Hermann Giesecke

Ist der Begriff "Pädagogische Beziehung" noch sinnvoll?

In: Gabriele Strobel-Eisele/ Gabriele Roth (Hrsg.): Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen. Stuttgart 2013, S. 67-78

© Hermann Giesecke
 

(Hinweis: Der Band enthält 10 weitere Beiträge zum Thema. H.G.)
 
Viele Berufe, deren Tätigkeitsschwerpunkt das Wohl von Menschen ist, realisieren sich im Rahmen unmittelbarer menschlicher Beziehungen. Diese sind dann durch spezifische Merkmale qualifiziert, die nicht allgemein, sondern nur in diesem Zusammenhang und damit nur unter angebbaren Bedingungen und Voraussetzungen gelten. Klassische Beispiele dafür sind Ärzte und Rechtsanwälte. Diese besonderen Merkmale - etwa: Ärzte sind verpflichtet, jedem zu helfen, der ihre medizinische Hilfe braucht, Rechtsanwälte dürfen nicht gegen die Interessen ihres Mandanten handeln - begründen auch ein besonderes Vertrauen, mit dem man diese Berufe in Anspruch nehmen kann. Handwerker oder Verkäufer - um auch weniger herausragende Beispiele zu nennen - sind auf Dauer nur erfolgreich, wenn sie den Umgang mit Kunden für diese besonders 'angenehm' und fachlich zuverlässig gestalten. Für alle diese 'personennahen' Berufe scheint charakteristisch zu sein, dass das
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darauf bezogene Verhaltensrepertoire einerseits fachliche, andererseits aber auch ethische Komponenten und Kompetenzen umfasst, welche die für alle geltenden öffentlichen Umgangsformen berufsspezifisch präzisieren oder ergänzen.
 
So liegt es nahe zu prüfen, ob auch pädagogische Berufe, deren Aufgabe es ist, sich neben der Familie um die Erziehung und Bildung von Kindern zu kümmern, durch eine besondere menschliche Beziehung charakterisiert werden können. Da die pädagogische Berufsausübung immer face to face, also in unmittelbarer Beziehung zu den Partnern erfolgt - z.B. durch Lehrer in der Schule oder durch Sozialpädagogen in einer entsprechenden Umgebung - , scheint sich in dieser Beziehung die Komplexität der Aufgaben und Tätigkeiten konzentrieren zu lassen, so dass umgekehrt auch die Pädagogen ihr berufliches Selbstverständnis - auf diese Weise komprimiert - in diesem Vorhaltensfokus wiederfinden und entfalten können. "Pädagogische Beziehung" als Begriff würde dann sowohl die Tätigkeit als auch deren normatives Leitmotiv beschreiben.

Entsprechende Versuche, diese besondere Art von Beziehung zu beschreiben und aufzuklären, entstanden und weiteten sich in dem Maße aus, wie sich die Ausbildung für pädagogische Berufe professionalisierte und insofern 'auf Serie gelegt' - also standardisiert - werden musste. Von diesem Bedarf und einer entsprechenden Erwartung her ist wohl der Erfolg des Konzepts zu verstehen, das Herman Nohl seinerzeit unter der Bezeichnung "pädagogischer Bezug" formuliert und theoretisiert hat. (1) Verführerisch an diesem Entwurf ist nach wie vor die Aussicht, auf diese Weise einen wissenschaftsdidaktischen Kern gefunden zu haben, von dem aus sich die pädagogische Praxis erschließen und die pädagogische Wissenschaft als Lehre entfalten lässt. Der Überprüfung dieser Hoffnung dienen die folgenden Überlegungen.
 
Gewiss wird eine bestimmte menschliche Beziehung in irgendeiner Form immer aktualisiert, sobald pädagogisch gehandelt wird, weshalb von einer wechselseitigen Relation von Handeln und Beziehung auszugehen ist. Auch lassen sich eine Reihe von Merkmalen nennen, die im beruflichen Umgang von Pädagogen mit Kindern und Jugendlichen eine Rolle spielen,(2) sogar eine Art 'Hippokratischer Eid' für Pädagogen ist in Anlehnung an das klassische Ethos des Arztes vorgeschlagen worden.(3) Aber bei genauerem Hinsehen verdeckt die Konzentration der Berufsansprüche auf die Eigentümlichkeit der damit verbundenen unmittelbaren menschlichen Beziehung leicht, wie widersprüchlich und mehrdimensional das professionelle pädagogische Handeln tatsächlich ist. Das gilt nicht zuletzt auch für seine politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen,
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Implikationen und Erwartungen. Was lässt sich auf dieser Beziehungsebene nicht so leicht erkennen, bestimmt andererseits aber durchaus den pädagogischen Auftrag und das darauf bezogene Handeln?

Erschwerend kommt hinzu, dass in den letzten Jahrzehnten die unmittelbaren menschlichen Beziehungen fast überall, wo sie in der Gesellschaft zu finden sind, weitgehend unabhängig von ihren gesellschaftlichen Orten, Zwecken, Funktionen und Aufgaben in ähnlicher Weise psychologisiert und somit nach gleichartigen Regeln gedeutet worden sind. Sogar eine seelsorgerische Begleitung etwa bei Unglücksfällen muss sich inzwischen der einschlägigen psychologisierten Versatzstücke bedienen, um fachlich anerkannt zu werden. Die Psychologie ist von einer situationsbedingt notwendigen oder hilfreichen, aber dadurch auch begrenzten therapeutischen Intervention zu einer allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Weltanschauung expandiert. Auf die nahe liegende Frage, welche Interessenlage sich darin manifestiert und wer warum dabei als sozialer Träger fungiert, kann hier nicht weiter eingegangen werden. (4) Dieser Transformationsprozess hat jedenfalls längst auch die pädagogischen Berufsfelder erreicht, die folgerichtig als ein im Kern psychologisches Phänomen verstanden und mit entsprechenden Verhaltens- und Handlungserwartungen belegt wurden. Diese Akzentuierung beraubte sie allerdings mehr und mehr ihrer pädagogischen Bedeutung zu Gunsten einer eher therapeutischen Sichtweise, d.h.. sie ermöglichte zwar eine unmittelbare therapeutische Anschlussfähigkeit nach dafür standardisierten Regeln und Verfahren, erschwerte gleichzeitig jedoch einen weiteren pädagogischen Gebrauch. Verloren gingen dabei nämlich insbesondere zwei grundlegenden Fundamente des pädagogischen Denkens und Handelns, wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargestellt habe.(5) Einerseits verschwand die grundlegende pädagogische Kategorie der Forderung aus dem Argumentationszusammenhang, andererseits ein angemessenes Verständnis der sozialen Dimension von Erziehung und Bildung, das sich gerade nicht auf die Plausibilität unmittelbarer Beziehungen reduzieren lässt, sondern allenfalls teilweise darin zum Ausdruck kommt. Diesen Zusammenhang nicht zu sehen führt folgerichtig auch zu einem Missverständnis des jeweils angebrachten pädagogischen Handelns, als sei dieses etwa schon dann erfolgreich, wenn die unmittelbare Beziehung zwischen Lehrern und Schülern von letzteren als wohltuend erlebt und gelobt wird.

Daraus folgt: Weder die Realität noch die Normativität der pädagogischen Berufe lässt sich aus der unmittelbaren Beziehung selbst heraus erklären, hinzukommen muss vielmehr die Reflexion von Faktoren, die außerhalb ihrer angesiedelt sind und in ihr selbst gar nicht unbedingt wahrgenommen werden oder der Sache nach auch gar nicht zum Ausdruck kommen
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können. Die unmittelbare, massenhaft verbreitete, weithin bekannte und für das pädagogische Handeln konstitutive "pädagogische Beziehung" ist nicht aus sich selbst heraus verständlich, erklärt von sich aus nichts Wesentliches an der pädagogischen Berufstätigkeit - vor allem nicht das, was unter pädagogischem Anspruch von den Kindern und Jugendlichen zu fordern ist. Die Psychologisierung hat gleichsam eine weitere pädagogische Nutzung des Begriffs 'verbrannt'. Wer trotzdem versucht, die ursprüngliche pädagogische Bedeutung durch entsprechende kritische Analysen wieder freizulegen, unterschätzt die Widerstandsfähigkeit dieses an sich höchst plausiblen Zeitgeistes. Wer den korrigieren will, müsste sich durch einen Wust von inzwischen selbstverständlich gewordenen Annahmen und Begründungen durcharbeiten - was wenig Sinn macht, weil eine erkennbare Wirkung dieser Mühe nicht zu erwarten ist. Wer heute von "Beziehung" spricht, mobilisiert bei Hörern und Lesern sofort den eben skizzierten psychologisierten Vorstellungshorizont.

Jedenfalls sagt die realexistierende "pädagogische Beziehung" über das, was hinter ihr steht und wirkt, wenig aus. Das soll nun an einigen Aspekten verdeutlicht werden, wobei ich der Einfachheit halber beim Beispiel der Lehrer-Schüler-Beziehung bleibe.
 
1. Die angedeuteten Schwierigkeiten beginnen schon mit der Frage, was denn das Pädagogische, also das eigentlich Professionelle, über das nicht jedermann verfügt, an dieser Beziehung sein könnte. Tatsächlich setzt sie sich ja aus verschiedenen Faktoren sehr komplex zusammen. Neben individuellen, in der jeweiligen Person fundierten Faktoren, die ohnehin nicht planmäßig gelehrt und gelernt werden können, gehören dazu für den öffentlichen Umgang allgemein gültige und notwendige Verhaltensweisen wie etwa Höflichkeit und Respekt, die sich durchaus lernen lassen. Berufsspezifisch sind z.B. rechtliche Vorgaben sowie Weisungen, die direkt oder indirekt vom Auftraggeber - also bei uns vom Staat oder auch zusätzlich noch von einem weiteren z.B. konfessionellen (Zwischen-)Träger - erteilt werden. Sie stellen den Auftrag des beruflichen Handelns und teilweise auch seine methodische Umsetzung und überhaupt den unmittelbaren Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht ins Belieben der agierenden Pädagogen, sondern eröffnen dafür nur Spielräume. Da solche Vorgaben historischer und somit auch politischer Natur sind, sind sie verhandelbar und deshalb auch veränderbar. Damit kommen aber dynamische Momente ins Spiel, die ein darauf gegründetes berufliches Selbstverständnis von vornherein instabil machen. Mehr noch: Inhalt und Form der beruflichen Beziehung können zum Gegenstand bildungspolitischer Konflikte und Auseinandersetzungen werden. Seit geraumer
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Zeit schon gibt es etwa zwischen "reformpädagogischen" und "traditionellen" Vorstellungen und den jeweils daran orientierten Lehrergruppen kaum zu überbrückende Meinungsverschiedenheiten darüber, was unter Unterricht eigentlich zu verstehen sei - eher ein sachbezogenes fachliches oder eher ein subjektbezogenes kindzentriertes Projekt. In dieser Frage ist der öffentliche Träger der Schule - also der Staat - keineswegs unparteilich, sondern schlägt sich auf Dauer auf die Seite derer, denen es gelungen ist, die öffentliche Meinung für ihre Version der Sache zu gewinnen und diese möglichst in Form eines für selbstverständlich gehaltenen Zeitgeistes zu verfestigen. Das kann im Extremfall dazu führen, dass ein Lehrer gar nicht erst eingestellt wird oder seine 'Probezeit' nicht besteht, der sich nicht im Rahmen dieser weitgehend monopolisierten öffentlichen Meinung bewegt. Was also könnte hier das spezifisch Pädagogische sein, das sich hinreichend vom Bildungspolitischen trennen ließe? Eine solche Unterscheidung wäre nämlich nötig, um der pädagogischen Professionalität einen wenigstens relativ autonomen Platz im Rahmen der an sich berechtigten bildungspolitischen Vorgaben zu sichern. Nicht nur ist das Berufsverständnis offensichtlich in wichtigen Punkten nicht (mehr) auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und insofern weltanschaulich pluralistisch geworden. Vielmehr ist die traditionell vor allem didaktisch-methodisch begründete pädagogische Autonomie, auf die sich Lehrer früher rechtfertigend beziehen konnten, von den politischen Parteilichkeiten allmählich aufgesogen worden, was überraschenderweise auch von Teilen der Lehrerschaft unterstützt wird. Mit anderen Worten: Es gibt hier bei Licht besehen für pädagogische Professionalität keine unumstrittene sachliche Basis mehr, sondern nur noch eine pragmatisch und eher gewohnheitsrechtlich gewährte. Der faktisch vorhandene Handlungsspielraum besteht nur solange, wie er nicht mit der Substanz des politisch gestützten Zeitgeistes in Konflikt gerät, beruht also nicht auf einem verlässlichen professionellen Proprium, sondern eher darauf, dass man ihn aus praktischen Gründen ernsthaft nicht ganz beseitigen kann, weil das kindliche Lernsystem nicht wie ein programmierbarer Automatismus, sondern nur in der Wechselwirkung bestimmter sozialer Handlungsprozesse funktioniert. Wer etwa für Gesamtschulen ist, hat nach dem Willen einer einschlägigen Propaganda auch gegen Frontalunterricht zu sein. Dabei gibt es sachlich gar keinen Grund, das eine - eine bildungspolitische Strategie - mit dem anderen - ein bestimmtes didaktisch-methodisches Konzept - zu verknüpfen, als seien sie notwendigerweise zwei Seiten derselben Medaille. Die bildungspolitische Diskussion liefert für solche unzulässigen Identifizierungen ständig weitere Beispiele und Belege. Gewiss
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unterliegen wohl alle Berufe in irgendeiner Form von außen kommenden Abhängigkeiten etwa durch Märkte oder durch dienstliche Vorschriften und Strukturen. Diese müssen einerseits sorgfältig in die Analyse einbezogen werden, andererseits aber auch das Spezifische des Berufes deutlich werden lassen.
Zur fundamentalen beruflichen Verunsicherung trägt auch die zunehmende Entspezialisierung des Lehrerberufes bei: Das Kerngeschäft der Unterrichtung, für das Lehrer eigentlich besonders ausgebildet sind, wird vielfach relativiert zu Gunsten zunehmender pädagogischer und sozialpädagogischer Zusatzaufgaben, die den Lehrer zu einem erzieherischen 'Mädchen für alles' mutieren lassen - was zweifellos zu seiner subjektiven wie objektiven Entprofessionalisierung beiträgt.

Die Beziehungsebene repräsentiert hier also keine Reduktion der Komplexität. Im Gegenteil liegt die Versuchung nahe, die Sache dadurch zu vereinfachen, dass die außerpädagogischen Faktoren als 'uneigentlich' betrachtet werden, als Feind des 'eigentlich' Pädagogischen. Dieses wird dann irgendwie in der Subjektivität des Schülers verankert, nicht jedoch in den berechtigten Anforderungen an diese. In der unmittelbaren Beziehung zwischen Lehrern und Schülern selbst wird ein solcher Irrweg nicht deutlich erkennbar, zumal keineswegs immer klar ist, welche Forderungen warum nun 'berechtigt' sind. Grundsätzlich gehören dazu auch solche, die pädagogisch gesehen vielleicht unvernünftig sind oder erscheinen, aber vom Dienstherrn in Auftrag gegeben werden. Sie betreffen keineswegs nur die Lehrpläne, sondern auch Einzelheiten der Lehrer-Schüler-Beziehung wie etwa Schulstrafen oder Vorschriften für die Vergabe von Schulnoten. Die vermutete Konzentrierbarkeit des beruflichen Selbstverständnisses auf der Beziehungsebene entpuppt sich also bei genauerem Hinsehen als Illusion.
 
2. Das erwähnte Konzept von Nohl, das noch bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fast konkurrenzlos in Ausbildung und Praxis dominierte, war trotz aller Einfühlsamkeit und Differenzierung noch von der Vorstellung geprägt, dass alle Erwachsenen, wo auch immer sie mit Kindern zu tun haben - ob in der Familie oder professionell oder auch nur bei Konflikten in der Öffentlichkeit - , sich im Prinzip in ähnlicher Weise gegenüber Kindern zu verhalten hätten, nämlich vor allem unter dem Maßstab der stellvertretenden Verantwortung für deren recht verstandenes Wohl. Professionelle Maßstäbe und Verhaltensweisen ließen sich auf diesem Hintergrund kaum formulieren und insbesondere nicht von familiären abgrenzen. Im Gegenteil galt die idealisiert gedachte Familie als grundlegendes soziales Muster auch für den beruflichen Umgang mit Kindern.
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Voraussetzung dafür war die Vorstellung von der Einheit aller Erziehung - repräsentiert im Leitmotiv vom "Wohl des Kindes". An diesem pädagogischen Selbstverständnis wird bis heute zäh festgehalten. Alle erzieherischen Instanzen müssten doch eigentlich 'am gleichen Strang ziehen', Elternhaus und Schule müssten zusammenwirken, weil sonst das gleiche pädagogische Ziel nicht zu verwirklichen sei. In der Klage darüber, dass es an solcher Zusammenarbeit fehle oder dass die Familie nicht mehr fähig sei, ihren Erziehungspart zuverlässig zu spielen, wird der Wunsch nach Einheit der erzieherischen Intentionen und Maßnahmen immer wieder neu artikuliert. Die Tradition des Erziehungsdenkens ist offensichtlich anti-pluralistisch. Nur schwer kann sich die Einsicht durchsetzen, dass erzieherische Intentionen durchaus miteinander in Konflikt geraten und miteinander rivalisieren können, ohne deshalb aufzuhören, pädagogisch vernünftig zu sein. So dient die Schule in der Moderne nicht nur der Fortsetzung familiärer Bestrebungen, sondern zumindest auch deren pädagogischer Korrektur und Ergänzung. Dass die nicht aus pädagogischen Gründen, sondern als Märkte inszenierten Sozialisationsfaktoren wie Massenmedien und Konsummarkt vielfach kontrovers und widersprüchlich zu pädagogischen Intentionen stehen, ist inzwischen zwar weitgehend akzeptiert, die Erziehungsansprüche selbst jedoch, auf die Kinder etwa in Schule und Elternhaus treffen, werden immer noch selten als pluralistische akzeptiert.

Das kann sich erst in dem Augenblick ändern, wo Erziehung als eine spezifische Intervention in einen prinzipiell auch ohne sie ablaufenden Sozialisationsprozess begriffen wird, die z.B. einmal aus familiären Gründen erfolgt, ein anderes Mal vom schulischen Unterricht her, dann vielleicht auch noch als Angebot einer Freizeitorganisation oder schließlich als Korrektur einer fehlgeschlagenen kindlichen Entwicklung durch die Jugendhilfe.
 
Der gesellschaftliche Pluralismus schlägt sich jedoch nicht nur in unterschiedlichen pädagogischen Interventionen nieder, sondern auch in weltanschaulichen Kontroversen, die wie erwähnt nicht nur die bildungspolitische Ebene, sondern auch die pädagogische längst erreicht haben. Vielleicht hat der angedeutete Siegeszug der Psychologisierung in der Pädagogik auch darin eine wichtige Ursache, dass sich auf diese Weise die verloren gegangene Harmonie der Einheit des Erzieherischen gegen die Zumutungen des gesellschaftlichen und ideologischen Pluralismus wieder herzustellen scheint, nämlich durch den Rekurs auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes. Der Rückzug auf die Innerlichkeit auf Kosten der Sozialität wirkt dabei doppelbödig. Einerseits schreibt er die mit der weltanschaulichen und politischen Pluralisierung historisch angebahnte Relativierung des Erzieherischen fort, andererseits forciert die
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psychologisierte Subjektivierung neue Möglichkeiten eines einheitlichen und umfassenden, im Extremfall sogar totalen Erziehungsanspruchs, weil sie sich tief und fest in der Innerlichkeit der Person verankert und von dort aus weitgehend unerkannt und unkontrolliert die Person zu manipulieren vermag. Es ist ein Unterschied, ob der Pädagoge sein psychologisches Wissen 'im Hinterkopf' bereit hält für die Diagnose und Lösung bestimmter Schwierigkeiten und Probleme, oder ob er sich von vornherein in einem psychologischen oder gar therapeutischen Milieu bewegt, zu dem er im Grunde keine Alternative mehr kennt. Das ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil der therapeutisch Handelnde von Berufs wegen im Unterschied zum Pädagogen keine Forderungen an seine 'Klienten' stellen kann.

Vielleicht ist es an der Zeit, zumindest den öffentlichen Erziehungsauftrag erheblich zurückzunehmen, auf das Eindringen in die Gesinnungsebene weitgehend zu verzichten und sich auf die pragmatisch verstandene Verhaltensebene zu beschränken. Schließlich schulden wir einander in der modernen demokratischen Öffentlichkeit keine bestimmten Gesinnungen, sondern nur bestimmte Verhaltensweisen. Allerdings würde die Verschiebung der Erziehung von der Gesinnung zum Verhalten auch die Psychologisierung teilweise revidieren.

Andererseits könnte dann der Bildungsauftrag stärker zum Inhalt und Gegenstand der pädagogischen Beziehung werden - was für Lehrer besonders nahe liegt und durchaus als eine Konsequenz der gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralisierung zu verstehen wäre. Dann wäre ein zentraler Inhalt seiner Beziehung zu den Schülern (wieder), was er inhaltlich im Unterricht - fachlich wie didaktisch - repräsentiert.
 
3. Die erwähnte Psychologisierung jeder unmittelbaren Beziehung und eben auch der pädagogischen definiert diese auf eigentümliche Weise neu, sie schafft sich sozusagen eine ihr entsprechende Wirklichkeit. So hat sie vor allem die Interaktionen der beteiligten Personen miteinander im Blick - etwa des Lehrers mit jedem Schüler und der Schüler mit jedem anderen. Der Maßstab dafür ist die jeweilige individuelle Bedürftigkeit, um deren Ausgleich im Konfliktfall mit anderen notfalls zu verhandeln ist. Forderungen von außen werden als Ansprüche der Wirklichkeit hingenommen, können in diesem Denkmodell aber keine substanzielle Bedeutung gewinnen. Schulleistungen zum Beispiel müssen eben erbracht werden, aber im Mittelpunkt des Interesses steht eher die Frage, was diese für die subjektive Befindlichkeit des Schülers in seiner Innerlichkeit bewirken.

Ignoriert wird dabei leicht der soziale Hintergrund. Dass sich das alles in der sozialen Formation Schulklasse abspielt, gilt als von untergeordneter Bedeutung. Dabei zeigt doch jede längere schulpädagogische Erfahrung,
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dass die Sozialität Schulklasse mehr ist als die Summe der in ihr stattfindenden unmittelbaren Interaktionen, dass sie als verwahrloste die Schüler in einen permanenten Überlebenskampf treiben kann, als geordnete und normativ mit einer angemessenen 'öffentlichen Meinung' ausgestattete jedoch Schutz und Sicherheit für jeden einzelnen Schüler anbietet und so auch ein erfolgreiches Leistungsverhalten unterstützt und ermöglicht. Wenn die gemeinsamen Lebenswerte keine in der Sozialität verankerte, immer wieder dort tradierte und abrufbare kollektive Stütze finden, werden die einzelnen Personen auf ihre subjektive Innerlichkeit zurückgeworfen, die für sich genommen jedoch nur eine fragile und deswegen unzuverlässige Sicherheit bietet. (6)

Das gilt auch für die Schule bzw. Schulklasse als soziale Formation. Ohne diesen unterstützenden sozialen Hintergrund bleibt z.B. das forsch propagierte 'Bedürfnisaushandeln' vordergründig, auch wenn man auf diese Weise noch so viele Konflikte zwischen den einzelnen Schülern immer wieder ausgleichen sollte. Machtstrukturen z.B. werden nämlich auf diese Weise gar nicht erst evident und tangiert, geschweige denn aufgeklärt, verdeckte Hierarchien, die etwa Mobbing provozieren, bleiben im Dunkeln, die scheinbaren Friedensschlüsse führen deshalb nur bis zum nächsten Konflikt und insofern nicht weiter, als die 'Täter' ohne nachhaltige Sanktionen gar keinen Grund sehen müssen, ihr Verhalten wirklich zu ändern. Sanktionen sind jedoch nur erfolgreich, wenn sie in Übereinstimmung mit der 'öffentlichen Meinung', also in diesem Fall in Übereinstimmung mit dem maßgebenden Teil der Schulklasse, erfolgen; ohne diese Unterstützung bleibt auch das Lehrerhandeln ohne nachhaltige Wirkung. Erst in einem solchen sozialen Zusammenhang wird angemessenes Verhalten in der Form einer gemeinsam begründeten Forderung erkennbar, die vom Lehrer ins Spiel gebracht und geltend gemacht werden muss. Der Lehrer kann z.B. ein Disziplinproblem wie ständiges 'Schwätzen' nur dann abschaffen, wenn er sich dabei auf die öffentliche Meinung in der Klasse stützen kann, so dass vielleicht irgendein Mitschüler selbst einmal dazwischen geht mit der Bemerkung: "Nun haltet doch endlich mal die Klappe!"

Die Psychologisierung des Sozialen droht also wichtige Teile der Realität zu ignorieren, ohne diese tatsächlich außer Kraft setzen zu können. Zudem kann sie auf Dauer von einer wohltuenden Hilfe in Manipulation umschlagen. Da inzwischen jeder die einschlägigen Prämissen und Strategien kennt,
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kann auch jeder dem anderen etwas vormachen. Auch dies führt dann über kurz oder lang zur Konstruktion einer neuen, auf Inszenierung beruhenden Wirklichkeit. Jeder spielt darin sein Spiel, benutzt kundig den einschlägigen Jargon, bietet unverbindlich guten Willen und Einfühlung an, täuscht über seine wahren Absichten hinweg - agiert in diesem Sinne 'diplomatisch'. Wenn es so weit ist, ist die pädagogische Beziehung - meist unerkannt - selbst zum Problem und damit für professionelle Repräsentanz empirisch wie normativ nutzlos geworden.

4. Die unmittelbare pädagogische Beziehung enthält von sich aus keine Maßstäbe für die notwendige Balance von Nähe und Distanz. Dieses Problem ist in letzter Zeit im Rahmen der zahlreichen Missbrauchsfälle, die in pädagogischen Einrichtungen zu verzeichnen waren, wieder virulent und aktuell geworden. In der Beurteilung der Geschehnisse wird jedoch leicht übersehen, dass auch ohne diese Missbrauchsfälle eine angemessene Relation von Nähe und Distanz ein schwieriges Problem in pädagogischen Einrichtungen bleibt, wie das inzwischen einigermaßen ausführlich dokumentierte Beispiel der Odenwaldschule zeigt.(7) Die Frage ist nämlich, wie Schüler im Rahmen eines unmittelbaren pädagogischen Umgangs Formen und Regeln eines distanzierten Verhaltens so lernen können, wie sie für den Umgang in der Öffentlichkeit üblich und notwendig sind. Voraussetzung dafür ist offensichtlich, dass die Schule selbst sich den Schülern als Teil der Öffentlichkeit - nämlich als öffentliche Institution - präsentiert und ein entsprechendes Verhalten einerseits vorgibt und andererseits nicht nur von den Schülern, sondern auch von den Lehrern fordert. Nur diese können eine entsprechende Sozialkultur in der Bandbreite von intim-vertraulich bis höflich-distanziert entwickeln, von sich aus werden die Schüler kaum darauf kommen, zumal sie es auch in vielen Familien nicht (mehr) lernen können. Vermutlich liegt hier das größte Defizit der gegenwärtigen Schulpädagogik: Sie hat keine angemessene Sozialtheorie ihres Handlungsfeldes und scheint auch keine zu benötigen oder zu wollen. Jürgen Oelkers hat diesen Mangel gerade für die Geschichte der Reformpädagogik und ihrer Konzepte ausführlich und anschaulich beschrieben.(8) Eine bedeutende Rolle dabei spielt der schon erwähnte umfassende Erziehungsbegriff, der möglichst durch ein und dieselbe Erziehungsperson oder zumindest durch eine einheitliche Erziehungswirkung der anderen Beteiligten, jedenfalls möglichst ohne Störung durch Abweichler, garantiert werden soll.

Nicht nur für die Beziehung zwischen den Lehrern und den einzelnen Schülern, sondern auch für den Umgang der Schüler miteinander wäre eine entsprechende soziale Aufklärung notwendig. Da die Schüler einer Schulklasse einander nicht auswählen können, kann man von ihnen auch
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nicht erwarten, dass sie jeden als ihren Freund betrachten. Zu einigen fassen sie freundschaftliches Vertrauen, zu anderen nicht. Im Unterricht kooperieren müssen sie jedoch auch mit denen, die sie nicht ausstehen können. Normalerweise sind die Beziehungen in einer Schulklasse kompliziert, und zumal wenn die Schüler älter werden, müssen sie lernen, derartige Differenzen zu erkennen und produktiv zu handhaben.
 
Die hier nur skizzenhaft angedeuteten Überlegungen rechtfertigen gleichwohl den Hinweis, dass die pädagogische Beziehung für sich genommen nicht als Kern einer Ausbildungsdidaktik oder Wissenschaftsdidaktik angesehen werden kann. Das schließt nicht aus, dass ihr weiterhin Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schließlich ist sie dasjenige Theorem, das besonders eng an die pädagogische Praxis heranreicht. Lehrer tun etwas mit Schülern und gehen dabei bestimmte Beziehungen mit ihnen ein - daran wird sich nichts ändern. Sollen jedoch die an dieser Beziehung Beteiligten - Lehrer, Schüler und mittelbar auch Eltern - über das, was dort geschieht bzw. geschehen sollte, aufgeklärt werden, muss diese Beziehung daraufhin analysiert werden, was sie eigentlich repräsentieren und zum Ausdruck bringen soll. Die empirische Sicht - was spielt sich dabei wirklich ab - und die normative Sicht - wie sollte es warum im Vergleich dazu sein - gehören im pädagogischen Denken immer zusammen, auch wenn beide Ebenen aus analytischen Gründen getrennt werden müssen. Sie können nur von der Aufgabe her näher bestimmt und bewertet werden. Welche Aufgaben hat der Lehrer und wozu ist demzufolge die Schule eigentlich da? Von den Aufgaben her muss auch die Beziehung bestimmt werden, nicht umgekehrt. So gesehen kann die Beziehung durchaus als anschauliches Ausgangsmodell für entsprechende Betrachtungen dienen, indem die einzelnen Faktoren wie Lehrer, Schüler, Schule, Schulklasse, Eltern, gesetzliche Grundlagen, Didaktik, Methodik Ausstattung usw. reflektiert werden. Sind die Aufgaben der entscheidende Ausgangspunkt, lassen sich auch sozialromantische Missverständnisse vielleicht eher verhindern. Die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern können z.B. schon aus sachlichen Gründen nicht symmetrisch sein - auch dann nicht, wenn die Schüler juristisch mündig sind. Diese Differenz darf nicht durch Wohlwollen illusionär unterlaufen werden.

Gelten die Aufgaben als eigentlicher Motor der pädagogischen Beziehung, wird fraglich, ob es nach dem bisher Gesagten überhaupt noch sinnvoll sein kann, weiterhin nach 'der' einheitlich strukturierten pädagogischen Beziehung zu fahnden, die für alle pädagogischen Berufe gelten soll. Was haben Lehrer, Freizeitpädagogen und Sozialpädagogen wirklich noch gemeinsam, selbst wenn ihre Berufsorientierung sich auf Kinder und
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Jugendliche richtet? Nur in äußerst abstrakter Form wird man hier von einer gemeinsam gültigen "pädagogischen Beziehung" und einer darin verankerten einheitlichen Erziehungsvorstellung sprechen können. Dafür sind die jeweiligen pädagogischen Handlungsziele, die dazu geeigneten sozialen Formationen und die entsprechenden rechtlichen Grundlagen für den Umgang miteinander viel zu verschieden. Die Art der persönlichen Beziehung muss also von den unterschiedlichen pädagogischen Aufgaben her abgeleitet werden, nicht umgekehrt. Die konkrete professionelle pädagogische Beziehung ergibt sich demnach aus dem Aufgabenmix, um den es jeweils geht bzw. gehen soll.
 
Anmerkungen
 
(1) Herman Nohl: Das Verhältnis der Generationen in der Pädagogik, in: Pädagogische Aufsätze, 2.Aufl. Langensalza 1929; Ders.: Die Theorie der Bildung. In: Nohl/Pallat: Handbuch der Pädagogik, Bd. I, Langensalza 1933
(2) Zur Lehrer-Schüler-Beziehung druckfrisch: Michael Felten: Schluss mit dem Bildungsgerede! Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn. Gütersloh 2012; ausführlicher Ders: Auf die Lehrer kommt es an. Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule. Gütersloh 2010
(3) Hartmut von Hentig: Die Schule neu denken. Wien-München 1993, S. 246 f. - Dazu meine Kritik in: H. Giesecke: Die pädagogische Beziehung. Weinheim-München 1997, S. 268ff.
(4) Ein Versuch der Deutung in: Hermann Giesecke: Kritik der Psychologisierung. In: Ders.: Pädagogik - quo vadis? Weinheim/ München 2009, S. 43 ff.
(5) Hermann Giesecke: Pädagogik - quo vadis? München-Weinheim 2009
(6) Zum Prozess der Wertbildung ausführlicher Hermann Giesecke: Wie lernt man Werte? Grundlagen der Sozialerziehung. Weinheim/München 2005
(7) Christian Füller: Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln 2011; Tilman Jens: Freiwild. Die Odenwaldschule - ein Lehrstück von Opfern und Tätern. Gütersloh 2011; Hermann Giesecke: Vom elitären Anspruch zum Missbrauch. Reformpädagogische Sozialromantik in der Odenwaldschule In: www.hermann-giesecke.de/odenwald.htm
(8) Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim und Basel 2011
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URL: giesecke.uni-goettingen.de/pz.html

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Gabriele Strobel-Eisele/ Gabriele Roth (Hrsg.): Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen. Stuttgart 2013
Inhalt
 
Einleitung: Koordinaten pädagogischer Beziehungen
  
I. Begriffe und Grundfiguren zum Verständnis
pädagogischer Beziehungen  
 
Liebe als Passion und Liebe als Aufgabe - mit
Anmerkungen zum platonisch-pädagogischen
Eros (Klaus Prange)
  
Herman Nohls »Pädagogischer Bezug«: Analyse
und Rekonstruktion (Dorle Klika)
  
Rhetorik und Praxis: Ambivalenzen der deutschen
Reformpädagogik (Jürgen Oelkers)   

Ist der Begriff »Pädagogische Beziehung«
noch sinnvoll? (Hermann Giesecke)   
  
II: Formen sexuellen Missbrauchs und
professionelles Handeln   
 
Täter und Täterstrategien bei sexuellem
Missbrauch (Gabriele Roth)   

Die Psychodynamik des Kindes und die Folgen sexueller Übergriffe für die sozialen
Beziehungen (Brigitte Becker) 

Vorstellungen von Partizipation des Kindes in Recht
und Pädagogik (Barbara Schwarz)
 
III: Kontextspezifische Gestaltung pädagogischer
Beziehungen
  
Grenzen im Erziehungsprozess: Nähe- und
Distanzregulationen an Übergängen im
Bildungssystem (Elmar Drieschner und Detlef Gaus)

Grundschulkinder im schulischen Spannungsfeld
von Nähe und Distanz (Edeltraud Röbe)
  
Phänomene der pädagogischen Entgrenzung:
Konstruktionen des Phänomens Nähe und Distanz
im institutionellen Alltag (Anja Seifert und Monika
Sujbert)   

Schulisches Handeln zwischen Nähe und Distanz:
Neue Akzente und Probleme (Gabriele Strobel-Eisele)