Bestimmte Kenntnisse wurden gleichsam überbelichtet, weil sie gebraucht wurden, andere traten zurück. Die Bestimmungen der Landesverratsparagraphen etwa, die lange Zeit fast unbekannt waren oder mindestens politisch bedeutungslos erschienen, traten nun aus dem Dunkel hervor und wurden zugleich derart stark emotional besetzt, daß sie eine Bedeutung erhielten, die möglicherweise im Rahmen des Orientierungswissens objektiv übertrieben war.

Wir wollen diese Art des Wissens im Unterschied zum Orientierungswissen "Aktionswissen" nennen. Es muß sich inhaltlich im einzelnen gar nicht vom Orientierungswissen unterscheiden. Es unterscheidet sich vielmehr dadurch, daß es erstens angesichts eines Konfliktes politisches Wissen und zur Entscheidung drängenden Willen integriert; zweitens wählt es dasjenige Wissen aus dem Bestand des Orientierungswissens aus, das der Klärung der Entscheidungssituation und schließlich der Begründung für die eigene Entscheidung dient; drittens schließlich wird das so gewonnene Aktionswissen dem Bestand des Orientierungswissens zugeschlagen, wodurch letzteres einen inhaltlichen Zuwachs wie auch einen neuen Bedeutungszusammenhang bekommt, was dann angesichts eines neuen politischen Konfliktes wiederum neu zu einem Aktionswissen strukturiert wird.

Dieser Zusammenhang hat nun Rückwirkungen auf die Auswahl des Orientierungswissens. Wenn es der Sinn des Orientierungswissens ist, von Fall zu Fall auf die Lösung politischer Konflikte in einer politischen Gesellschaft bezogen zu werden, dann spielen gerade historische Kenntnisse, die in der Rahmenvereinbarung so sehr im Vordergrund gestanden haben, eine untergeordnete Rolle. Welche zusammenhängenden Kenntnisse über die gegenwärtige politische, soziale und wirtschaftliche Welt müssen ver-

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mittelt werden, damit die wirklich ernsten politischen Konflikte verstanden werden und von den Staatsbürgern vernünftig mitentschieden werden können? So etwa stellt sich die Frage nach der Auswahl des Orientierungswissens.

"Politische Bildung" und "Allgemeinbildung"

Bildungswissen - Orientierungswissen - Aktionswissen

Orientierungs- und Aktionswissen sind aber nicht die einzigen geistigen Potentiale, die zur Beurteilung eines politischen Konfliktes zur Verfügung stehen. Vielmehr werden weit mehr seelische und geistige Kräfte mobilisiert. Das gilt vor allem für die Werthaltungen, an deren Maßstab schließlich das politische Verhalten der Kritisierten wie das eigene gemessen werden. In diese Bewertungsmaßstäbe ist der gesamte Erziehungs- und Bildungsprozeß eingegangen. Die religiöse Bildung und Erziehung etwa wird angesichts eines politischen Konfliktes ja nicht einfach abgelegt, sie geht vielmehr nachdrücklich in das je konkrete politische Urteil ein. Außerdem haben wir schon bei der kurzen Skizzierung der Spiegel-Affäre gesehen, daß die Mitteilung über einen Konflikt von den Menschen nur verstanden werden kann, wenn sie über einige allgemeine geistige Fähigkeiten verfügen. Wir nannten die sprachlichen Fähigkeiten, die ja mit den Denkfähigkeiten korrespondieren, sowie politische Vorstellungskraft und politische Phantasie. All das kann nur zum Teil im Orientierungswissen fundiert sein. Es verweist vielmehr darüber hinaus noch auf eine andere Ebene der jeweiligen Selbst- und Weltdeutung, die wir hier "Bildungswissen" nennen wollen. In unserem Zusammenhang ist für dieses Wissen zweierlei charakteristisch.

1. Als es gelernt wurde, spielte die Absicht, damit zu einem politischen Konflikt Stellung zu nehmen, noch keine Rolle.

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Es ist in diesem Sinne politisch zweckloses Wissen. Damit ist aber das Problem des Zusammenhangs von allgemeiner Menschenbildung und politischer Bildung gestellt. Es geht um "die Erkenntnis, daß der politisch Gebildete mehr sein muß als nur politisch gebildet, daß er gebildet schlechthin sein muß. Politik ist jene Tätigkeit, die Menschen sinnvoll ordnet. Solches sinnvolles Ordnen wird aber in menschenwürdiger Weise nur möglich sein, wenn man weiß, was zum Menschenwesen und zu seiner Bedürftigkeit gehört. Politische Bildung ist aus diesem Grunde formulierbar und erfüllbar nur im Zusammenhang der Bildung überhaupt" (Messerschmid, 88, S. 18).

2. Obwohl also das Bildungswissen ursprünglich kein politisches Wissen ist, werden trotzdem seine jeweils benötigten Teile als Aktionswissen in Anspruch genommen. Dieser Vorgang ist ähnlich zu sehen wie beim Orientierungswissen. Auch hier strukturiert sich der Kenntnis- und Bedeutungszusammenhang des Wissens um, wenn es zur politischen Aktualisierung aufgefordert wird. Es ist also keineswegs gleichgültig, welcher Art dieses Bildungswissen ist, denn es enthält auch dort bereits politische Urteile, wo von Politik gar nicht ausdrücklich die Rede ist.

Nun liegt eine große Schwierigkeit darin, daß offenbar ein tiefer Widerspruch zwischen dem überlieferten Bildungsdenken und den Anforderungen der politischen Bildung besteht. Der Staatsrechtler Werner Weber repräsentiert dabei eine Meinung, die die Aufgaben der politischen Bildung in einer guten allgemeinen Bildung für hinreichend erfüllt sieht. Der junge Mensch finde seinen "Zugang zum Staat" nur "dadurch, daß er zur wachen und fundierten Teilhabe an der kulturellen Existenz seiner Zeit im ganzen geführt wird" (138, S. 169). Friedrich Oetinger dagegen hält diesen Widerspruch für so gravierend, daß er dafür plädiert, den Begriff der Bildung in diesem Zusammenhang überhaupt zu vermeiden. Er warnt vor der Gefahr, "daß die Forderung, die politische Erziehung der Gegenwart solle in der Weise der Bildung stattfinden, der Restaurierung alter, durch die Verwandlung der Welt

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überholter Vorstellungen Vorschub leisten kann" (104, S. 18). Andere Autoren haben einen Kompromiß versucht, der einerseits die überlieferte Bildung retten, sie andererseits aber zur Gegenwart hin öffnen sollte. Diese Position kennzeichnet vor allem die Arbeiten von Felix Messerschmid.

Politische Bildung als "Unterrichtsprinzip"

Eine der interessantesten Lösungen war, politische Bildung nicht nur als Fach, sondern auch als "Unterrichtsprinzip" zu verstehen. In dieser Vorstellung behielten die überlieferten Bildungsfächer grundsätzlich ihre Eigenständigkeit, sollten aber gleichzeitig auf die politischen Gehalte ihrer Stoffe hin befragt werden. Im Unterricht sollten keine "lehrstofffremden Gesichtspunkte in die einzelnen Fächer hineingetragen werden ... . Es sollen nur dort politische Bezüge aufgedeckt werden, wo sie immanent als wesenhafte Bestandteile eines jeweiligen Lehrgutes vorhanden sind und ihre Aufweisung zur vollgültigen Explikation und Interpretation des Stoffes gehört" (Kindler, 67, S. 83). Felix Messerschmid hat es noch grundsätzlicher formuliert: Das Unterrichtsprinzip soll die "Bedeutung" darstellen, "die jedes Sachgebiet für Staat und Gesellschaft hat" (89, S. 121). Zugleich betont er ausdrücklich die Autonomie der Fächer: "Unsere politische Ordnung kann geradezu dadurch definiert werden, daß mit ihr eine Daseinsordnung verteidigt wird, in der die Politik dienende, instrumentale Funktion hat ... Die Politik ... hat also keinen autonomen Charakter" (88, S. 14).

Zweifellos hat der Gedanke des Unterrichtsprinzips unserem Problem eine bedeutsame Teilerkenntnis verschafft, weil er im Unterschied zu früheren Überlegungen von einem dialektisch verstandenen Zusammenhang von Bildung und Politik ausging. Aber auch hier bestand die Schwierigkeit wie bei der vorhin kritisierten Rahmenvereinbarung vor allem darin, daß es nicht gelang, den poli-

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tischen Charakter der einzelnen Bildungsstoffe näher zu bestimmen. In der Praxis des politischen Unterrichts erwies sich das traditionelle Bildungsverständnis als stärker und begann die Lehrgehalte der politischen Bildung immer nachdrücklicher zu bestimmen. Zwar wird nirgends mehr grundsätzlich bestritten, daß nur der gebildet sein kann, der auch politisch gebildet ist, aber damit ist der Zusammenhang von Bildung und politischer Bildung nur postuliert. Die Suche nach dem Bildungswert des Politischen, die in den "übergreifenden Gehalten" der "Rahmenvereinbarung" ihren vorläufig letzten Höhepunkt erreichte, hat wieder einmal den Blick dafür verstellt, daß die politische Wirklichkeit keinen anderen Bildungswert haben kann als den, als konkrete Aufgabe verstanden zu werden. Obwohl für das "Unterrichtsprinzip" wie für die "Fächerkombination" das gleiche Dilemma gilt, daß nämlich die Pädagogik auf der Suche nach dem Politischen gleich erfolglos geblieben ist, muß man sagen, daß die "Fächerkombination" im Vergleich zu der Diskussion um "Fach" oder "Unterrichtsprinzip" - wie sie in das Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1955 eingegangen ist - einen klaren Rückschritt bedeutet. Damals war man sich der tatsächlichen Probleme viel stärker bewußt und glaubte noch nicht, schwierige philosophische Probleme durch organisatorische Maßnahmen lösen zu können.

Die Bedeutung der politischen Aktualität

Die Frage, ob die politische Bildung von der traditionellen Allgemeinbildung aufgesogen und neutralisiert wird, wie es Oetinger befürchtet hatte, entscheidet sich nicht zuletzt dadurch, welche Bedeutung der politischen Aktualität beigemessen wird. Denn wie immer man die Aktualität didaktisch oder methodisch einordnen mag, sicher ist, daß sich das Politische als das noch nicht Entschiedene in der kontroversen Aktualität am sichtbarsten zeigt. Die Aktualität

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repräsentiert in ihrer ganzen Banalität das, was dem politischen Urteil und Handeln aufgegeben ist, sie ist der einzig "reale Gegenstand" politischen Denkens. So ist sie auch gegenüber dem "Eigentlichen" der politischen Bildung nichts Zufälliges, bloß Methodisches, das beliebig ausgetauscht werden könnte - etwa im Sinne des bloß methodisch verstandenen "Einstiegs". Wenn etwa die Spiegel-Kontroverse beurteilt werden soll, dann steht nicht irgendeine Abstraktion wie "Staatsschutz und Pressefreiheit" zur Debatte, sondern eben jenes aktuelle einmalige politische Ereignis, das so oder so zum Engagement zwingt. Zweifellos ist es wichtig, sich den Konflikt zu vergegenwärtigen, der in der Abstraktion "Staatsschutz und Pressefreiheit" angedeutet ist. Aber dies bleibt Mittel der Aufklärung und ist nicht letztes Ziel. Ziel bleibt die Entscheidung der aktuellen politischen Kontroverse.

Gegen eine solche Sicht der politischen Aktualität sind im wesentlichen zwei Argumente vorgebracht worden, die allerdings eng miteinander zusammenhängen. Messerschmid wehrt sich dagegen mit einem aus dem Bildungsverständnis der höheren Schule stammenden Argument: "Was schon im nächsten Jahr vergessen sein wird, hat keinen Raum in der Schule. Politische Bildung zielt auf die allgemeinen Klärungen, regt politische Besinnung an und bereitet auf diese Weise die Grundentscheidungen des einzelnen vor, fixiert sie aber im einzelnen nicht vorweg" (88, S. 14).

Das in dieser Begründung enthaltene Bild eines Jugendlichen, der in einem von der Ernstsituation weitgehend freien Raum heranreift und dessen Entscheidungen die Erziehung nur vorbereitet, um seiner Freiheit keine Gewalt anzutun, ist nicht mehr zu halten in einer Zeit, in der das Fernsehen in alle Wohnstuben strahlt. Die sogenannten "Grundentscheidungen" werden in dem Augenblick "fixiert", wo sie zur Frage stehen. Wenn sich die Schule nicht darum kümmert, dann überläßt sie diese Entscheidungen den pädagogisch nicht kontrollierten Mächten, nämlich den gesellschaftlichen oder familiären Einflüssen.

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Außerdem bleibt unklar, was eine "politische Grundentscheidung" denn wohl heißen könnte. Gemeint sein kann doch allenfalls die Entscheidung für oder gegen das eigene Staatswesen oder für oder gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe. Wie aber kann man auf eine solche Entscheidung anders vorbereiten, als dadurch, daß man je konkrete Aktionen und Situationen beurteilen lernt? Wird hier nicht doch wieder die politische Wirklichkeit nach "Bildungsgehalten" abgesucht, anstatt daß umgekehrt das Potential der Bildung für die humane Lösung politischer Auseinandersetzungen eingesetzt wird?

Das zweite Argument gegen die politische Aktualität hat der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen formuliert: "In der Schule, die auf politische Mitverantwortung vorbereiten soll, hat Propaganda keinen Platz. Der Plan und Gang politischer Bildung darf auch nicht vom Lauf des aktuellen Geschehens abhängig sein. Die Schüler stehen noch nicht im Ernst der politischen Kämpfe, Risiken und Entscheidungen. Die politische Bildungsarbeit der Schulen braucht deshalb Distanz von den Tagesereignissen" (5, S. 42f.).

Die Befürchtung, daß aktuelles politisches Engagement in Widerspruch zu einem Schulwesen geraten könne, das ja doch der ganzen Gesellschaft verpflichtet ist, ist sicher begründet. Aber sie ist nicht zu vermeiden, wenn überhaupt Politik Gegenstand des Schulunterrichts sein soll. Die Frage kann nur sein, wieweit sich diese Gefahr der Propaganda in der didaktischen Reflexion kalkulieren läßt.

Dem weiteren Argument, der Schüler stehe selbst noch nicht "im Ernst der politischen Kämpfe, Risiken und Entscheidungen", liegt dieselbe anthropologische Fehleinschätzung zugrunde, die wir eben schon bei Messerschmid gefunden haben. Richtig ist sicher, daß der Jugendliche selbst keine politischen Entscheidungen treffen kann, weil er noch nicht mündig und noch nicht wahlberechtigt ist. In diesem Sinne bleibt das, was er etwa in Sachen Spiegel-Affäre für richtig hält, politisch folgenlos. Das muß aber

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nicht heißen, daß er deshalb im politischen Unterricht nicht üben dürfe, politische Entscheidungen angesichts konkreter Kontroversen zu fällen. Dieses Üben erhält aus der Tatsache seinen Sinn, daß der Jugendliche sehr wohl schon selbst in politische Auseinandersetzungen einbezogen ist. Er ist ja nicht nur Jugendlicher, sondern vor allem Mitglied einer Familie einer bestimmten sozialen Schicht; sein Vater übt einen bestimmten Beruf aus und gehört somit einer bestimmten Berufsgruppe an; und indem politische Entscheidungen immer auch das Leben eben dieser Familie betreffen können und tatsächlich in den meisten Fällen auch direkt und indirekt betreffen, ist auch der Jugendliche davon betroffen. Ein Lehrling, der heute bereits mit 14 Jahren die Schule verläßt, gerät damit schon - ob er will oder nicht - in eine politische Kontroverse. Ein Gymnasiast, der das Schulziel nicht erreicht und damit die Hoffnung auf eine bestimmte berufliche und gesellschaftliche Position begraben muß, ist dadurch schon Leidtragender einer politischen Situation. Im übrigen sind die tatsächlichen Mitwirkungsmöglichkeiten der Jugendlichen in den meisten Fällen nicht geringer als die der erwachsenen Eltern auch - wenn wir einmal von der politischen Wahl absehen.

Eine ganz andere, nämlich positive Einstellung zur politischen Aktualität vertritt Arnold Bergstraesser. Er fordert als Ziel des politischen Unterrichts geradezu die selbständige Beurteilung aktueller Probleme. Deren Behandlung sei für den Lehrer "die größte Anforderung, die an sein eigenes Wissen und Können überhaupt zu stellen ist" (9, S. 81). Dies sei deshalb so schwierig, weil politische Aktualitäten in einem "Netz von Vorstellungen und Begriffen" interpretiert werden müßten. Mit diesem Hinweis gibt Bergstraesser bereits die Richtung an, wie politische Aktualitäten didaktisch verarbeitet werden müssen. Auf diesen Ansatz werden wir noch zurückkommen müssen.

Weil die politische Aktualität bei den Jugendlichen meist großes Interesse findet, wollen ihr manche Autoren gerne

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die methodische Position des Einstiegs einräumen. Sofern die Aktualität aber zum bloß Methodischen herabsinkt, dem nichts Eigenwertiges anhaftet und von dem man gleich zum "Eigentlichen" oder zum "Bildungsgehalt" fortschreitet, wie das solche Unterrichtsbeispiele vielfach demonstrieren, geht der politische Ansatz doch wieder sofort verloren.

Als Beleg dafür können die Unterrichtsbeispiele bei Fischer Herrmann/Mahrenholz (34, S. 122ff.) dienen. - Charakteristisch für diese Haltung ist auch der Gedankengang bei Heinrich Newe (103, S. 291). Bei der unterrichtlichen Behandlung der in der Gemeinschaftskunde vorgesehenen Themen solle man, so fordert er, daran denken, "Spannungen, Entgegensetzungen und Widersprüche fruchtbar zu machen. Dabei sollte die Wirklichkeit so erfahren werden, daß sie zu Entscheidungen einlädt und zwingt". Die daran anschließenden Beispiele zeigen nun aber, daß für Newe der Inhalt der geforderten Entscheidung nicht zweifelhaft ist, daß es ihm letztlich gar nicht um Entscheidung, sondern um Zustimmung geht - wobei einige seiner Beispiele überhaupt nur der Wissenserfragung dienen. "Warum ist es notwendig, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen?" - dies ist keine politische Frage, weil es darauf eine Fülle nichtpolitischer Antworten gibt. Erst wenn man z. B. fragt: "Welche Erfahrungen der NS-Zeit sind in die Diskussion der Spiegel-Affäre (der Telephon-Affäre, der Berliner Mauer usw.) eingegangen?" - stellt man eine politische Frage an die NS-Vergangenheit.

An der Einstellung zur politischen Aktualität entscheidet sich also, ob alles politische Wissen, über das man verfügt, im politischen Ernstfall auch wirklich zur Verfügung steht und am konkreten gesellschaftlichen Ort auch tatsächlich praktiziert werden kann. Gerade dies aber muß im politischen Unterricht gelernt werden und ergibt sich keineswegs von selbst. Alle politischen, geschichtlichen und soziologischen Kenntnisse nutzen dem politischen Gemeinwesen nicht und bleiben bloß formal, wenn sie sich nicht an einer Kontroverse wie der Spiegel-Affäre konkret, vernünftig und produktiv realisieren können. Auf diesen wichtigen Unterschied hat in ähnlichen Zusammenhängen Karl Mannheim schon angesichts des faschistischen Aufmarsches

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in Deutschland hingewiesen: "Gelingt es nicht, für eine Wissensintegration geeignete Methoden zu schaffen, gelingt es nicht, einen Gelehrtentyp zu produzieren, der schnell zu denken und doch wesentlich zu sein imstande ist, der einen Blick für Details hat und doch nicht an ihnen haften bleibt, so kann es geschehen, daß das menschliche Wissen über den Menschen hinauswächst, daß Wißbarkeit zwar potentiell vorhanden ist, daß sie aber nicht in einer konkreten Situation zur Lösung der konkreten Schwierigkeiten des Lebens zur Verfügung steht" (83, S. 53). Diese Sätze galten im Jahre 1932 ausdrücklich der Kritik des überlieferten Bildungsdenkens, und sie haben, wie unsere bisherigen Analysen zeigen, nichts an Aktualität eingebüßt.

Die pädagogisch hergestellte Aktualität

Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, daß Aktualität gleichsam von außen durch die Vermittlung der Massenkommunikationsmittel hergestellt wird. Schon unsere kurze Skizzierung der Spiegel-Affäre zu Beginn dieses Buches zeigte, daß ohne die Massenmedien heute offenbar politische Beteiligung gar nicht mehr stattfinden kann. Damit liegt aber die Auswahl dessen, was aktualisiert wird, und die Entscheidung darüber, wie es aktualisiert wird, in den Händen derer, die die Massenkommunikationsmittel beherrschen. Das Bewußtsein von dieser Abhängigkeit hat nicht nur zu einer hohen Empfindlichkeit gegen alle politischen Einflußnahmen auf diese Medien geführt, sondern auch zu einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber ihrer Vermittlung. Damit stehen wir vor der paradoxen Situation, dem einzigen Organ, das uns politische Beteiligung ermöglicht, immer zugleich mit kritischer Distanz begegnen zu müssen. Welche Kraft des Menschen aber wäre dazu in der Lage? Offenbar muß das politische Bewußtsein der Menschen auch von sich aus in der Lage sein, Sachverhalte zu aktualisieren, also pro-

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blematisch zu machen. Dies geschieht auch immer im politischen Unterricht, obwohl es nicht immer bewußt geschieht. Im Grunde aktualisiert jeder politische Unterricht politische Sachverhalte, wenn er sie in den "Fragehorizont" der Jugendlichen bringt.

Weil die politische Pädagogik selbst Politik aktualisieren kann und muß, ist sie immer mehr als nur eine bloße Reaktion auf das von den Massenkommunikationsmitteln Vermittelte. Damit entstehen aber auch Gefahren der pädagogischen Selbsttäuschung; im Vergleich zu den tatsächlichen politischen Konflikten können nämlich die pädagogischen Aktualisierungen belanglos bleiben und in ihrer Summe schließlich die politische Welt so sehr mit Bedeutungslosigkeit ausstatten, daß der Blick auf den Ernst der politischen Wirklichkeit verstellt wird. Die pädagogische Aktualisierung ist also nur dann zu vertreten, wenn sie in einen richtigen Zusammenhang mit den tatsächlichen politischen Konflikten gebracht werden kann. Auch dies ist eine wichtige Aufgabe didaktischer Reflexion.

So ist die stereotype Frage unserer Sozialkundelehrbücher, was alles organisiert werden müsse, damit aus der Wasserleitung Wasser fließt, eine sinnlose Aktualisierung, die allenfalls auf technisches Interesse treffen kann. Sie korrespondiert nämlich mit keinem politisch-problematischen Zusammenhang. Der kann sich erst dann einstellen, wenn z. B. das Trinkwasser nicht mehr medizinisch einwandfrei oder überhaupt die Trinkwasserversorgung gefährdet ist. Dann erst wird auch der technische Zusammenhang politisch interessant, insofern er mit der Ursache oder der Lösung des Dilemmas zusammenhängt.

Folgerung: Der dialektische Zusammenhang von "Bildung" und "Aktionswissen"

Der Ertrag dieses Kapitels läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Es besteht in der Tat ein tiefer Widerspruch zwischen den Forderungen der politischen Bildung und der Überlieferung der allgemeinen Bildung. Dieser Widerspruch ist nicht leicht auflösbar, sondern muß in

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eine politische Didaktik mit übernommen werden. Er spiegelt die objektiven Widersprüche kultureller Bereiche wider, die nicht mehr einsinnig auf einen Nenner zu bringen sind. Einzig für bestimmte Altersstufen mag die Illusion von der Eindeutigkeit der politischen und kulturellen Welt nur daher mit gutem Gewissen aufrecht erhalten werden, weil sie zu gegebener Zeit korrigiert werden wird.

Einerseits wäre es verhängnisvoll, die ursprüngliche Intention der Bildung vorschnell über Bord zu werfen, bevor noch ihre Bedeutung für die Gegenwart recht überdacht wurde. Die Idee des Individuums, das nicht Mittel sein darf, ist in ihr ebenso beheimatet wie die Vorstellung einer kulturellen Existenz vor jeder Vergesellschaftung, die Forderung nach einem geistigen Dasein, das nicht immer gleich schon auf gesellschaftliche oder ökonomische Funktionen beschränkt wird. Zu fordern wäre, "daß nicht nur die Verabsolutierung von Kultur gebrochen wird, sondern auch, daß ihre Auffassung als die eines Unselbständigen, als bloßer Funktion von Praxis und bloßer Anweisung auf sie, nicht hypostasiert werde, nicht zur undialektischen These gerinne" (Adorno, 2, S. 42).

Würde man eine allgemeine Bildung lediglich von den politischen Problemen der Gegenwart her konzipieren, so müßte jegliche "substantielle Rationalität" auf Kosten der "funktionellen Rationalität" untergehen. "Die zunehmende Industrialisierung begünstigt ... die funktionelle Rationalität, das heißt die Durchorganisierung der Handlungen auf bestimmte objektive Ziele hin. Sie fördert keineswegs im gleichen Maße die substantielle Rationalität, das heißt die Fähigkeit, in einer gegebenen Situation aufgrund eigener Einsicht in die Zusammenhänge vernünftig zu handeln." Man muß sehen, "daß es geradezu zum Wesen der funktionellen Rationalisierung gehört, dem Durchschnittsmenschen Denken, Einsicht und Verantwortung abzunehmen und diese Fähigkeit denjenigen Personen zu übertragen, die den Rationalisierungsvorgang leiten" (Mannheim 86, S. 68f.). Der totale Verzicht auf Distanz von den unmittelbaren Problemen der Gegenwart würde bedeuten, daß die Maßstäbe des Handelns aus der bloßen Zweck-Mittel-Relation nicht herauskämen und daß die Menschen, ihre Hoffnungen, Wünsche und Meinungen wechselnd zu Zwecken und Mitteln,

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gleichermaßen wertfrei ins bloße Erfolgskalkül aufgenommen würden.

Andererseits kann sich die Schule offensichtlich der politischen Wirklichkeit nur in dem Maße öffnen, wie sie die Grenzen des überlieferten Bildungsbegriffes überschreitet. Politische Bildung "erfordert die Abkehr von jeglicher Art Behütungspädagogik, die die psychologische Notwendigkeit des Schonraums Schule in die Lehrinhalte überträgt" (Tietgens, 131, S. 307). Worauf es ankommt, ist, "die jungen Menschen in den oberen Klassen ins Vertrauen zu ziehen und ihnen zu sagen, daß wir alle in dieser Welt leben und dies die Welt ist, die uns auferlegt ist. Wenn der Lehrer sich keinen Illusionen hingibt, dann wird auch der Heranwachsende das allergrößte Vertrauen fassen, weil er sieht, daß er in eine Realität eingeführt wird ... . Alles andere kann nur falsches Pathos sein" (Landshut, 76,S.315).

Wir glauben, daß unsere Unterscheidung zwischen Orientierungswissen, Aktionswissen und Bildungswissen eine Möglichkeit ist, diesen Widerspruch produktiv aufzugreifen. Es geht also erstens darum, Bildungswissen zu vermitteln, das unabhängig von politischen Zwecken gewonnen wurde; insofern es nicht als ein dogmatisch verhärteter Bedeutungszusammenhang gelernt wird, sondern als ein solcher, der offen für neue Erfahrungen bleibt, wird es sich auch am ehesten für politische Konflikte öffnen. Zweitens geht es um ein Orientierungswissen, das gleichsam den politischen Umgang des Individuums verlängert. Ob man diesem Wissen ähnlich wie dem Bildungswissen die Qualität eines objektiven Kulturgehaltes zukommen lassen will, ist eine Frage des Werturteils. Sie hängt im wesentlichen davon ab, ob man Politik als eigenständigen kulturellen Bereich auffassen will oder lediglich als Instrument für die immer erneute Herstellung von Ordnung angesichts immer neuer Konflikte. Manches spräche für die letzte Version. Sie würde eine wenigstens denktechnische Trennung von Werten und ihrer jeweiligen politischen Realisierung zulassen.

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Was wir im allgemeinen Sprachgebrauch als "politische Werte" bezeichnen, sind in Wahrheit gar keine Werte, so wie es religiöse, künstlerische und sittliche Werte gibt. Es handelt sich hier vielmehr um Werte, deren politische Verwirklichung die Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat. Das ist ein ganz gewichtiger Unterschied. "Freiheit" und "Menschenwürde" etwa entstammen ja nicht einer Art "Seinsbereich Politik", sondern der historischen Erfahrung und Reflexion der Menschen im weitesten Sinne. Politisch bedeutsam sind sie in dem Sinne geworden, daß sie vom Privileg für wenige zum Anspruch für alle wurden und daß dieser Anspruch nur mittels der Politik durchgesetzt werden konnte. "Parteiendemokratie" ist also nicht selbst ein Wert, sondern ein (nach Lage der Dinge nicht austauschbares) Mittel, bestimmte Werte für alle möglichst realisierbar zu machen und zu halten. Deshalb gehören die Werte in den Bereich des Bildungswissens.

Drittens geht es darum, Aktionswissen zu lernen, das heißt zu üben, Bildungswissen und Orientierungswissen produktiv in Beziehung zu einem konkreten politischen Ereignis zu setzen. Wie man diese drei Wissensebenen didaktisch überzeugend kombinieren kann, wird uns noch beschäftigen müssen.

Hemmnisse politischen Lernens

Bis jetzt haben wir die Grundvoraussetzungen einer politischen Lehre von der objektiven Seite, also von der Seite der Sache her, verfolgt. Dabei wurde zwar der subjektiven Seite des Problems immer schon Rechnung getragen, allerdings um den Preis einer undiskutierten Voraussetzung, die es nun zu befragen gilt. Unsere Voraussetzung war, daß der Wille, angesichts eines politischen Konfliktes Aktionswissen zu mobilisieren, tatsächlich vorhanden sei. Das ist keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil, viele Untersuchungen und pädagogische Erfahrungen sprechen eher gegen diese Annahme. Gerade die Didaktik kann nun am wenigsten unbeachtet lassen, ob ihre Lehrgehalte

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auch tatsächlich verbreitet werden können. Nur was verbreitet werden kann, kann sinnvollerweise unter die Lehrgehalte aufgenommen werden. Wenn sich nun zeigen sollte, daß das politische Interesse der Jugendlichen verhältnismäßig gering ist, so heißt das in der Sprache der Didaktik, daß es schwer fällt, politischem Wissen Bedeutsamkeit zu verleihen. Diesem Problem muß eine Didaktik nachgehen.

Falsche Lehrinhalte

Es könnte sein, daß unsere Schulen ungewollt ihren Beitrag zum politischen Desinteresse leisten. Vielleicht sind die Jugendlichen sehr wohl an politischen Ernstfällen interessiert, aber nicht an dem, was die Schule in ihrem politischen Unterricht anbietet? Vielleicht ist das, was die Schulen lehren, so weit von der politischen Wirklichkeit entfernt, daß das Politische gar nicht als bedeutsam erscheinen kann? Dies hat man gerade der höheren Schulbildung mit Vehemenz vorgeworfen (Oetinger, 104, S. 20ff.; Tietgens, 131, S.298ff.; Habermas, 47, S.275ff.).

Erst in jüngster Zeit hat man unter diesem Gesichtspunkt auch die Konzeption der "volkstümlichen Bildung" untersucht (Kudritzki, 75). Diese Konzeption, die in den letzten zehn Jahren immer stärker zum Bildungsprinzip der Volksschule wurde, kann, wie Kudritzki nachwies, in der Tat die entscheidenden Dimensionen des Politischen nicht mehr treffen, sie wirkt im Gegenteil so, daß der "volkstümlich Gebildete" den ökonomischen und politischen Manipulationen geradezu ausgeliefert wird. Nichts anderes hatte der Publizist Erich Kuby festgestellt, wenn er in einer geistreichen Analyse der Boulevard-Presse behauptete, die Bild-Zeitung ziehe nur die Konsequenz aus der deutschen Volksschule ("Das ist des Deutschen Vaterland", Reinbek 1959, S. 111ff.).

Ähnliches gilt für den sogenannten »heimatkundlichen Ansatz" in der politischen Bildung, der ja nicht nur eine

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Methode kennzeichnet, sondern auch ein didaktisches Prinzip, das die Auswahl der politischen Stoffe vornimmt. Seine wesentliche Voraussetzung ist, daß das politische Getriebe unüberschaubar sei. Gerade dadurch falle politische Einsicht so schwer, und es sei besser, von einer überschaubaren sozialen Welt auszugehen. So versuchte Eduard Spranger, Grundelemente des Politischen aus den Erfahrungen in der Familie zu entwickeln (125). Andere meinten, man solle die Gemeinde als eine elementare Einheit für die politische Interpretation ansehen. Aber schon Rene König hat nachgewiesen, daß dabei die politischen Zusammenhänge in der Gemeinde falsch gedeutet werden (73).

Gegen diese Versuche, den politischen Gesichtskreis zu beschränken, sind nicht nur sachliche, sondern auch psychologische Bedenken vorgebracht worden. Im Zeitalter der weltweiten Verflechtung und der Massenkommunikationsmittel verliere die unmittelbare Anschaulichkeit an Gewicht. Außerdem würden sich Vorurteile einnisten, falls die pädagogische Unterweisung die Weltkunde allzusehr verzögere. "Denn es darf nicht erwartet werden, daß das Bewußtsein des Kindes unbeeinflußt bleibt, bis die Schule den Zeitpunkt für eine planende politische Bildung für günstig erachtet" (Müller, 98, S. 4).

Schließlich ist die politische Welt heute gar nicht mehr so unüberschaubar, wie man meistens meint. "In vieler Hinsicht ist die Gesellschaft, durch den Wegfall ungezählter, auf den Markt zurückweisender Mechanismen, durch die Beseitigung des blinden Kräftespiels in breiten Sektoren, durchsichtiger als je zuvor. Hinge Erkenntnis von nichts anderem ab als der funktionellen Beschaffenheit der Gesellschaft, so könnte wahrscheinlich heute die berühmte Putzfrau recht wohl das Getriebe verstehen. Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaffenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht" (Adorno, 2, S. 41).

Die politische Didaktik muß in der Tat nachprüfen, in welchem Maße bestimmte Unterrichtskonzeptionen wie

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etwa die der "volkstümlichen Bildung" solche "subjektive Beschaffenheit" mit verursacht haben. Eine politische Didaktik, wie wir sie verstehen, darf in ihren kritischen Reflexionen nicht vor den Schultüren halt machen. Aber man würde wohl die Wirksamkeit der geplanten Erziehung maßlos überschätzen, wollte man einen falschen Unterricht allein für das politische Desinteresse verantwortlich machen.

Will unsere Gesellschaft kritische Bürger?

Man muß sich vielmehr fragen, ob unsere Gesellschaft für ihre realen Funktionsabläufe wirklich den kritischen und aufgeklärten politischen Bürger braucht und wünscht. Auch das ist keineswegs selbstverständlich, wenn man von den Deklamationen absieht und den Blick auf die wirklichen Verhältnisse richtet. Jürgen Habermas z. B. hat auf die Folgenlosigkeit politischer Meinungen - auch bei der Wahl - hingewiesen. Die Parteien seien Instrumente der Willensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die den Parteiapparat beherrschen. "Öffentlichkeit wird hergestellt. Es gibt sie nicht mehr. Das bevorzugte Material der hergestellten 0ffentlichkeit ist gerade das, was ihr dem eigenen Sinn nach widerspricht, die Privatsphäre. Sie wird immer noch behandelt, als wäre sie unbeobachtet, persönlich, gar autonom. Aber zugleich wird sie nicht nur in ausgewählten Repräsentanten den Massenmedien preisgegeben, sondern vielfach auch bereits nach deren Desideraten konstruiert. Demgegenüber wird die eigentliche öffentliche Sphäre, die der großen Organisation des Staates und der Wirtschaft, scheinhaft privatisiert: allen so vorgeführt, als handle es sich dabei um Personen und persönliche Beziehungen, nicht um Institutionen und Interessen. Dadurch wird die politische Beteiligung vorweg tendenziell neutralisiert" (47, S. 32). Ähnlich urteilt Adorno unter Hinweis auf die psychologischen Rückwirkungen dieses Sachverhaltes. Es kenn-

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zeichnet die heute herrschende Ideologie, "daß die Menschen, je mehr sie objektiven Konstellationen ausgeliefert sind, über die sie nichts vermögen oder über die sie nichts zu vermögen glauben, desto mehr dieses Unvermögen subjektivieren. Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schreiben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben" (3,S. 7). Schwierigkeiten der subjektiven Lebensbewältigung werden also nicht auf objektive Tatbestände transformiert, die zu ändern wären, sondern diese Schwierigkeiten werden ins Unbewußte verdrängt. Sie werden überspielt, ohne daß man sich je ihrer Ursachen und Zusammenhänge richtig bewußt geworden ist.

Wem solche Formulierungen zu abstrakt und zu theoretisch klingen, der mag sich fragen, in welchen Feldern unserer sozialen Wirklichkeit denn tatsächlich das erwartet wird, was die politische Bildung zu erziehen trachtet. Wo wird kritisches Mitdenken honoriert? Politische Bildung wird, wenn sie nach dem Zusammenhang zu fragen beginnt, selbst zum kritischen Gegenüber eines lieber blind funktionierenden gesellschaftlichen Mechanismus. Sie wird damit vor allem für berufstätige Jugendliche zu einer problematischen Belastung ihres angehenden Berufsweges. Nirgends stellt die gegenwärtige Gesellschaft im Alltag der Jugendlichen wirklich die Forderung, sich kritisch gegenüber der Umwelt zu verhalten, nirgends honoriert sie ein solches Verhalten. Wenn dies aber zutrifft, dann produziert die politische Bildung mündige Staatsbürger, die in den meisten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gar nicht verlangt werden, und schafft damit subjektive Unglücksgefühle. Die Erfahrung, daß man ohne allzuviel zu fragen weiterkommt und leichter durchs Leben geht - eine Erfahrung, die der Jugendliche in all seinen Lebensbereichen jeden Tag aufs neue machen kann - , muß letzten Endes stärker bleiben als der Appell, der Wirklichkeit immer die bessere Möglichkeit entgegenzudenken.

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Affektive Vorurteile

Wie uns vor allem die Antisemitismus-Forschung gelehrt hat, können solche gesellschaftlichen Frustrationen leicht zu affektiven Vorurteilen führen, also zu Vorurteilen, die nicht einfach durch Belehrung und Information auflösbar sind. Die Frustrationen entstehen meist aus bestimmten gesellschaftlichen Konfliktsituationen oder aus sich wiederholenden Erlebnissen eines gesellschaftlichen Mißerfolges und werden als eine Art Schutzreaktion verinnerlicht.

Unter diesem Aspekt erhält die Art und Weise des gesellschaftlichen Lebens für die politische Didaktik eine erhebliche Bedeutung. Politische Didaktik muß nicht nur Aufklärung über die Triebkräfte politischen Handelns fordern, wie sie neuerdings von einer politischen Psychologie postuliert wird, sondern auch die Änderung all jener änderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse, die Vorurteilshaltungen verursachen.

Zu diesem ganzen Komplex sei auf folgende Literatur verwiesen: Psyche, Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde. XVI. Jahrgang, Heft 5, 1962; Alexander Mitscherlich (93 und 94); Adorno (3); Eva G. Reichmann, Flucht in den Haß, Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe (Frankfurt o. J.); Wolfgang Hochheimer, Probleme einer politischen Psychologie (in: Psyche, Heft 1/1962); Walter Jakobsen, Ein Leck in den Bemühungen um politische Bildung (in: Die deutsche Schule, Heft 12/1962); Hanna Schlette, Brauchen wir eine politische Psychologie? (in: Gesellschaft-Staat-Erziehung, Heft 2/1963).

Die Überlegungen dieses Kapitels sollten zeigen, daß die politische Didaktik die bestehenden Schul- und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einfach voraussetzen darf. Täte sie dies, so wäre sie selbst nichts mehr als eine Schaltstelle im blinden und bewußtlosen Funktionsablauf der Gesellschaft. Kritik der Schule und Kritik der Gesellschaft sind die unausweichlichen Konsequenzen, wenn sie das Problem der politischen Lehrinhalte untersucht.

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Das Problem der Zielsetzung: Politische Aktivität

Bis jetzt haben wir so getan, als ob über die Zielsetzung des politischen Unterrichts grundsätzliche Einigkeit bestünde. Sieht man sich daraufhin Lehrpläne und Richtlinien an, so wird man in der Tat überall ähnliche Formulierungen finden: Der junge Staatsbürger soll befähigt werden, aktiv an den Aufgaben des Staates mitzuwirken. Daß aber eine solche Einigkeit nur deshalb vorgetäuscht werden kann, weil die Zielsetzung genügend abstrakt formuliert ist, ist schon eine Erkenntnis der bisherigen Überlegungen. In Wahrheit ist das Einverständnis darüber, was Demokratie sei und welche Aufgaben jeder Staatsbürger in ihr habe, gar nicht so groß, und es wird um so geringer, je konkreter die Probleme werden. Es kommt unter anderem entscheidend darauf an, an welchem Punkt des geschichtlichen Prozesses man das Verständnis von Demokratie ortet; denn von den aufklärerischen Klassikern des 18. Jahrhunderts bis in die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts ist ein weiter Weg mit vielen einzelnen Stationen, von denen jede noch mehr oder weniger stark im Bewußtsein ist. Es geht also um eine Art "politische Anthropologie", deren historische Problematik wir hier auf sich beruhen lassen müssen. Wir sind diesem Problem schon bei der Kritik der Saarbrücker Rahmenvereinbarung begegnet. Schon dort wurde deutlich, daß die Stoffülle um so mehr wächst und daß die Lehrinhalte um so abstrakter werden, je weniger Klarheit über die Zielvorstellung besteht. Dann geht es der Schule wie dem König Midas: Was immer ihr unter die Hände gerät, verwandelt sich zwar nicht in Gold, aber in Lehrstoff. Tatsächlich hängt die oft beklagte Stoffülle wesentlich damit zusammen, daß man nicht weiß, was man will. So meint Kurt Sontheimer: "Die Ziele unserer politischen Bildungsarbeit sind sehr hoch gesteckt; sie richten sich auf einen Staatsbürger, der die politische Klugheit eines erfahrenen Staatsmanns und Politikers verbindet mit der Weisheit des

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Philosophen und den Kenntnissen des modernen Gesellschaftswissenschaftlers" (124, S. 82). Diese Ironie scheint nicht unberechtigt, wenn man liest: Ziel des politischen Unterrichts in der Schule sei "Deutung und Ergänzung der Erfahrungen, welche die Schüler selbst machen, der Erkenntnisse, die ihnen aus allen Fächern zuwachsen; die bewußte Realisierung der sozialen Umgebung; die Erschließung der politischen Wirklichkeit, die ihnen entgegentritt und in der sie sich zu bewähren haben werden; ist die Vorbereitung der politischen Reife, der politischen Urteilskraft, ohne die keine freiheitliche Ordnung auf die Dauer und über politische und wirtschaftliche Krisen hinweg bestehen kann. Dazu gehören sachliche Information, Orientierung, Entwicklung von Maßstäben für praktisches politisches Verhalten" (Messerschmid, 89, S. 123). Bergstraesser geht noch weiter. Der "urteilsfähige politische Zeitgenosse" müsse "imstande sein, mit anderen Staatsbürgern und gleichsam für den handelnden Staatsmann die Entscheidung auf die Zukunft hin vorauszudenken" (9,S.78).

Übereinstimmung in den zielkritischen Überlegungen zur politischen Bildung besteht sicher darin, daß die politische Bildung den Staatsbürger zu einer vernünftigen und verantwortungsvollen politischen Aktivität befähigen müsse. Aber was heißt "politische Aktivität"? Soll der Bürger sich um alle politischen Maßnahmen und Entscheidungen sachverständig kümmern, ob sie nun die Gemeinde oder den ganzen Staat betreffen? Dies würde bedeuten, daß jeder Bürger jederzeit einen verantwortlichen Politiker vertreten können müßte. Faßt man den Begriff der politischen Aktivität so weit, so könnten die Bürger nichts anderes mehr tun, als sich um Politik zu kümmern. Um dazu fähig zu; sein, müßten sie außerdem mindestens zehn Jahre in die Schule gehen und dort ausschließlich in politischen Stoffen unterrichtet werden. Das wäre also ein nicht realisierbares Wunschbild. Oder soll politische Aktivität heißen, daß man den größten Teil der politischen Arbeit den Berufspolitikern überläßt und sich als politi-

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scher Laie lediglich um die wenigen großen und wichtigen Entscheidungen kümmert? Davon gibt es immer nur wenige, vielleicht fünf bis zehn in einem Jahr. Dann aber muß man sich von der gerade in der Pädagogik so beliebten Vorstellung lösen, die politische Verantwortung stufe sich vom überschaubaren Raum der Gemeinde bis hin zum ganzen Staat. In der Gemeinde fallen nämlich fast keine wichtigen politischen Entscheidungen mehr.

Die Kontroverse zwischen Wilhelm Hennis und Andreas Flitner

Die Kontroverse zwischen Wilhelm Hennis und Andreas Flitner wirft gleichsam exemplarisch ein Licht auf diese Schwierigkeit. Hennis hat eine Reihe von Erziehungsmodellen, die er in der politischen Pädagogik zu finden glaubte, kritisiert. Er hält sie samt und sonders für unrealistisch. Seine Hauptthese ist: "Die Parteien, Verbände und Kommunen sind in der Gestalt, wie sie heute dem einzelnen gegenübertreten, unmöglich mehr als vermittelnde Zwischengewalten ... zu verstehen. Die Bewältigung des unvermittelten Gegenübertretens von einzelnem und Herrschaft ist sowohl verfassungspolitisch wie pädagogisch eine der dringlichsten Aufgaben der Zeit" (53, S. 333). Vor allem die ständige pädagogische Forderung nach politischer Aktivität der Bürger findet mit überzeugenden Verweisen auf die jüngste Vergangenheit seine Kritik: "Die Aufgabe des Lehrers in der Schule ist nicht unmittelbar Erziehung zur rechten Aktion, sondern zur rechten Reaktion" (S. 338). Ähnlich argumentiert Kurt Sontheimer (123). Auch Waldemar Besson stimmt in diese Kritik ein: Der Bürger könne sich nicht als einzelner, sondern nur als Glied einer Gruppe, die ihm Solidarität gewährt, politisch beteiligen. Insofern sei die Forderung nach der "politisch-mündigen Persönlichkeit" ein "tiefes Mißverständnis". Sie "trifft in unserer sozialen Wirklichkeit auf keinen entsprechend erziehbaren Menschen mehr. (Sie) verharm-

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lost die tatsächliche dämonische Bindung des Menschen an die technische Welt und erweckt in den also Betrogenen falsche Hoffnungen" (14, S. 304). Weder Besson noch Hennis glaubt also an eine stufenweise Mitwirkung des Bürgers, die sich von einfachen zu komplizierten Verbänden und schließlich auf das Staatsganze hin erstreckt.

In der Kritik an Hennis ist Andreas Flitner genau entgegengesetzter Meinung: "Jeder Verband kann durch Forderungen, durch Opposition, durch Meinungsbildung aus seinen sozialen Zwecken oder Interessen zu einem politischen Faktor werden im Kleinen oder im Großen. Die politische Wirklichkeit ist eine unendlich differenzierte, sie schießt aus einer Fülle von Rinnsalen und Bächen zusammen" (37, S. 450). Die politische Wirklichkeit dürfe nicht allein den Maßstab des politischen und pädagogischen Handelns abgeben. "Wir können nicht wissen, was aus den gegenwärtigen Tendenzen und was vielleicht aus einem erzieherischen Gegenstreben wird. Wir müssen vielmehr festhalten an dem, was wir erzieherisch und in unserem politisch-öffentlichen Leben erreichen wollen" (S. 451).

Damit hat Flitner aber das entscheidende Argument von Hennis nicht getroffen. Hennis hält diese pädagogische Forderung ja gerade deshalb für unrealistisch, weil selbst in den kleinsten gesellschaftlichen Verbänden, auf deren Hilfe der einzelne für seine politische Beteiligung angewiesen ist, der Bürger schon unvermittelt einer Form von Herrschaft gegenübersteht. Diesen Einwand konnte Flitner nicht widerlegen. Stattdessen zieht er sich auf das subjektive Ethos des Erziehers zurück. Er wendet sich dagegen, daß Hennis, anstatt Modelle überhaupt zu vermeiden, nur ein neues Modell angeboten habe. "Erziehen, das heißt nun ein für allemal nicht in bestimmte Formen gießen, nach bestimmten Bildern modellieren, zu festgelegten Positionen führen, Erziehen heißt vielmehr, sich mit den jungen Menschen unter Ansprüche zu stellen, ihnen begegnen innerhalb eines Werthorizontes, sie zu gewinnen und aufzuschließen für das, was für den Erzieher

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besteht und gilt, was ihn selber angeht und was ihm wertvoll ist. Erziehen läßt sich nicht zu diesen oder jenen Zielen hin ... . So wird ein Erzieher nie mehr bieten können, als er selbst glaubhaft repräsentiert" (37, S. 451).

So wichtig gerade im Zusammenhang der politischen Bildung dieser Appell an die Erzieher sein mag, so wenig kann zweifelhaft sein, daß Hennis eben gerade das kritisiert, was empirisch feststellbar die Erzieher "glaubhaft repräsentieren". Das sind nämlich notwendigerweise Vorstellungen, Bilder der gesellschaftlichen Wirklichkeit und Möglichkeit. Sie müssen zwar nicht voll mit der gesellschaftlichen Realität übereinstimmen, wenn sie aber nicht übereinstimmen, dann muß man doch fragen, ob sie grundsätzlich, das heißt nach der Änderung des Änderbaren, zu verwirklichen sind. Genau dies hat Hennis mit seiner These vom unvermittelten Gegenübertreten von einzelnem und Herrschaft überzeugend bestritten. Wenn die politische Pädagogik hier unrealistisch verfährt, so gilt das Bedenken, das Siegfried Landshut für diesen Fall angemeldet hat: "Wenn aber der Jugendliche merkt, daß diese Darstellung gar nicht mit der Realität übereinstimmt, so hat die Pädagogik das Schlimmste angerichtet, was sie anrichten kann. Zwei Gefahren, die damit verbunden sind, müssen unbedingt verhindert werden. Einmal die, daß der Jugendliche gerade durch diese Darstellung dazu verleitet wird, sich abseits zu stellen mit der Bemerkung, daß ja alles Schwindel sei. Zum anderen die Gefahr, die uns in der Vergangenheit eigentlich alles gekostet hat, daß die Vorstellung entsteht, diese Welt könne durch einen bisher noch nicht entdeckten Trick geändert werden und es gäbe etwas, durch das man alles verbessern kann ... . Es ist die Aufgabe, pädagogisch zu erreichen, daß das Bewußtsein nicht mit solchen Gedanken spielt" (76, S. 315). Das Dilemma, das sich hier einstellt, daß nämlich trotz aller Bemühungen der politischen Bildung sich zunehmend eine Gesellschaft bildet, die - ohne kontinuierlichen Übergang - zwischen politischen und gesellschaftlichen Machtträgern auf der einen und der Masse der Bürger auf der

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anderen Seite eine scharfe Trennung vollzieht, ist auch Hennis bewußt geworden: "Alle politische Erziehung muß auf lange Sicht scheitern, wenn die Realität unseres Verfassungslebens nicht eine reale Möglichkeit der Mitbestimmung zuweist". Der dafür gegebene Rahmen beschränke sich auf die politische Wahl. Korrekturen der Verfassungswirklichkeit vorzunehmen, sei nicht Aufgabe des politischen Unterrichts. "Diese Forderung lebendig zu machen, sollte man ihm allerdings nicht verwehren" (53, S. 339).

Politische und pädagogische Bedeutung der politischen Aktivität

Die hier zitierten Stellungnahmen politischer Wissenschaftler zeigen, wie sorgsam die politische Pädagogik über ihre Zielvorstellung nachdenken muß. Das Ergebnis dieser Kritiken läßt sich in folgenden Thesen zusammenfassen:

1. Der Vorwurf, nicht realisierbare Erziehungsziele aufzustellen, muß ernsthaft bedacht werden. Wenn im politischen Unterricht Sein und Seinsollen so weit auseinanderfallen, daß das eine im anderen nicht mehr wiederzuerkennen ist, büßt er jede vernünftige Wirkung ein. Andererseits ist nie ganz ausgemacht, was in Zukunft politisch verwirklicht werden kann. Die Spannung zwischen dem Wünschbaren und dem Möglichen, die Politik kennzeichnet, kennzeichnet auch das politische Bewußtsein. Genau wie in der Politik selbst dabei das Wünschbare das gegenwärtig Mögliche immer übersteigt, kann und muß die Zielsetzung der politischen Bildung das übersteigen, was gegenwärtig realisierbar erscheint. Daß heute die Chancen eines politischen Einflusses der Vielen denkbar gering sind, sagt nichts gegen die Vernünftigkeit des Postulats, diese schlechte Wirklichkeit zu verbessern. Allerdings muß mit Unterstützung der politischen Wissenschaften immer sorgfältig geprüft werden, was tatsächlich veränderbar ist. Das unvermittelte Gegenübertreten von einzelnem und

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Herrschaft z. B. ist offensichtlich nicht zu ändern. Wenn die politische Pädagogik das ignoriert, kann sie großen Schaden anrichten.

Auch die Mitgliedschaft in einer politischen Partei oder die aktive Mitwirkung in einem Interessenverband heben dieses Problem nicht auf. Hier wiederholt es sich vielmehr nur auf neuer Ebene; denn auch in einer Partei haben die Mitglieder nicht gleiche Chancen gegenüber dem Parteiapparat, der nötig ist, um das Parteivolk zu einer einheitlichen Willensbildung zusammenzufassen. Die Kanäle von unten nach oben sind weniger durchlässig als die von oben nach unten. Die hauptberuflichen Funktionäre der Apparate sitzen immer am längeren Hebel, während die Mitglieder Politik nur in ihrer Freizeit treiben können. Wenn man schon Jugendliche im Unterricht animiert, einer solchen Gruppe beizutreten, dann darf die Aufklärung über diese Zusammenhänge nicht fehlen. Betrachtet man also die Mitwirkung von Jugendlichen in politischen Erwachsenenverbänden unter dem Aspekt der politischen Wirksamkeit, der Verwirklichungschance der eigenen Meinung und des eigenen politischen Willens, so kann den zitierten politikwissenschaftlichen Stellungnahmen nur Recht gegeben werden. Dennoch kann eine solche Beteiligung pädagogisch sinnvoll sein, insofern nämlich die Mitwirkung unter dem Gesichtspunkt des sozialen Lernens gesehen wird. Sie öffnet dann zweifellos den Blick dafür, wie es etwa in der Ortsgruppe einer politischen Partei zugeht und warum es so und nichts anders zugeht. Solche Erfahrungen kann der Unterricht nicht vermitteln. Sie können zu einer heilsamen Ernüchterung gegenüber dem Politischen führen. Die Mitwirkung kann aber auch dazu verleiten, daß der Jugendliche frühzeitig in den politischen Organisationen verbraucht wird und seine kritische Bewußtheit in einem Alter verliert, wo sie sich am wirksamsten aufbauen könnte.

2. Die politische Pädagogik hat keinerlei Legitimation, zu bestimmten politischen Aktivitäten zu ermuntern, weil es ihr um Lernen geht und nicht um Wirksamkeit und weil

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ihr die Quellen, aus denen eine politische Entscheidung im Einzelfalle fließt, zum größten Teil gar nicht zur Verfügung stehen. Indem es ihr aber darum geht, die je subjektive Befindlichkeit der einzelnen mit den objektiven Gegebenheiten von Staat und Gesellschaft in Beziehung zu setzen, legt sie unter Umständen Loyalität zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen nahe. Wer etwa politische Bildungsarbeit mit Lehrlingen treibt, kann ihnen nicht einreden, daß ihre politischen Interessen von Unternehmerverbänden vertreten würden. Wenn der Zusammenhang zwischen subjektiver Situation und objektiven Gegebenheiten richtig interpretiert wird, so folgt daraus der naheliegende Gedanke, daß es vor allem die Gewerkschaft ist, bei der Solidarität für das eigene politische Interesse gesucht werden muß. Eine falsch verstandene Unparteilichkeit des politischen Unterrichts ist in Wahrheit parteilich für diejenigen, die ohnehin an der Macht sind.

3. Gegenüber den sekundären Systemen der Gesellschaft ist der Appell zur Aktivität nur mit äußerster Zurückhaltung zu vertreten. Worauf es dem politischen Unterricht ankommen muß, ist das Üben des politischen Urteils an Ernstfragen des öffentlichen Lebens. Dabei muß sich die politische Pädagogik vor allem wieder mit dem Aktivitätsgehalt des Denkens befreunden. Unsere Skizzierung der Spiegel-Kontroverse hatte gezeigt, daß das in der Auseinandersetzung damit gewonnene Bewußtsein breiter Massen auch dann einen hohen Aktivitätsgrad hatte, wenn es sich gar nicht weiter in konkreten Maßnahmen äußerte. Je mehr sich in den Menschen eine politische Bewußtheit bildet, die den Sachverhalten angemessen ist und die die normativen Implikationen der demokratischen Staatsform verstanden und sich zu eigen gemacht hat, um so stärker wird dieses Bewußtsein selbst zu einer Art "passiver Aktivität", insofern es sich nichts vormachen läßt und die politischen Akteure zwingt, bestimmte Dinge nicht zu tun. Hennis Vorschlag, den vernünftigen politischen Reaktionen größeres Gewicht beizumessen, scheint mir daher ein sehr realistischer Vorschlag zu sein.

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4. Die politische Pädagogik muß ernst nehmen, daß die Gesetze der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auch die Politik betreffen. Sie darf nicht wegen der Überschaubarkeit und Geschlossenheit einfacher politischer Modelle so tun, als ob Politik heute wirklich noch nebenamtlich gemacht werden könnte. Politik ist über weite Strecken ein Geschäft, das nur noch von Fachleuten wirklich geleitet werden kann. Deshalb können auch die einzelne politische Maßnahme oder der einzelne Gesetzgebungsvorgang nicht mehr von den Bürgern mitkontrolliert werden. Worauf es ankommt, ist, zwischen den routinemäßigen und relativ belanglosen politischen Maßnahmen und Konflikten und den wirklich wichtigen unterscheiden zu lernen. Man sollte die jungen Bürger von Anfang an ermuntern, ihr politisches Engagement auf solche wichtigen Probleme zu konzentrieren und dieses nicht in Aktivitäten zu investieren, die sie nur unentwegt frustrieren müssen und bei denen es genau gesehen auch um nichts Wichtiges geht. Man sollte den Jugendlichen nicht einreden, in der Schülermitverwaltung oder in einer freien Jugendgruppe würde gleichsam exemplarisch Politik gelernt und dieses Modell sei auf die politische Gesellschaft übertragbar. Man könnte auf diese Weise vorhandene politische Energien sinnlos verbrauchen, so daß sie in politischen Ernstfällen dann nicht mehr zur Verfügung stehen.

Das heißt nun keineswegs, daß es überflüssig ist, den Jugendlichen in den von der Gesellschaft dafür freigelassenen Räumen Möglichkeiten der Mitbestimmung und der Selbstverwaltung einzuräumen. Wenn man in Schulen die Jugendlichen in geordneter Weise mitwirken läßt, dann geht es vor allem darum, sie als Partner ernst zu nehmen. Dazu gehört das Eingeständnis, daß Jugendliche bestimmte Bedürfnisse, Wünsche und Interessen haben, die nicht mit denen der Pädagogen übereinstimmen und auf deren Berücksichtigung sie gleichwohl einen Anspruch haben. Wird dieses Recht im unmittelbaren Umgang nicht ernst genommen, dann kann auch nicht erwartet werden, daß Jugendliche die abstrakte Gesellschaft daraufhin be-

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fragen, welche Rechte und Pflichten sie bereit hält. Wird das freiheitliche Menschenbild, das unsere Verfassung für die politische Gesellschaft vorschreibt, im unmittelbaren Umgang des Alltags außer Kurs gesetzt, so muß es gerade den Jugendlichen auch für die Bereiche der Politik als unwichtig, wenn nicht gar heuchlerisch erscheinen Politisches Lernen ist eben nicht nur auf rationale Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge beschränkt. Es enthält zahlreiche weitere Voraussetzungen, unter anderem die, daß der Lernerfolg durch Anerkennung von außen belohnt wird. Wo selbständiges Urteil, Aktivität des Denkens, Vorschläge zur Gestaltung der alltäglichen Umgebung, Kritik gegenüber dem, was man vorfindet, nicht honoriert werden - und sei es auch nur in Form der sorgsam begründeten Ablehnung - , da wird auch das politische Selbstbewußtsein des Jugendlichen schon demontiert, bevor es sich noch recht aufhauen konnte. Die Kooperation zwischen einander ernst nehmenden Partnern in der Schule ist nicht schon deshalb verdächtig, weil es sich nicht um Politisches handelt, das dabei geregelt wird.

"Politische Beteiligung" als Zielbegriff

Die Überlegungen dieses Kapitels lassen es ratsam erscheinen, für die Zielsetzung der politischen Erziehung und Unterrichtung einen Begriff zu wählen, der sprachlich und geschichtlich nicht allzu sehr belastet ist. Ich schlage dafür den Ausdruck "politische Beteiligung" vor. Der Begriff "politische Bildung" ist - je nach den Vorentscheidungen beim Begriff "Bildung" - zu eng oder zu weit. Außerdem ist er philosophisch und emotional so aufgeladen, daß er, wie wir vorhin gesehen haben, den Blick für das hier Notwendige eher verdunkelt als erhellt. Der häufig verwandte Ausdruck "politische Mündigkeit" hat zwei Mängel. Mit "Bildung" hat er die Grundannahme vom isolierbaren Individuum gemeinsam. "Gebildet" und "mündig" ist der einzelne als einzelner. Wie wir sehen,

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hat Waldemar Besson das für den Bereich der Politik ein "tiefes Mißverständnis" genannt. Diese Schwierigkeit ließe sich vielleicht durch geeignete Interpretation bereinigen. Es kommt aber noch hinzu, daß der Begriff "Mündigkeit" in der Neuzeit immer ein pädagogisch-ideologischer Kampfbegriff gegen bestimmte gesellschaftliche Teilgruppen war, denen man zu Recht oder zu Unrecht unterstellte, sie wollten die Menschen unmündig halten. "Mündigkeit" war die pädagogische Variante des allgemeinen Kampfes um Demokratisierung. Obwohl zweifellos der Demokratisierungsprozeß noch keineswegs zum Abschluß gekommen ist - und insofern der Begriff "Mündigkeit" weiterhin eine gewisse Berechtigung hat - , sollte man in grundsätzlichen Zusammenhängen der politischen Didaktik einen Zielbegriff wählen, der von den Grundlagen unserer Verfassung ausgeht und nicht primär von den Kampfprozessen, die zu dieser Verfassung geführt haben. "Politische Beteiligung" ist ein jedem Bürger von der Verfassung verliehenes Recht, es ist grundsätzlich dem Streit der Parteien enthoben. Wer jemandem dieses Recht streitig macht bzw. die für die Wahrnehmung dieses Rechtes unerläßliche Erziehung und Unterrichtung verweigert, verstößt gegen den Geist der Verfassung. Es handelt sich hier also nicht einfach um einen Austausch der Worte, sondern der Begriff "politische Beteiligung" deckt einen ganz anderen Sachverhalt, der von den Begriffen "Bildung" und "Mündigkeit" nicht erreicht wird.

Das Problem der Stoffauswahl

Alle bisher behandelten Brennpunkte der Diskussion zwischen Politik und Pädagogik bestimmen das Problem der Stoffauswahl mit. Vielleicht zeigt sich hier am deutlichsten, wie unsicher die pädagogische Praxis wird, wenn sie sich nicht an einem überzeugenden theoretischen Rahmen orien-

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tieren kann. Es lassen sich~ kaum überzeugende Prinzipien für die Auswahl der politischen Stoffe ermitteln. Sie wurde weitgehend von der politischen Praxis her entschieden, so wie Behörden und Lehrer sie verstanden. Lange Zeit diktierten "unbewältigte Vergangenheit" und "Kommunismus" die Stoffpläne. Dabei gerieten Probleme der eigenen Gesellschaft, also innenpolitische Fragen, immer mehr aus dem Blick. Nun ist Schutz vor totalitären Angriffen mit Recht eines der wichtigsten Interessen der Gesellschaft an der politischen Bildung ihrer Bürger. Aber es war immer schon fraglich, ob ein solcher Schutz wirklich in der Behandlung von politischen Stoffen liegen kann, die nicht unmittelbar die eigene Gesellschaft betreffen. An welche Adresse in unserer Demokratie soll sich denn ein Bewußtsein richten, das sich gegen den faschistischen und kommunistischen Totalitarismus entschieden hat? Erzieht man auf diese Weise nicht von vornherein zu einem unpraktischen, deklamatorischen und abstrakt moralisierenden Denken?

Das "Demokratie-Diktatur-Modell"

Demokratische politische Entscheidungen aus dem negativen Gegenbild totalitärer Politik zu bestimmen, spielt bis auf den heutigen Tag eine überragende Rolle in den politischen Unterrichtsbemühungen unserer Schule. Charakteristisch dafür ist die didaktische Konzeption von Fischer/Herrmann/Mahrenholz (34): "die politisch-existentielle Alternative der Epoche lautet Demokratie oder Diktatur. Wir haben keine andere Wahl" (S. 93). Aus diesem Ansatz entwickeln die Verfasser neun Grundeinsichten, die im politischen Unterricht vermittelt werden sollen. Diese "Grundeinsichten" seien in allen politischen Stoffen wenigstens teilweise enthalten. Da sie aber das eigentliche Ziel des politischen Unterrichts sind und da sie andererseits allen politischen Stoffen angeblich immanent sind, geben sie folgerichtig schließlich kein Prinzip für die Stoffaus-

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wahl mehr her: "Die Stoffe sind auswechselbar. Sie sind Mittel zum Zweck" (S. 84).

Dieser Satz zeigt, daß es sich bei dieser Konzeption trotz vieler praktischer Einfälle um die konsequenteste Anwendung der überlieferten Bildungsideologie auf die Politik handelt. Die realen politischen Sachverhalte und Kontroversen sind hiernach uneigentlich, bloßes Material für den Kosmos der je individuellen Bildung. Der Mensch ist zusammengeschrumpft auf ein Einsichten produzierendes und konsumierendes Wesen. So konnten die Einwände nicht ausbleiben. Heinrich Weber kritisierte, daß die neun Grundeinsichten, die beim politischen Unterricht immer wieder reproduziert werden sollen, nicht weiter begründet werden, so daß sie sich als didaktische Prämissen erweisen. Außerdem widersprächen die von den Verfassern am Schluß ihres Buches gegebenen Unterrichtsbeispiele ihrer eigenen Theorie; denn sie seien nur mit einiger Gewalt aus dem konkreten Stoff zu erzielen (136, S. 434f.). Theodor Wilhelm machte anthropologische Einwände geltend. Die Verfasser hätten nur die rationale Seite des Lernens gesehen; es müsse aber zweifelhaft bleiben, ob diese Grundeinsichten ohne emotionales Engagement, das heißt ohne daß sie als Ergebnis einer persönlich erlebten Verlegenheit sich anböten, im Gedächtnis haften blieben (149, S.444).

Wie unpolitisch diese Konzeption ist, zeigen die Unterrichtsbeispiele in der Tat am deutlichsten. Sie beziehen sich nicht zufällig ausnahmslos auf Gegenstände, die der aktuellen Auseinandersetzung weitgehend enthoben sind, und wo dennoch zeitnahe Materialien verwendet werden, erweist sich das Verfahren als sehr problematisch. Lediglich als Einstiege werden aktuelle Bezugspunkte zugelassen, und sie gelten dabei als ebenso austauschbar wie die Stoffe selbst. Nur vordergründig handelt es sich bei diesen Grundeinsichten also um Prinzipien der Stoffauswahl. In Wirklichkeit werden die politischen Stoffe - auch wenn es sich dabei um Fragen der aktuellen Politik handelt - formalisiert.

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Diese Probleme stellen sich immer ein, wenn man die Lehrinhalte vom Gegenbild des Totalitarismus her zu bestimmen versucht. Dagegen hat vor allem Hans Tietgens grundsätzliche Bedenken angemeldet. Dieses Verfahren, so meint er, führe zur Herauskristallisierung klarer, alternativer Modelle. Die Tatsache der Problemverschränkung käme aber dabei aus dem Blick, Wirklichkeitssinn und Differenzierungsfähigkeit könnten sich nicht entwickeln. Ein solcher Unterricht mache schließlich sich unglaubwürdig, weil er in einer Sphäre des "Als-Ob" stattfinde. "Dadurch mehren sich die Verdachtsmomente, mit einer Fassade des Grundsätzlichen solle eine Praxis getarnt werden, die diesen Grundsätzen nicht entspricht" (131, S. 301). Außerdem hat Martin Greiffenhagen (43) nachdrücklich davor gewarnt, Nationalsozialismus und Kommunismus unter dem Begriff des "Totalitarismus" im politischen Unterricht gleichzusetzen. Im Unterschied zum Nationalsozialismus gebe es im Kommunismus den Unterschied von Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit, Gegenwart und Zukunft. Insofern das politische Handeln der Kommunisten auf rationale Argumentation nicht verzichte, sei eine Auseinandersetzung mit ihnen durchaus möglich, während der voraufklärerische politische Irrationalismus der Nationalsozialisten nur eine Aufarbeitung zulasse. Die Identifizierung beider politischer Ideologien führe notwendig zu einer Position, die zu einem gegen den Kommunismus gerichteten Bündnis mit den Nationalsozialisten tendiere.

Vor allem in den Gymnasien hat das Totalitarismusmodell eine nachhaltige Wirkung auf den politischen Unterricht ausgeübt. Es erlaubte, die politischen Sachverhalte auf eine Weise zu systematisieren, die den konkreten innenpolitischen Gegnerschaften nichts anhaben konnte. Zugleich ermöglichte es, die überlieferte Bildungsvorstellung auch in den politischen Unterricht hineinzuholen und diesen damit in der Schule hoffähig zu machen. Aber ein der Sache Politik angemessenes Prinzip der Stoffauswahl war damit nicht gefunden.

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Die exemplarischen Stoffe

Die Stoffauswahl und Stoffbeschränkung so vorzunehmen, daß man nur das behandelt, was "exemplarisch" für einen größeren Umkreis von Stoffen ist, ist bisher für den Bereich der politischen Bildung nie systematisch versucht worden. Von Anfang an ist die "exemplarische Methode" für alle geisteswissenschaftlichen Fächer problematisch geblieben (vgl. Scheuerl, 116). Im Falle des politischen Unterrichts ist das exemplarische Verfahren mehrfach zurückgewiesen worden. So meint Heinrich Weber, daß man erst dann entscheiden könne, welche Gegenstände für welche anderen stellvertretend oder repräsentativ sind, wenn der ganze Sachbereich der Erkenntnis erschlossen ist; das aber sei bei der Politik offensichtlich niemals der Fall (137). Theodor Wilhelm meldet ebenfalls Bedenken an: "Die Grundstruktur der Gesellschaft ist nicht logisch, sondern geschichtlich. Mit dem reinen Fall ist in der politischen Elementarlehre so wenig anzufangen wie im Geschichtsunterricht" (151, S. 38). Auch H. H. Groothoff äußert sich skeptisch: "Die Elementarisierung des Politischen bringt die Gefahr mit sich, einen Teil für das Ganze zu halten und somit das Ganze ein für allemal zu verfälschen" (44, S. 289).

Zusammenfassung und Übergang

Die Antworten auf die doch alles entscheidende Frage nach der Stoffauswahl sind also recht dürftig. Gewiß ist politische Bildung immer auch Teil der allgemeinen politischen Praxis einer Gesellschaft; insofern sind die politischen Aktualitäten, die diese Gesellschaft ernsthaft beunruhigen, auch die entscheidenden Stoffe für den politischen Unterricht. Aber sie können von sich aus doch wohl nicht schon den Horizont liefern, innerhalb dessen zwischen "wichtig" und "weniger wichtig" und zwischen "richtig" und "weniger richtig" unterschieden werden kann. Dazu bedarf es

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über die aktuelle Ernstlage hinaus einer strengen theoretischen Reflexion über den politisch-historischen und anthropologischen Zusammenhang solcher Stoffe.

Gewiß ist es lebenswichtig für unsere Gesellschaft, sich kommunistischer und faschistischer Bedrohung zu erwehren; insofern gehören die modernen "Totalitarismen" zum unbestreitbaren Stoff politischen Lernens. Aber die Regierungen, die wir zu kontrollieren haben, sind keine kommunistischen und faschistischen, sondern demokratische, und das, was wir an ihnen zu kritisieren haben, kann nur sehr entfernt mit dem zusammenhängen, was wir über die Politiker der DDR oder über die sowjetische Wirtschaftsplanung denken.

Gewiß kann man zwischen "wichtigen" und "weniger wichtigen" politischen Stoffen unterscheiden; aber man kann das nicht auf dem Wege des "exemplarischen Verfahrens", das außerhalb der naturwissenschaftlichen und mathematischen Stoffe bisher nirgends überzeugte. Man könnte es wohl nur dann, wenn man mit politischen Kategorien politische Analysen vornähme. Gewiß kann man bis zu einem gewissen Grade Stoffpläne durch Experten aufstellen lassen. Aber man muß dann vorher entscheiden, wo die Grenze dieses Verfahrens liegt: Philosophische Probleme können nach wie vor nur durch Nachdenken gelöst oder geklärt werden, nicht durch Kommuniques von Experten.

Weder die bloße, nicht weiter reflektierte politische Praxis noch das "Demokratie-Diktatur-Modell", weder das "exemplarische Verfahren" noch Expertenkonferenzen sind in der Lage, das Problem der politischen Lehrinhalte überzeugend zu lösen. Angesichts des jahrelangen, kaum noch zu übersehenden publizistischen und finanziellen Aufwandes um die politische Bildung muß dieses magere Ergebnis doch sehr nachdenklich stimmen. Man muß sich doch fragen, was man in der Schule, in der Erwachsenenbildung und in der außerschulischen Jugendarbeit in all den Jahren eigentlich gemeint hat, wenn man "politische Bildung" betrieb.

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Wenn man den Gründen dafür nachgeht, weshalb unsere Pädagogik an dem Phänomen "Politik" so offensichtlich gescheitert ist, so bieten sich manche Erklärungen an: die mangelnde demokratische Tradition in unserem Land; die politischen Belastungen durch die "unbewältigte Vergangenheit" und die deutsche Teilung; die psychologischen Mängel der "reeducation" oder auch die unmittelbaren und sehr handfesten Sorgen der westdeutschen Nachkriegsentwicklung. Aber diese zweifellos vorhandenen Belastungen gelten doch nicht nur für die theoretische Pädagogik, sondern ebenso sehr auch für andere Fachwissenschaften, deren Gegenstand die Politik ist. Woran liegt es, daß die überzeugendsten Beiträge zur theoretischen Klärung unseres Themas nicht von der Erziehungswissenschaft, sondern von den anderen Fachwissenschaften kamen? Ist die Erziehungswissenschaft vielleicht von einer besonderen "Betriebsblindheit" befallen, die sie daran hindert, ihren politischen Aufgaben unbefangen gegenüberzutreten?

Die Antwort auf diese Frage wird wohl in der Richtung zu suchen sein, in die sie schon Oetinger in seinem Partnerschaftsbuch von 1951 verwies: in der Kritik an der deutschen Bildungstradition und damit an der Tradition der deutschen Pädagogik selbst.

Mindestens drei allgemeine, formale Mängel machen die Bildungstheorie unfähig, sich dem Problem der politischen Beteiligung zu öffnen.

1. Die herrschende deutsche Bildungsideologie - gleich welcher Variation - ist viel zu abstrakt, als daß sie die Praxis von Politik und Pädagogik überzeugend erreichen könnte. Gerade die "klassischen" Beiträge zu unserem Problem - von Theodor Litt, Eduard Spranger und Erich Weniger - , die auf den ersten Blick scheinbar einleuchtende theoretische Klärungen bringen, sind in einem solchen Maße "praxis-indifferent", daß aus ihnen fast beliebig viele und gegenteilige Folgerungen gezogen werden können. Die Praktiker der politischen Bildung - trotz der anspruchsvollen "Grundsatz-Literatur" derart auf sich selbst verwiesen - machen sich entweder ihren eigenen

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Vers auf ihre Aufgabe, oder sie durchbrechen wie Wolfgang Hilligen (58) und Joachim Rohlfes die Schallmauer ihres beruflichen Alltags, indem sie von den Schwierigkeiten ihrer Unterrichtsarbeit her beachtliche didaktische Ansätze wagen. Die "übergreifenden geistigen Gehalte" der neuen "Gemeinschaftskunde" stehen ebenso erhaben über den ernsten politischen Auseinandersetzungen wie die "Bildung" insgesamt über den wirklichen Sorgen der wirklichen Menschen.

2. Im Begriff "Bildung" steckt immer ein harmonistisches Grundmodell vom menschlichen Leben. Selbst dort, wo man von "Konflikten" spricht oder gar pathetisch von der "Tragik des Daseins", meint man das im Grunde nur abstrakt. Hier verrät sich, daß die heute herrschende Bildungsvorstellung - und nur um diese geht es hier - weniger in der Philosophie als vielmehr in deren heruntergekommener Schwester, der Weltanschauung, ihren Ursprung hat. Sobald es nämlich um konkrete Dinge geht wie um Lehrstoffe, da sind die Konflikte vergessen; da sucht man nach einfachen, klaren, in sich stimmenden und möglichst eindeutigen Weltmodellen wie "Heimat", "Demokratie-Diktatur", "Familie" oder "Gemeinde". Die politischen Konflikte als solche ernstzunehmen und nicht nur als "Material" für die unermüdliche Produktion und Reproduktion von "Einsichten", die man aus nicht weiter ersichtlichen Gründen vorher in sie hineinspekuliert hat - dies müßte das weltanschauliche Anliegen der Bildungsideologie sprengen. Daß sich unter dem Begriff der Bildung möglicherweise zutiefst widersprüchliche Unterrichtsaufgaben verbergen - wie Orientierungswissen, Bildungswissen und Aktionswissen - , die nicht einfach auf einen Nenner zu bringen sind, gerät ebensowenig in den Blick wie die andere Erkenntnis, daß man heute für die verschiedenen sozialen Horizonte - Familie, Beruf, Freizeit usw. - sehr Widersprüchliches lernen muß.

3. Die deutsche Bildungsideologie ist eine individualistische Theorie vom Menschen und der Welt. Das treibt sie nicht nur dazu, an der Illusion von der "politisch-mündigen

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Persönlichkeit" festzuhalten und damit die heute einzig erfolgversprechenden kollektiven Formen der politischen Beteiligung zu ignorieren; sie hat vielmehr überhaupt kein Organ dafür, daß Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten nur dann gelernt und verinnerlicht werden, wenn sie sich irgendwo in sozialen Bezügen reproduzieren können. Daß viele Jugendliche - namentlich die berufstätigen - politisch desinteressiert sind, kann die Bildungsideologie allenfalls mit psychologischen oder moralischen Mängeln erklären oder durch den Hinweis auf die erziehungsfeindliche Wirkung der Vergnügungsindustrie; dabei läge es aber näher zu vermuten, daß man außerhalb der Schule politisches Interesse vielleicht gar nicht mehr braucht, um mit anderen Menschen zu kommunizieren.

Vielleicht kommt es heute gar nicht mehr so sehr darauf an, die einzelnen Menschen durch die politische Erziehung im Jugendalter mit einem fragwürdigen weltanschaulichen Kosmos von "Bildungsgütern" auszustaffieren, der als eine Art Kompaß den Rest des Lebens zu steuern vermag. Vielleicht ist es wichtiger, die außerhalb der Schule vorhandenen politischen Informationsmöglichkeiten und Möglichkeiten der politischen Beteiligung souverän handhaben zu lernen: nicht nur eine fragwürdige "politische Weltkunde" abfragbar zu lernen, sondern politische Fernsehsendungen und seriöse Journalistik kritisch handhaben zu lernen; nicht nur Aufsätze über das Wesen der athenischen Demokratie, sondern zum Beispiel Leitartikel über die Spiegel-Affäre zu schreiben, die gegenüber den Klassenkameraden in der politischen Auseinandersetzung "durchgestanden" werden müssen; überhaupt: nicht alles zu lernen, was für das spätere Leben nötig ist, sondern dasjenige, was dazu befähigt, weitere Informationen dann einzuholen, wenn man sie braucht.

Daß die gegenwärtige Bildungstheorie ganz allgemein nicht vermocht hat, überzeugende Vorschläge für die Reduktion der Stoffe zu machen, liegt an ihrer inneren Struktur, deren wesentliche formale Kennzeichen wir eben skizziert haben und die Theodor Wilhelm treffend einen

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"Selbstinduktionskreis" genannt hat. Würde sie "Lernen" als einen lebenslangen Prozeß begreifen, der sich wesentlich in konkreten sozialen Interaktionen und unter souveräner Benutzung der dafür längst vorhandenen Dienstleistungsinstitutionen vollzieht und nur so überhaupt noch vollziehen kann (Massenmedien, Behörden, Beratungsstellen, Erwachsenenbildung usw.), dann würde sie zwar praktikable Kriterien für die Stoffbeschränkung gewinnen, zugleich aber auch ihren weltanschaulichen Anspruch aufgeben müssen. Vor allem müßte sie etwas aufgeben, was ihr gerade in diesem Jahrhundert so wichtig geworden ist: den Kampf gegen die "formale Bildung". Denn die Probleme der politischen Beteiligung lehren uns, daß die intellektuelle und moralische Schärfung der Erkenntnis-, Urteils- und Handlungsinstrumente wichtiger ist als ein Sammelsurium von Stoffen, die erst dann gebraucht werden, wenn sie schon wieder vergessen sind. Wir müssen heute für die Lebensbewältigung so viel wissen, daß wir nur noch sehr begrenzt "auf Vorrat lernen" können. Wenn es nicht gelingt, unser Lernen so ökonomisch zu organisieren, daß wir das meiste uns dann verschaffen, wenn wir es wirklich brauchen, dann werden wir nicht nur an der politischen Beteiligung, sondern auch an allen anderen Lernaufgaben hoffnungslos scheitern. "Lernen" heißt heute nicht zuletzt auch, sinnvoll "vergessen" zu üben. Dies hat aber unweigerlich zur Folge, daß wir die formalen Aspekte des Lernens wieder viel ernster nehmen müssen.

Der Kampf gegen die "formale Bildung" hatte zu Beginn unseres Jahrhunderts einen berechtigten Kern, insofern er sich gegen die alte "Pauk-Schule" wandte. Aber er geriet von Anfang an und bis auf den heutigen Tag in eine Liaison mit der spätbürgerlichen Weltanschauung, von deren falschen Alternativen er seine Munition bezog. "Materiale" kontra "formale" Bildung, Engagement kontra Reflexion, Gesinnung kontra Rationalität, Emotionalität kontra Rationalität, "Ganzheit" kontra Atomisierung, Gemeinschaft kontra Gesellschaft, Bildung kontra Wissen-

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schaft - dies alles waren von Anfang an falsche Alternativen, die dazu dienten, Gesinnungen zu denunzieren, die einem nicht paßten. Als ob irgendjemand ohne Engagement ausdauernd reflektieren könnte, als ob die Leidenschaft zur klaren Rationalität selbst nicht schon eminent emotional wäre! Indem man "Wissenschaft" zu einem Popanz von nur noch messenden und zählenden Intellektuellen stempelte, war die Bahn frei für eine Bildungsvorstellung, in der kritisches und methodisch kontrolliertes Denken schlechthin als Bruch mit der richtigen Gesinnung gelten konnte.

Die gegenwärtige bundesrepublikanische Bildungsideologie hat ihren geschichtlichen Ursprung also viel weniger bei Humboldt und den deutschen Klassikern - wie sie sich das gerne einbildet - als vielmehr in den Weltanschauungslehren der Jahrhundertwende. Gerade dies aber macht sie unfähig und unzuständig zugleich, sich kontrolliert rational auf die Phänomene des Politischen einzustellen, weil doch gerade die Kapitulation davor ein wesentlicher Grund ihrer Entstehung war.

Dieser knappe und gewiß auch wegen seiner Kürze etwas überspitzte Exkurs war nötig, um noch einmal zu erklären, weshalb wir im bisherigen Gang der Überlegungen uns nicht einfach den vorliegenden begrifflichen Orientierungssystemen der Bildungstheorie anvertrauen konnten, sondern - auf Kosten einer klaren Systematik - uns den entscheidenden Problemen der politischen Didaktik von vielen Seiten nähern mußten. Und wenn wir im nächsten Teil des Buches versuchen, die bisherigen Ansätze zu einer didaktischen Theorie der Politik weiter auszubauen und zu systematisieren, so werden wir die Kritik an der deutschen Bildungsideologie noch weiter als bisher treiben müssen, ohne sie allerdings zu einem dominanten Thema werden zu lassen.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/poldi1.htm

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