Hermann Giesecke

Lehrer brauchen pädagogischen Eigensinn

Rezension zu:

Michael Felten: Schluss mit dem Bildungsgerede! Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn. 95 S., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, EUR 9,90

In: http://bildungsklick.de/a/87123/lehrer-brauchen-paedagogischen-eigensinn/




"Die Reformeuphorie hat auf eine ganze Reihe falscher Pferde gesetzt", schreibt der Gymnasiallehrer Michael Felten in seinem Buch "Schluss mit dem Bildungsgerede!". Hermann Giesecke, emeritierter Professor für Pädagogik an der Uni Göttingen, hat das Buch gelesen und stellt es hier vor. (Vorbemerkung der Redaktion, H.G.)

Der Verfasser, seit 30 Jahren Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst, ist bekannt geworden durch Veröffentlichungen über Schule und Unterricht, die sich einerseits vom reformpädagogischen Zeitgeist kritisch absetzen, andererseits wieder auf Berufserfahrung und Qualität der Lehrerpersönlichkeit vertrauen. Damit werden Maßstäbe ins Feld geführt, die in letzter Zeit u.a. deshalb unterbewertet waren, weil sie nicht dem herrschenden Wissenschaftstrend entsprechen. Der will die pädagogischen Aufgaben und Einflussfaktoren möglichst so definieren, dass sie sich empirisch erheben und dann in messbare Quantitäten und Kennziffern ausdrücken lassen. Dabei geraten jedoch wichtige Aspekte, die den Unterricht in der Schule entscheidend bestimmen, notwendigerweise aus dem Blick.

So ist ein Faktor wie 'Berufserfahrung' für ein solches Vorgehen viel zu komplex und zudem sehr an die Person gebunden. 'Aus Erfahrung' kann nur der einzelne Lehrer seine Handlungen steuern. Allenfalls Routinen lassen sich aus den Erfahrungen vieler Personen ableiten, aber ob das daran orientierte Handeln im Einzelfall auch zum Erfolg führt, bleibt offen.

Mehrdeutigkeit jedoch, die verschiedene Interpretationen, aber gleich 'richtige' Handlungsoptionen zulässt, ist dem Zeitgeist ein Gräuel. Der große Aufwand, der in den letzten Jahrzehnten mit empirisch fundierten Verfahren betrieben wurde, hat folgerichtig dem pädagogischen Handeln in der Schule und damit auch dem Unterricht nur wenig genutzt. Mit den Ergebnissen von PISA z.B. kann man ihn nicht verbessern, weil er wie die pädagogische Praxis insgesamt dabei gar nicht erst in den Blick rückt. Von den Versprechungen, die pädagogische Reformer und einschlägige Wissenschafter zur Verbesserung des Schulehaltens immer wieder abgegeben haben, ist also nicht viel in Erfüllung gegangen. Hinterlassen hat diese unheilige Allianz eher einen aufgeblasenen Jargon, dessen Zauberworte sich wie ein Nebelschleier über die pädagogische Wirklichkeit gelegt haben. Angesichts der allgemeinen Enttäuschung 'an der Basis' - also dort, wo die Realität nicht verdrängt werden kann - fordert Michael Felten die unmittelbar Beteiligten, vor allem die Lehrer, zur Konzentration auf das Wesentliche auf. Davon handelt das kleine Bändchen.

Der Titel ist bereits Programm - in Form eines Appells: Die hoch gelobten Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte werden nur noch als "Gerede" wahrgenommen, mit dem nun "Schluss" sein soll. Statt dessen werden die Lehrer zu "pädagogischem Eigensinn" "angestiftet", zur Besinnung darauf, was wirklich wichtig ist. Dafür reicht das weithin propagierte "Selbstlernen" - eine heilige Kuh der Reformpädagogik, im Prinzip ein Lernen ohne Lehren - ebenso wenig aus wie die damit verbundene immer erneute Suche nach den dafür geeigneten Unterrichtsmethoden. Ohne den Lehrer als "Leitwolf" aber "geht es nicht", deshalb ist "Führungsfreude" von seiner Seite her angesagt, wie überhaupt der Lehrer mit seinen fachlichen und didaktischen Fähigkeiten wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Sie sind nötig, damit die Schüler sich Zugänge zur Welt erarbeiten können, wie sie ihnen ihr Alltag von sich aus nicht bieten kann. Dabei liegt eine der wichtigsten pädagogischen Aufgaben darin, die Schüler zu ermutigen und optimal zu fördern. Diesem Thema ist ein eigenes Kapitel - "Gedanken zur Kunst des Förderns" - gewidmet.

Sensibel geht Felten auch auf die Mehrdimensionalität der unmittelbaren menschlichen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ein und erörtert die damit verbundenen wechselseitigen Schwierigkeiten im Schulalltag. Schließlich plädiert er für mutige Gelassenheit im Umgang mit der Stofffülle, die zu einem guten Teil aus der nur scheinbar marktorientierten Verbetriebswirtschaftlichung des öffentlichen Denkens über die Schule resultiert und erhöhte Quantität mit einem Fortschritt an Qualität gleichzusetzen trachtet.

Durchaus mit gelegentlicher Ironie, aber ohne Polemik fordert Felten ebenso knapp wie einleuchtend seine Kollegen zur Rückbesinnung auf das Wesentliche ihres Berufes auf, die anderen Beteiligten wie etwa die Eltern sollen sie dabei im Interesse ihrer Kinder unterstützen.

Wer ist ein guter Lehrer? Wer etwas kann, wer es gut beibringen kann und wer dabei verständnisvoll und einfühlsam die Richtung vorgibt. So einfach ist das? Ja, aber schwer zu machen.

Zu loben ist der Verlag. Das Bändchen hat ein handliches, gebundenes, griffiges Format - ca. 18x11 cm; der flüssige Text des Autors ist großzügig und damit leserfreundlich gedruckt, er kostet bei 95 S. knapp unter 10 EUR, passt in Taschen und Handtaschen, eignet sich also gut als Reiselektüre oder als Geschenk bzw. Mitbringsel. Vielleicht ließe sich in diesem schönen Format eine kleine Essayreihe entwickeln ... .



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