Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 22 (1996)

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Inhaltsverzeichnis
 

174. Die politische und die pädagogische Dimension der Schule (1996)
175. Abschied vom Reich der Wünsche (1996)
176. Was ich dem Jugendhof verdanke (1996)
177. Erziehung als soziales Phänomen.
          Makarenko’s Kinder- und Jugendkolonien  (1996)
178. Das "Ende der Erziehung".
          Ende oder Anfang pädagogischer Professionalisierung? (1996)
179. Die Normalisierung der Politischen Bildung (1996)
 


Zu dieser Edition
Dieser 22. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1996. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen, nach deren Integration 1978 in die Universität Göttingen am dortigen Fachbereich für Erziehungswissenschaften tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.
Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

 

174. Die politische und die pädagogische Dimension der Schule (1996)

in: Neue Sammlung, H. 1/1996, S. 143 - 150

Angesichts der emotionalen Betroffenheit, die mein Artikel "Wozu ist die Schule da?" (H. 3/1995) neben der zu erwartenden Kritik auch in Beiträgen dieses Heftes ausgelöst hat, schulde ich dem Leser einige Hintergrundinformationen.

Der Beitrag ist ursprünglich für die Sendereihe "Forum 4: Essay" (NDR 4) geschrieben und am 1. 2. 95 gesendet worden, und er hat eine außergewöhnlich große und für niemanden vorhersehbare Resonanz ausgelöst. Obwohl das Thema vorher nicht einmal angekündigt wurde und die Sendereihe generell nicht pädagogischen, sondern politischen Themen vorbehalten ist, gab es über 700 Zuschriften bzw. Manuskriptanfragen - die mit erheblichem Abstand größte Resonanz in der zwanzigjährigen Geschichte dieser wöchentlich publizierenden Reihe. Die Sendung wurde deshalb vier Wochen später wiederholt, und aus den eingegangenen Zuschriften gestaltete die Redaktion einen weiteren Beitrag zum Thema. Insgesamt habe ich etwa ein Dutzend Texte im Laufe der Zeit für diese Reihe in einem ähnlichen Stil über politisch relevante pädagogische Themen geschrieben, darunter einen am 12. Juli 1995 gesendeten über den Niedergang des "dualen Systems" der Berufsausbildung, der, wie in den Jahren zuvor, wiederum nur eine "normale" Hörerreaktion zur Folge hatte. Der strittige Essay basiert auf dem Material eines Buchmanuskriptes, das inzwischen gedruckt vorliegt (1) und in dem meine Thesen natürlich ausführlicher und differenzierter dargestellt und begründet werden können. Dabei geht es im wesentlichen um eine ausführliche Charakterisierung der "pluralistischen Sozialisation", um eine Darstellung und Kritik des "pädagogischen Zeitgeistes" und schließlich um die Schlußfolgerungen, die für das pädagogische Selbstverständnis von Schule und Familie aus beidem zu ziehen sind - um die Fortentwicklung von Überlegungen also, die ich im Grundsatz in dem früheren Buch "Das Ende der Erziehung" (1985) bereits skizziert hatte. Der Funkbeitrag trägt also, wenn auch in polemischer Zuspitzung, Gedanken vor, die für mich keineswegs neu sind - wie Hartmut von Hentig zu Recht anmerkt, weshalb mich die teilweise heftige Reaktion um so mehr überrascht.

Nachdem nun die erwähnte, weder vorhersehbare noch etwa kalkulierte Resonanz - "Opportunismus" (von Hentig) war da wirklich nicht planbar - eingetreten war, habe ich mich der öffentlichen Diskussion gestellt - eher zöger-

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lich, weil sie viel Zeit kostet, die ich eigentlich anders verplant hatte. In diesen Diskussionen, die ich teilweise mit ganzen Lehrerkollegien auf der Grundlage des Funktextes geführt habe, ist mir deutlich geworden, worauf die Wirkung eigentlich beruht. Offensichtlich hat der Text einer weit verbreiteten Stimmung Ausdruck gegeben, sie in Worte gefaßt für viele Lehrerinnen und Lehrer, die sich in offiziellen Verlautbarungen wie auch in Stellungnahmen der Erziehungswissenschaft oder auch der Schulpädagogik nicht oder nicht genügend repräsentiert fühlen. Der Text war wohl schon in einigen Tausend Exemplaren in ganzen Lehrerkollegien verbreitet und hat dort nicht selten zu Polarisierungen geführt, bevor die "Neue Sammlung" ihn in einer etwas erweiterten Fassung veröffentlichte; vielleicht wäre es besser gewesen, lediglich die ursprüngliche Version gleichsam als Dokument abzudrucken.

In den erwähnten Diskussionen, aber auch durch teilweise ausführliche Briefe von Lehrerinnen und Lehrern, ist mir einiges deutlicher geworden, was mir vorher nicht so klar war:

a) Die für mich zunächst nicht erklärbare Emotionalisierung hat offenbar damit zu tun, daß sich eine pädagogische Berufsideologie provoziert fühlt. Ich greife - ohne dies je geplant zu haben - die pädagogische Meinungsführung an und gebe denjenigen Argumente an die Hand, die den Widerspruch zwischen der reformpädagogischen Ideologie, die über ihre Arbeit gelegt wurde, und den Alltagserfahrungen erleben, ohne ihn in einem geeigneten theoretischen Rahmen artikulieren zu können. Die reformpädagogische Berufsideologie ist nämlich gegenwärtig die einzig greifbar vorhandene, auch die "konservativen" Politiker, Lehrer und Lehrerverbände huldigen ihr mangels einer ernsthaften Alternative, sie unterscheiden sich nur in schulpolitischen Aspekten von den "Fortschrittlichen", aber über eine eigenständige pädagogische Theorie verfügen sie - anders als in den fünfziger Jahren - nicht mehr. Daraus ergibt sich, daß die reformpädagogischen Prämissen sich kaum einer intellektuellen Auseinandersetzung in den Kollegien stellen müssen (Gymnasiallehrer können sich immerhin auf die geistige Substanz ihrer Fächer zurückziehen). Die anderen Unzufriedenen, die auf Grund ihrer Erfahrungen mit der reformpädagogischen Ideologie nichts mehr im Sinne haben wollen, fühlen sich geistig und sozial isoliert. Alles in allem aber liegen meine Thesen quer zu allen gesellschaftlich relevanten Gruppen in dieser Frage, weil diese allesamt auf ein umfassendes Erziehungsverständnis ihres beruflichen Handwerks angewiesen zu sein glauben, während ich ja für die Partikularisierung erzieherischer Intentionen eintrete.

b) Der Angriff auf die Meinungsführerschaft in den Kollegien wie auch in der Schulbürokratie führt zu Verunsicherungen und zu Defensivstrategien. Wenn es keine artikulationsfähige Alternative gibt, zieht man sich zurück, vermeidet kollegiale Debatten. In einer solchen Situation entwickelt sich leicht ein Gruppendruck gegenüber den "Abweichlern", was um so leichter ist, als diese ihrerseits ja nicht als Gruppe mit einem oppositionellen pädagogischen Konzept auftreten können. Offene Auseinandersetzungen über pädagogische Fragen vermeiden sie möglichst, weil sie ja Tag für Tag auf ihre kollegiale Bezugsgruppe angewiesen bleiben. Diese Lage verschlimmert sich in dem Maße, wie die dienst-

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lichen Vorgesetzten bis hin zur Kultusadministration sich ebenfalls zur reformpädagogischen Berufsideologie bekennen und deshalb - ausgesprochen oder unausgesprochen - auch eine entsprechende Gefolgschaft erwarten. In fast jeder Diskussion war zu erkennen, daß sich die Meinungsführer zu Wort meldeten, um ihre Position zu behaupten, während die anderen in der Regel aufmerksam schwiegen und sich erst in den Pausen oder am Ende der offiziellen Veranstaltung äußerten. Nach meinem Eindruck spreche ich dieser "schweigenden Minderheit" (oder Mehrheit?) "aus der Seele". Mein Appell, das Kollegium zu stärken und mit größerem Selbstbewußtsein zu versehen, ist insofern eine Bedrohung für die Meinungsführerschaft, als sich schnell erweisen könnte, daß diese nur eine Minderheit unter den Kollegen wirklich repräsentiert. Die Spaltung der Kollegien geht auch mitten durch ihre "Achtundsechziger". Sie zeigt sich insbesondere bei Versuchen, ein gemeinsames Vorgehen in Disziplinfragen an den Tag zu legen ("Verbale Aggressionen sind doch nur fehlgeschlagene Annäherungsversuche!" - blockt der Zeitgeist ab). Wo eine gemeinsame Haltung gelingt, scheinen sich einschlägige Probleme jedoch erheblich zu reduzieren.

c) Die reformpädagogische Ideologie ist offenbar kaum noch diskussionsfähig, weil sie sich auf moralische "Selbstverständlichkeiten", nicht auf rational argumentierbare Sätze gründet. Dies ist ein Zeichen dafür, daß sie sich dem Ende ihrer öffentlichen Akzeptanz nähert. Wenn ich mir das alles nur ausgedacht hätte - wieso sollten so viele gestandene Lehrer und Lehrerinnen den Wunsch haben, ihre Zeit damit zu verbringen, solche puren Erfindungen mit mir zu diskutieren? Die Wahrheit ist vielmehr, daß die reformpädagogische Berufsideologie nicht mehr in der Lage ist, sich auf einem halbwegs anspruchsvollen intellektuellen Niveau einer Kritik zu stellen; sie ist in vielen Köpfen (und Herzen!) zur Weltanschauung geworden, die am Beispiel des Kindes die Misere der ganzen Welt zu erklären und vor allem moralisch zu verurteilen in der Lage scheint. Dabei wird von Minderheiten auf Mehrheiten hochgerechnet. Inzwischen muß man die reformpädagogischen Essentials, an denen mir durchaus gelegen ist, gegen ihre Verteidiger verteidigen, z. B. die höchstmögliche schulische und außerschulische Förderung jedes Kindes. Jede Berufsideologie neigt dazu, das, woraus sie ihre Legitimation bezieht, für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Wenn es z. B. wirklich um die optimale Förderung gerade des "lernschwachen" Kindes ginge, dann müßte man doch hellhörig werden gegenüber den Erfahrungen jener "abtrünnigen" Gesamtschullehrer in NRW, die darauf hinweisen, daß dies in Gesamtschulen gerade nicht ausreichend geschehen kann, daß sich dort vielmehr auch nur wieder die Begabteren durchsetzen (2) - was übrigens frühere Untersuchungen auch schon ergeben hatten. Da aber "integrierte Gesamtschulen" - wie überhaupt alles, was sich "integriert" und "ganzheitlich'' geriert - zu den heiligen Kühen der reformpädagogischen Berufs-

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ideologie gehört, kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Die didaktischen Begründungen, die für "Offenen Unterricht", seine "Schülerorientierung" und "Handlungsorientierung" usw. angeboten werden, sind teilweise so hanebüchen, daß sie besser mit Schweigen übergangen würden, wenn sie nicht stellvertretend für den Schüler und zu dessen angeblichem Nutzen präsentiert würden. Gerade "die Unteren" (Bertholt Brecht) bringen aber als vermehrbares Kapital für den Rest ihres Lebens nur ihren Verstand mit, und sie haben einen Anspruch darauf, daß er so geschult und trainiert wird, daß sie damit ihre Chancen in ihrer tatsächlichen und nicht in einer bloß vorgestellten Welt auch wahrnehmen können. Davon war früher auch einmal unter dem Stichwort "demokratische Leistungsschule" die Rede. Als geistige Bewegung mag die "Aufklärung" ihrem Ende zuneigen (Diederich, S. 7 Mskr.), aber als Bestandteil der je individuellen Bildungsprozesse behält sie ihre Notwendigkeit; das ergibt sich schlicht aus der Komplexität der realexistierenden Verhältnisse. Die längst zur Berufsideologie geronnene reformpädagogische Mixtur, die im wesentlichen auf der Psychologisierung der inner- wie außersubjektiven Realität beruht, befriedigt in erster Linie weltanschauliche Bedürfnisse von Erwachsenen; Kinder haben solche Bedürfnisse im allgemeinen nicht.

Aus der Reihe der zu meinem Beitrag kritisch vorgetragenen Überlegungen möchte ich in diesem Sinne einige hier aufgreifen, die mir für die künftige Entwicklung des pädagogischen Denkens von besonderer Bedeutung zu sein scheinen.

1. Stichwort: Finanzierung. Es ergibt keinen Sinn mehr, einfach nur die Kürzung der Mittel im Bildungssektor zu beklagen, als beruhte sie nur auf Banauserie oder Böswilligkeit. Der ökonomische Aufwand, den die Gesellschaft für das Aufwachsen der Kinder insgesamt bereitstellen kann, wird sich in absehbarer Zeit nicht erheblich vermehren lassen. Zu fragen ist also, wie und an wen er verteilt werden soll. Es geht dabei nicht nur um das Schulwesen, sondern auch um die Berufsausbildung und um die Jugendhilfe - wenn wir von den familienpolitischen, z. B. steuerlichen Hilfen für die Familie einmal absehen. Mit dem Rückgang der "alten Industrien" wird sich die klassische Berufsausbildung ("duales System") mehr und mehr auf das Handwerk zurückziehen. Qualifizierungen für die modernen Industrien und Dienstleistungsberufe beruhen ohnehin nicht mehr auf "handlungsorientierten" Konzepten, sondern auf abstrahierenden schulischen, nämlich unterrichtlichen Strategien, an die sich betriebliche Anlernphasen anschließen. Je abstrakter, in diesem Sinne "allgemeinbildender", die Unterrichtung ist, um so disponibler für die berufliche, aber auch außerberufliche Teilhabe wird der Absolvent. Dieser Sektor des Bildungswesens wurde bisher zum größten Teil von der Wirtschaft finanziert, aber der Staat wird in dem Maße, wie die überlieferte Ausbildung sich für diese nicht mehr rechnet, einspringen müssen, warum sollte er auch der Wirtschaft nur die Hochschulabsolventen kostenlos liefern. Schon aus diesem Grunde muß sich die Schule klar darüber sein, daß sie nicht mehr Mittel erhalten kann, als sie unbedingt braucht. Um diesen Bedarf zu ermitteln, muß sie eine Schultheorie vorlegen können, die den spezifischen Auftrag der Schule im Gesamtzusammenhang des Aufwachsens klarstellt. Der besteht nach meiner Auffassung im Unterrichten - in allen vernünftigen didaktisch-methodischen Variationen - weil das Leben selbst (also die übrige Sozia-

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lisation) gerade dies nicht leisten kann. Unsere reformpädagogische Ideologie ist aber ein Luxusgeschöpf, das nur mit steigenden personellen und materiellen Ressourcen gedeihen kann. Wenn wir jedoch im Rahmen der finanziellen Verknappung die reformpädagogischen Essentials retten wollen, brauchen wir eine Schultheorie, die sich offensiv im Hinblick auf ihren gesellschaftlichen Nutzen vortragen läßt. "Individualisierung" z. B. ist doch keine wohlmeinende pädagogische Erfindung, sie wird vielmehr längst nicht nur als Qualität für Eliten, sondern für tendenziell alle Bürger gesellschaftlich gebraucht.

2. Stichwort: Elternmitbestimmung. Sie kann natürlich politisch nicht rückgängig gemacht werden, das wäre auch nicht wünschenswert. Aber anders als im Rahmen der auf der unmittelbaren Beziehungsebene fixierten Reformpädagogik muß über ihre pädagogische und politische Funktion genauer nachgedacht werden.

Kurt Edler möchte sie ausweiten in Richtung auf eine "kommunale Selbstverwaltungsschule". Dabei werden jedoch einige politische Folgen zu bedenken sein:

a) Welche Eltern werden dann welche Interessen zur Geltung bringen? Das ist generell schwer vorauszusagen. Vielleicht verstärkt sich nur die reformpädagogische Ideologie, vielleicht aber werden dadurch auch deren Gegner mobilisiert, so daß sich die Schulangebote vor Ort differenzieren. Auf jeden Fall müßten dann die Schulen einschließlich der Grundschulen wählbar werden, und die gemeinsame Grundschule für alle Kinder stünde auf dem Spiel. Das wäre vielleicht zu verschmerzen, denn wenn die heutige Grundschule generell als "Offene Schule" mit "Offenem Unterricht" als didaktischem Prinzip, und das noch auf sechs Schuljahre ausgedehnt, sich etablieren sollte, wäre sie auf Dauer wohl ebenfalls nicht mehr konsensfähig.

b) Würde durch Kurt Edlers Vorschlag nicht die ohnehin erkennbare Tendenz zu Privatschulen und damit zu einer neuen Klassentrennung des Schulwesens angeheizt? Nach aller Erfahrung dürften sich dabei die ökonomisch Stärkeren vor Ort mit ihren Interessen durchsetzen. Würden die materiell ohnehin besser gestellten Eltern dann nicht versuchen, einen möglichst großen Teil der öffentlichen Ressourcen an sich zu ziehen? Wird das Schulehalten in diesem Sinne, wenn auch nur eingeschränkt, dem Markt überantwortet, dann wird voraussichtlich das daraus entstehen, was sich uns auch sonst als marktgerecht präsentiert. Die staatliche Schulaufsicht ist aber gerade zum Schutz der Schwächeren nötig. "Basisdemokratisierung" könnte sich in diesem Falle also weniger als gestiegene Mündigkeit der Bürger - wie Kurt Edler meint - sondern eher als partikulare Interessendurchsetzung erweisen. "Reformpädagogik" für alle wäre dann tatsächlich eine "Idee", "mit der sich die Oberschicht Aufsteiger vom Leibe hält" (Diederich, S. 6 Mskr.) (3).

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c) Würde es ausreichen, neben den Schülern lediglich deren Eltern, die als solche ja weder ein öffentliches Mandat haben noch erteilen können, an der schulischen Selbstverwaltung zu beteiligen? Wenn man jedoch den Kreis der Mitverantwortlichen erweitert, z. B. um örtliche Vertreter von Wirtschaft, Kultur und Politik - was ja unter realitätsstiftenden Gesichtspunkten vielleicht wünschenswert wäre: würden dann nicht die Legitimierungsprobleme sich noch verstärken, die Möchtegernpädagogen ihre Chance wittern und ideologische Verbissenheiten vor Ort das Klima vergiften? Zudem ist nicht erkennbar, daß eine solche Organisation die überörtlichen Probleme der Schule, z. B. die im Zuge der (von Pädagogen erdachten!) Lernzieloperationalisierung lediglich additiv aufgeblasenen Richtlinien zu reformieren, lösen könnte.

3. Stichwort: Schule und Jugendhilfe. Darüber gibt es offenbar besonders viele Mißverständnisse. Wenn meine These richtig ist, daß gerade das "sozial benachteiligte" Kind in besonderem Maße auf die Schulung seines Verstandes angewiesen ist, dann kann daraus gerade nicht seine "Ausgrenzung" gefolgert werden. Andererseits nützt es ihm aber offensichtlich auch nichts, wenn es im Rahmen des "sozialen Lernens" als Bewährungsprobe für die soziale Gesinnung der anderen Verwendung findet. Wenn die große Mehrheit der Schüler nach wie vor relativ "pflegeleicht" (Peter Struck) die normalen Schulansprüche erfüllen kann, dann brauchen sie nicht nur keine besondere Förderung, sondern vielleicht sogar weniger Ressourcen, nämlich Lehrer und Unterrichtsstunden. Andererseits müssen eben zusätzliche Mittel in die Förderung der anderen investiert werden. Nun ist die Frage, an welchen pädagogischen Orten dies am besten geschieht. Meine Kritik an der "Sozialpädagogisierung" der Schule will ja nicht verhindern, daß die Schule jeden Schüler so gut wie möglich fördert, wohl aber, daß die Schule über ihren eigentlichen Auftrag hinaus, nämlich zu unterrichten und dabei die Standards für die Ausbildung des Verstandes zu definieren, sozialpädagogische Aufgaben übernimmt, für die sie nicht professionalisiert, nicht ausgestattet und rechtlich nicht verfaßt ist. Seit Anfang der siebziger Jahre, seit der Diskussion um die ganztägige Gesamtschule, hat die Schulpädagogik zunehmend versucht, sozialpädagogische Intentionen in sich aufzunehmen, was von Anfang an den berechtigten Widerstand der außerschulischen Träger mobilisiert hat. In diesem Zusammenhang hat sie auch Lernkonzepte, die in der Jugendarbeit bzw. Freizeitpädagogik entstanden sind, zu absorbieren versucht. Alle modischen didaktisch-methodischen Konzepte, vom "sozialen Lernen" über die "Offene Schule" und den "Offenen Unterricht" bis hin zu "fächerübergreifenden" Varianten, sind in diesen außerschulischen Bereichen in den fünfziger und sechziger Jahren bereits entwickelt worden und haben dort auch nach wie vor ihren Ort. Da die Ganztagsschule sich als Regelschule nicht hat durchsetzen können, wurden die genannten pädagogischen Konzepte eben in den normalen Unterricht integriert, wobei ihre pädagogische Herkunft offenbar weitgehend vergessen wurde.

Inzwischen hat das neue "Kinder- und Jugendhilfegesetz"(KJHG) den Oberbegriff "Jugendhilfe" für alle von ihm geförderten pädagogischen Maßnahmen außerhalb der Schule eingeführt, aber assoziiert wird mit diesem Begriff gerade

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in schulpädagogischen Kreisen immer noch "Ausgrenzung", "Reparatur" und "Diskriminierung". Wenn eine Mutter einen Therapeuten aufsucht, um ihre Scheidung besser verkraften zu können, wird das als Zeichen ihrer Emanzipation von denselben Pädagogen gewertet, die andererseits "soziales Training" für ihr vielleicht aggressiv gewordenes Kind als eine "Diskriminierung" denunzieren. Im Unterschied zur Schule muß die Jugendhilfe nicht flächendeckend eingeführt werden, sondern nur dort, wo sie auch gebraucht wird. Die "volle Halbtagsschule" z. B., die Schüler bis zu einem bestimmten, für die Eltern kalkulierbaren Zeitpunkt auch über den Unterricht hinaus betreut, ist je nach Wohnlage nur für eine Minderheit der Schüler angebracht. Was spricht dagegen, "Schulhorte" durch Träger der Jugendhilfe u. U. durchaus in den Räumen der Schule und in Kooperation mit dieser einzurichten, in denen neben anderem pädagogisch Sinnvollen auch Hausaufgabenhilfe angeboten wird? Es gibt inzwischen "Schulvereine", die diese Aufgabe selbständig oder in Anlehnung an einen Jugendhilfeträger übernehmen und deren Vorteil u. a. darin liegt, daß sie auch ehrenamtliche Mitarbeit mobilisieren können; sie organisieren teilweise sogar einen regelmäßigen Mittagstisch. Die Schule muß die Standards festlegen, den "Normalfall" definieren und die Abweichung davon im Einzelfalle kennzeichnen, damit entsprechend geholfen werden kann. Statt dessen die Schulnoten zu denunzieren, ist ein Luxus, den sich allenfalls die Kinder der Begüterten leisten können; die der anderen werden später nicht danach gefragt werden, ob sie lieber mit oder ohne Leistungsbewertung arbeiten wollen. Die Schule hat auch nicht die Aufgabe, über die statistische Arbeitslosigkeit zu jammern, sondern jedem Kind die individuelle Chance zur Entfaltung seiner geistigen Fähigkeiten zu verschaffen; die Organisationsform, in der das geschieht (z. B. Gesamtschule oder nicht) ist aus diesem Ziel unter dem Gesichtspunkt der Effektivität abzuleiten und nicht umgekehrt.

Abgesehen von diesen schulischen Orientierungen brauchen Kinder, die in einem "sozial schwachen Milieu" aufwachsen - was nicht mehr auf Unterschichten beschränkt ist - Angebote der Jugendhilfe in ihrem normalen, außerschulischen Lebensraum, als Alternativen oder zumindest Ergänzungen zu den Möglichkeiten ihres sonstigen Aufwachsens. Woher soll das Geld dafür kommen wenn die Schule alles pädagogisch Gebotene an sich reißen will? Wie soll in der Öffentlichkeit überhaupt eine positive Einstellung zur Jugendhilfe entstehen, wenn sogar die Schule sie nur als letztmöglichen Reparaturbetrieb und nicht als eine ganz normale, zusätzliche und wünschenswerte pädagogische Tätigkeit ansieht, wie es der Gesetzgeber auch gemeint hat? Gemessen an dem, was "schwierige" Kinder wirklich brauchen, nämlich ein befriedigendes Arrangement ihres Alltagslebens, ist das, was die Schule dafür anbieten kann, doch gänzlich unzureichend. Mit dieser Feststellung diskreditiere ich nicht Lehrer, die das pädagogisch beste aus der ihnen zugemuteten Situation machen wollen, sondern eine schulpädagogische Ideologie, die diesen Zustand auch noch legitimiert. Wir werden in Zukunft eine Erweiterung der öffentlichen Erziehungsangebote bis hin zu Internaten brauchen, und die steigenden Kosten dafür müssen anderswo, z. B. auch in der Normalschule gespart werden. So oder so aber wird sich das päd-

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agogische Denken mit betriebswirtschaftlichen Maximen auseinandersetzen, sich in diesem Sinne bis zu einem gewissen Grad "kienbaumisieren" müssen.

4. Stichwort: Erziehung. Daß jeder Unterricht auch erzieht, muß man keinem Kundigen erklären. Ebensowenig kann strittig sein, daß das pure soziale Zusammensein erzieherische Implikationen enthält, die genutzt werden können oder nicht - von den möglichen Vorbildwirkungen, die von den Lehrern ausgehen können, ganz zu schweigen. Und wenn ich darauf dränge, daß die Schule insbesondere die Regeln des üblichen öffentlichen Umgangs einzuüben hat, dann habe ich wieder "die Unteren" im Blick, für die das neben der Entwicklung ihres Verstandes lebensnotwendig ist. Das Problem ist jedoch, daß "Erziehung" immer kollektive Bezugspunkte haben muß, auf die sie sich beziehen kann. Zur Individualität kann man nicht erziehen, die setzt sich in Auseinandersetzung mit äußeren Ansprüchen, gerade auch erzieherischen, durch oder nicht. Seitdem jedoch die Schulen sich von ihren früheren kulturellen Milieus (konfessionell, bildungsbürgerlich, sozialistisch) emanzipieren mußten, sind sie in dieser Frage auf sich selbst zurückgeworfen, was vermutlich ebenfalls eine Erklärung für die Beliebtheit der reformpädagogischen Berufsideologie ist. Auch die Eltern und Lehrer fühlen sich entweder keinem Milieu mehr zugehörig, oder sie repräsentieren es nur individuell. Auch der Staat kann nicht mehr als kollektiver Erzieher auftreten, weil er ja alle normativen Entscheidungen diesseits der Legalität der individuellen bzw. aus Verhandlungen der Individuen resultierenden Entscheidung freigegeben hat - worauf ja nicht zuletzt unsere bürgerlichen Freiheiten beruhen. In dieser Lage kann sich die Schule nur noch als partikularen Faktor im Gesamtzusammenhang der ganzen Sozialisation verstehen, d. h., ihre legitimen Erziehungsziele können sich nur noch aus ihrem doppelten Zweck als öffentlicher Institution im allgemeinen und als Institution des Unterrichts im besonderen ableiten. Daran würde übrigens eine private, etwa weltanschauliche Schule nicht allzuviel ändern können, weil sie die übrigen Sozialisationswirkungen ebenfalls nicht ausschalten kann - jedenfalls nicht, ohne den massiven Widerstand zumindest der älteren Schüler zu provozieren. Insofern steht die Frage, ob man denn nun "autoritär" oder weniger rigide in den Schulen erziehen soll, gar nicht mehr auf der historischen Tagesordnung. Die Beliebtheit von Privatschulen beruht nicht darauf, daß sie ein weltanschauliches Gesamtkonzept in Erziehungsfragen vertreten, sondern darauf, daß sie die beiden genannten partikularenErziehungsmöglichkeiten auch tatsächlich zur Geltung bringen wollen und damit offensichtlich im großen und ganzen auch die Zustimmung ihrer Schüler finden.

Ich breche hier einfach ab, in der Hoffnung, daß andere die Sache weitertreiben werden und daß diese Zeitschrift dafür wie bisher ein kritisches Forum bleibt.

Anmerkungen:

(1) H. Giesecke: Wozu ist die Schule da? Die neue Rolle von Lehrern und Eltern. Stuttgart 1996.

(2) Vgl. Ulrich Sprenger: Vier Thesen zum Thema Gesamtschule. Ein Erfahrungsbericht. In: neue deutsche schule H. 14-15/ 1994.

(3) Über die problematische Identifizierung des pädagogischen Interessen mit dem des Unterschichtkindes habe ich in dieser Zeitschrift schon früher nachdenklich machen wollen (vgl. H. Giesecke: Von der Einheitsschule zur Gesamtschule. Interessenwidersprüche zwischen Lehrern und Arbeiterkindern. In: Neue Sammlung, H. 3/1972, S. 187 ff.; vgl. dazu auch die Kontroverse darüber: Hanns Eyferth/ Dieter Galas: Lehrerschaft und Gesamtschule. In: Die Deutsche Schule, H.1/1973, S. 30 ff., und meine Replik in H. 3/1973, S. 188 ff.).


 
 

175. Abschied vom Reich der Wünsche (1996)

In: Deutsche Lehrerzeitung 11/96, 14.3.96, S. 3
 

Die Schulpädagogik geht seit geraumer Zeit aus dem Leim. Es reicht ihr nicht mehr, durch Unterricht die Welt aufzuklären, die sonst dem Nachwuchs naturwüchsig unaufgeklärt bliebe, da ja das Leben alles mögliche lehrt, aber eben nicht unterrichtet; sie strebt vielmehr nach Höherem, nämlich die Ganzheit des Lebens wiederzugewinnen, die angeblich sonst unrettbar verloren ginge. Die Schule soll zum Lern- und Lebensraum werden, in dem unter der Fahne einer umfassend verstandenen "Erziehung" alle nur wünschbaren menschlichen Fähigkeiten und Tugenden wieder zur Geltung kommen. Diesen Tenor greift nun auch der Freizeitpädagoge Horst Opaschowski auf (Vgl. DLZ 3/96), der seit den 70er Jahren unter dem pädagogischen Leitbegriff der "Animation" zu Recht für eine Kompensation einseitig leistungsorientierter Vorstellungen in Beruf und Schule durch entsprechende pädagogische Angebote in der Freizeit eingetreten ist. Daran war und ist wenig auszusetzen, solange die Arbeitsteilung zwischen Schule und außerschulischer Jugendarbeit gewahrt bleibt. Diese Grenze jedoch hat Opaschowski in dem genannten Beitrag überschritten, worin nebenbei auch zum Ausdruck kommt, daß die moderne Schulpädagogik sich im Arsenal der Freizeitpädagogik für ihre Reformvorstellungen ausgiebig bedient hat. Gegen diese Tendenz muß - in der geforderten Kürze - Kritik angemeldet werden.

1. Gewiß trifft weitgehend zu, daß der "Konsumzwang der Erwachsenen" "auch die Heranwachsenden voll im Griff" hat, wofür Opaschowski eine Reihe von Daten anführt. Aber die seit den 50er Jahren sich zunächst in den USA und bald auch in der alten BRD entfaltende Konsumgesellschaft, die uns Jahrzehnte eines wirtschaftlichen Aufschwungs gewährte, aber auch das Habenwollen von den Gütern und Dienstleistungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche und zwischenmenschlichen Beziehungen ausdehnte, ist an ihre ökonomische und nicht zuletzt auch an ihre ökologische Grenze gekommen. Angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen und leerer Staats- und Sozialkassen kommt die Freizeit- und Erlebnispädagogisierung der Schule um Jahrzehnte zu spät; sie ist nicht modern, sondern rückständig. Wir haben, was unseren Nachwuchs angeht, inzwischen ganz andere Sorgen. Ein Kind, das im Verlauf seiner Schulzeit nicht fähig wird, sich unterrichten und seine Leistungen bewerten zu lassen, wird sein Leben lang keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, - wenn es nicht in Länder östlich der Oder-Neiße auswandern will, wo es noch "alte Industrien" gibt und wo bloßes Malochen deshalb vielleicht noch eine Weile nachgefragt wird. Die Spiel- und Spaßschule, die gegenwärtig hoch im Kurs ist, ist ökonomisch ebenso illusionär wie das Konsumgetue, das in den Umfragen zu Tage tritt. Den Kindern und Jugendlichen wäre statt dessen klar zu machen, daß ihre Konsumansprüche auf Pump, jedenfalls auf anderer Leute Arbeit beruhen, und daß sie für ihre wirtschaftliche Existenz über kurz oder lang selbst aufkommen müssen. In der schulpädagogischen Diskussion schlägt sich diese Tatsache jedoch in der Regel nur im Gejammer über die allgemeine Arbeitslosigkeit nieder, als sei ein Heilmittel dagegen, seine geistigen Fähigkeiten gar nicht erst zu entwickeln.

2. Die überwiegende Mehrheit der Schüler hat auch heute damit keine unüberwindbaren Probleme. Man darf die Schwierigkeiten einer Minderheit nicht einfach auf die Mehrheit hochrechnen. Dieser Minderheit muß so gut wie möglich geholfen werden, den Anschluß nicht zu verpassen, aber sie darf nicht zum Maßstab für die Aufgaben der Schule überhaupt werden. Deshalb ist generell Vorsicht angebracht gegenüber einseitigen Analysen der Kinder und Jugendlichen, weil sie offensichtlich dazu dienen sollen, eine neue schulpädagogische Romantik zu rechtfertigen. Das ist auch politisch bedenklich, weil dadurch bis in die Grundschule unser Schulwesen auf neue Weise gespalten werden kann; denn viele Eltern werden nicht hinnehmen, daß ihre Kinder bis zum 4. oder gar 6. Schuljahr ihre Zeit mit weltfremden pädagogischen Ideen vergeuden.

3. "Die Schule ist Lebensraum ihrer Schülerinnen und Schüler, soll ihren Alltag einbeziehen und eine an den Lebensbedingungen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien orientierte Betreuung, Erziehung und Bildung gewährleisten". So steht es im neuen Bremer Schulgesetz. Man beachte die Reihenfolge: Betreuung, Erziehung und Bildung; das, was nur die Schule im Kontext der gesamten Sozialisation leisten kann, nämlich Unterricht zum Zweck der allgemeinen, also nicht nur berufsrelevanten Bildung, rückt an die letzte Stelle. Auch in diesem Punkt wird von einer Minderheit her hochgerechnet: Gewiß braucht je nach den lokalen Umständen eine mehr oder weniger große Zahl der Schüler eine über den Unterricht hinausgehende Betreuung. Aber warum soll aus der Not einiger eine Tugend für alle gemacht werden? Wieso wird das zur Aufgabe der Schule und nicht der Jugendhilfe erklärt, wozu ja rechtlich gesehen auch lokale Schulvereine gehören können, die für die jeweilige Schule das angebrachte Maß an Betreuung organisieren und dabei durchaus das "natürliche Hilfspotential" "freiwilliger Helfer" (Opaschowski) aus der Nachbarschaft mobilisieren können?

4. Normalerweise konstituiert die Schule nicht das Leben ihrer Schülern, sie interveniert vielmehr in dieses Leben; der Schüler verläßt sein normales Leben, um sich unterrichten zu lassen, und kehrt danach wieder in dieses zurück. Was für ein "Leben" will eine Schule statt dessen mit welcher Kompetenz arrangieren? Die meisten Schüler - von den ahnungslosen Idötzen vielleicht abgesehen - werden sich über eine solche Reduktion ihrer außerschulischen Partizipationsmöglichkeiten gewiß nicht freuen und auch deren Eltern sollten mißtrauisch sein, wenn sie denn einen Rest von pädagogischem Verstand haben. Wenn das alltägliche außerschulische Leben von Kindern pädagogisch verbessert werden soll, dann muß man ihnen entsprechende Angebote dort machen, wo sie rund um die Uhr leben, nämlich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Das aber ist Aufgabe der außerschulischen pädagogischen Träger, die ja durchaus mit der Schule z.B. in Sachen Hausaufgabenhilfe zusammenarbeiten können.

Selbstverständlich sollte das Zusammenleben von Schülern und Lehrern in der Schule pädagogisch optimal gestaltet werden, so daß z.B. Selbständigkeit und Verantwortungsfähigkeit herausgefordert werden, aber diese Möglichkeiten sind begrenzt, wenn der institutionelle Zweck, nämlich Unterricht, dabei nicht auf der Strecke bleiben soll. In einer pluralistischen Gesellschaft kann man nicht mehr alles für das Leben Wichtige an einem einzigen sozialen Ort exemplarisch für alle anderen lernen, - weder in der Familie noch in der Schule, weder auf der Straße noch im Freizeitheim oder beim Fernsehen. Aber alle jeweils herausgeforderten Erfahrungen werden für ein befriedigendes Aufwachsen benötigt und die Schule kann nur ein Instrument im Rahmen dieser Partitur sein. 

 

 

176. Was ich dem Jugendhof verdanke (1996)

In: Jugendhof Vlotho (Hrsg.): Bildung - Entfaltung des ganzen Menschen: Jugendhof Vlotho 1946 – 1996. Münster 1996, S. 81-83

(Vorbemerkung: Die Seite 82 ist im Original mit einem anderen Text belegt, fehlt also deshalb in dieser Wiedergabe. H. G.)

In meiner Erinnerung ist der Jugendhof Vlotho untrennbar mit der "Stätte der Begegnung" in der Person von Werner Rietz verbunden. Durch Vermittlung von Günter Geschke kam ich 1955 zum ersten Mal zu einer Tagung nach Vlotho. Ich weiß nicht mehr, um welches Thema es ging, aber ich war tief beeindruckt von etwas, was ich bis dahin nicht erlebt hatte: von engagierten Diskussionen in einem Teilnehmerkreis, in dem verschiedene Generationen und unterschiedliche, manchmal kaum zu vermittelnde Meinungen und Positionen aufeinander trafen. Diese Erfahrung war für mich - Jahrgang 1932 - wie wohl für viele meiner Generation neu, denn bei den "Begegnungen" in Vlotho ging es um einen nichtritualisierten Erfahrungsaustausch ohne vorgängige Rollenzuschreibung. Da sprachen Menschen miteinander, die ihre bisherigen Lebenserfahrungen - auch die aus der NS-Zeit - zur Verfügung stellten und die dies in einer für damalige Verhältnisse ganz ungewöhnlichen menschlichen Offenheit taten. Das war natürlich nur möglich in einem Arrangement, das diese eigentümliche Kombination von Nähe und Distanz auch zuließ, und dazu gehörte nicht zuletzt das "musische Klima" des Hauses. Es reichte weit über gemeinsames Singen und Tanzen hinaus und prägte den Umgangston im ganzen, entspannte ihn und gab ihm spielerische Züge. Die Auseinandersetzungen konnten nämlich durchaus stürmische Formen annehmen, aber sachbezogene Verbissenheit durfte nicht die Achtung vor dem menschlichen Gegenüber verlieren - das war eine der wichtigsten Regeln.

Die zweite neue Erfahrung von Beginn an war für mich das demokratische Element. Es war damals üblich, aus dem Teilnehmerkreis der Tagung eine Kommission zu bilden, die die nächste Veranstaltung vorbereiten und durchführen sollte, wozu auch ich gewählt wurde. Ein derartiges Mitbestimmungsangebot, insbesondere an junge Leute, war damals so ungewöhnlich, daß uns anschließend die Gewöhnung an die Regeln des Alltags nicht immer leicht fiel.

Auf diesem Hintergrund wurde der Jugendhof für mich neben dem Studium zu einem kaum zu überschätzenden "Bildungsfaktor", der sogar meinen beruflichen Weg nachhaltig beeinflußt hat. Der Jugendhof Vlotho war ein Zentrum für alle möglichen Aktivitäten, an denen viele Menschen mit unterschiedlichen Ideen beteiligt waren. Studenten, die wie ich von seiner Arbeit angezogen wurden, gründeten z.B. den "Studienkreis für politische Bildung", der zunächst Fachtagungen über Fragen des Marxismus und der Ost-West-Auseinandersetzung veranstaltete und dafür namhafte Experten gewinnen konnte, die an den Universitäten noch weitgehend fehlten, so

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entstand eine Art von Studium neben dem offiziellen Universitätsbetrieb. Seit Ende der 50er Jahre stellte dieser studentische "Studienkreis" dann die nebenamtlichen Mitarbeiter für politisch-bildende Lehrgänge mit Oberschülern, die zu einem Schwerpunkt der Jugendhofarbeit für viele Jahre wurden. Daraus erwuchs eine weitere Erfahrung, die damals sonst kaum möglich gewesen wäre, nämlich eine eigenartige Kombination von Studieren und Handeln. Die politische Bildungsarbeit war im Unterschied zum studentischen Debattieren eine ernsthafte Herausforderung, deren Erfolg nicht nur pädagogisch, sondern auch politisch immer wieder in Frage stand; denn die oft ungestüme und nicht selten auch überengagierte Tätigkeit von Studenten, die über keinerlei professionelle pädagogische Kompetenz verfügten, erregte gelegentlich durchaus auch öffentliches Ärgernis, und wir mußten lernen, daß entschiedene Aufklärung nicht per se die politisch Verantwortlichen begeisterte.

Modern gesprochen war der Jugendhof eine "Lernwerkstatt" für viele und für vieles, und seine Faszination gerade für junge Menschen bestand darin, daß er kognitive, soziale und emotionale Bildungsmöglichkeiten bot, die der normale Alltag nicht annähernd hergab. Für mich öffneten diese Erfahrungen den beruflichen Weg zur außerschulischen Pädagogik, der mich nach meinem Studium zunächst zum Jugendhof Steinkimmen und dann schließlich an die Pädagogische Hochschule Göttingen führte.

Ich erinnere mich, daß uns Jungen damals manches betulich erschien und daß wir es schwer hatten, die Älteren zu verstehen, die aus ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für uns nicht immer nachvollziehbare Schlüsse gezogen hatten. Aber ihnen und all denen, die damals den Jugendhof Vlotho zu dem gemacht haben, als was ich ihn erlebte, schulde ich bis heute Dank für das, was ich von und mit ihnen habe lernen dürfen.

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177. Erziehung als soziales Phänomen (1996)

Makarenko’s Kinder- und Jugendkolonien

Theodor Wilhelm zum 90. Geburtstag.

in: Neue Sammlung H. 2/1996, S. 303 – 323

Die sozialen Dimensionen und Implikationen des pädagogischen Handelns werden seit geraumer Zeit bei uns zunehmend diskutiert, nachdem die Psychologisierung des Erziehungsverhältnisses sich als zu einseitig herausgestellt hat und den Problemen vor allem in der Schule nicht mehr gerecht wird. Damit steht erneut ein Thema auf der Tagesordnung, zu dem Theodor WILHELM sich seit Anfang der 50er Jahre immer wieder geäußert hat, indem er aus dem miterlebten Untergang des zivilen Verhaltens in der NS-Zeit die Schlußfolgerung zog, die Pädagogik müsse sich verstärkt um die Kultivierung der öffentlichen, emotional distanzierten Sozialbeziehungen bemühen, was ihr in Deutschland bis heute offensichtlich schwer gefallen ist. Auf diesem Hintergrund ist es reizvoll, sich an einen Pädagogen zu erinnern, der unter außergewöhnlichen Bedingungen und Voraussetzungen die Erziehung sozial zu fundieren versucht hat, nämlich an Anton S. Makarenko, und zu überprüfen, was an seinen Vorstellungen zeit- und situationsbedingt war und was möglicherweise auch für unsere gegenwärtige Debatte noch von Nutzen sein, ihr vielleicht kritische Impulse geben könnte.

Noch bis zur "Wende" galt Makarenko in der DDR als der pädagogische Klassiker, auf den sich die offizielle Pädagogik berief und der zur Pflichtlektüre jedes Pädagogikstudenten gehörte. Inzwischen sind seine Werke, außer teilweise in der sehr teuren zweisprachigen Marburger Ausgabe und der von H. E. Wittig edierten Auswahl, nicht mehr in deutscher Sprache im Buchhandel vorrätig. Unverständlicherweise ist auch die von O. Anweiler vorzüglich eingeleitete Taschenbuchausgabe seines Hauptwerkes, des "Pädagogischen Poems", seit Jahren vergriffen. Es wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtum anzunehmen, mit dem Ende des Ostblock-Sozialismus sei auch eine Beschäftigung mit diesem außergewöhnlichen Pädagogen historisch hinfällig geworden.

Seine Rezeption in Westdeutschland war wohl immer schon begrenzt. Dabei müßte zumindest das "Pädagogische Poem" jedem Pädagogikstudenten bekannt sein, weil es so anschaulich wie kaum ein anderes pädagogisches Buch beschreibt, wie gleichsam aus einer sozialen Nullsituation heraus die Notwendigkeit erzieherischer Interventionen erwächst und wie dabei wesentliche Grundbegriffe des pädagogischen Denkens sich entfalten.

Abgesehen von der frühen, immer noch lesenswerten Darstellung von E. HEIMPEL war in den 50er und 60er Jahren die Beschäftigung mit Makarenko fast ein Privileg katholischer Autoren, die sich aus ihrer Sicht mit seinen Vor-

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stellungen über Persönlichkeit und Kollektiv auseinandersetzten (ADOLPHS; FEIFEL; NASTAINCZYK; RÜTTENAUER). Später ist eine systematische und umfassende Interpretation nicht mehr vorgelegt worden, wenn man von der relativ knappen Arbeit aus der Schweiz von FURRER absieht. Allerdings wurden durch die grundlegenden Darstellungen von ANWEILER (1964), ANWEILER/MEYER und FROESE (1963) die geistes-, erziehungs- und sozialgeschichtlichen Hintergründe für das Wirken Makarenkos gründlich aufgehellt, was für das Verständnis seines Werkes neue Dimensionen erschloß. Kaum überschätzt werden kann zudem die Tätigkeit des Makarenko-Referates in der Forschungsstelle für vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Marburg, die vor allem mit den Namen L. FROESE, G. HILLIG und S. WEITZ verbunden ist und die nicht nur eine auf 20 Bände geplante zweisprachige textkritische Ausgabe in Angriff genommen, sondern überhaupt dem seinerzeitigen sowjetischen Forschungs- und Informationsmonopol in Sachen Makarenko eine produktive Alternative entgegengesetzt hat. Alle diese Vorgaben können hier nur erwähnt und benutzt, aber nicht weiter erörtert werden.

1. Leben und Werk

Als Makarenko eine für jugendliche Rechtsbrecher in der Nähe von Poltava (Ukraine) eingerichtete Kolonie im Jahre 1920 als Leiter übernahm, die später den Namen "Maxim-Gorkij-Kolonie" erhielt und die ihn durch sein "Poem" berühmt gemacht hat, war er bereits 32 Jahre alt. Er wurde am 13. März 1888 in Belopole (Ukraine) als Sohn eines Eisenbahners geboren, besuchte die Volksschule, absolvierte einen einjährigen pädagogischen Ausbildungskurs und war seit 1905 mit einigen Unterbrechungen an verschiedenen Schulen als Lehrer tätig.

Die Kolonie entstand in einer schwierigen Zeit. Neben dem Analphabetentum - etwa die Hälfte der russischen Bevölkerung konnte nicht lesen und schreiben - war das Kinderelend eines der größten Probleme. Nach amtlichen Schätzungen streunten etwa sieben bis neun Millionen Kinder im Land umher. Die Wurzeln dieses Elends reichten bis in die Kriegsjahre zurück, aber erst der Bürgerkrieg 1918 - 1920 und dann die Hungersnot 1921/22, der etwa fünf Millionen Menschen zum Opfer fielen, führten zur Katastrophe. Millionen Minderjährige strömten auf der Suche nach Brot aus den Hungergebieten in die Großstädte und in die südlichen Landesteile. Viele Bahnhöfe wurden zu Sammelpunkten dieser Verwahrlosten (Vgl. ANWEILER 1964, S. 223 ff.).

Zudem verwüsteten der Bürgerkrieg und kriegerische Interventionen von außen das Land. Überall erhob sich Widerstand gegen die Sowjetmacht und nur Lenins wirtschaftspolitische Kehrtwendung, die Einführung der sogenannten "Neuen ökonomischen Politik" (NEP), rettete vermutlich die Macht der Bolschewiki. Nun durfte sich in Grenzen wieder ein freier Markt entfalten, der zwar die Hungerkatastrophe von 1921 nicht verhindern konnte, aber in den folgenden Jahren doch zu deutlicher wirtschaftlicher Verbesserung führte.

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Im krassen Gegensatz zu diesem Elend und zu den politischen Brutalitäten, wie sie Krieg und Bürgerkrieg mit sich brachten, stand der pädagogische Optimismus, der Glaube an das Gute im Kinde, der damals die Sowjetpädagogik beherrschte. Vielen jungen Intellektuellen, vor allem auch Frauen, zu denen nicht zuletzt Lenins Frau, die Krupskaja, gehörte, schien die Zeit reif für die Aufnahme reformpädagogischer Ideen, wie sie in Europa und Nordamerika zu finden waren. Das Kind und seine Bedürfnisse sollten im Mittelpunkt des pädagogischen Interesses stehen, und erforscht werden sollte beides durch eine spezielle Wissenschaft, die "Pädologie", die in den USA entstanden war und auch die junge Sowjetunion erreichte (Vgl. DEPAEPE). Dieser pädagogische Zeitgeist erfaßte auch die sowjetische Rechtsprechung. Sie richtete im Jahre 1918 einen besonderen Zweig ein: das "Kinderrecht". Minderjährige Rechtsbrecher bis zum 17. Lebensjahr wurden nun nicht mehr den Jugendgerichten zugewiesen, sondern besonderen Kommissionen, die diese Jugendlichen in Fürsorgeanstalten oder medizinische Heilstätten einweisen sollten. Konsequent wie nirgendwo sonst wurde der Strafgedanke durch den Erziehungsgedanken ersetzt; die Kommissionen sollten ihre Aufmerksamkeit auf die Person des Täters und die Umstände der Tat richten, nicht auf die Tat selbst. Nicht die Frage der Schuld sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die nach der bestmöglichen Hilfe.

Im ganzen Land entstanden also Umerziehungseinrichtungen, von denen wir im einzelnen wenig wissen; die Gorkij-Kolonie war nur eine davon, allerdings diejenige, die durch das "Pädagogische Poem" besonders bekannt wurde. Im Jahre 1928 mußte Makarenko sie verlassen; kurz zuvor hatte der Schriftsteller Maxim Gorkij, den er sehr verehrte und der ihn auch zu seinen schriftstellerischen Arbeiten ermutigt hatte, die nach ihm benannte Kolonie besucht. Die Gründe für seine Entlassung sind noch nicht hinreichend geklärt (Vgl. HILLIG 1991), aber eine wesentliche Rolle dürften die ständigen Auseinandersetzungen mit seiner vorgesetzten Behörde, dem Kommissariat für Volksbildung, gespielt haben, das seinen pädagogischen Ideen und Praktiken fremd bis feindlich gegenüber stand. Einen Teil der Gorkij-Zöglinge nahm Makarenko mit in die Dzerzinskij-Kommune, deren Leitung er schon vorher, seit ihrer Gründung 1927, übernommen hatte. Sie unterstand nicht dem Volkskommissariat für Volksbildung, sondern der GPU, der politischen Polizei, nach deren Gründer sie benannt war. Er leitete sie zunächst als Gesamtleiter, ab 1932 nur noch als pädagogischer Leiter bis 1935. Im Unterschied zur Gorkij-Kolonie erhielt diese Kommune keine öffentlichen Mittel. Sie lebte von den Spenden der GPU-Mitglieder, die ein halbes Prozent ihres Lohnes dafür abgaben, in den ersten Jahren ärmlich. Das änderte sich erst, als die Kommune eine Fabrik baute, die auf abenteuerliche Weise finanziert wurde, die sie aber nach und nach relativ wohlhabend machte, während die Gorkij-Kolonie im wesentlichen auf Landwirtschaft beruhte. Glanzstücke der Produktion waren der Nachbau des damals berühmten Fotoapparats Leica und der elektrischen Black-und-Decker-Bohrmaschine. Nach einigen Jahren war die Kommune auf fünfhundert Kommunarden angewachsen.

Die industrielle Produktion ließ sich jedoch nicht nur mit den Kommunarden betreiben, Fachleute von außerhalb mußten zusätzlich eingestellt werden. Dafür

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wurden die Erzieher abgesehen von den Schullehrern entbehrlich, die Selbsterziehungskraft der Kollektive und die sachlichen Anforderungen der Arbeit machten sie überflüssig. Aber auch hier geriet Makarenko bald in Schwierigkeiten. Der industrielle Erfolg der Kommune führte zur ständigen Versuchung, die ökonomischen Maximen über die pädagogischen zu stellen. Hartnäckig bestand Makarenko auf einer guten Berufsausbildung und auf angemessenem Schulbesuch. Es gelang ihm, vier Stunden Schulunterricht bei vier Stunden Arbeit täglich durchzusetzen. Erfolglos versuchte er zu verhindern, daß die Kommunarden Lohn bekamen, weil sich dadurch die Perspektive auf die unmittelbaren materiellen Interessen reduzieren könnte. Immerhin sorgte er dafür, daß die Kommunarden nur ein Taschengeld ausbezahlt bekamen. Der Rest ging auf ein Sparkonto, so daß die Zöglinge, wenn sie die Kommune verließen, ein Startkapital zur Verfügung hatten. Nach einem Beschluß der Vollversammlung mußten die Kommunarden 10 % ihres Lohnes in einen Fond einbezahlen. Von diesen Mitteln wurden Stipendien vergeben für besonders begabte Kommunarden, die z. B. an der Arbeiter-Fakultät studieren wollten. Außerdem erhielt jeder Kommunarde eine Aussteuer, wenn er die Kommune verließ.

Vermutlich waren es neben der schon wegen der Größe des Unternehmens und seiner wirtschaftlichen Bedeutung zunehmenden Bürokratisierung gerade solche Konflikte, die 1932 zu seiner Ablösung als Gesamtleiter führten (Vgl. HILLIG/WEITZ 1970). Der von Stalin forcierte Ausbau der Schwerindustrie im Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft war in vollem Gange und die Produktionsleistung sollte u. a. durch Differenzierung der Leistungslöhne erhöht werden. Da blieb wenig Raum für dem entgegenstehende pädagogische Experimente.

Seit 1932 versuchte Makarenko vergeblich, die Leitung einer anderen Kolonie zu übernehmen, aber seine Vorgesetzten gaben ihn nicht frei, sondern versetzten ihn 1935 nach Kiew als stellvertretenden Leiter der Arbeitskolonien des NKVD, des Innenministeriums. Hintergrund dafür war die Tatsache, daß in diesem Jahre die Einrichtungen für die Umerziehung jugendlicher Rechtsbrecher dem Volkskommissariat für Volksbildung entzogen und dem NKVD unterstellt wurden. Er entwickelte für die pädagogische Verbesserung der Erziehungsheime ein einheitliches Konzept, richtete Fortbildungskurse für die Mitarbeiter ein und übernahm noch einmal eine verwahrloste Kolonie in der Nähe von Kiew, um sie in kurzer Zeit zu sanieren (Vgl. HILLIG/WEITZ 1994, S.105 f.). Aber seine pädagogischen Vorstellungen gerieten erneut, nun auch politisch-ideologisch, in Widerspruch zu denen seiner Vorgesetzten, weshalb er auch dieses Amt aufgeben mußte. Diese Phase seines Lebens ist ebenfalls noch weitgehend ungeklärt. Jedenfalls zog er 1937 als freier Schriftsteller mit seiner Familie nach Moskau.

Nun versuchte er, seine unter den besonderen Bedingungen von Umerziehungskolonien gewonnenen Erfahrungen auf die Erziehung im ganzen zu übertragen, denn er sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Erziehung von verwahrlosten und sogenannten normalen Kindern. In diesem Jahr erschien sein "Buch für Eltern", das auf weitere drei Bände geplant war, aber nur der erste Band ist erschienen. Hintergrund für dieses Projekt war die 1935/36 erfolgte

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radikale Änderung der sowjetischen Sozialpolitik, die unter anderem die Familie als Erziehungsinstitution rehabilitierte. Der pädagogische Enthusiasmus der Revolutionsjahre wurde nun beendet und die "Ideologie" der "Pädologen", mit denen Makarenko ständig in Konflikt geraten war, wurde parteioffiziell verboten, und das hieß: ihre Anhänger mußten nun mit Verfolgung rechnen.

Makarenkos Frau Galina Stachievna gehörte in der Zeit der Gorkij-Kolonie zu seinen Vorgesetzten im Volksbildungsamt, wo sie zunächst zu seinen pädagogischen Gegnern zählte, dann sich aber auf seine Seite stellte. Seit 1929 lebten die beiden zusammen. Von 1932 bis zur Hochzeit 1935 arbeitete sie als Lehrerin an der Arbeiterfakultät der Dzerzinskij-Kommune, dann gab sie ihre Arbeit auf. Als nun Makarenko 1937 ebenfalls seine Tätigkeit in Kiew beendete, um als freier Schriftsteller in Moskau zu leben, mußte er ohne festes Einkommen eine vierköpfige Familie ernähren. In ihr lebte nämlich noch ein Sohn seiner Frau aus erster Ehe und eine Tochter seines Bruders, beide im heranwachsenden Alter. Sein Bruder Vittorij hatte am Weltkrieg teilgenommen, sich im Sommer 1919 der "Weißen Armee", also den Bürgerkriegsgegnern der Roten Armee, angeschlossen und mit dieser 1920 seine Heimat verlassen.

Makarenkos letzten beiden Lebensjahre in Moskau sind durch einen chronischen Geldmangel gekennzeichnet, zumal der schriftstelleriche Erfolg ausbleibt. Das "Pädagogische Poem" findet zwar überwiegend Zustimmung, aber die Einkünfte daraus versiegen rasch. Das "Buch für Eltern" erhält wenig Resonanz. Um zu Geld zu kommen, muß er möglichst viel produzieren. Das "Poem" hat ihn zwar bekannt gemacht, er wird zu Vorträgen gebeten, in denen er versucht, seine pädagogischen Erfahrungen zu einer allgemeinen kommunistischen Erziehungstheorie zu systematisieren. Aber er verliert den Überblick, schließt Verträge mit Verlagen und Filmgesellschaften ab, die er nicht einhalten kann, arbeitet an manchen Projekten gleichzeitig und bringt nichts mehr richtig zu Ende. 1938 erscheint - teilweise hastig zusammengeschrieben - das Jugendbuch "Flaggen auf den Türmen", - ein Roman über die Dzerzinskij-Kommune, über die er schon früher geschrieben hatte ("FD-1"; "Der Marsch des Jahres 30"). Das Buch wird von der Kritik ziemlich einhellig verrissen, die es am "Poem" mißt und ihm idyllische Schönfärberei vorwirft. Tatsächlich fühlte sich Makarenko noch nicht in der Lage, über diese Kommune ähnlich wie über die Gorkij-Kolonie zu schreiben. "Die Geschichte der Dzerzinskij-Kommune hatte ihr eigenes Drama, nicht weniger heftig als das der Gorkij-Kolonie, aber über dieses Drama will ich noch nichts schreiben, werde warten, bis es sich in der Seele gesetzt hat" (zit. n. HILLIG 1988, S. 261), schrieb er an einen ehemaligen Zögling.

Die Kritik trifft ihn hart. Mit allem, was er nach dem "Poem" veröffentlicht hat, scheint er schriftstellerisch gescheitert zu sein. Vielleicht deshalb und nicht nur aus finanziellen Erwägungen bewirbt er sich im Februar 1939 mit Erfolg auf eine Direktorenstelle an einer Moskauer Schule. Bevor er jedoch dieses Amt antreten kann und bevor über seinen erst in dieser Zeit gestellten Antrag auf Eintritt in die kommunistische Partei entschieden worden ist, stirbt er am 1. April 1939 in einem Zug auf der Fahrt nach Moskau.

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Makarenko war Pädagoge und Schriftsteller, und er schrieb keineswegs nur über pädagogische Themen. Vier Wochen vor seinem Tode erhielt er für seine schriftstellerischen - also nicht für seine pädagogischen - Verdienste den zweithöchsten sowjetischen Orden "Rotes Arbeitsbanner", was angesichts der heftigen literarischen Kritik wohl auch ihn selbst überraschte. Zu seinen Lebzeiten galt der Verfasser des "Poems" in seinem Lande als interessanter pädagogischer Praktiker, aber die wissenschaftliche Pädagogik nahm so gut wie keine Notiz von ihm.

Nach seinem Tode sorgte seine Frau dafür, daß sein Werk nicht in Vergessenheit geriet und daß sein Nachlaß veröffentlicht wurde. So entstand die erste siebenbändige Gesamtausgabe seiner Werke, die in russischer Sprache 1950 - 1952 erschien und in der DDR ins Deutsche übersetzt wurde; nach ihr wird im folgenden auch zitiert. Diese Ausgabe sorgte für den weltweiten publizistischen Erfolg; vorher war nur das "Poem", erschienen in den Jahren 1934-1936 in drei Teilen, auch außerhalb der Sowjetunion, vor allem durch eine englische Übersetzung des I. Teils, bekannt geworden, die unter dem Titel "Der Weg ins Leben" erschien und sich dabei an den Erfolg des gleichnamigen russischen Spielfilms von Nikolaj Ekk aus dem Jahre 1931 anlehnte. Bis in die 7oer Jahre wurden das "Poem" und andere Werke Makarenkos in 37 Sprachen übersetzt (Vgl. Hillig 1980 a). In den Jahren 1983-86 erschien eine neue achtbändige Ausgabe seiner Werke in der UdSSR, die aber noch nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bemerkenswert ist, daß ein Autor, der zu Lebzeiten so umstritten war, wenige Jahre nach seinem Tode zum Klassiker der kommunistischen Pädagogik in der Sowjetunion werden konnte. Eine wichtige Rolle spielte sicher die Tatsache, daß das Konzept der Kollektiverziehung und die Thesen vom pädagogischen Wert der produktiven, also werteschaffenden Arbeit gut in den stalinistischen Kollektivierungs- und Industrialisierungswillen paßten; zudem war durch das Verbot der "Pädologie" eine Lücke entstanden. Die Edition seiner Werke mußte politische Rücksichten nehmen, er wurde in eine offizielle Position versetzt, die kritische Diskussionen weitgehend ausschließen sollte.

Diese falsche Idealisierung wurde insbesondere durch das erwähnte Makarenko-Referat an der Universität Marburg korrigiert. Im ganzen legten vor allem G. HILLIG und S. WEITZ ein entmystifiziertes, aber dadurch auch eher menschliches Bild von Makarenko vor. Er war eben nicht nur ein bedeutender Pädagoge und Schriftsteller, er war auch rechthaberisch, gelegentlich opportunistisch, manchmal anmaßend und - vor allem in den letzten Lebensjahren deutlich erkennbar - auch in einem gewissen Maße weltfremd, - vielleicht eine Folge des langen Lebens unter den sozial reduzierten Bedingungen seiner Kolonien.

Diese biographische Skizze darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Vita und sein Wirken noch immer nicht hinreichend geklärt sind. Nicht nur wissen wir dank der sowjetischen Geheimhaltungspolitik immer noch wenig über bestimmte Phasen seines Lebens, und manches, was bekannt ist, beruht möglicherweise auf politisch motivierten Stilisierungen. Vielmehr muß das, was er - vom "Poem" angefangen - selbst geschrieben hat, immer auch unter dem Gesichtspunkt politisch-ideologischer Rücksichtnahme gelesen werden; denn es war die Zeit der "Schauprozesse" und der "Säuberungen". In der Zeit zwischen 1920 und 1935,

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also dem Beginn der Gorkij-Kolonie und dem Ausscheiden Makarenkos aus der Dzerzinskij-Kommune, nahm die Sowjetunion eine soziale und politische Entwicklung (Vgl. LORENZ; MEYER), die eigentlich mehrerer Generationen bedurft hätte und die auch bei einem Pädagogen wie Makarenko ihre Spuren hinterlassen mußte und für eine Kontinuität von Überzeugungen nicht gerade ideal war.

2. Elemente des pädagogischen Konzeptes

Makarenkos pädagogisches Werk entwickelte sich in drei, biographisch auf einander folgenden Phasen. In der Gorkij-Kolonie entsteht sein Erziehungskonzept in einer pädagogischen Nullsituation, - nicht durch Anwendung eines vorgefaßten pädagogischen Planes, sondern durch Beobachtung der Zöglinge, durch sich Einlassen auf Erfahrungen und durch Schlußfolgerungen daraus. Für die zweite Kolonie greift er im wesentlichen darauf zurück, und es wird dort nicht nur durch seine Person, sondern vor allem auch durch die aus der Gorkij-Kolonie mit übersiedelnden Zöglinge vorgegeben. Aus diesem Unterschied erklärt sich wohl auch die Faszination, die vom Bericht über die "unfertige" Gorkij-Kolonie - das "Poem" - im Unterschied zu den in der Tat weniger lebendigen Darstellungen des scheinbar funktionierenden Lebens in der Dzerzinskij-Kommune ausgeht. Die dritte Phase ist in der Vortragstätigkeit der Jahre 1937 bis 1939 zu sehen, als Makarenko versucht, seine praktischen Erfahrungen in die Form allgemeiner Schlußfolgerungen zu fassen, also in diesem Sinne theoretisch zu systematisieren. Im Grunde muß jede Erörterung über sein pädagogisches Denken angeben, auf welche dieser Ebenen es sich bezieht. Was zB. in der Ursprungssituation der Gorkij-Kolonie einleuchtend erscheint, kann unter den Bedingungen der Dzerzinskij-Kommune kritisierbar oder auf der dritten, systematischen Ebene als überzogene Verallgemeinerung erscheinen. So gesehen können Makarenkos pädagogische Vorstellungen eigentlich gar nicht systematisch, wie ein irgendwann fertiges Ganzes, dargestellt werden, sondern nur im Rahmen seiner biographischen Entwicklung. Dies nicht zu sehen, führt leicht zu Fehldeutungen oder zumindest zu Einseitigkeiten.

Hinzu kommt, daß Makarenkos Darstellungen des Lebens in den beiden Kolonien in literarischer Form, nicht als Protokolle, vorliegen, was zwar seine pädagogischen Überzeugungen zum Ausdruck bringt, uns aber nicht unbedingt auch zuverlässige Einblicke in das tatsächliche Geschehen verschafft.

Die generelle Frage war, wie der "neue Mensch", der nun erzogen werden sollte, eigentlich beschaffen sein müsse und mit welchen pädagogischen Methoden man ihn schaffen könne; mit ihr beginnt auch das "Poem" und Makarenko hatte darauf zunächst keine Antwort. Die ersten Zöglinge ließen sich zwar verpflegen, akzeptierten das Dach über dem Kopf, gingen jedoch des Nachts ihrer Wege und begegneten Anweisungen mit Spott und Beleidigungen. Wie sollten aus ihnen die "neuen Menschen" entstehen, wie sie sich die sowjetische Reformpädagogik vorstellte? So begann die Umerziehung unrühmlich mit einer Ohrfeige, als die Zöglinge, statt Holz im Wald für die Heizung zu schlagen, eines Tages das Bretterdach des Schuppens abdeckten, um es zu verfeuern.

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"In einem Anfall von Wut über die erlittene Beleidigung, aufgepeitscht bis an die Grenze der Verzweiflung und Raserei durch all die vorhergehenden Monate, holte ich aus und schlug Sadorow ins Gesicht. Ich traf ihn schwer, er konnte sich nicht halten und fiel gegen den Ofen. Ich schlug zum zweiten Male zu, packte ihn am Kragen, riß ihn hoch und versetzte ihm einen dritten Schlag ..." (I, 30).

Zu seiner Verwunderung gehorchten die Zöglinge nicht nur, sondern bewunderten ihn auch noch für seine Tat. Ein Bann schien gebrochen, obwohl Prügeln streng verboten war und die Zöglinge ihn deswegen hätten anzeigen können. Aber offensichtlich konnte der "neue Mensch", wie immer er beschaffen sein mochte, nicht einfach aus der Innerlichkeit seiner "alten" Seele erwachsen. Er ließ sich auch nicht aus übergeordneten pädagogischen Maximen deduzieren, und Makarenkos praktische pädagogische Leistung bestand von nun an darin, gemeinsam mit den Zöglingen nach Antworten auf die pädagogischen Fragen zu suchen.

Sie führten ihn schnell in einen Gegensatz zu den reformpädagogischen Vorstellungen des damaligen Zeitgeistes und immer wieder in Konflikte mit den "pädologischen" Intentionen seiner Vorgesetzten, die dann auch 1928 zum Bruch führten. Der Kern des Konfliktes bestand darin, daß seine Kontrahenten in der jeweiligen individuellen Psyche des Kindes nach Defekten fahndeten und der Ansicht waren, die Kinder würden von sich aus sozialfähig werden, wenn man ihnen mit Verständnis und Vertrauen begegne.

Zalkind, damals eine Autorität für Umerziehung, drückte es so aus:

"Keine einzige fertige Regel, keinerlei Anordnung von oben; nichts soll den Kindern aufgedrängt werden, alles wird mit der Zeit von selbst entstehen, wenn das Leben in der Arbeitskommune den Kindern ebenso verlockend erscheint wie auf der Straße. Die Atmosphäre einer solchen Anstalt wird durch völliges Vertrauen zwischen Erziehern und Zöglingen, ihre innere Annäherung im alltäglichen Umgang, durch die enge Gemeinsamkeit ihrer Interessen charakterisiert" (zit. n. ANWEILER, 1964, S. 232).

Dem setzte Makarenko die Erfahrung entgegen, daß aus diesem Wachsenlassen nur "Unkraut" hervorgehen könne und daß es darauf ankomme, den Zöglingen ein soziales Arrangement anzubieten, in dem es für sie zu leben lohnt, in dem sie anerkannt sind und Stolz und Selbstbewußtsein entfalten können. Dafür sind Formen der inneren Organisation, der Anforderungen und der Disziplin unentbehrlich. Ist diese Gemeinschaft, von ihm "Kollektiv" genannt, erst einmal etabliert, wofür der Erzieher zunächst zu sorgen hat, dann wird sie sich durch ihre Organe selbst regulieren, und der Erzieher kann sich darauf beschränken, in ihrem Namen die nötigen Ansprüche geltend zu machen.

Was sich aus den "unrühmlichen Anfängen" herausbildete, läßt sich im wesentlichen beschreiben durch die Stichworte "Kommandeur-Pädagogik", "Disziplin", "Perspektive" und "Strafe".

"Kommandeur-Pädagogik"

Die innere Organisation ergab sich aus äußeren Notwendigkeiten, nämlich das Überleben zu sichern. Die Zöglinge mußten in der Gorkij-Kolonie unter primi-

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tiven Bedingungen soviel Lebensmittel wie möglich selbst produzieren; denn das, was ihnen von den Behörden zugewiesen wurde, reichte nicht aus. Der allgemeine Hunger hatte auch sie erreicht. Erst als die Kolonie in ein benachbartes, verlassenes und heruntergekommenes Gut umziehen und einen ausgebildeten Agronomen einstellen konnte, verbesserte sich die Lage, weil nun fachmännisch und planmäßig gearbeitet werden konnte.

Makarenko schildert, wie das organisatorische Kernstück der Kolonie, die von den pädologischen Kritikern so genannte "Kommandeur-Pädagogik" (I, 213 ff.) 1923 von den Zöglingen selbst erfunden wurde. Eine optimale Organisation der Arbeit in der Werkstatt einerseits wie bei der Feldarbeit andererseits verlangte, daß bestimmte Gruppen bestimmte Arbeiten ausführten, für die einer aus der Gruppe jeweils die Verantwortung übernehmen mußte. Einige Zöglinge kamen nun auf die Idee, dafür aus ihrer Revolutions-Romantik stammende Bezeichnungen zu verwenden: Die Gruppe sollte "Abteilung", der persönlich Verantwortliche "Kommandant" heißen. Aus dieser Idee entwickelte sich nun eine höchst komplexe Sozialstruktur. Es gab "ständige Abteilungen", die für längerfristige Aufgaben zuständig waren, - z. B. für die Schweine, die Pferde, die Schmiede, die Schusterwerkstatt - und sogenannte "Einsatzabteilungen", die kurzfristige Aufgaben - z. B. in der Landwirtschaft - zu übernehmen hatten und danach wieder aufgelöst wurden. Wiederum aus organisatorischen Gründen lag es nahe, mit den Kommandeuren regelmäßige Besprechungen abzuhalten, und auch dafür erfanden die Zöglinge einen anschaulichen Namen: "Rat der Kommandeure".

"Dank diesem System konnte die Mehrheit der Kolonisten sich nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Organisator betätigen. ... Die Rolle des Kommandeurs einer ständigen Abteilung war keineswegs überragend. Die ständigen Kommandeure ließen sich fast nie zu Kommandeuren von Einsatzabteilungen ernennen, in der Meinung, sie seien auch so schon zur Genüge mit Arbeit versehen. Der Kommandeur einer ständigen Abteilung trat in einer Einsatzabteilung als einfaches Mitglied zur Arbeit an und unterstand bei der Arbeit dem jeweiligen Kommandeur, der oftmals zu seiner ständigen Abteilung gehörte. Dies schuf ein sehr verflochtenes Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten in der Kolonie, und dem einzelnen Kolonisten war es dabei nicht möglich, sich eine besondere Stellung zu verschaffen und sich über das Kollektiv zu stellen.

Das System der Einsatzabteilungen machte das Leben in der Kolonie spannend und interessant durch den ständigen Wechsel von Arbeits- und Organisationsaufgaben, durch den Wechsel von leiten und sich unterordnen, durch die Wechselwirkungen der kollektiven und persönlichen Interessen" (I, 220 f.).

Für diese offizielle, dienstliche Ebene der Kommunikation entwickelten sich besondere, ritualisierte, militärähnliche Formen des Umgangs, die Makarenko allerdings primär unter ästhetischen Gesichtspunkten sah. So erfolgte die "Meldung" der Kommandeure in Uniform und nicht in der üblichen Arbeitskleidung, und dabei wurde salutiert.

Aber der "Rat der Kommandeure" war eine relativ späte Erfindung, resultierend aus der Notwendigkeit effektiver Arbeitsteilung, das Hauptorgan der Selbst-

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verwaltung der Zöglinge war von Anfang an die Vollversammlung, deren Beschlüsse auch für den pädagogischen Leiter verbindlich waren und die, je reifer die Kolonisten wurden, erzieherische Interventionen immer entbehrlicher machte.

Ästhetik der Disziplin

Voraussetzung für das Funktionieren dieser Organisation war, daß die Zöglinge - und die Erzieher! - eine entsprechende Disziplin aufbrachten, aber nicht jene alte, sich unterwerfende der zaristischen Ära, sondern eine "bewußte", die statt dessen aus Einsicht in die Notwendigkeiten des kleinen Gemeinwesens erwuchs, dessen Entwicklung jeder mitbestimmen konnte. Disziplin erwies sich, für alle unmittelbar einsichtig, als nötig, um die gemeinsamen Ziele besser erreichen zu können und damit jeder einzelne sich entsprechend seinen Fähigkeiten zu entfalten vermochte; sie verlangte aber auch Unterordnung von Einzelinteressen unter die des Kollektivs und bewährt sich schließlich erst, wenn sie auch Verzichte verlangt. "Disziplin tritt nicht dann in Erscheinung, wenn der Mensch etwas ihm selbst Angenehmes tut, sondern dann, wenn er etwas Schwieriges verrichtet, etwas Unerwartetes, das bedeutende Anstrengungen verlangt". Aber sie fordert nicht nur etwas vom Einzelnen, sie gibt ihm auch etwas: nur der disziplinierte Mensch ist auch ein schöner Mensch. Disziplin "ziert das Kollektiv und jedes einzelne Mitglied des Kollektivs. Disziplin bedeutet Freiheit, sie versetzt die Persönlichkeit in eine geschütztere, freiere Lage und schafft das Bewußtsein von eigenem Recht, von den Wegen und den Möglichkeiten, die sich jeder einzelnen Persönlichkeit erschließen" (V, 40).

Nicht ohne Ironie berichtet Makarenko wiederholt über die Fassungslosigkeit seiner Vorgesetzten, wenn sie unangemeldet die Kolonie besuchten und statt der chaotisch schreienden Kinderhaufen, die sie sonst gewohnt waren, auf fröhliche, aber disziplinierte Zöglinge trafen.

Disziplin aber war nur zu erreichen durch hohe Forderungen, und Makarenko sah in der Kombination von Forderung und Achtung die Quintessenz seines pädagogischen Konzeptes. "Wenn mich jemand fragt, wie ich das wesentliche meiner pädagogischen Erfahrung auf eine kurze Formel bringen könnte, so würde ich antworten: 'Möglichst hohe Forderungen an den Menschen und möglichst hohe Achtung vor ihm!' ... Unsere Forderungen an den einzelnen bringen auch die Achtung vor seinen Kräften und Möglichkeiten zum Ausdruck und umgekehrt, in unserer Achtung zeigen sich gleichzeitig die Forderungen, die wir an ihn stellen. ...Ich bin für konsequente, äußerste, entschiedene Forderungen, ohne Zurückweichen, ohne Korrekturen" (V, 154). Aber es dürfen nur solche Forderungen gestellt werden, die das Kollektiv auch begreift. "Ich habe von meinem ersten Kollektiv nicht gefordert, daß nicht gestohlen würde. Ich sah ein, daß ich die Kinder in der Anfangszeit von gar nichts überzeugen konnte. Ich verlangte jedoch von ihnen, daß sie aufstanden, wenn aufgestanden werden mußte, und daß sie das taten, was getan werden mußte. Aber sie stahlen, und dabei sah ich ihnen einstweilen durch die Finger" (Werke V, 157).

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Den ästhetischen Aspekten des Zusammenlebens widmete Makarenko überhaupt große Aufmerksamkeit, nicht nur im Falle der Disziplin. Selbst in der ärmlichen Anfangszeit bestand er darauf, daß die Tische im Speisesaal mit sauberen Decken versehen waren, sonst könnten die Zöglinge keine Tischmanieren lernen. Feste wie das "Fest der ersten Garbe", der Erntebeginn, wurden mit großem Prunk gefeiert (I, S. 6o4 ff.), Stil und Ton des Umgangs ausdrücklich kultiviert (V, 199 ff).

Perspektive

Aber alle diese Teilstücke der sich aus der Erfahrung entwickelnden pädagogischen Konzeption: das gut gegliederte Kollektiv, hohe Anforderungen und bewußte Disziplin ergaben noch keinen Sinn. Was sollte letzten Endes die Zöglinge motivieren, ein so anstrengendes Leben zu akzeptieren, das im wesentlichen aus harter Arbeit und Schulunterricht bestand? Sie mußten ihr gegenwärtiges Leben als schön und befriedigend empfinden und für ihr künftiges eine interessante "Perspektive" entwickeln können.

"Ein wirklicher Antrieb im menschlichen Leben ist die Freude auf den morgigen Tag.... sie muß ins Leben gerufen, als eine Realität geschaffen werden. Sodann müssen die einfachen Formen der Freude beharrlich in kompliziertere und menschlich bedeutungsvollere umgewandelt werden. Hier verläuft eine interessante Linie: Von der einfachsten, primitivsten Befriedigung bis zum höchsten Pflichtbewußtsein ... Den Menschen erziehen bedeutet bei ihm Perspektiven herausbilden" (V, 78). Diese müssen im Erziehungsprozeß aber ihren zeitlichen Horizont erweitern, von der "nahen" zur "mittleren" und schließlich zur "weiten" fortschreiten können. "In einem Kinderkollektiv, das sich aus Menschen zusammensetzt, die noch nicht fähig sind, ihr Streben und ihre Interessen für lange Zeit vorauszubestimmen, muß der morgige Tag unbedingt besser erscheinen als der heutige. Je älter die Kinder werden, desto weiter rückt die notwendige Grenze der nahen optimistischen Perspektive. Bei einem Jugendlichen von fünfzehn bis sechzehn Jahren hat die Nahperspektive keine so große Bedeutung mehr wie bei einem Zwölf- bis Dreizehnjährigen. Einem Erwachsenen genügt je nach dem Stand seines Bewußtseins oder seiner politischen Entwicklung völlig die weite Perspektive" (V, 79).

Die mittlere Perspektive bezieht sich auf besondere Ereignisse in der Kolonie: Ein Festtag, die Verabschiedung von Zöglingen, die Sommerferien. Die weite Perspektive schließlich richtet sich über die Kolonie hinaus auf den Zusammenhang ihres Wachsens mit der Entwicklung der Sowjetgesellschaft im ganzen, in welche die Zöglinge ja einmal als tüchtige Mitglieder entlassen werden sollten. Die Perspektive ist in erster Linie immer die des Kollektivs, als individuelle für Makarenko nur denkbar in diesem Rahmen. Aber ihr Sinn ist nicht die Erreichung eines bestimmten Zieles, sondern ein lebenslanges Engagement für immer neue Ziele. "Die Perspektiven haben eine interessante Besonderheit. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Menschen durch die allgemeine Aussicht auf Erfüllung an. In Wirklichkeit gibt es diese Erfüllung jedoch nicht. Wenn man ihr näher kommt,

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entstehen neue Zukunftspläne, und je anstrengender es ist, die verschiedenen Hindernisse zu überwinden, umso verlockender sind diese Pläne" (V,  81).

Strafen als soziale Reaktion

Aber was geschah mit den Zöglingen, die solche Perspektiven nicht zu entwickeln vermochten, die überhaupt den Anforderungen des Kollektivs und der Disziplin nicht entsprachen? Welche Strafen hatten sie zu erwarten?

Strafen als pädagogisches Mittel war damals verpönt. Aber Makarenko erkannte, daß kein Kollektiv ohne die Bestrafung von Regelverletzungen auskommen kann. Der Beschuldigte mußte sich vor der Vollversammlung rechtfertigen. Sie konnte es bei einem Verweis bewenden lassen, oder eine zusätzliche Arbeit anordnen, was bedeutete: eine zusätzliche Leistung für die Gemeinschaft. Gelegentlich wurden auch ironische Strafen verhängt; einem Faulenzer z. B. wurde an einem besonderen Tisch im Speisesaal ein besonders gutes Essen verabreicht (I, 597 f.); oder gegen einen Delinquenten wurde ein Boykott angeordnet und niemand durfte eine bestimmte Zeit lang mit ihm sprechen (I, 651 f.); später, in der Dzerzinskij-Kommune, wurden nur noch Ehrenstrafen beschlossen: Arrest im Dienstzimmer des Leiters; die Neulinge, die noch nicht in den Status der Kommunarden aufgenommen waren, konnten auch noch nicht betraft, sondern nur gerügt werden. Die Strafen erwuchsen nicht aus einer abstrakten moralischen Idee, als deren Repräsentant und Exekutor sich der Pädagoge verstand; vielmehr gingen sie von konkreten, anschaulich erfaßbaren Interessen des Kollektivs aus: Wer faul war, lebte auf Kosten der anderen, wer etwas stahl, was für alle bestimmt war, schädigte die Gemeinschaft. Sinn der Strafe war also, diese Abweichung vom Wohle des Kollektivs erlebbar zu machen; sie sollte jedoch keine physischen oder moralischen Leiden verursachen. "Das Wesen der Strafe besteht darin, daß der Mensch es durchlebt, vom Kollektiv verurteilt zu werden, wobei er weiß, daß er falsch gehandelt hat. Das heißt, in der Strafe gibt es keine Depression, sondern es wird ein Fehler durchlebt, eine - wenn auch nur geringfügige - Lösung vom Kollektiv" (V, 166). Deshalb hatte strafen auch nur Sinn, wenn die öffentliche Meinung des Kollektivs dafür war. Wenn diese "pädagogischen Einwirkungen" nichts halfen, mußte sich die Kolonie von einem Zögling trennen; davon ist einige Male die Rede.

Damit sind die wesentlichen Elemente der Erziehungskonzeption, wie sie sich in der Gorkij-Kolonie entwickelten, genannt, allerdings unter Verzicht auf viele Nuancen, die allein schon einer ausführlicheren Debatte wert wären, als sie hier erfolgen kann.

3. Kritisches Resümee:

1. Makarenkos wichtigste Erkenntnis war, daß Verwahrlosung primär ein soziales und erst sekundär ein psychisches Phänomen und deshalb auch nur mit sozia-

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len Mitteln zu kurieren ist. Deshalb war die Herstellung einer verbindlichen Sozialität, die er Kollektiv nannte, folgerichtig, und deshalb interessierte ihn auch die Vorgeschichte seiner Zöglinge nicht; denn daraus hätte er keine pädagogischen Schlußfolgerungen ziehen können. Aber es handelte sich dabei nicht um irgendeine Gemeinschaft, und mit unseren heutigen Debatten über "soziales Lernen" hat sie wenig zu tun. Es war vielmehr die allgemeine Notlage, die dem Kollektiv einen Sinn seiner Existenz aufzwang, der allen unseren heutigen sozialpädagogischen Resozialisierungsbemühungen abgeht: die möglichst effektive Organisation des ökonomischen Überlebens. Im Vergleich zur allgemeinen wirtschaftlichen Lage der Sowjetunion brachten es die Kolonisten sogar zu einem relativen Wohlstand. Schon die Gorkij-Kolonie war nach den schwierigen Anfangsjahren wirtschaftlich aufgeblüht, ihr Prunkstück war die Schweinezucht; ungefähr zweihundert Schweine und Zuchteber und einige hundert Ferkel befanden sich in einem Stall, der nach den damals letzten Errungenschaften der Technik gebaut war und z. B. einen geruchlosen Betrieb ermöglichte; die Dzerzinskij-Kommune konnte sogar nach einiger Zeit deutliche Gewinne machen. So ergab sich die ungewöhnliche Situation, daß ausgerechnet eine Kolonie von jugendlichen Rechtsbrechern vorbildhaft auf die soziale Umgebung wirken konnte, der sie hinsichtlich der effektiven Organisation und der Disziplin weitgehend überlegen war. Diese Erfahrung konnte das Selbstbewußtsein der Kolonisten stärken.

Die ökonomische Funktion war konstitutiv. Ohne sie hätte die jugendliche Gemeinschaft keinen Sinn ergeben, kein Zentrum ihrer Tätigkeit und ihres Bewußtseins gewinnen können. Das wirft die Frage auf, ob kindliche und jugendliche Gemeinschaften per se eine pädagogische Bedeutung in der Pädagogik haben können, ohne daß sie für einen gemeinsamen Zweck benötigt werden, der jedem Mitglied einleuchtet. Warum sollte sonst eine innere Ordnung, eine dafür nötige Disziplin entstehen? Die Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Schülervertretung oder von Jugendverbänden lehrt uns täglich, daß solche Veranstaltungen im Sande verlaufen, wenn sie nicht mit einer zwingenden Aufgabe verbunden sind, deren Lösung so oder so auch Folgen für die Beteiligten hat. Erziehung ist offensichtlich eine soziale Tatsache, und wo entsprechende Anforderungen fehlen, kann sie auch nicht stattfinden. Dann ereignet sich irgendetwas anderes, vielleicht Therapie oder bloß gutes Zureden. In diesem Punkte hat Makarenko gegenüber den "Pädologen", aus deren Diagnose des einzelnen Kindes sozial nichts weiter folgte, recht gehabt. Ein Beleg dafür mag sein, daß gegenwärtig die meisten Therapien für drogenabhängige junge Leute deshalb vergeblich sind, weil der Entzug selbst zwar in der Regel relativ unproblematisch ist (Selbsthilfeorganisationen wie Synanon erledigen das auf der Wohnzimmercouch), aber anschließend finden die "clean" Gewordenen keine soziale Alternative zu ihrem früheren Leben und bleiben wieder verwiesen auf solche Kontakte, deren wichtigster Kommunikationsinhalt die Einnahme von Drogen ist. Ist Resozialisierung in solchen wie in anderen Fällen überhaupt möglich, ohne daß dabei zumindest ein Teil des Lebensunterhaltes selbst erwirtschaftet werden muß?

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2. Der Begriff "Kollektiv" ist bei uns verdächtig geworden, weil er zu einem festen Terminus der stalinistischen Ideologie geworden ist. Makarenko meinte damit jedoch im Unterschied zu bloßen Freundschaften oder zu den uns bekannten freizeitorientierten jugendlichen Gesellungsformen eine Sozialität, die den Lebenskampf optimal plant und organisiert und die dafür eine "dienstliche", jedenfalls emotional distanzierte und sachbezogene Beziehungsstruktur braucht. Dieses "Kollektiv" wurde den Zöglingen nicht aufgezwungen, sondern von ihnen mit geschaffen und vor allem durch die Organe der "Vollversammlung" und des "Rates der Kommandeure" demokratisch verwaltet. Die naheliegende Frage, wie sicher zu stellen sei, daß das Kollektiv, das ja auch den einzelnen disziplinieren mußte, sich nicht irrt, stellte sich zumindest in der Phase der Gorkij-Kolonie kaum; das einzubringen, was die Zöglinge noch nicht wissen oder voraussehen konnten, war Aufgabe des erwachsenen Erziehers. Die Selbstverwaltung war keine "Demokratie-Spielerei", falsche Beschlüsse konnten vielmehr rasch sichtbare Folgen für jedes Mitglied haben.

Die politische Instrumentalisierung kam später von außen, durch den Komsomol, durch Parteiorgane, also durch Menschen, die anderen Loyalitäten verpflichtet waren als der Vollversammlung der Kolonie. Nun erst wurde der interne Abweichler als genereller "Feind" (III, 452) definiert, griffen parteipolitische Phrasen um sich (III, 354) und veränderte sich der Umgang mit "Kritikern" (III, 369 ff.).

3. Makarenkos Maxime, "höchste Forderungen" mit "höchster Achtung" zu verbinden, erscheint solange plausibel, wie damit keine altersbedingten Überforderungen verbunden sind. Wer von Kindern - z.B. in der Schule - nicht auch verlangt, was sie leisten könnten, mißachtet zweifellos dadurch ihre Persönlichkeit. Aber solche Forderungen ergeben nur einen erzieherischen Sinn, wenn sie nicht nur als innerlicher Ansporn hervorgerufen werden, sondern auch als sozial produktiv erlebt werden können, - sei es für künftige, z.B. berufliche Tätigkeiten, sei es für gegenwärtige im Rahmen des kindlichen Lebens, z.B. im Rahmen der Familie. Sonst kann der Zusammenhang von "Forderung" und "Achtung" nicht sozial erfahrbar werden, Forderungen werden dann eher als abstrakt, als von außen aufgezwungen erlebt wie oft die Leistungsanforderungen in der Schule. Makarenko akzeptierte in seiner Forderungspädagogik die Zöglinge als mit den Erwachsenen gleichberechtigte "Genossen", die je nach ihren alters- und begabungsbedingten Fähigkeiten in der Gemeinschaft mitwirken durften, aber auch mußten. Deshalb vor allem war er jeder kindertümelnden Psychologisierung abhold und hielt auch nichts vom warmherzigen Getue der "Damenpädagogik" seiner Vorgesetzten. "Ich bin kein Kind... Ich bin ein Kolonist" (I, 561), entrüstete sich ein Kleiner, als eine Dame des Volksbildungsamtes ihn als "reizendes Kind" bezeichnete.

4. Bis heute ist die einzige Alternative zum familiären Aufwachsen von Kindern ihre Zusammenfassung in Gleichaltrigen-Gruppen unter pädagogischer Leitung geblieben. Eine solche Gruppe muß wie in der Familie einerseits ein

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befriedigendes Alltagsleben rund um die Uhr erleben können, andererseits aber auch über sich hinausweisen, weil sie ja nur ein biographisches Durchgangsstadium sein kann. Privates Verhalten in sozialer Nähe muß deswegen mit Formen der öffentlichen Kommunikation verbunden werden können. Normalerweise werden diese Verhaltensweisen durch den Umgang mit unterschiedlichen sozialen Orten gelernt, die eine etwa in der Familie, die andere in der Schule. Makarenko mußte nun dafür sorgen, daß private und öffentliche Verhaltensweisen an ein und demselben Ort gelernt werden konnten, nämlich in der Kolonie. Für die öffentliche, dienstliche Kommunikation auch der Kinder untereinander entstanden Formen und Rituale, die erfahrbar werden ließen, daß menschliche Beziehungen eine unterschiedliche Bedeutung haben können und auch müssen, je nach dem, um welche Situation es sich dabei handelt. Die Kinder lebten also nicht einfach nur in Gruppen - was der "Gruppenpädagogik" genügen würde - sondern angesichts der Enge des Lebensraumes doch in relativ komplizierten Beziehungen miteinander. Auf diese Weise wurden nicht nur emotional problematische "Beziehungskisten" - auch zwischen Erziehern und Zöglingen - vermieden, vielmehr wurden die Sozialerfahrungen auch ortsunabhängig im Unterschied etwa zu den doch eher dumpfen, unaufgeklärten und noch von der Zarenzeit bestimmten agrarischen Sozialverhältnisse der Umwelt; daran gemessen wurden die Zöglinge "städtisch" erzogen. Allerdings ergab auch das nur Sinn unter der Voraussetzung, daß die Kolonie als soziale Gemeinschaft auch entsprechende Aufgaben lösen mußte. Wäre jeder Kolonist als abstraktes Rechtssubjekt in unserem heutigen Sinne "sozialhilfeberechtigt" gewesen, hätte das alles keinen Sinn gemacht.

Aber warum wählte Makarenko dafür militärähnliche Formen, was ihm seine Kritiker schon damals vorwarfen, und nicht die des üblichen zivilen Umgangs? Die Zöglinge wollten es angeblich so, sie hätten Freude gehabt an dieser Art von Pfadfinderei. Hinzu kam aber wohl, daß durch die Revolution die überlieferten Weisen des zivilen Umgangs zusammengebrochen und neue noch nicht verbindlich geworden waren.

5. Makarenkos Kollektiv konnte jedoch nur funktionieren, wenn sich keine stärkeren anderen Bindungen ergaben. Er sorgte deshalb dafür, daß die Teilkollektive mindestens sieben Personen umfaßten, damit sie nicht mit Freundschaftsgruppen identisch werden konnten. Liebesbeziehungen waren nicht nur aus moralischen Gründen verpönt, sondern auch weil sie den sozialen Monopolanspruch des Kollektivs gestört hätten. Um seine innere Geschlossenheit zu wahren, stand er auch der Tätigkeit des kommunistischen Jugendverbandes, des Komsomol, in seiner Kolonie zunächst skeptisch gegenüber und wurde dafür auch öffentlich kritisiert. Die Außenkontakte waren weitgehend kanalisiert: Besucher wurden in aller Form empfangen und zu Feiern und Festen eingeladen, und die Kolonisten beteiligten sich außerhalb der Kolonie an öffentlichen Veranstaltungen, zB. an Aufmärschen. Mehr war auch zumindest in der Gorkij-Kolonie wegen der abseitigen Lage und der fehlenden Verkehrsmittel kaum möglich.

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In diesen Bedingungen lag aber auch eine Grenze des Projekts; denn einmal blieben so die Kolonisten weitgehend auf sich selbst verwiesen, konnten einander und damit auch den vom Kollektiv ausgehenden Erziehungsansprüchen nicht ausweichen, zum anderen ergab sich daraus wohl auch eine gewisse Weltfremdheit. Jedenfalls wäre das pädagogische Konzept ohne diese Beschränkung kaum in der vorliegenden Form realisierbar gewesen, was seiner Übertragbarkeit deutliche Grenzen setzt.

6. Auffallend ist der unermüdliche Aktivismus. Er war nicht nur bestimmt durch die Notwendigkeit, möglichst viel für den Lebensunterhalt zu erwirtschaften; er war auch Bestandteil des pädagogischen Konzeptes selbst. Das Sozialsystem der Kolonie bedurfte offensichtlich hoher Anforderungsenergien, es vertrug keinen routinemäßigen Alltag. Die Gorkij-Kolonie war zunächst in einer ehemaligen zaristischen Fürsorgeerziehungsanstalt untergebracht; dann übernahm sie ein in der Nähe gelegenes Gut. Schließlich zog sie in eine verwahrloste andere Kolonie ("Die Eroberung von Kurjash", I, 445 ff. ) ein, um diese pädagogisch zu sanieren; im "Poem" nutzt Makarenko diese Gelegenheit, das Desaster einer falschen Sozialerziehung an ihrem Beispiel zu schildern. Der Begriff "Eroberung" ist wörtlich zu verstehen. Seine Vorgesetzten "bestanden auf einem 'allmählichen Durchdringen'. Sie ... meinten, gute Knaben wirkten veredelnd auf schlechte Knaben. Aber ich wußte bereits, daß selbst die auserlesensten Knaben in brüchigen Organisationsformen des Kollektivs sehr leicht zu Bestien werden" (I, 447). Deshalb mußte die Übernahme schlagartig erfolgen, bevor die dreihuntert Zöglinge so recht merkten, was mit ihnen geschah.

Dieser letzte Umzug war wohl auch eine Flucht nach vorn. Ein Zögling hatte sich wegen Liebeskummer erhängt und Makarenko zog Bilanz: "Alles liegt am Stillstand; im Leben des Kollektivs darf es keinen Stillstand geben ... ja, beinahe zwei Jahre standen wir nun auf einem Fleck; dieselben Felder, dieselben Blumenbeete, diese ewig gleiche Tischlerarbeit und derselbe Kreislauf des Jahres" (I, 4o7). Deshalb bat er seine Vorgesetzten: "Für uns ist es hier zu eng geworden, und unsere Arbeit ist hier getan. Ein halbes Jahr noch, und wir sind gemütskrank. Geben Sie uns etwas Großes, damit uns vor Arbeit schwindlig wird" (I, 410). "Perspektiven" entstehen eben immer wieder neu, im Augenblick ihrer Erfüllung müssen sogleich weitere sichtbar werden. Wo man eigentlich Besinnung erwartet, richtet sich der Blick auf weitere Aktivitäten. Nun ist gewiß eine Jugend-Kommune kein Rentner-Club, und unsere Neigung, schon Kinder zur psychischen Introspektion zu ermuntern, setzt, wenn dies überhaupt vernünftig ist, jedenfalls eine andere Sozialisationslage voraus. Andererseits sind wir schon aus den Erfahrungen der NS-Zeit und dann des SED-Regimes sensibel geworden gegenüber einer politischen Instrumentalisierung jugendlichen Tatendrangs. Inwieweit dies in der Dzerzinskij-Kommune bereits geschah, ist nach unserer bisherigen Kenntnis schwer zu beurteilen.

Abgesehen davon stellt sich die Frage, wie Resozialisierung organisiert werden kann, wenn derart handgreifliche, sich steigernde Aufgaben einfach nicht zur

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Verfügung stehen, was unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen wie bei uns die Regel sein dürfte.

7. Makarenko hielt die produktive, werteschaffende Arbeit und deren Organisation für ein zentrales Element seiner Erziehungskonzeption und setzte sich damit deutlich von den in der sowjetischen wie europäischen Reformpädagogik herrschenden Vorstellungen von "Arbeitserziehung" ab, nach denen Arbeit lediglich ein pädagogisches Mittel war, mit dem eigentlich andere Erziehungsziele erreicht werden sollten. Deshalb ließen sich seine Kritiker vom wirtschaftlichen Erfolg der Gorkij-Kolonie auch nicht sonderlich beeindrucken. Erziehung war für ihn Begleitung eines zunächst einmal unabhängig davon zu organisierenden befriedigenden Alltagslebens, in dem die möglichst produktive Arbeit im Mittelpunkt stand, und sie war Intervention in dieses Leben, wenn es nötig erschien, aber sie sollte es nicht konstituieren. Da andererseits aber die Arbeitszeit insofern begrenzt werden mußte, als ja die Fähigkeiten der Zöglinge dabei entwickelt und nicht verschüttet werden sollten, lag zwischen beiden Anforderungen ein schmaler Grat, der in der Gorkij-Kolonie wohl nicht überschritten wurde, aber spätestens in dem Augenblick, als in der Dzerzinskij-Kommune das Prinzip der Rentabilität eingeführt wurde. Wie Makarenko selbst erleben mußte, geraten dann pädagogische Überlegungen leicht ins Hintertreffen, müssen sich der betriebswirtschaftlichen Logik unterordnen. Pädagogisch begründete und deshalb auch zu begrenzende werteschaffende Arbeit ist unter modernen Marktbedingungen immer subventionsbedürftig, und an der Entwicklung der Dzerzinskij-Kommune läßt sich dieser Übergang ziemlich genau studieren. Würde man also bei uns heute Makarenkos Prinzip realisieren, wäre dafür ein subventionierter Arbeitsmarkt als Ergänzung zum üblichen erforderlich, so wie etwa die Drogenselbsthilfeorganisation Synanon trotz ihrer effektiv organisierten Unternehmen sich ohne Subvention nicht am Markt halten könnte.

8. In der Dzerzinskij-Kommune stieß Makarenko aber auch noch in anderer Hinsicht an seine Grenzen. Hier entstanden nämlich Individualisierungsprozesse, die zwar auf einem relativ anspruchsvollen Niveau abliefen, aber gleichwohl sich kollektiven Ansprüchen zu entziehen begannen, wobei gewiß eine Rolle spielte, daß diese Kommune nicht mehr nur aus Kolonisten, sondern auch aus Angestellten bestand, die dort teilweise mit ihren Familien wohnten und verständlicherweise ein eigenständiges Privatleben führten.

Die moderne Trennung von kollektiver Arbeit und individualisierter Freizeit setzte ein. In beiden Kolonien achtete Makarenko darauf, daß auch die Freizeit in Kollektiven verbracht wurde, mit Tätigkeiten, die er für pädagogisch wertvoll hielt, wozu vor allem kulturelle Angebote gehörten. Es gab ein großes Blasorchester, ein Theater, eine Bibliothek sowie eine Reihe sachorientierter anderer "Zirkel", und zweifellos waren die Kolonien ihrer Umgebung nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht überlegen.

Aber in die Dzerzinskij-Kommune dringen nun die modernen Medien ein. Regelmäßige Filmvorführungen verdrängen die Laienspielarbeit (II, 120); in den

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Schlafräumen gibt es nun Rundfunkempfänger. Die Kommunarden waren bestrebt, "allein zu spielen, sich abzusondern und sich im eigenen Winkel zu schaffen zu machen. Jeder machte das mit fröhlichem Gesicht, summte ein Liedchen dabei und war ausgezeichneter Laune. Es gab keine düstere Stimmung, keine Feindseligkeit den Kameraden gegenüber, und doch stand das persönliche Leben im Vordergrund. Die Rundfunkschwarzhörer hatten sich in ihren Ecken eingerichtet und schwelgten in den von ihnen eingefangenen Tönen ... im Erfinderzirkel machte sich jeder an seinem eigenen Modell zu schaffen, das keine Beziehung zu den Modellen der anderen hatte. Im Bibliothekszirkel vergruben sie sich förmlich in den Büchern...": Diese Tendenz "gefiel" Makarenko "nicht" (II, 207).

Solche unscheinbar anmutenden Veränderungen - immerhin war das Fernsehen noch nicht erfunden - bedrohten jedoch, wie er richtig gesehen hat, die ursprüngliche pädagogische Konzeption. Das Auseinanderfallen von reglementierter kollektiver Arbeit und individualisierter Freizeit, ein wichtiges Merkmal gesellschaftlicher Modernität, hatte nicht nur die sich industrialisierende Sowjetunion im allgemeinen erreicht, sondern auch die pädagogische Enklave, und dies umso nachhaltiger, je moderner die Kommune als Wirtschaftsbetrieb wurde. Vielleicht war Makarenko in dem angesprochenen Konflikt, der zu seiner Beschränkung auf die pädagogischen Funktionen und zu seiner Ablösung als Gesamtleiter führte, unter diesem Aspekt sogar der "rückständigere" Partner?

9. Jedenfalls waren die Erziehungskolonien relativ "geschlossene Gesellschaften", und dies war eine wesentliche Voraussetzung für Makarenkos pädagogisches Konzept. Deren Arbeits- und Produktionsorientierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich zumindest insofern doch um "pädagogische Provinzen" handelte, als das Erzieherische als ganzheitliche, keiner wesentlichen Konkurrenz unterliegende Einwirkung gedacht war; es beruhte noch auf nicht-pluralistischen Vorstellungen. Insofern waren seiner Übertragbarkeit auf andere pädagogische Felder von vornherein Grenzen gesetzt. Makarenkos Hoffnung, seine Kolonie-Erfahrungen als Grundmodell für die Erziehung in der sowjetischen Gesellschaft überhaupt verwenden zu können, konnte nicht in Erfüllung gehen, weil die für eine moderne Gesellschaft typischen arbeitsteiligen Ausdiffenzierungen und die damit notwendigerweise verbundenen normativen Pluralisierungen sich nicht mehr in einem einzigen pädagogischen Feld bündeln und als Exempel für alles übrige ausgeben lassen. Schon in seinen Kolonien trennte Makarenko strikt zwischen Schule und Produktion: Die optimale Organisation der Produktion sei etwas ganz anderes als die des Schulunterrichts, und es habe keinen Sinn, beides unter pädagogischen Gesichtspunkten im Stile der "Komplexmethode" aufeinander beziehen zu wollen. Die in ihren Zwecken auseinander strebenden Einzelfaktoren der Gesellschaft wie Familie, Schule, Betrieb und politische Organisationen wurden zwar in der Sowjetunion wie auch unter ihrer Führung in den Ostblockländern noch längere Zeit unter dem ideologischen Stichwort der "sozialistischen Persönlichkeit" scheinbar zusammengehalten, die sich überall nach denselben Maximen entwickeln und bewegen sollte, tatsäch-

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lich jedoch konnte diese "Persönlichkeit", je mehr die gesellschaftliche Entwicklung fortschritt, umso weniger einfach an einem bestimmten sozialen Ort exemplarisch für alle anderen erzogen werden; vielmehr mußte sie sich zunehmend selbst formen in tätiger und zugleich reflexiver Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erwartungen. Der nicht-pluralistische Kern dieses pädagogischen Konzeptes setzt seiner Übertragbarkeit auf moderne, westliche Industriegesellschaften deutliche Grenzen; Maßnahmen der Resozialisierung ließen sich selbst mit einem pädagogischen Genie wie Makarenko heute nicht mehr einfach im Stile der Gorkij-Kolonie inszenieren.

10. Unter diesem Aspekt gerät auch Makarenkos Auseinandersetzung mit den "Pädologen" in ein neues Licht, wenn wir unter diesem Begriff einmal grob diejenigen damaligen Konzepte zusammenfassen, die auf die psychische Diagnostik und damit auf die Innerlichkeit des Kindes setzten. Makarenko hatte in diesem Konflikt recht und unrecht. Die reformpädagogisch orientierte, individualisierende pädagogische Konzeption der "Pädologen" kam für die Verhältnisse der damaligen Sowjetunion um Jahrzehnte zu früh. Die Lebensverhältnisse, in die die Kinder entlassen wurden, boten wenig Raum für individuelle Autonomie. Die sowjetische Gesellschaft mußte sich erst hinreichend modernisieren, zu einer komplexen arbeitsteiligen werden, um den Menschen auch individuelle Entscheidungsspielräume zugestehen und abverlangen zu können. Den Ansprüchen einer derart individualisierenden Pädagogik hat sich Makarenko nicht mehr stellen müssen, was nicht heißt, daß er der Individualität seiner Zöglinge keine Beachtung geschenkt hätte, wie ihm schon damals zu Unrecht vorgeworfen wurde. Vielmehr war ihm klar, daß angesichts der tatsächlichen Lebensverhältnisse seine Kolonisten nicht ernsthaft etwas wollen konnten, was im Rahmen des Kollektivs keine soziale Resonanz gehabt und sie deswegen innerhalb und erst recht außerhalb der Kolonie zu Außenseitern gemacht hätte; als solche, nämlich als Rechtsbrecher, waren sie ja in die Kolonie gekommen. Vieles spricht dafür, daß die "pädologische" Pädagogik damals zu verheerenden Zuständen gerade auch in den Umerziehungskolonien geführt hat, weil sie auf der Suche nach den jeweils individuellen Ursachen der psychischen Defizienz die notwendigen sozialen Korrekturmaßnahmen nicht ergriff und deshalb die schon vorhandene Verwahrlosung eher noch vertiefte als korrigierte. Makarenkos Spott und Wut über seine pädagogischen Gegner ist deshalb durchaus verständlich, weil er mit deren praktischen Resultaten wiederholt konfrontiert wurde. Seine Kontrahenten sah er deswegen oberhalb der Realität, im "Olymp", im "Himmel" angesiedelt.

"'Im Himmel' wurde das Kind als ein Wesen betrachtet, das mit einem besonderen Gasgemisch gefüllt ist, für das man nicht einmal den Namen ausgedacht hatte. ... Es wurde angenommen (Arbeitshypothese), daß dieses Gas die Fähigkeit besitze, sich selbst zu entwickeln, man dürfe es nur nicht stören. Darüber wurden viele Bücher geschrieben, aber alle wiederholten im wesentlichen die Aussprüche Rousseaus: 'Habt Ehrfurcht vor dem Kinde ... ', 'Hütet Euch, der Natur im Wege zu sein'...

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Das Hauptdogma dieser Glaubenslehre bestand darin, daß bei einem so ehrfürchtigen und zuvorkommenden Verhalten zur Natur aus dem erwähnten Gas unbedingt eine kommunistische Persönlichkeit entstehen müsse. In Wirklichkeit jedoch wuchs unter diesen reinen Naturverhältnissen, was naturgemäß wachsen mußte: gewöhnliches Unkraut" (I, 591 f. ).

Gleichwohl muß gerechterweise hinzugefügt werden, daß der Konflikt zwischen Makarenko und den "Pädologen" zwei Grundrichtungen des pädagogischen Denkens zum Ausdruck bringt, die tatsächlich aufeinander angewiesen bleiben und nur in einer jeweils geeigneten Mischung gemeinsam auf Dauer Erfolg haben können. Die parteioffizielle Verdammung der "Pädologie" im Jahre 1936 hat für Jahrzehnte das pädagogische Denken in der Sowjetunion um seine psychologische Seite verkürzt, und wir erleben heute bei uns umgekehrt eine Überbetonung der innerpsychischen auf Kosten der sozialen und gesellschaftlichen Aspekte der Erziehung; auch das kann auf die Dauer nicht gut gehen.

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178. Das "Ende der Erziehung" (1996)

Ende oder Anfang pädagogischer Professionalisierung?

In: A. Combe/W. Helsper (Hrsg): Pädagogische Professionalität. Frankfurt 1996, S. 391-403

Die pädagogischen Berufe befinden sich in einer tiefen Krise. Ob Lehrer, Sozialpädagoge, Freizeitpädagoge oder Jugendbildungsdozent, kaum jemand scheint noch genau zu wissen, wofür er eigentlich bezahlt wird. Der reformpädagogische Elan der sechziger und siebziger Jahre, der die Kinder und Jugendlichen von den traditionellen Erziehungsmächten emanzipieren und die Gesellschaft humaner einrichten wollte, ist verflogen. Neue, wieder motivierende pädagogische Leitmotive sind nicht in Sicht. Die Ursachen für die Krise des professionellen pädagogischen Selbstverständnisses sind sicher vielfältig und können hier nicht im ganzen behandelt werden. Im Kern beruht diese Krise darauf, daß die pädagogischen Berufe wie auch die Erziehungswissenschaft zwei gesellschaftliche Tendenzen, die sich etwa seit Beginn unseres Jahrhunderts unaufhaltsam durchsetzten, niemals wirklich zur Kenntnis genommen und auf die Konsequenzen für das berufliche pädagogische Handeln befragt haben: Die politische und normative Pluralisierung der Gesellschaft und die daraus notwendigerweise erwachsende Individualisierung von Lebensläufen. Beide Tendenzen, die nur unter den Bedingungen einer Diktatur wieder zu stoppen oder gar rückgängig zu machen wären, haben nämlich den Begriff der "Erziehung" untauglich gemacht für die Fundierung eines realistischen pädagogischen Berufsverständnisses, weil dieser Begriff normative Intentionen oder zumindest Implikationen (was "richtig" für das Kind und sein künftiges Leben sei) enthält, die beliebig geworden sind. Diesseits der Legalität hat unsere Gesellschaft die Alltagsnormen, die für Erziehung von so zentraler Bedeutung sind, freigegeben, gleichsam der Vereinbarung der Betroffenen überlassen. Würde also die Schule weiterhin erziehen, so würde sie nur willkürlich auswählen aus dem, was an tatsächlichen Verhaltensstandards und ihrer moralischen Begründung vorzufinden ist. Erziehung setzte immer kol-

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lektive Rahmen voraus, in denen solche Standards selbstverständlich galten und erwartet wurden - Milieus etwa wie das katholische, protestantische, sozialistische oder bildungsbürgerliche. Erziehung hatte die kollektiven, die typischen Dimensionen im Auge, nicht die individualisierenden, die mußten immer schon gegen diese kollektiven Ansprüche durchgesetzt werden. Erziehung zur Individualisierung war und ist nicht möglich, allenfalls können die Pädagogen Bedingungen der Möglichkeit dafür arrangieren, Herausforderungen etwa oder Perspektiven eines interessanteren Lebens. Dem Begriff Erziehung entsprechen inzwischen auch die tatsächlichen Verhältnisse nicht mehr. Das Kind, das zur Schule geht, trifft dort nicht mehr auf einen einheitlichen Erziehungswillen, sondern auf Lehrer, die auf je subjektive Weise auf dieses Kind pädagogisch einwirken, so daß das Kind gezwungen wird, sich mit diesen unterschiedlichen Stilen auseinanderzusetzen und dazu eine produktive Beziehung zu suchen. Das Beispiel zeigt, daß das "Ende der Erziehung" keineswegs das Ende der pädagogischen Einwirkungen bedeutet oder gar das Ende der pädagogischen Berufe, im Gegenteil kann die Wirkung des pädagogischen Handelns unter Umständen heute weit bedeutsamer sein, als in früheren Zeiten kollektiver Geschlossenheit, aber diese Einwirkungen haben sich eben weitgehend individualisiert, können also zum Beispiel vom Schüler schon an einem einzigen Schultag als widersprüchlich oder einander relativierend erlebt werden.

Der Pluralismus hat aber noch eine weitere für das pädagogische Berufsverständnis bedeutsame Konsequenz. Der Sozialisationsverlauf des Kindes ist geprägt durch unterschiedliche soziale Orte, in denen unterschiedliche Regeln und Erwartungen gültig sind: Familie, Kindergarten, Gleichaltrigenszene, Schule, Freizeiteinrichtungen. Auch die Sozialisation ist pluralistisch geworden. Spätestens mit dem Schuleintritt wird es zunehmend unmöglich, von einem dieser Orte aus - Familie oder Schule - den Sozialisationsprozeß im ganzen zu steuern. Steuern kann ihn nur das Kind selbst, und eben dies fundiert seinen Prozeß der Individualisierung. Das Kind muß die Verantwortung für das Gelingen seiner Sozialisation mit zunehmendem Alter selbst übernehmen, indem es zwischen den pluralistischen Einwirkungen und Erwartungen eine subjektiv überzeugende Balance findet. Die Vorstellung von Ganzheitlichkeit, die dem Begriff von Erziehung anhaftet, entspricht also keiner Realität mehr. Zwar können Pädagogen die

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Ganzheitlichkeit einer gelungenen Sozialisation denken, aber einwirken können sie nur noch partiell, nach den Möglichkeiten ihres jeweiligen sozialen Ortes. Wird diese Tatsache übersehen, drohen pädagogische Zielvorstellungen ideologisch zu werden, weil zum Beispiel übersehen wird, daß pädagogische Reformvorstellungen, die in den siebziger Jahren entwickelt wurden, heute auf eine gänzlich andere Sozialisationslage treffen, für die sie nicht mehr passen bzw. kontraproduktiv geworden sind. Damals übten die Erziehungs-und Sozialisationsinstanzen noch eine erhebliche soziale Kontrolle aus, Emanzipation bedeutete insofern das Durchsetzen des nötigen Individualisierungsspielraumes, heute dagegen geht es im Gegenteil um soziale und normative Orientierungen in einer nahezu beliebig gewordenen Alltagswelt. Dieses Beispiel soll zeigen, daß wir sehr wohl eine Vorstellung vom Gesamtprozeß der Sozialisation brauchen, um unsere pädagogischen Interventionen präzisieren und begründen zu können, aber kein Pädagoge kann diesen Prozeß im ganzen mehr in den Griff nehmen und verantworten.

Im ganzheitlichen Verständnis von Erziehung konnte sich eine moderne pädagogische Professionalität nicht entwickeln, weil unklar blieb, worin das Eigentümliche des pädagogischen Handelns eigentlich bestehen soll. "Erzichung" beschreibt ja kein bestimmtes Handeln, sondern rechtfertigt es nur. Was wir konkret tun, zum Beispiel unterrichten, informieren, beraten, fordern, fördern, unterstützen, ermutigen, kritisieren, das tun wir im professionellen Umgang mit Erwachsenen auch, aber hier nennen wir es nicht "Erziehung", vielmehr werden unsere konkreten Handlungen bewertet, ob sie nun mehr oder weniger gelungen sind. Von diesen Handlungen her muß sich also unser professionelles Verhalten begründen lassen. Unter dem normativ blassen, wenn nicht gar beliebigen Leitmotiv "Erziehung" bleibt Handeln jedoch unbestimmbar. Längst gelten denn auch in der Öffentlichkeit die Pädagogen nicht mehr als Fachleute für Kinder, diesen Platz haben Psychologen und teilweise auch Soziologen eingenommen, deren Berufsverständnis nicht auf derartige Allgemeinplätze angewiesen ist oder zumindest scheint. Die Psychologen zum Beispiel definieren menschliche Probleme als psychische und versuchen sie durch Psychisches zu lösen.

Das pädagogische Bewußtsein muß also einen Paradigmenwechsel vollziehen, um Professionalität fundieren zu können.

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Diesen notwendigen Wandel von der Erziehung zur Lernhilfe möchte ich nun kurz skizzieren.

I. Ein Kind muß von seiner Geburt an, um in seine Gesellschaft hineinwachsen und in ihr befriedigend leben zu können, unendlich viel lernen. Aus dieser Tatsache haben wir bisher seine "Erziehungsbedürftigkeit" abgeleitet. Aber diese Schlußfolgerung ist mißverständlich, weil dabei traditionellerweise die Vorstellung mitschwingt, wir müßten das Kind erst zum Menschen "machen", ohne unsere erzieherischen Eingriffe könne nichts aus ihm werden. Tatsächlich jedoch macht das Kind vom ersten Tag seines Lebens an sich selbst, entfaltet seine Persönlichkeit im Umgang mit seiner Umwelt und in Auseinandersetzung mit ihr. Was dabei des Kindes individuelles "Wesen" ist, was sich unbeeindruckt von den ihm entgegentretenden Reizen und Anforderungen durchsetzt, und was gerade Ergebnis der Umwelteindrücke, also auch des pädagogischen Handelns ist, ist unentscheidbar. Ob eine "gelungene Sozialisation" - was immer das heißen mag - trotz oder wegen einer "guten Erziehung" zustandegekommen ist, steht in jedem Einzelfall dahin. Der Begriff des "Lernens" als pädagogisches Leitmotiv hat also den Vorteil der pragmatischen Anschaulichkeit, er erkennt den Lernenden als Subjekt seines Lebens an, und er ist, was die Inhalte angeht, zunächst einmal wenig festgelegt.

Um zu lernen, braucht das Kind unter anderem Erwachsene, von und mit denen es dies kann, und diese bilden im allgemeinen zusammen mit ihm eine Familie. Die Familie aber ist eine basale Lebensgemeinschaft und keine professionalisierbare pädagogische Institution (professionalisierbar sind nur die Ausnahmen bzw. die Ersatzlösungen). Von Familie spreche ich im folgenden nicht mehr, aber ich möchte klarstellen, daß professionelles pädagogisches Handeln etwas ganz anderes ist als das Zusammenleben mit Kindern in einer Familie oder einer vergleichbaren Basisorganisation.

2. Je älter das Kind wird, um so mehr lernt es nicht nur im Umgang mit seinen Eltern und Geschwistern, sondern mit allen Menschen auf die es trifft, und das gilt bis zum Tode. Das Leben selbst ist eine unendliche Kette von Lernprozessen, und zwar zunächst einmal ohne jeden professionellen Pädagogen. Auf diese trifft das Kind spätestens beim Schuleintritt, auf andere möglicherweise im Rahmen einer notwendig werdenden Korrektur-Erziehung, auf wie-

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der andere, wenn es in seiner Freizeit etwas lernen will, zum Beispiel im Rahmen der Jugendarbeit. Professionelles pädagogisches Handeln interveniert also in Lebensgeschichten, die ohne es auch irgendwie ablaufen würden - vermutlich anders, aber doch wohl so, daß die übrigen Sozialisationsagenturen für eine geeignete soziale und kulturelle Integration sorgen würden. Im Unterschied also zur früheren ganzheitlichen Auffassung vom pädagogischen Beruf muß die pädagogische Profession sich wie alle anderen modernen sozialen Berufe fundieren aus einem partikularen Zugang zum Menschen, so wie auch Ärzte, Anwälte Therapeuten ihren Beruf von einem jeweils begrenzten Können her definieren. Alle diese Berufe müssen zwar den Menschen, mit dem sie es zu tun haben, in seiner Ganzheitlichkeit denken, um ihr Handeln realistisch ausrichten zu können, aber handeln können sie immer nur aus einer begrenzten Sicht heraus. Der Begriff der Intervention mit jeweils partikularen, also begrenzten Zielen ist konstitutiv für das pädagogische Berufsverständnis.

3. Professionelle Pädagogen sind also als Lernhelfer zu verstehen, und zwar als solche, die ihr Handwerk planmäßig und zielorientiert auszuüben verstehen. Sie sind Menschen, von und mit denen man etwas lernen kann: Sie wissen oder können etwas, was andere nicht wissen oder können, und sie sind in der Lage, mit diesen anderen eine produktive Lerngemeinschaft einzugehen; beides zusammen macht den Kern "pädagogischen Handelns" aus. Dem Wortsinn nach richtet es sich lediglich auf Unmündige; die Erfahrung lehrt uns aber, daß Lernen - auch in professionell organisierter Form - eine lebenslange Notwendigkeit geworden ist, die Altersstufen Kindheit und Jugend also zu Sonderfällen pädagogischen Handelns geworden sind. Ja, die Pädagogisierung ist inzwischen weiter fortgeschritten; hatte man früher Behinderte, Gebrechliche, Geisteskranke lediglich versorgt und gepflegt, so versucht man seit geraumer Zeit, sie ebenfalls als wenn auch begrenzt lernfähig zu betrachten und ihnen wie allen anderen Menschen ein Höchstmaß an Entfaltung ihrer noch vorhandenen Fähigkeiten zu ermöglichen, damit auch sie ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Die Leitfrage aller pädagogischen Studien und Ausbildungsgänge müßte also sein: Was kann man von und mit dem Absolventen hinterher lernen?

Es muß also immer eine Sache geben, eine im weitesten Sinne kulturelle Kompetenz, die der Pädagoge als Lernhelfer beherrscht

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- ein Handwerk, eine Kunst, eine Wissenschaft -, sonst ist von ihm als Profi nichts zu lernen. Planmäßiges Lernen als solches gibt es nicht, sondern immer nur in bezug auf eine Sache. Im Prinzip ist jede soziale und kulturelle Kompetenz des Lernens würdig, die legal ist bzw. Iegal ausgeübt wird. Das bedeutet natürlich nicht, daß alle wünschenswerten Lernleistungen an einem sozialen Ort, zum Beispiel der Schule, erfolgen müßten. Die Ausdifferenzierung der pädagogischen Berufe in den außerschulischen Bereich hinein hat die planmäßigen Lernangebote in einem erheblichen Maße ausgeweitet.

Der Pädagoge benötigt also zwei Kompetenzen: eine kulturelle ("Sache") und eine kommunikative ("pädagogischer Bezug"), zu der auch gehört, Lernende fördern, ermutigen und unterstützen zu können.

4. Nun verstehen sich aber auch therapeutische Berufe als Lernhelfer. Pädagogisches Handeln kommt in Abgrenzung dazu dort an seine Grenze, wo Lernprozesse nicht mehr der rationalen Aufklärung zugänglich sind, wo sie nicht mehr argumentativ ins Bewußtsein genommen werden können, wo das Gesagte nicht mehr das Gemeinte ist. Pädagogisches Handeln ist also nur dort möglich, wo der wechselseitig verstehbare Austausch von sprachlich erschlossenen Erfahrungen möglich ist. Das allerdings ist der Normalfall im privaten wie öffentlichen Leben.

Nun folgt aus der Bestimmung der pädagogischen Profession als Lernhilfe keineswegs prinzipielle Beliebigkeit, wie überhaupt aus meiner These vom "Ende der Erziehung" keineswegs ein laissez faire folgt. Lernen ist dem Kind nur zum Teil freigestellt, wo es sich etwa um Spiel oder später um Freizeittätigkeit handelt. Darüber hinaus muß es lernen, in seiner Gesellschaft zunehmend selbständig, selbstverantwortlich und so leben zu können, daß es seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Insofern schulische Anforderungen diesem Ziel dienen, müssen sie auch einschließlich der dazu gehörenden Disziplin gefordert werden. Auch unter den Bedingungen der Pluralisierung und Individualisierung gilt weiterhin, daß der Mensch lernen muß, sich an bestimmte gesellschaftliche Notwendigkeiten anzupassen.

Lernhilfe ist nun zwar das oberste Leitmotiv pädagogischen Handelns, aber der Beruf des Pädagogen verlangt von ihm noch andere Handlungsfähigkeiten. Ein Lehrer zum Beispiel muß zumindest noch administrativ handeln, indem er etwa Zensuren

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erteilt. Administratives Handeln hat zum Ziel, vorgegebene allgemeine Normen oder Verfahrensweisen auf Einzelfälle anzuwenden, um dadurch das Einzelne, Einmalige, Individuelle als mit anderen Einzelnen usw. gleich zu definieren und zu behandeln. Ferner muß er zumindest in besonderen Fällen auch ökonomisch handeln können mit dem Ziel, mit möglichst geringen Kosten eine Absicht zu realisieren. Und nicht selten muß er auch politisch handeln, um nämlich die ihm von der Institution verliehene Macht zur Herstellung oder Wiederherstellung der für das gemeinsame Arbeiten oder Zusammenleben nötigen Ordnung anzuwenden. Im außerschulischen Bereich sind diese nicht-pädagogischen sozialen Handlungsformen noch bedeutsamer, die ihr jeweils eigentümliches Erfolgskriterium haben und mit dem eigentlichen pädagogischen Handeln nicht verwechselt oder vermischt werden dürfen.

Die Notwendigkeit dazu resultiert daraus, daß es in der Öffentlichkeit keine "reinen" pädagogischen Handlungssituationen gibt; vielmehr sind pädagogische Handlungsfelder (Schule; Kindergarten; Freizeitheim) gesellschaftlich verortet in Form von Institutionen, und deren allgemeine und besondere Erwartungen müssen die dort tätigen Pädagogen geltend machen. Konkreter: In jedem pädagogischen Handlungsfeld gelten rechtliche Rahmenbedingungen (Grundrechte; allgemeingültige Rechtsbestimmungen; besondere Rechtsbestimmungen, zum Beispiel Aufsichtspflicht gegenüber Minderjährigen) sowie Erwartungen des Trägers (zum Beispiel Orientierung am Lehrplan in der Schule; "christlicher Geist" in einer kirchlichen Kinderfreizeit). Jeder Pädagoge muß die für sein Handlungsfeld gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen des Trägers ermitteln, um erfolgreich handeln zu können. Ein Freizeitpädagoge zum Beispiel in einem kommunalen Jugendhaus kann per schlichter Dienstanweisung veranlaßt werden, dies zu tun oder jenes zu lassen.

Ein Pädagoge, der solche nicht-pädagogischen Aspekte seines beruflichen Handelns nicht akzeptiert, mißversteht den gesellschaftlichen Charakter seiner Profession und bewirkt bei seinen Partnern, wenn er dieses Mißverständnis an sie weitergibt, möglicherweise falsche politisch-gesellschaftliche Vorstellungen. Andererseits kann er solche nicht-pädagogischen Handlungen immer auch mit aufklärenden Lernangeboten verbinden, die Zu-

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gänge zu grundlegenden gesellschaftlichen Sachverhalten eröffnen. Die Notengebung in der Schule impliziert zum Beispiel das Problem der Statusvergabe in einer demokratischen Gesellschaft, die Durchsetzung von Jugendschutzbestimmungen im Zeltlager kann verbunden werden mit der Erklärung von Sinn- und Zweckaspekten des Rechtes, zum Beispiel seiner Schutzfunktion. Solidarisiert und identifiziert sich der Pädagoge statt dessen naiv und sachlich undifferenziert einfach mit seinen Partnern, mit ihren "Bedürfnissen", als sei er ihr "Anwalt", dann handelt er nicht als Lernhelfer, sondern gerade gegen die Regeln seiner Profession.

6. "Reine" pädagogische Situationen kann es aus einem weiteren Grund nicht geben: Wenn Lernen ermöglichen die zentrale Leitvorstellung pädagogischen Handelns ist, dann muß es die Menschen und deren sozialen Kontext - zum Beispiel die Schüler einer Klasse - partikular sehen.

Keine Situation und keine Sozialität aber kann selbst bei höchstmöglicher Disziplin auf die Dauer voll auf eine bestimmte Lernaufgabe konzentriert werden, weil die Menschen immer auch andere Bedürfnisse haben als zu lernen. Die Aufforderung zu lernen impliziert ja die andere, den jeweiligen Status quo zu ändern, und dies ist nur begrenzt zumutbar. Erfahrene Lehrer wissen das und lassen zum Beispiel auf Phasen hoher Konzentration Phasen entspannter Kommunikation folgen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine per se pädagogischen Situationen und Handlungsfelder, sondern nur solche, in denen auch pädagogisches Handeln möglich ist. Oder: Pädagogisches Handeln ist immer eine Intervention in einen vorgegebenen Lebenszusammenhang, der dadurch nicht konstituiert werden kann.

Die Partikularität pädagogischen Handelns fällt in der Schule insofern nicht weiter auf, als sie auf wenige Stunden am Tag begrenzt ist. Wo jedoch der Umgang mit Lernenden sich auf längere Zeit erstreckt (zum Beispiel Internat, Schullandheim, Ferienlager, Tagung, Heim), da kann nicht unentwegt etwas gelernt werden, da muß der Pädagoge auch andere Formen des Handelns entwickeln, die ich hier als "Geselligkeit" zusammenfassend bezeichnen möchte und deren Maxime "Unterhaltung" oder einfach "Spaß" ist. Im Unterschied zum Lernen akzeptiert Unterhaltung den status quo der Menschen, so wie sie gerade sind, ohne darüber hinausgehende Ansprüche.

7. Pädagogisches Handeln ist eine Form des sozialen Handelns,

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also auf das Handeln anderer bezogen. Diese anderen (zum Beispiel Schüler) können das pädagogische Handeln unterstützen, aber auch abwehren (zum Beispiel "stören") oder aber konkurrierende Handlungen ins Spiel bringen (zum Beispiel während des Unterrichts Comics lesen). Um Unterstützung des pädagogischen Handelns zu erreichen, kann man in manchen pädagogischen Feldern Druckmittel einsetzen (zum Beispiel Zensuren in der Schule), in anderen (zum Beispiel im außerschulischen Bereich) ist man weitgehend auf Verständigung über die Ziele und Verfahren eines Lernprozesses angewiesen, aber auch in der Schule wäre Verständigung die befriedigendere und solidere Basis für den Erfolg eines Lernprozesses.

Obwohl in der Pädagogik - sowohl an den Hochschulen wie an der Basis - unentwegt von "Praxisbezug" gesprochen bzw. dieser eingefordert wird, gibt cs kaum systematische Reflexionen darüber, was pädagogisches Handeln denn nun eigentlich sei. Der Verdacht drängt sich auf, daß "Praxisbezug" im Grunde eine Leerformel ist, die der Rechtfertigung bestimmter Ansichten, Projekte, Ausbildungskonzepte bzw. der Abwehr bestimmter intellektueller Ansprüche dienen soll. Wenn man nämlich etwas genauer über das pädagogische Handeln als Variante des sozialen Handelns nachdenkt, stellt sich schnell heraus, daß die simple Zweckrationalität - Ziele setzen, Mittel ( = Methoden) ihrer Realisierung suchen - wie sie in der Ausbildung meist gelehrt wird, der tatsächlichen Komplexität dieses Vorgangs auch nicht annähernd gerecht wird. Das komplizierte Wechselspiel des miteinander und gegeneinander Handelns steckt voller irrationaler Momente, aus denen wiederum Ungewißheiten über Ablauf und Ergebnis resultieren. Handeln ist kein objektiv vorgegebener Sachverhalt, sondern ein Standpunkt, von dem aus das professionelle Wissen zweckgerichtet mobilisiert wird. Lehren kann man es nicht, und lernen kann man es nur dort, wo es auch gebraucht wird. An der Hochschule kann man nur solches Handeln lernen, was dort auch benötigt wird, systematisch lehren lassen sich hier nur die allgemeinen Sachverhalte, in deren Rahmen sich das spätere pädagogische Handeln, zum Beispiel des Lehrers, bewegen wird.

8. Da pädagogisches Handeln sich in der Zeit vollzieht, also einer bestimmten Zeit bedarf, und da es andererseits trotz der erwähnten irrationalen Momente rational planmäßig ablaufen soll, bedarf

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es einer inneren Struktur, die mindestens folgende Elemente enthalten muß:

- Zielsetzung

- Diagnose der Situation, in die hinein gehandelt werden soll

- Antizipation des vorgesehenen Handelns im Hinblick auf die zu erwartenden Schwierigkeiten

- Prüfung bzw. Zwischenprüfung des Ergebnisses

- Korrektur des Lernprozesses aufgrund der Prüfungsergebnisse bzw. an seinem Ende Feststellung des Ergebnisses.

Da ich diese innere Struktur und die Formen des pädagogischen Handelns (Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren, Animieren) in meinem Buch Pädagogik als Beruf (Weinheim 1987) ausführlicher dargestellt habe, will ich hier nur auf das Stichwort "Zielsetzung" eingehen, weil es einen besonders problematischen Punkt des pädagogischen Selbstverständnisses berührt.

Ziel ist das, was am Ende eines Lernprozesses herauskommen, sein Ergebnis sein soll. Da die Lernenden aber keine tote Materie sind, sondern selbst handeln, ist es unwahrscheinlich, daß gesetzte Ziele vollständig und ausschließlich erreicht werden (beim Schulunterricht würde das zum Beispiel voraussetzen, daß während des ganzen Lernprozesses das Handeln des Lehrers unterstützt wird und daß alle Schüler dem Unterricht zu folgen imstande sind). Ebenso unwahrscheinlich ist, daß nur die Ziele des Lehrers erreicht werden. Während eines jeden Lernprozesses ergeben sich für die Lernenden auch andere interessante Aspekte, denen sie zumindest in ihrer Phantasie nachgehen können.

Ein Dilemma besteht nun darin, daß die Ziele entweder so begrenzt werden, daß sie auch nachweislich erreicht werden können - zum Beispiel "eine bestimmte Zahl von Vokabeln in einer bestimmten Zeit lernen"; dann sind sie für sich genommen einigermaßen sinnlos. Oder sie werden weiter gefaßt, zum Beispiel "konfliktlösendes Verhalten lernen" - dann wird das konkrete pädagogische Verhalten verunsichert. Soll zum Beispiel der Pädagoge angesichts eines konkreten Konflikts eingreifen in der Erwartung, daß die Beteiligten aus seiner Lösung ihre Lehren ziehen? Oder soll er nicht eingreifen in der Erwartung, daß die Beteiligten aus dem Scheitern ihres Versuches das Nötige lernen werden? Beide sich ausschließende Handlungen können dem strategischen Ziel zugute kommen, aber dieses Ziel gibt von sich aus keine Auskunft

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darüber, welche der beiden Handlungen nun zu ihm hinführen. So oder so tut sich also zwischen dem Handeln und seinen Zielen ein Spielraum der Unbestimmbarkeit auf.

Die wichtigen strategischen Ziele wie "soziales Lernen" oder "demokratisches Bewußtsein" geben also für das konkrete Handeln wenig her, signalisieren allenfalls so etwas wie eine Richtung, die das Handeln anpeilen kann. Deshalb verkommen solche Ziele auch so leicht zu ideologischen Phrasen, und andererseits werden einzelne pädagogische Handlungen leicht dogmatisiert, als ob nur sie zu dem strategischen Ziel führen könnten.

Ein weiteres Problem im Hinblick auf die Zielsetzung besteht in der Frage nach der Zielkompetenz. In unserer schulpädagogischen Tradition galt es lange als selbstverständlich, daß der Pädagoge die Ziele setzt und dann nach den Mitteln ihrer Realisierung sucht. Aber schon in der Jugendarbeit galt dies so nie. Weil sie sich auf dem Freizeitmarkt in Konkurrenz mit anderen Anbietern durchsetzen muß, mußte sie sich oft darauf einlassen, daß die Jugendlichen die Ziele vorgeben und die Pädagogen ihnen dabei helfen, diese Ziele zu realisieren. Noch weiter ist die Entwicklung in Teilbereichen der Sozialpädagogik fortgeschritten. Ein Stichwort wie "akzeptierende" Drogen- bzw. Jugendarbeit (zum Beispiel mit rechtsradikalen Jugendlichen) weist darauf hin, daß hier das klassische strategische Ziel der Re-Integration in eine "normale" Bürgerlichkeit wenn nicht aufgegeben, so doch zurückgestellt wird mit der Absicht, die Betroffenen innerhalb ihres Milieus möglichst zu stabilisieren und ihnen ein legales Leben zu ermöglichen.

9. Die Wissenschaft liebt die logische Reihenfolge, wie sie in der Aufzählung Zielsetzung, Diagnose usw. zum Ausdruck kommt. Der pädagogisch Handelnde jedoch kann sich daran nicht halten. Für ihn stehen die eben genannten Dimensionen in einem gleichzeitigen Wechselverhältnis. Prüfung und Korrektur erfolgen ständig im Dialog mit den Lernenden, Korrektur kann auch heißen, das Ziel zu ändern oder es in Teilziele aufzulösen, oder die Diagnose zu revidieren. Jeder Faktor kann jeden anderen verändern.

Der Handelnde aber ist auf sich allein gestellt, Diagnose, Antizipation, Prüfung und Korrektur sind keine Gewißheiten, sondern reine Interpretationsleistungen von höchst ungewisser Genauigkeit. Deshalb ist der Pädagoge so sehr auf das unterstützende Mithandeln seiner Partner angewiesen, denn nur mit ihnen kann

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er seine Handlungsstruktur mit einigem Erfolg entfalten. Verweigerung der Mitarbeit stößt ihn dagegen ins Bodenlose.

Aus diesen Unsicherheiten ergibt sich eine wichtige Schlußfolgerung. Die Frage nach dem einzig möglichen "richtigen" pädagogischen Handeln ist auch dann prinzipiell unentscheidbar, wenn man die Handlungsziele nicht in Frage stellt. Es gibt in einer bestimmten Situation immer einen Spielraum für vernünftiges pädagogisches Handeln, der nicht zuletzt durch das Handeln der Partner mitbestimmt ist.

10. Ein neues pädagogisches Berufsverständnis, das sich nicht am Begriff der Erziehung orientiert, sondern sich als Lernhilfe versteht, muß auch die Art und Weise der "pädagogischen Beziehung", also des professionellen Umgangs mit den Partnern, bestimmen. Jede professionelle Beziehung zwischen Menschen ist eine partikulare, durch den Berufszweck begrenzte und muß schon deshalb auf einer gewissen Distanz beruhen. Auch professionelle pädagogische Beziehungen - also Lernbeziehungen - muß man ohne allzu großen menschlichen Verschleiß eingehen und wieder verlassen können. Gerade die professionelle Distanz ermöglicht angenehme menschliche Töne: Freundlichkeit, Humor, Charme, Aufmerksamkeit, Höflichkeit, Respekt. Wer sein berechtigtes Bedürfnis nach befriedigenden Basisbeziehungen auf die professionelle pädagogische Beziehung überträgt oder gar verlagert, wird beides nicht finden: keine befriedigenden Basisbeziehungen und keine befriedigenden beruflichen Beziehungen. Die Erwartung von Nähe am falschen sozialen Ort erhöht keineswegs die Menschlichkeit des Lebens.

Lernen erfolgt im wesentlichen durch den Austausch von Erfahrungen, insofern diese sprachlich mitteilbar gemacht werden können. Zur Erfahrung in diesem Verständnis gehört alles, was die Persönlichkeit in ihrer bisherigen Lebensgeschichte konstituiert hat: die Entwicklung des Wissens und Bewußtseins, der Gefühle, der Verhaltensweisen und Einstellungen. Konstitutiv für die professionelle pädagogische Beziehung ist nun die Prämisse, daß die Erfahrungen aller Menschen, also auch der Kinder, gleichrangig sind, mögen die betreffenden Personen sich auch sonst hinsichtlich des Status, des Alters, des Wissens noch so unterscheiden. Wird diese Prämisse nicht akzeptiert, so müßte daraus folgen, daß die Lebensgeschichte der Partner - zum Beispiel der Kinder - als minderrangig angesehen wird, was eine Mißachtung ihrer

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Menschenwürde wäre. Selbstverständlich heißt das nicht, daß die Meinungen, Urteile und Interpretationen hingenommen werden müßten, die aus der jeweiligen Erfahrung erwachsen sind; akzeptiert werden müssen nur die subjektiven Gründe, die zu ihnen geführt haben. Im übrigen geht es in jeder Bildungsarbeit nicht zuletzt darum, die bisher erworbenen Erfahrungen einer Prüfung zu unterziehen, diese sind also immer auch Thema in Lernprozessen. Das, was zum Beispiel den Lehrer von Schülern unterscheidet, fundiert gerade die Möglichkeit des Lernens. Bei vollkommen gleichem Erfahrungsstand könnte niemand etwas lernen. In der professionellen pädagogischen Beziehung sind also symmetrische und asymmetrische Dimensionen auf eigentümliche Weise miteinander verbunden. Sie als Alternativen zu deuten, gehört zu den Irrtümern einer ganzheitlich orientierten Erziehungsvorstellung.

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Paradigmenwechsel von Erziehung zu Lernhilfe nicht nur sachlich zwingend ist, weil sonst die Wirklichkeit heutiger Sozialisationsprozesse verfehlt würde, sondern auch erst zu einem modernen pädagogischen Berufsverständnis führen kann, das sich der Partikularität seiner Handlungschancen bewußt ist, aber diese dafür auch präziser fassen kann. Während in der Erziehungswissenschaft diese Frage jahrzehntelang von der Schulpädagogik mit ihrer zweckrationalen Didaktik und Methodik dominiert wurde, ist der notwendige Paradigmenwechsel in der Sozialpädagogik erheblich weiter vorangekommen, weil die Pädagogen dort - vor allem im Umgang mit Randgruppen - längst erfahren haben, daß sie eine neue, den Realitäten gerecht werdende Fundierung ihrer Profession brauchen. Aber es wird wohl noch geraume Zeit dauern, bis diese Umorientierung sich allgemein durchgesetzt hat, weil gerade für die älteren Pädagogen-Generationen der Begriff "Erziehung" einschließlich seines ganzen emotionalen Umfeldes eine identitätsstiftende Bedeutung hat, und die Überalterung insbesondere der Lehrerberufe ist für eine entsprechende Bewußtseinsveränderung auch nicht gerade förderlich.

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179. Die Normalisierung der Politischen Bildung (1996)

In: Politische Bildung in der Bundesrepublik. Zum 30jährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung, im Auftrag der DVPB hrsg. v. Dorothea Weidinger, Opladen 1996, S. 106-111
 

Zu den Aufgaben des Heranwachsens gehört neben vielem anderen immer auch eine Einübung in die politische Partizipation, - gleichgültig, wie die jeweilige politisch-gesellschaftliche Verfaßtheit im Grundsatz wie im einzelnen beschaffen sein und wie groß demzufolge der zugelassene Spielraum für Mitwirkung sein mag. Nicht nur Demokratien, sondern auch undemokratische politische Systeme legen darauf Wert, wie wir aus der nationalsozialistischen und aus der realsozialistischen deutschen Vergangenheit wissen. Das liegt daran, daß alle politischen Systeme ein Interesse daran haben müssen, den Nachwuchs sowohl praktisch in die jeweiligen Regeln einzuführen, als auch darüber hinaus sich seiner grundlegenden Loyalität zu versichern.

Normalerweise übernehmen diese Aufgabe die Erwachsenen im allgemeinen und die für die Erziehung zuständigen im besonderen. Die Entwicklung in der alten Bundesrepublik - auf die davon abweichende in der DDR soll hier nicht eingegangen werden - verlief jedoch anders. Im Unterschied zu den entsprechenden pädagogischen Bestrebungen der anderen westlichen Demokratien, die sich dafür auf einen Schatz fraglos akzeptierter Traditionen und normativer Grundlagen selbst dann berufen konnten, wenn sie von innenpolitischen Krisen geschüttelt wurden, war in unserem Falle die politische Bildung und Erziehung Ergebnis eines verlorenen Krieges und zudem und vor allem belastet durch die politische Kriminalität des besiegten NS-Staates, deren Ausmaße erst in unseren Tagen hinreichend aufgedeckt worden sind - wenn wir etwa an die lange verkannte Mitwirkung der "normalen" Wehrmacht denken. Dieser westdeutsche "Sonderweg" schlug sich vor allem in zwei Konsequenzen nieder, die die politische Bildung bei uns mehr oder weniger bis heute geprägt haben:

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Politische Bildung als Instrument der Durchsetzung von Demokratie

Sie entstand im Rahmen der Umerziehungsbemühungen der (westlichen) Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und sah sich somit von vornherein unter einer politischen Zielvorgabe: Mit pädagogischen Mitteln - Lernen und Bildung - sollte das politische Ziel erreicht werden, Denazifizierung, Demilitarisierung und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Deutschen zu verankern. So konnte sie vielen Zeitgenossen als bloße Implikation des Siegerhandelns erscheinen, was ihrer öffentlichen Reputation zunächst nicht unbedingt zugute kam. Folgenreicher jedoch war die Tatsache, daß sie sich im Unterschied zu den anderen westlichen Demokratien nicht auf demokratische Normen und Strukturen als selbstverständliche Vorgaben beziehen konnte, vielmehr sollten mit Hilfe der politischen Bildung diese demokratischen Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen und gefestigt werden; dies setzte aber eine Relativierung des üblichen Generationenverhältnisses voraus, insofern ja die Erwachsenen selbst noch keine Erfahrung mit demokratischen Normen und Strukturen hatten. Deshalb ging von der politischen Bildung, anders als von den "klassischen" schulischen Aufgaben, von Anfang an ein Emanzipationsimpuls aus, der sich in der 68er-Bewegung unüberhörbar artikulierte und zu neuen Vorstellungen über das Verhältnis der Generationen zu einander führte. Weil nun die politische Bildung erst mit suchen mußte, worauf sie sich eigentlich hätte selbstverständlich beziehen müssen, geriet sie immer wieder in die innenpolitischen Auseinandersetzungen hinein, und ihre didaktisch-methodischen Konzeptionen mußten sich ständig in einem komplizierten politisch-ideologischen Begründungs- und Rechtfertigungszwang bewegen, so daß alle wesentlichen innenpolitischen Kontroversen dabei ihre Spuren hinterließen: Indem die politische Bildung gezwungenermaßen die Grundlagen wie die Tatsachen des neuen Gemeinwesens reflektierte, war sie immer auch politische Handlung. Ihre extreme Politisierung finden wir im Zeitraum Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. Die heftigen Auseinandersetzungen über neue Rahmenrichtlinien vor allem in Hessen und Nordrhein-Westfalen markierten dabei einen Höhepunkt, und sie sind ohne diesen politischen Legitimationszwang nicht verständlich.

Politische Bildung und die Moralisierung von Politik

Die charakterisierten Ausgangsbedingungen nach 1945 schlugen sich ferner nieder in einer hochgradigen Moralisierung der Politik. Aufgabe der Erziehung im allgemeinen und der politischen im besonderen sollte sein, die Wiederholung jener politischen Kriminalität ein für allemal zu verhindern. Diese moralische Implikation kam wiederum dem deutschen Erziehungsver-

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ständnis entgegen, dem es weniger um Aufklärung als um erwünschte Verhaltensdispositionen ging und geht. Bald jedoch zeigte sich, daß das moralische Desaster, das der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, frei flottieren und für innenpolitische Auseinandersetzungen eingesetzt werden konnte. Unter dem Begriff des "Totalitarismus" wurde z.B. in den 50er Jahren das nationalsozialistische mit dem DDR-Regime wie mit allen anderen stalinistischen wenn nicht gleichgesetzt, so doch auf eine gleiche Ebene gehoben. Der aus der 68er-Bewegung hervorgegangene westdeutsche "Anti-Faschismus" vollzog dann unter Verwendung ideologiekritischer Theoreme eine moralische Polarisierung, die sich mit der nun einsetzenden innenpolitischen Zuspitzung verband und in der politischen Bildung zu regelrechten "Lagerdidaktiken" führte. Die Moralisierung setzte sich dann nach der deutschen Vereinigung in einer fast flächendeckenden Stasi-Verdächtigung fort und füllt inzwischen weite Teile der politischen Publizistik aus.

Diese Phase geht jedoch zu Ende. Die Zukunft der politischen Bildung wird charakterisiert sein durch ihre Emanzipation von den eben genannten Ausgangsbedingungen, was u.a. folgendes bedeutet:

Die Normalisierung der politischen Bildung

Die ursprüngliche Ausgangssituation, daß nämlich die politische Bildung erst die demokratische Verfaßtheit mit konstituieren mußte, anstatt sich auf sie berufen zu können, hat sich inzwischen normalisiert. Wir können nun so verfahren, wie andere westliche Demokratien auch. Auch die Bundesrepublik verfügt nun über eine wenn auch noch kurze demokratische Geschichte, und auf diese Vorgabe kann sich die politische Bildung nun beziehen, sie kann in diesem Sinne "normal" werden, zumal auch der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bisher nicht, wie von manchen befürchtet, zu einer inneren Destabilisierung geführt hat.

Die Aufgabe der politischen Bildung besteht also heute darin, sich auf die gegebenen Normen und Strukturen der demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung zu beziehen und die Bedingungen der Möglichkeit politischen Lernens didaktisch-professionell zu reflektieren, damit entsprechende Lernarrangements inszeniert werden können. Das schließt natürlich kritische Distanz zu den Realitäten und ihren Begründungen nicht aus, aber diese kann sich nun, im Unterschied zur Aufbauphase, auf grundlegende, seit Jahrzehnten entfaltete demokratische Prinzipien beziehen. Es ergibt also keinen Sinn mehr, Lagerdidaktiken zu vertreten, die sich mit den wie immer definierten partikularen Interessen einer gesellschaftlichen Teilgruppe verbünden bzw. diese auf pädagogischem Wege zu propagieren versuchen. Aufgabe der Didaktik muß vielmehr sein, real existierende politische Widersprüche, Probleme und Konflikte so zu rekonstruieren, daß sie lehr- bzw. lernbar werden, also zum Material für die Bildung des Schülers bzw. Jugendlichen wer-

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den können. In diesem Sinne muß wieder eine Gemeinsamkeit des didaktisch-methodischen Problemlösungsverhaltens hergestellt werden, die in den 70er Jahren verloren ging. Die politische Bildung "macht" die Politik nicht, sie kann sie nur zugänglich machen.

Nicht Moralisierung der Politik, sondern Reflexion moralischer Begründungen

Schwieriger wird die Emanzipation von der Ausgangslage in moralischer Hinsicht. Die NS- Verbrechen sind immer noch gegenwärtig und bestimmen die aktuelle politische Diskussion nach wie vor mit. Solange dies so ist, kann die politische Bildung davon nicht abstrahieren. Andererseits muß sie jedoch die Interessen aufdecken, die sich inzwischen damit verbunden haben; sie muß Front machen gegen die vorgängige Moralisierung des Politischen, die sich weitgehend vom Ausgangspunkt der NS-Verbrechen gelöst hat, und sie muß dies tun, wenn sie nicht an den jungen Generationen vorbeioperieren will. Ihre Aufgabe in einer nun entfalteten Demokratie ist nicht, politische Phänomene vorweg durch die Brille einer bestimmten "erzieherisch wertvollen" Moral zu sehen, sondern umgekehrt moralische Begründungen in der Politik zum Thema der Reflexion zu machen. Vorweg verpflichtet ist sie nur den Werten, die die Verfassung vorgibt. Die politische Bildung ist selbst keine moralische Instanz und geht nicht vorweg von bestimmten moralischen Positionen aus, mögen sie auch im Gewande des "erzieherisch Wertvollen" daherkommen.

Die Konstruktion politischer Wirklichkeit – kognitive Auseinandersetzung versus emotionale Betroffenheit

In den vergangenen Jahrzehnten wurden unter dem Druck der politischen und moralischen Legitimation alle nur denkbaren politischen, ideologischen und einzelwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge sowie alle nur denkbaren methodischen Variationen durchgespielt, so daß wir uns heute von deren Plausibilität wie von ihrer Leistungsfähigkeit ein auf Erfahrung beruhendes Bild machen können. Wir haben dabei gelernt, daß wir zum Zwecke des planvollen Lehrens und Lernens die politische Wirklichkeit immer erst in spezifischer Weise konstruieren müssen; gegeben ist sie uns immer nur als eine an und für sich sinnlose Menge von Nachrichten. Wir können sie z.B. von den aktuellen Konflikten aus konstruieren, oder als Institutionenkunde oder als lebensweltliche Aufklärung. Aber jedesmal vereinfachen wir damit auch die Realität im ganzen, und zu rechtfertigen ist dies nur unter der Voraussetzung, daß wir die jeweilige Lehr- und Lernsequenz nicht als dogma-

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tisch endgültig, sondern als über sich hinausweisend anlegen, als Voraussetzung für ein weiteres Dazulernen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine verständige Teilnahme an der politischen Publizistik. Es gibt keine allgemeingültige didaktische oder methodische Konstruktion der politischen Bildung, vertretbar sind vielmehr nur jeweils optimale Kombinationen von möglichen Varianten. Andererseits läßt sich keine didaktisch-methodische Konstruktion von vornherein auf eine bestimmte, "konservative" oder "fortschrittliche", politische Grundposition beziehen und von daher rechtfertigen; "Frontalunterricht" ist per se nicht "konservativer" als "Gruppenarbeit".

Entgegen modisch gewordener subjektorientierter didaktisch-methodischer Konstruktionen, die nicht zuletzt aus der Moralisierung der Politik erwachsen sind, ist darauf zu bestehen, daß Aufklärung sowohl im historischen wie auch im didaktisch-systematischen Sinne in erster Linie eine Sache des Kopfes, des Verstandes ist, und daß von emotionaler "Betroffenheit" und bloß vordergründigem Engagement ohne Leitung durch den Verstand nach aller Erfahrung nichts Gutes zu erwarten ist.

Politische Bildung im Wechsel der Generationen

Auch die politische Bildung unterliegt wie jede andere Erziehungsaufgabe dem Wechsel der Generationen. Jede neu heranwachsende Generation findet auf Grund ihrer besonderen Sozialisationsbedingungen auch einen neuen Zugang zu den Tatbeständen der Politik. Was sie daran für bedeutsam hält, ob und in welchem Maße sie sich dafür überhaupt interessiert, hängt sehr wesentlich von den Erfahrungen ab, die sie sonst in ihrem Leben macht. Die heutigen Schüler haben z.B. keinen eigenen Bezug mehr zu Krieg und Nachkriegszeit und somit z.B. auch nicht zu den moralischen Implikationen, die daraus für die älteren Generationen hervorgegangen sind. Ähnlich war es bei der deutschen Vereinigung; während die Älteren im allgemeinen darin schon deshalb ein bedeutsames Ereignis sahen, weil sie mit dem anderen Teil Deutschlands auf vielfältige persönliche und biographische Weise noch verbunden waren, fehlten den Jüngeren solche Bezüge schon weitgehend.

Aus dieser unausweichlichen Generationendifferenz ergeben sich eine Reihe von Problemen, daß z.B. die inzwischen geradezu ritualisierte Beschwörung der NS-Vergangenheit die Jungen auf Dauer immer weniger beeindrucken wird, weil sie daraus für sich selbst kaum noch verbindliche Schlußfolgerungen im Hinblick auf ihren alltäglichen Handlungsspielraum ziehen können.

Jedenfalls muß die politische Bildung die Zukunft der jetzt Heranwachsenden im Blick haben und darf nicht einseitig auf die Vergangenheit ihrer Urgroßeltern gerichtet sein.

Die notwendig gewordene Neuorientierung der politischen Bildung, nämlich ihre Normalisierung, wird zu einer Versachlichung der pädagogischen Arbeit führen müssen, "Politik" oder "Sozialkunde" wird ein Schul-

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fach sein wie andere auch. Zudem wird das öffentliche Interesse daran in dem Maße zurückgehen, wie es sich nicht mehr aufwühlenden innenpolitischen Konflikten verdankt, sondern in aufklärende Distanz dazu tritt. Vordergründige politische Begründungen haben sich verbraucht, und deshalb wird die politische Bildung in Zukunft für ihre öffentliche Anerkennung mehr kämpfen müssen als bisher.

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