Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 8: 1969

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 8. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahre 1969. In diesem Jahr war ich (seit 1967)  als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag  2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit.  Aufgenommen wurden nur  bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien ( in diesem Jahr erschien: Einführung in die Pädagogik. München 1969)

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags.  Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind  durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von  "1"  an nummeriert, die  vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

© Hermann Giesecke

Inhalt von Band 8

63. Kritik des verwalteten Lernens (1969)

64. Massenmedien und Pädagogik (1969)

65. Wissenschaft lernen (1969)

66. Emanzipation - ein neues pädagogisches Schlagwort? (1969)

67. Unterrichtsziele im Sozialkundeunterricht in der differenzierten Gesamtschule (1969)


 

63. Kritik des verwalteten Lernens (1969)

Über einige didaktische Probleme der "wissenschaftlichen Lehrerbildung"

(In: Neue Sammlung, H. 4/1969, S. 331-347)
 

Die folgenden Überlegungen sind im Stil einer "Streitschrift" verfaßt. Ihre Absicht ist, eine zwar engagierte, aber doch den Regeln rationalen Argumentierens unterworfene Diskussion darüber einzuleiten, wie heute an Pädagogischen Hochschulen "wissenschaftliche Lehrerbildung" "von unten" aussieht und aussehen müßte. Wie jede Kritik, die Tendenzen aufs Korn nimmt, ist auch diese ungerecht gegenüber dem Detail: Die Verhältnisse an den einzelnen Hochschulen sind schon aus äußeren Gründen unterschiedlich, manche meiner Vorschläge sind nicht so neu, wie sie beim ersten Lesen erscheinen mögen, und überhaupt könnte man einwenden, daß die Probleme, deren uneingeschränkte Diskussion ich provozieren möchte, "nur" die "Massenhochschulen" angingen, während es doch - gerade in Niedersachsen - noch genug kleinere Hochschulen gebe. Ich bin aber sicher, daß gerade in den "Massen-Hochschulen" dieselben Tendenzen nur schärfer zum Ausdruck kommen, die es einer Kritik zu unterziehen gilt.

Bisher hat sich die hochschuldidaktische Diskussion im wesentlichen an den Universitäten abgespielt, an den Pädagogischen Hochschulen hat sie sich jedenfalls noch nicht so unversöhnlich zugespitzt. Unsere Hochschulen haben sich lange etwas darauf zugute gehalten, daß in ihren Mauern "das Pädagogische" in angemessener Weise zum Zuge komme, - im Unterschied zu den Universitäten, wo die "Philologen" zwar ihre Fächer studierten, aber von Pädagogik und Didaktik keine Ahnung bekämen. Ob dieses Selbstbewußtsein jemals wirklich fundiert war, will ich hier nicht erörtern. Soviel aber ist sicher: Die didaktische Organisation des eigenen Betriebes ist an unseren Hochschulen mindestens so dilettantisch wie an den Universitäten, und gemessen am Pathos des pädagogischen Selbstanspruchs tritt hier der Widerspruch erst recht zutage.

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Im folgenden ist also von "wissenschaftlicher Lehrerbildung" nicht im Sinne einer Statusänderung der Hochschulen die Rede, auch nicht im Sinne der mehr oder weniger katastrophalen materiellen und personellen Bedingungen; beides ist sattsam bekannt und erscheint hier nur am Rande. Vielmehr soll von Wissenschaft im didaktischen Sinne die Rede sein, d.h. unter dem Aspekt der zielkritischen und lerntechnischen Organisation des Studiums. Obwohl die folgenden Ausführungen aus Platzgründen nicht direkt an die bisherige Diskussion zur Hochschuldidaktik anknüpfen, vermögen sie vielleicht die bisher weithin reichlich abstrakt geführte Diskussion am Beispiel eines bestimmten Typus der wissenschaftlichen Ausbildung zu konkretisieren (1) Ich möchte mit 4 Thesen beginnen:

1. Unsere Ausbildung ist nicht wissenschaftlich; vielmehr trägt sie unverkennbar den Charakter einer schlecht organisierten, quantitativ-industrialisierten Stoff-Büffelei.

2. Unsere Ausbildung dient nicht der Vorbereitung auf die berufliche Praxis; vielmehr sind "Theorie" und "Praxis" noch nie in der Geschichte der Lehrerbildung so unversöhnlich auseinandergetreten wie heute.

3. Unsere Ausbildung ist nicht ökonomisch organisiert; vielmehr stehen die materiellen und personellen Aufwendungen des Lehrbetriebs in keinem vertretbaren Verhältnis zum Lerneffekt.

4. Dies alles läßt sich nur ändern - und dies ist "das Positive" an dieser Kritik - , wenn wir dafür sorgen, daß aus dem verwalteten Lernen wieder ein individuelles Studieren wird.

Die erste These läßt sich allein schon daraus erhärten, daß ein Studium, das in sechs Semestern mehr als drei Fächer verlangt - von den zusätzlichen Praktika und Hospitationen ganz zu schweigen - , nicht einmal dann ein "wissenschaftliches" genannt werden dürfte, wenn man darunter ein bloß instrumentelles Studium verstehen wollte, d.h. ein solches, das lediglich "Handwerkszeug" für den späteren Beruf vermittelt, also die gegenwärtige berufliche Praxis bloß reproduzieren soll. Sieht man dagegen die kritische Funktion der wissenschaftlichen Ausbildung mit - was allein dem Stand der Diskussion entsprechen würde - , so dürfte zweifelsfrei feststehen, daß der gegenwärtige Studienbetrieb kritische Distanz zum angebotenen Lehrstoff, zur künftigen Berufswirklichkeit und zu den immer schon mitgebrachten Vor-Einstellungen schon aus Zeitgründen gar nicht zuläßt. Unsere Studenten werden vielmehr in sechs Semestern durch einen Studienbetrieb gehetzt, der keine Muße zur Re-

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flexion, Besinnung und kritischen Distanz erlaubt, ja, dieser Betrieb - der mit den Praktika auch einen großen Teil der Ferien erfaßt - ist so organisiert, als ob kritisches Nachdenken zu verbieten seine eigentliche Intention wäre. Er bewirkt zumindest ein "Lernverbot" für kritisches Denken, die Disziplinierung an wissenschaftlichen Methoden und Argumentationen kann sich nicht entfalten. Und dies hat Folgen, indem sich "Angebot" und "Nachfrage" aufeinander einspielen: Die autoritäre Disposition der meisten Studienanfänger, d.h. ihre Bereitschaft, sich als bloße Objekte von Lernanforderungen herzugeben, wird durch diesen Betrieb verstärkt. Wem man nicht die tatsächliche Chance gibt, sich von fixierten Denk- und Erlebnismustern zu distanzieren, für den wird es zu einer Frage des psychischen Überlebens, ob er sich weiter in sie flüchtet oder nicht. Der pausenlose quantitative Leistungsdruck ist bekanntlich eine ideale Disposition für affektive Vorurteile. Es nutzt nichts, "wissenschaftliches Lernen" zu proklamieren, wenn man nicht gleichzeitig die didaktischen Bedingungen der Möglichkeit dafür realisiert. Wie in den Jesuitenschulen der Gegenreformation durch "Auswendiglernen", so wird heute unseren Studenten durch die Fülle halb- oder viertelverstandenen Wissens der letzte Rest an Verstand ausgetrieben.

Auf diesen Betrieb sind manche studentischen Forderungen selbst dort schon fixiert, wo sie sich fortschrittlich dünken. Auch ihnen gerät allmählich aus dem Blick, was wissenschaftliches Studium vermag und was nicht. Die Forderung nach besserer Kooperation, nach Zusammenlegung der Fächer, nach "Studienplanung" und nach "effektiveren" Lernmethoden ist nämlich nur zum Teil vernünftig. Zum anderen Teil gerät sie bedenklich in die Nähe einer neuen "Sucht nach Weltanschauung"; Wissenschaft, so hofft man, werde zweifelsfreie "Lebenshilfe" gewähren, die man "mitschreibt" und akzeptiert. Daß die Aufgliederung der Wissenschaften in Fächer - wenn man die Übertreibungen unseres Betriebes abzieht - substantiell etwas mit den Grenzen heutiger wissenschaftlicher Möglichkeiten zu tun hat, und daß die Integration der einzelnen wissenschaftlichen Perspektiven und Stoffe eine produktive Leistung des einzelnen Bewußtseins ist, die ein Dozent oder gar ein ganzer Lehrkörper nicht mehr für alle verbindlich zu organisieren vermag, wird zunehmend auch von Studenten verdrängt.

Eine weitere Folge dieses Betriebes ist, daß die "Verschulung" und damit die Dominanz des "definiten", abfragbaren Wissens ständig zunimmt (2). Wo der studentische Partner nicht die Möglichkeit hat, tiefer in einen Fachbereich einzudringen und so in einer für ein wissenschaftliches Studium unerträglichen Abhängigkeit vom Informationsmonopol des Dozenten verbleibt, kann dieser kaum etwas anderes tun, als aufs "definite Wissen" zurückzugreifen. Damit kommt aber allenfalls die halbe Portion dessen auf den Tisch, was mit Fug und Recht heute Wissenschaft genannt werden darf, denn selbstverständlich gehört dazu auch ein gewisser Bestand zusammenhängenden Wissens. Auch in diesem Punkte haben sich viele Studenten längst angepaßt: Sie fordern - von einer kleinen Minderheit abgesehen - bereits als ihr Recht, was ihnen zu Unrecht

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abverlangt wird: eindeutiges und eingängig vorgetragenes Wissen, das aufgeschrieben und für die Prüfung auswendig gelernt werden kann. Die Einladung, Seminare als "wissenschaftliche Werkstattsituationen" zu betrachten, wo zunächst nichts gewiß ist außer einer Handvoll von Problemen, die gemeinsam methodisch angegangen werden sollen, wird eher als unnützer Umweg registriert: Der Dozent solle doch lieber gleich sagen, was er weiß und meint, damit man es sich notieren könne.

Unser Lernbetrieb ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wirkungslos die an sich liberale Gesinnung von Dozenten ist, wenn die institutionellen und administrativen Bedingungen autoritäre Verhältnisse geradezu erzwingen. Oder anders ausgedrückt: Die didaktische Gesamtkonstellation in einem pädagogischen Feld kann offenbar auch entgegen der Gesinnung der dort agierenden Pädagogen von Grund auf autoritär sein. So wird objektiv zur Indoktrination, was subjektiv vielleicht wissenschaftlich-kritisch gemeint ist.

Der Versuch, das Studieren wirklich wissenschaftlich zu gestalten, wird - das sollen diese Hinweise zeigen - mit dem Widerstand aller beteiligten Gruppen zu rechnen haben: mit dem Widerstand des Ministeriums, insofern es zwar verbal für "Wissenschaft" plädiert, aber nur so lange, wie niemand inhaltliche Präzisierungen anmeldet, die als Ansprüche auf es selbst zurückkommen; und insofern es primär daran interessiert sein muß, für möglichst wenig Geld möglichst viele Lehrer zu produzieren. Man muß rechnen mit dem Widerstand vieler Dozenten, insofern sie genauso besinnungslos dem Studien-, Prüfungs- und (nicht zu vergessen!) Selbstverwaltungsbetrieb ausgeliefert sind wie die Studenten auch; und insofern der Selbstbehauptungswille der Fächer immer stärker triumphiert über die nüchterne Reflexion wissenschaftsdidaktischer Funktionsziele. Ob die Schulverwaltungen der unteren Ebene ein Interesse an wissenschaftlich-kritischer Ausbildung haben, scheint zumindest zweifelhaft; in allen Berufen haben die für eine Praxis Verantwortlichen eher den - im Grunde verständlichen - Wunsch, diese Praxis zu reproduzieren. Man wird aber auch mit dem Widerstand der Mehrheit der Studenten rechnen müssen, obwohl denkbar - und zu hoffen! - wäre, daß der Wille zum Ungehorsam gegenüber dem blinden Lernbetrieb von den Oberschulen aus auch die Pädagogischen Hochschulen erfaßt. Die Verwissenschaftlichung unseres Lehrbetriebes im didaktischen Sinne ist also ein sehr kompliziertes Unternehmen, das sich gegen vielerlei Interessen durchsetzen muß, und wir dürfen nicht so tun, als ob wir uns da alle einig seien. Dies gerade macht unseren Betrieb so hoffnungslos, daß es gegenwärtig noch kein artikuliertes Interesse an der Verwissenschaftlichung des Studiums gibt, das machtvoll genug wäre, die nötigen Änderungen zu erzwingen.

Dieser "untere" Aspekt des Problems wird meistens übersehen, wenn in der Öffentlichkeit von "wissenschaftlicher Lehrerbildung" die Rede ist. Dann steht vielmehr das Promotionsrecht oder die Vermehrung der Lehrstühle oder die Statusänderung der Hochschule im Vordergrund. Aber mit der Erfüllung dieser und anderer Forderungen wäre die Verwissenschaftlichung des Studienbetriebes selbst noch keineswegs vorangetrieben, ja, es stünde sogar zu befürchten, daß durch solche äußeren Zugeständnisse die innere Reform eher weiter verdrängt wird. Denn es ist nicht wahr, daß für den Zustand der besinnungslosen Lernfabrik allein die materielle und personelle Unterausstattung verantwortlich sei, und sie hat auch unmittelbar nichts mit dem Status zu tun. Viel eher ist schon

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die Prüfungsordnung, die ja Konsequenzen für die Studienordnung hat, dafür verantwortlich Aber auch sie kann nicht als Entschuldigung dienen; denn sie ließe z. B. zu, daß in verschiedenen Fächern (z. B. Soziologie, Pädagogik, Schulpädagogik, Psychologie) in verschiedenen Prüfungen das gleiche unter variierendem Aspekt geprüft (und also auch vorher studiert) wird. Wenn man das wirklich will, kann man auch unter den Bedingungen der gegenwärtigen Prüfungsordnung die quantitativen Studienanforderungen zugunsten qualitativer "umfunktionieren". Aber der Egoismus der Fächer, der teilweise geradezu rücksichtslos auf dem Rücken der Studenten ausgetragen wird, manifestiert sich meist auch in dem Anspruch, selbständige Inhalte zu lehren und zu prüfen (was sich oft in einer rührenden "Gegenstands-Neurose" äußert, die durch die Gründung von überregionalen "Fachschaften" dann institutionalisiert wird).

Kommen wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück. In sechs Semestern lassen sich höchstens drei Fächer bzw. Fachbereiche mit einigem Ernst wissenschaftlich studieren. Nach der neuen Prüfungsordnung in Niedersachen müssen unsere Studenten aber 7 Fächer studieren (Wahlfach, 2 Nachweisfächer [ = Unterrichtsfächer mit reduzierten, lediglich didaktischen Anforderungen], Pädagogik, Schulpädagogik, Psychologie und ein C-Fach [Soziologie oder politische Wissenschaft oder Philosophie]). Das ist wissenschaftsdidaktisch schlichter Unfug, der nicht dadurch vernünftiger wird, daß es früher mit der Fächerzahl noch schlimmer stand. Da hilft auch der Einwand nicht, daß in manchen Fächern (z.B. in den beiden Nachweisfächern) die Anforderungen vergleichsweise gering sind. Die Konsequenz wäre doch, sie gerade deshalb ganz abzuschaffen!

Bevor also überhaupt von Wissenschaft an unseren Hochschulen die Rede sein kann, müssen vom quantitativen Anspruch her erst einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Dies wird im allgemeinen auch grundsätzlich eingesehen, aber die Schwierigkeiten tauchen immer bei der Konkretisierung auf, weil sie so oder so den "Besitzstand" bestimmter Fächer angreifen muß. Da man einmal etablierte Fächer schlecht wieder abschaffen kann, kann man sie nur konvertierbar machen, d. h. als Studienschwerpunkte in ein inhaltlich konzipiertes grundwissenschaftliches Gesamtstudium einbringen. Natürlich kann jedes dieser Fächer für sich genommen wichtig sein, und an Nachweisen dafür würde es, käme es wirklich zum Schwure, nicht fehlen.

Aber die Rechnung ist doch ganz einfach, wenn die Prämisse vom Maximum der drei Fächer akzeptiert wird. Entweder studiert man dann zwei "Schulfächer" ("Wahlfächer") und die Grundwissenschaften müssen sich in das dritte Fach teilen, oder aber man studiert nur ein Schulfach, dann erhalten die Grundwissenschaften eben zwei Fächer zugeteilt. Für beide Lösungen ließen sich überzeugende Argumente anführen. Diese Überlegung ist übrigens auch für den Staat nicht uninteressant; denn die steigenden personellen Ausgaben beruhen ja auf der Voraussetzung, daß die jetzigen Prüfungs- und Studienzahlen pro Fach weiter steigen. Wenn aber durch die Konvertierbarkeit der Fächer diese Zahlen sinken, können auch die personellen Ausweitungen - wenn auch sicherlich in geringeren Relationen - vermindert werden. Die Verwissenschaftlichung des Studiums würde also an entscheidenden Punkten auch billiger, und nicht nur teurer.

Gewiß wäre es bedauerlich, wenn dann unsere Studenten einiges an sich zweifellos Wichtige nicht lernten; aber man muß doch fragen, ob sie jetzt wirk-

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lich etwas Vernünftiges lernen, und ob es nicht besser wäre, wir erlaubten ihnen ein begrenztes, dafür aber anspruchsvolles Studium in der Hoffnung, daß sie dann auch souveräner sich ohne unsere unmittelbare Hilfe in ein anderes Fachgebiet wenigstens soweit einarbeiten, daß sie mit Hilfe guter Lehrbücher einen einigermaßen vertretbaren Unterricht erteilen können. Mir jedenfalls wäre es lieber, ein fundiert ausgebildeter "Historiker" müßte, weil Not am Mann ist, Biologieunterricht erteilen, als daß dies jemand tut, der von nichts wirklich etwas versteht, aber eben "Nachweisfach" Biologie hatte und sich nun einbildet, er hätte wirklich etwas Solides gelernt. Außerdem liegt ein Fehler der gegenwärtigen Studienplanung auch darin, daß wir die Ausbildung ohne den Blick auf die Fortbildung konzipieren. Wir bilden so aus, als ob wir fürchten, daß danach die Studenten nichts Rechtes mehr dazulernen. Deshalb packen wir alles, was wir für wichtig halten, in die sechs Semester, in der vagen Hoffnung, irgend etwas von allem werde wohl hängen bleiben. Aber kann man heute überhaupt noch eine Ausbildung ohne den Blick auf die Fortbildung überzeugend organisieren?

Damit können wir zur zweiten These überleiten, daß nämlich unsere Ausbildung so praxisfern wie nur irgend denkbar ist. Dies ist zunächst nur eine logische Folgerung aus der ersten These: Heute kann keine Ausbildung mehr praktisch sein, die nicht eine wissenschaftliche ist, die die Menschen also nicht lehrt, ständig sich verändernde Probleme immer wieder begrifflich zu strukturieren, Planspiele zu ihrer Lösung zu entwickeln, rational zu argumentieren, sich selbst und die eigene Praxis methodisch zu problematisieren, sich gezielt neue Informationen zu beschaffen. All dies kann in unserem Betrieb gar nicht gelernt werden. Diesem Übel haben weder die Invasion der "Fachdidaktiken" noch die Praktika wirklich abhelfen können. Wo die Fachdidaktiken mit eigenen Lehrstühlen neben die Fächer getreten sind, haben sie nach meiner Beobachtung nicht sehr viel mehr erreicht als zusätzliche "Gegenstands-Neurosen" und Vermehrung des Stoffes im Sinne des "definiten Wissens". Wo sie von den Fachvertretern mit versorgt werden, reicht es selten zu mehr als zu Gemeinplätzen über den "Bildungswert" des Faches. Es ist doch kein Zufall, daß die ernst zu nehmende Literatur über die Fachdidaktiken - soweit es sich nicht um Methodiken handelt - äußerst gering ist.

Interessanter in diesem Zusammenhang sind aber die Praktika. Obwohl immer behauptet wird, daß die Praktika eben jene "Vermittlung zwischen Theorie und Praxis" leisten sollen, ist mir keine Arbeit über sie bekannt, die, wenn schon nicht empirisch, so doch wenigstens argumentativ sich auf der Höhe bewegt, auf der seit geraumer Zeit das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis diskutiert wird. Der Lernwert der Praktika wird vielmehr mit geradezu fanatischer Besessenheit ganz einfach postuliert. Wie schwer aber die wechselseitige Rückübersetzung von systematischem Studium und aporetischer, an Detailproblemen des pädagogischen Handelns orientierter Reflexion in Lernfeldern zu organisieren ist, zeigen doch Beispiele wie das "duale System" in den Berufsschulen und die mit gewaltigem Aufwand in der DDR inszenierte "polytechnische Bildung", wo gerade die Verbindung von "Unterrichtstag in der Produktion" mit dem Schulunterricht didaktisch unbefriedigend geblieben ist.

Unsere Hochschulpraktika waren überzeugend in einer Zeit kleiner Hochschulen mit kleinen Studentenzahlen, wo der Dozent mit "seinen" Studenten Vorlesungen und Seminare hielt, in die Schule ging und sogar einen Teil seiner

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Freizeit verbrachte. In dieser Situation war die Integration von Studium und Praktikum - ihre wechselseitige Rückübersetzung - kein allzu großes Problem. Sie hing in erster Linie von der didaktischen Qualität des jeweiligen Dozenten ab, war also personal bedingt. Das änderte sich aber in dem Augenblick, wo sich zwischen den Dozenten und seine Studenten eine umfangreiche Organisation schob, die wissenschaftliche Arbeitsteilung an unseren Hochschulen sich ausbreitete und immer weniger Dozenten über eine eigene Schulerfahrung verfügten. Nun bestimmt die massenhafte Organisation des Praktikums auch seine neue Qualität mit, und der Lernertrag kann nicht mehr der zufälligen persönlichen Qualifikation des einzelnen Dozenten überlassen bleiben. Der eine Praktikantengruppe begleitende Dozent weiß in der Regel gar nicht mehr, was seine Studenten vorher studiert haben und anschließend studieren werden. In der Regel kann er nur improvisierend von Fall zu Fall Interpretationen des gemeinsam Erlebten geben. Aber gerade die Integration solcher Erfahrungen mit dem übrigen Studium ist nicht mehr gewährleistet. Wenn man sieht, wie Jahr für Jahr Schwärme von Studenten und Dozenten die Schulen im Lande überfallen und wie hoffnungslos überfordert die Organisatoren des Praktikums sind, dann muß man sich ernsthaft fragen, ob dieser Aufwand an "Menschen und Material" noch in einem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag steht. Wieviele Menschen müssen wie oft über wieviele Probleme miteinander kommunizieren, um ein Praktikum unter diesen Umständen didaktisch zu optimalisieren? Und sind solche Kommunikationen überhaupt noch organisierbar?

In den Praktika manifestiert sich ein historisch bedingter Widerspruch am deutlichsten, der das Selbstverständnis unserer Hochschulen generell belastet: ich meine den Widerspruch zwischen der alten "Lehrerbildungs-Anstalt" und der "Wissenschaftlichen Lehrerbildung". Die wissenschaftliche Lehrerbildung mußte denjenigen politischen Interessen, denen sie widersprach, in einem zähen und langen Kampf Stück für Stück abgerungen werden. Dieser Prozeß ist noch keineswegs zu seinem Ende gekommen. Vielmehr sind Restbestände der alten Tradition noch in den stark verschulten Ausbildungsprogrammen (Pflichtstundenzahlen) und hier insbesondere in Gestalt der Praktika zu finden, deren ursprünglich kritischer Sinn sich in sein krasses Gegenteil verkehrt hat. Geht man nämlich davon aus, daß es Aufgabe einer der pädagogischen Praxis zugeordneten wissenschaftlichen Ausbildung ist, eben diese Praxis planmäßig und unter Anwendung des wissenschaftlich Erforschten zu verändern, so müßten in den Praktika in erster Linie die amtierenden Lehrer von den Dozenten und Studenten kritisiert werden; tatsächlich jedoch dienen die Praktika in den meisten Fällen dazu, die Studenten an das Schulehalten, so wie es gerade ist, anzupassen. Jedenfalls werden in der Regel wohl nur die Unterrichtsversuche des Studenten mit dem Hochschuldozenten diskutiert, nicht jedoch die Unterrichtsstunden der bereits amtierenden Lehrer. Dies aber müßte sich ändern, wenn die Praktika in ein wissenschaftliches Berufsstudium integriert werden sollen. In ihrer jetzigen Form rechtfertigen die Praktika nicht den materiellen und personellen Aufwand, mit dem sie betrieben werden; da wäre es zweckmäßiger, jeder Student suchte sich eine Schule an seinem Heimatort und ließe sich anschließend das absolvierte Praktikum bescheinigen. Will man dagegen die Praktika mit dem Ziel organisieren, die bestehende Schulwirklichkeit mit den von der Hochschule kommenden Ansprüchen und Impulsen zu konfrontieren, so muß es aufwendiger als jetzt organisiert werden, z.B. so, daß ein ganzes

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Semester lang ein Praktikum stattfindet mit Dozenten, die in dieser Zeit von allen anderen Lehrverpflichtungen befreit sind. Dies wäre bei ökonomischer Organisation des Studiums schon fast mit dem gegenwärtigen Personalbestand möglich. Statt dessen werden auch die Praktika mehr und mehr zur Prestigefrage bestimmter Fächer, sie werden nicht reformiert, sondern bloß vermehrt.

Die Praktika sind aber nur ein besonders krasses Beispiel für das allgemeine Problem des Auseinandertretens von Wissenschaft und Praxis. Zu einem guten Teil ist dieser Prozeß als ein wissenschaftsimmanenter unaufhaltsam und könnte nur durch Weltanschauungslehren total wieder beseitigt werden. Die Gefahr dieser Entwicklung ist nur, daß die einzelnen Disziplinen - besessen von ihren "eigenen" Gegenständen - immer stärker definites Fachwissen, eben "Lernstoffe" anbieten, und dies ist unter dem Maßstab von Wissenschaft nicht zwingend. Es wäre vielmehr möglich, Probleme der pädagogischen Praxis, die allemal fächerübergreifend sind, in den Lehrprogrammen zu thematisieren. "Politische Bildung" z.B. geht mehrere Disziplinen ebenso an wie "der schlechte Schüler" oder "Gesamtschule". Selbst wenn sich das Idealbild interdisziplinärer Lehrveranstaltungen schon aus äußeren Gründen nur bescheiden verwirklichen läßt, ließe sich ein Kanon von Problemen (und nicht ein Kanon von Wissensstoffen!) vereinbaren, der etwa in den "Grundwissenschaften" im Laufe des Studiums auftaucht. Die Frage würde dann eben nicht lauten: Was muß der künftige Lehrer von der Disziplin X wissen, sondern: Wie kann die Disziplin X das praktische Problem Y in ihrem Rahmen thematisieren? Eine solche Konzeption würde die Gefahr weltanschaulicher Gemeinplätze vermeiden, die Lernstoffe stärker praktischen Problemen zuordnen und die Disziplinen gleichwohl nicht in eine unangemessene Zwangsjacke stecken: Besonders wichtige Probleme würden dann eben in verschiedenen Fächern mehrmals studiert, was didaktisch eine "Wiederholung unter neuem Aspekt" wäre.

Ein solcher Kanon läßt sich heute (selbstverständlich unter Mitarbeit der Studenten) wirklich nur pragmatisch vereinbaren im Hinblick darauf, was heute und morgen vorrangig in unserem Bildungswesen zur Debatte stehen wird, und jenseits einer solchen Vereinbarung bliebe den einzelnen Disziplinen noch genügend Spielraum für speziellere Themen. Keine noch so listig ausgedachte Theorie des "Fundamentalen" oder "Elementaren" wird hier weiterhelfen. Zu einem solchen Kanon gehören heute mindestens die folgenden Probleme: Begabung und Lernen; Kommunikationsprobleme in pädagogischen Feldern; Lern- und Erziehungsziele; Kindheit und Jugend in modernen Gesellschaften; Dissozialität; Integration und Rehabilitation behinderter Kinder und Jugendlicher; Probleme der Lernorganisation (z.B. Unterricht); Sozialisation und Erziehung; Probleme der Schul- und Bildungsreform; Massenkommunikation. Mühelos ließe sich diese Liste ergänzen. Sie sollte an jeder Hochschule konkret zwischen den Kollegen verschiedener Disziplinen und den Studenten vereinbart, nicht jedoch in irgendeiner Form von außen vorgeschrieben werden (sonst würde der pragmatische Begründungszusammenhang überspielt).

In diesem Vorschlag steckt die Prämisse, daß für ein auf eine bestimmte Praxis bezogenes Studium die Aufteilung der Wissenschaften in Fächer nicht den Kosmos von wissenschaftlicher Erkenntnis widerspiegeln kann, sondern nur noch aus Gründen der Verwaltung sich rechtfertigen läßt (für die Verteilung von Mitteln z. B.). Weder sind die Fächer konstitutiv für den wissenschaftlichen

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Erkenntnisprozeß, noch repräsentieren sie die unteren Aktionseinheiten im Lehrbetrieb. Nicht "die Fächer" organisieren das Studium, sondern solche Kollegen-Teams, die auf Grund gemeinsamer Basisentscheidungen miteinander kooperieren wollen und können. Die vielberufene interdisziplinäre Zusammenarbeit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn sie institutionell verordnet wird. Über wichtige wissenschaftliche Basisentscheidungen - z.B. über meine hier vorgetragenen Vorstellungen - kann man nicht einfach abstimmen! Ich halte es für denkbar und sogar für notwendig, daß zumindest in den Grundwissenschaften interdisziplinäre Kollegengruppen ein gemeinsames Lehrprogramm entwerfen - etwa auf der Grundlage eines Kanons von Problemen - und damit gemeinsam und durchaus in Konkurrenz zu anderen Kollegen-Teams vor die Studenten treten. Die Möglichkeit, in solchen wissenschaftsdidaktischen Formen zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen, verringert sich nämlich in dem Maße, wie die Zahl der daran beteiligten Dozenten wächst. Solange es über Wissenschaftsdidaktik so wenig Übereinstimmung gibt wie heute, wäre es verfehlt, mit Maßnahmen der Studienreform so lange zu warten, bis ganze Kollegien oder auch nur alle Kollegen eines Faches ihnen zustimmen können. Wir befinden uns vielmehr in derselben Situation wie die Schule, wenn neue, traditionslose Anforderungen auf sie zukommen. In beiden Fällen muß man didaktische Theorie mit didaktischen Experimenten verbinden. Daraus folgt auch, daß sich solche Lehrprogramme im Laufe der Zeit ändern müssen.

Gewiß sollte man solche Vereinbarungen nicht pressen, und die Fachvertreter sind mit Recht skeptisch gegenüber der Vermutung, sie sollten ihre Fächer in eine "allgemeine pädagogische Ideologie" einbringen. Genau darum geht es nicht. Daß ein Philosoph z.B. in seinem Lehrangebot "Kant" oder "Plato" anbietet, ist selbstverständlich. Aber warum sollte er nicht auch z. B. jene didaktischen Theorien thematisieren, die wie alle Theorien des Elementaren oder Fundamentalen auf bestimmten philosophischen Prämissen beruhen und mit entsprechenden Ansprüchen angeboten werden? Dies wäre doch ein Idealfall gegenseitiger wissenschaftlicher Kritik der Fächer an unseren Hochschulen: Daß der Fachphilosoph vielleicht demontiert, was der Pädagoge allzu naiv voraussetzt, und umgekehrt würde der Fachphilosoph vielleicht lernen, daß die Gegenstände, wenn man sie unter dem Aspekt ihrer Lernbarkeit ordnet, zumindest ihre Struktur, vielleicht sogar ihre Qualität ändern.

Oder ein anderes Beispiel, ebenfalls im Rahmen des Faches Philosophie (bei der Überlegung, welche Beziehung die Philosophie zur pädagogischen Praxis haben kann, denkt man meistens nicht weiter als bis zur "Geistesgeschichte"): In unseren Schulen gibt es zwar kein Fach Philosophie, aber fast täglich wird im Unterricht philosophiert, z. B. im Rahmen sogenannter lebenskundlicher Gespräche. Jedermann weiß, daß dabei selten mehr herauskommt, als daß der Lehrer seinen Schülern sogenannte "erzieherische Werte" einredet, die meist identisch sind mit seinen sozialen Vorurteilen. Wäre es nicht eine wissenschaftlich reizvolle - und für das Bewußtsein unserer Kinder ungemein wichtige! - Aufgabe, herauszufinden, ob und wie man solche Lebenskunde mit Kindern und Jugendlichen "philosophisch" betreiben kann, d.h. im Sinne eines methodisch vorgehenden, die Vorentscheidungen aufdeckenden Verfahrens, dessen Logik die Partner auch einzusehen vermögen?

Für das Studium der Wahlfächer allerdings läßt sich dieses Verfahren wohl nur zum Teil anwenden. Aber auch hier könnte der Lehrbetrieb vielfach praxis-

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näher sein, ohne seine wissenschaftliche Dignität einzubüßen. So könnte sich die wissenschaftliche und didaktische Lehre und Kritik stärker als bisher um die in den Schulen gebräuchlichen Lehrbücher gruppieren, mit denen der spätere Lehrer vermutlich arbeiten wird. Wissenschaftliches Studium mit dem Leitziel der Lehrbuchkritik wäre sowohl für den Fachvertreter ein interessantes Unterfangen wie auch für den Studenten, der auf diese Weise praxisbezogene Vorstellungen mobilisieren könnte. Was steht in solchen Lehrbüchern und was nicht? Warum ist das, was fehlt, wichtig, und warum fehlt es? Neue Kapitel für ein Lehrbuch zu schreiben und die Neufassung zu begründen, könnte eine sehr interessante Aufgabe für Examensarbeiten werden!

Natürlich dürften alle solche Modelle nicht dogmatisch gepreßt werden und es muß sich zeigen, wie weit sie im konkreten Fall "tragen". Aber es muß uns doch nachdenklich stimmen, daß Schulbuchkritik - soweit sie in der wissenschaftlichen Publizistik greifbar wird - in unserem Lande von den Fachvertretern bzw. Fachdidaktikern kaum betrieben wird. Daraus darf man doch wohl schließen, daß Schulbücher in unseren Fachstudien keine große Rolle spielen. Auch hier scheint die didaktisch einigermaßen phantasielose und abstrakte Frage vorzuherrschen: Was muß ein Lehrerstudent von meinem Fach wissen? Man ist versucht zu fragen, was unsere Wahlfächer eigentlich tun, wenn sie die Didaktik ihres Faches in Lehrveranstaltungen anbieten, und wenn sie dabei nicht einmal Lehrbuchkritik betreiben, also das wichtigste Instrument des zukünftigen Lehrers thematisieren.

Ähnliches gilt für andere Unterrichtsmittel - wie Lehrprogramme, Unterrichtsfilme und für den Schulfunk. Wer einmal mit Schulfunksendungen gearbeitet hat, weiß, wie beliebt sie in der Regel bei den Schülern sind. Aber ihre Anschaulichkeit und durch das Medium bedingte Faszination stehen manchmal durchaus im Widerspruch zu wissenschaftlichen Kriterien (z.B. widerstreitet im Fach Geschichte die Tendenz zur Personalisierung in den Sendungen den Interpretationsmodellen der modernen Geschichtswissenschaft). Ist es "unseriös" für ein Fach, sich mit solchen Darstellungen zu beschäftigen? Ist es so abwegig, als Examensarbeiten "Drehbücher" (oder wenigstens Treatments) für Schulfunksendungen zu schreiben und diese Entwürfe didaktisch zu begründen? Schalldichte Musikzellen hat jede Hochschule (zumindest jede neu erbaute), aber welche hat schon ein wenn auch noch so bescheidenes Tonstudio?

Ohne Zweifel besteht die unheilvolle Tendenz, die didaktische Einfallslosigkeit des traditionellen Universitätsfaches für ein Kriterium von Wissenschaftlichkeit zu halten und einfach zu übernehmen. Aber die praktische und didaktische Dimension des Faches muß ins Bewußtsein von Wissenschaft mit hineingenommen werden und darf nicht Sonderveranstaltungen wie den Praktika mehr oder weniger mürrisch überlassen werden. Eben dies könnte ein spezifischer Beitrag der Pädagogischen Hochschulen zur Diskussion wissenschaftstheoretischer und wissenschaftsdidaktischer Probleme sein!

Mit all diesen Überlegungen haben wir den dritten Komplex unserer didaktischen Kritik - die mangelhafte Effektivität - zum Teil schon vorweggenommen. Über Effektivität läßt sich natürlich nicht reden ohne Angabe des Zieles. Unser Gesichtspunkt in diesem Beitrag ist, das Selbstverständnis der "Wissenschaftlichen Lehrerbildung" didaktisch beim Wort zu nehmen. Dazu sind einige weitere Präzisierungen angebracht.

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An der PHN Abt. Göttingen werden bis zu 120 Pflichtstunden für ein 6semestriges Studium verlangt, also 20 pro Semester (3). Die durchschnittlichen Belegungszahlen liegen aber höher, etwa zwischen 23 und 25, weil der Student ja "Umwege" macht, vor allem zu Beginn des Studiums desorientiert ist, ferner die "falschen" Seminare und Vorlesungen belegt, sich "seine" Dozenten erst suchen muß usw. Diese Mindestzahl brauchte nur dann nicht überschritten zu werden, wenn wie in der Schule Semester für Semester ein für alle verbindlicher Stundenplan existierte, - was wegen unvermeidbarer zeitlicher Überschneidungen gar nicht organisiert werden kann. Rechnet man noch die unproduktiven Wartezeiten sowie Wege von und zur Hochschule dazu, kann man sich die Verplanung und Zerrissenheit der Studienzeit unschwer vorstellen. Die Sucht, Veränderungen in der Qualifikation bzw. in der Zuordnung der Fächer einfach in "Pflichtstunden" auszudrücken, macht den Wahnwitz unserer Lernfabrik besonders manifest. Wird dem Wahlfach z. B. die Realschul-Qualifikation zugesprochen, so werden die Pflichtstunden dafür einfach erhöht. Dies erspart dem Lehrkörper die Frage, ob auf diese Weise überhaupt mehr gelernt werden kann, was dann eigentlich noch gelernt wird und wie man dieses Lernen optimal organisieren könne, - mit einem Wort: Über inhaltliche Fragen des Studiums muß gar nicht erst diskutiert werden, und wird deshalb auch nicht diskutiert. Dies führt zu einer grotesken Situation: Immer mehr Dozenten bieten immer mehr Lehrveranstaltungen an, die gleichwohl immer überfüllter werden mit Studenten, die immer weniger Zeit zur Mitarbeit haben und infolgedessen immer weniger lernen, - vom "Eigenstudium" ganz zu schweigen. Eine blinde Geschäftigkeit greift um sich, und das Ganze gleicht einer Szene fürs absurde Theater: Man kann sich den Betrieb mühelos ohne einen einzigen Studenten vorstellen und ohne daß er deswegen in seiner Geschäftigkeit nachließe. Noch deutlicher wird die didaktische Sinnlosigkeit des Betriebes, wenn man von den Seminaren ausgeht. An der Göttinger Abteilung liegt der Durchschnitt - je nach Semesterzahl - bei 7-9 belegten Seminaren. Nun weiß jeder, der selbst einmal studiert hat, daß man pro Semester an höchstens vier Seminaren mit wissenschaftlichem Anspruch und entsprechender Mitarbeit teilnehmen kann. Ginge man von diesem Ansatz aus und würde man zwei Seminare davon den Grundwissenschaften zubilligen, so ergäbe sich für die Göttinger Abteilung - die in Niedersachsen als die mit der schlechtesten Relation von Studenten und Dozenten gilt - folgende pauschale Rechnung: bei 2100 Studenten (einschließlich der Realschul-Studenten) entfielen auf ein Semester (bei insgesamt 6 Semestern) 350 Studenten, denen die Grundwissenschaften zwei Seminare anzubieten hätten. Demnach entfielen auf jeden Professor und Dozenten (im ganzen 18) pro Seminar 40 Studenten, falls er zwei Seminare pro Semester anbietet. Rechnet man alle akademischen Mitarbeiter, einschließlich Assistenten, dazu, so erhöht sich die Zahl der verfügbaren Lehrkräfte auf 49, was einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von 15 pro Seminar entspräche - wohlgemerkt: wenn

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jeder nur zwei Seminare pro Semester hält! Rein rechnerisch könnte also die Hälfte des Lehrkörpers in den Grundwissenschaften in jedem Semester von Lehrverpflichtungen entbunden werden, wenn man die Zahl von 30 Teilnehmern pro Seminar als optimal ansieht.

Eine solche Lösung, die die Effektivität des Studiums ebenso erhöhen wie den Lehrkörper für andere Aufgaben (z.B. Forschung oder intensive Betreuung de Praktikums) freisetzen würde, wird vornehmlich durch die Festsetzung von Pflichtstundenzahlen verhindert. Dabei wäre die Lösung so einfach: man brauchte nur vom Studenten her zu denken, wieviele Seminare und Vorlesungen er in einem Semester absolvieren kann, und diese Summe dann unter die einzelnen Fächer aufzuteilen.

Gemessen an diesen Problemen sind die Diskussionen über die Effektivität von Vorlesungen oder Übungen oder Seminaren zumindest im Augenblick zweitrangig. Was immer man unter den gegenwärtigen Bedingungen lerntechnisch verbessert, es muß ineffektiv bleiben. Im Augenblick kann man nur noch zusammen mit den Studenten den wahnwitzigen Pflichtstunden-Mechanismus dadurch unterlaufen, daß man ihnen testiert, was sie wollen, und im übrigen mit ihnen ein didaktisch sinnvolles und für die Prüfung verbindliches Studienprogramm vereinbart.

Damit ist die vierte und letzte These genügend vorbereitet: Es kommt darauf an, das Studium an unseren Hochschulen derart neu zu organisieren, daß man die Partner - die Studenten - thematisiert. Wieviel können sie in 6 Semestern wirklich lernen und was müßte gelernt werden, wenn man die künftigen Aufgaben und Probleme des Lehrers antizipiert? Unsere bisherigen Überlegungen bieten dafür wahrlich keine Rezepte, aber sie vermögen doch die didaktische Strategie anzudeuten, auf die hin zu operieren wäre: Das "Lernen" wieder zum "Studieren" zu machen, die Hauptlast des Lehrbetriebes auf das Selbststudium zu verlagern und damit die Studenten wieder zu Subjekten von Lernprozessen zu machen, die Zeit der Dozenten geradezu geizig auf das zu konzentrieren, was ohne ihre Hilfe nicht möglich ist. Unser Dilemma besteht darin, daß wir dem Massenandrang von Studenten hilflos mit der Mentalität von Hauslehrern des 18. Jahrhunderts gegenüberstehen und nicht begreifen, daß technische Reproduzierbarkeit von Gedanken und Forschungsergebnissen (z B. auf dem Buchmarkt) eingesetzt werden kann mit dem Ziel, den Massenbetrieb wieder zu individualisieren.

Im Rahmen einer solchen didaktischen Strategie stellt sich auch die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Vorlesungen im Hinblick auf ihre Effektivität neu. Man muß nun zum Beispiel darüber nachdenken, welche Funktion Literaturangaben in einer Vorlesung haben. Dienen sie nur als Erweiterung und Vertiefungen dessen, was der Dozent systematisch vorträgt, oder lehnt die Vorlesung umgekehrt derart an die vorhandene Literatur zum Thema an, daß der Dozent diese Literatur wie ein kritischer "Book-jockey" vorstellt? In letzterem Falle scheint mir die Vorlesung eher der Anleitung zum Selbststudium zu dienen und die Studenten weniger zu animieren, stundenlang mitzuschreiben, was sie vielleicht preiswert gedruckt kaufen können. Allerdings ist die Zahl brauchbarer und preislich erschwinglicher Publikationen immer noch gering, - trotz einer kaum noch zu übersehenden jährlichen Flut wissenschaftlicher Veröffentlichungen, was sicherlich mit der in unserem Lande überkommenen Vorstellung zusammenhängt, "wissenschaftliche" Publikationen

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dürften keine Rücksicht aufs potentielle Publikum nehmen. Das Schreiben didaktisch gelungener Studierbücher und nicht nur von immer neuen "Forschungsarbeiten", die immer weniger Leute lesen, wird eine unserer wichtigsten Aufgaben in der Zukunft sein, - wobei schon wieder ein neues didaktisches Problem auftaucht: welches sind eigentlich die Kriterien für ein gutes Studierbuch?

Ob wir in solchen oder in anderen Formen in Zukunft wieder vom verwalteten Lernen zum selbständigen Studieren kommen, - sicher ist, daß dabei zwei didaktische Schlüsselprobleme entstehen werden: 1. eine sinnvolle Organisation des Anfängerstudiums und 2. eine überzeugende Verbindung von Prüfungsanforderungen und Studienleistungen bzw. Studienangeboten.

Das Anfängerstudium für 1. und 2. Semester müßte weniger die "Grundlagen des Faches" vermitteln als vielmehr die "Grundlagen für das Studieren des Faches", was nicht unbedingt dasselbe ist. Im ersten Falle nämlich besteht die Gefahr, wieder "Lehr-Gänge" zu planen und einen Stoffkanon aufzustellen, den man für "fundamental" und "grundlegend" hält. (Es ist erstaunlich, wie fixiert wir alle auf das Modell des "Lehrgangs" sind, sobald das Reizwort "Didaktik" fällt).Vielleicht wäre ein solches Verfahren vor allem in den mathematisierbaren Disziplinen von der Sache her möglich; bei einigen anderen, z.B. der Pädagogik, halte ich das für unmöglich. Wichtiger wäre jedenfalls, daß die Techniken des selbständigen Studierens an den Stoffen geübt würden, z.B. a) für ein zu bearbeitendes Thema "Einstiegsbibliographien" herzustellen; b) Aufsätze, die man gemeinsam diskutiert hat, nachträglich zu gliedern und mit Überschriften zu versehen (das "Erfinden" von Überschriften verlangt nicht nur sprachliche Wendigkeit, sondern auch ein genaues Verständnis des Textes; unsichere Examensarbeiten erkennt man immer an der Unsicherheit oder Ungenauigkeit von Überschriften und Gliederungen); c) die Herstellung von "summaries" über Aufsätze oder Buchkapitel (dies schult die Fertigkeit, sinnvolle Exzerpte anzufertigen); d) das Formulieren und Prüfen von Hypothesen, insbesondere in empirischen Disziplinen.

Die einzelnen Fächer benötigen darüber hinaus spezielle Techniken, die sich nicht einfach in einen allgemeinverbindlichen Katalog aufnehmen lassen. Gerade deshalb wäre es aber unzweckmäßig, "Einführung in die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens" in speziellen Kursen anzubieten. Sie können nur an den Stoffen des jeweiligen Faches trainiert werden, sonst wird erneut aus einem subjektbezogenen Lernprozeß ein verdinglichter Stoff-Kanon.

Das zweite Schlüsselproblem ist das Verhältnis von Studienordnung und Prüfungsordnung. Was in den Prüfungen verlangt wird, steuert mehr oder weniger stark das Studium. Veranstaltet man "Abfrageprüfungen", werden sich die Studenten aufs "definite Wissen", aufs "Schulwissen" stürzen; verlangt man die Fähigkeit, Probleme zu exponieren und problemorientiert zu argumentieren, werden sich die Studenten stärker mit wissenschaftlichen Kontroversen befassen usw. Wegen dieser Steuerungsfunktion scheint es mir unabdingbar, daß jeder Dozent klar sagt und schriftlich fixiert, was er in Prüfungen fordert. Dies ist für den Studenten eine viel wichtigere Studienorientierung, als man gemeinhin annimmt! Leider wird in vielen Fällen von Dozenten wie Studenten die Prüfung lediglich als ein "staatlicher Hoheitsakt" betrachtet, der dem Studium mehr oder weniger aufgepfropft wird. Gewiß ist die Prüfung auch ein Hoheits-

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akt, der leider in unserer Gesellschaft notwendig ist. Aber dieser Aspekt ist didaktisch gänzlich uninteressant, und wir sollten uns energisch dagegen wehren, wenn Prüfungsordnungen anfangen, das Studium inhaltlich zu bestimmen. Prüfungsordnungen haben nur die Funktion, Prüfungsverfahren justitiabel und nachprüfbar zu machen, alles andere geht sie nichts an. Folgende Überlegungen scheinen mir in diesem Zusammenhang wichtig:

1. Der Kandidat muß seinen Prüfer wählen können; das Prüfungsamt darf ihn nicht administrativ zuteilen.

2. Prüfungsteams (Prüfer und Beisitzer) dürfen nur solche sein, die auch in der Studienplanung eng miteinander kooperieren (Prüfungsteam = Lehrteam). Das Prüfungsamt darf also nicht irgendwelche Personen zu Prüfungskommissionen zusammenstellen (dagegen, daß ein drittes Mitglied der Kommission nicht der Hochschule angehört, wäre nichts einzuwenden). Der Beisitzer hat in erster Linie die Aufgabe, den Prüfer zu kritisieren.

Es muß gewährleistet sein, daß die Themenwahl für Examensarbeiten wie für mündliche Prüfungen allein zwischen Prüfer und Kandidat vereinbart wird, ferner müssen Themen für schriftliche Arbeiten schon so früh wie möglich vereinbart werden können, damit der Kandidat nicht nur seine Arbeit zu schreiben, sondern ihr Thema auch gründlich zu studieren vermag.

4. Die Examensarbeit ist die umfangreichste Studienleistung, die ein Student an unseren Hochschulen erbringt. Über den "Erfolg" dieser Leistung erfährt er gemeinhin nichts als eine dünne Zensur auf dem Zeugnis. Auf diese Weise wird aber eine sehr starke Lernmotivation einfach ignoriert. Unter didaktischem Aspekt müssen daher Examensarbeiten nicht nur sorgfältig (z.B. in eigenen Kolloquien) angeleitet, sondern anschließend auch ausführlich mit den Verfassern besprochen und diskutiert werden können. (Dazu ein praktischer Vorschlag: Der Kandidat gibt seine Arbeit in dreifacher Ausfertigung ab: das 1. Exemplar, versehen mit kritischen Randbemerkungen des Prüfers, bekommt er nach der Besprechung mit einem Durchschlag des Gutachtens zurück; das 2. verbleibt mit dem Original des Gutachtens beim Prüfungsamt, das 3. geht an das Fach.)
 
 

5. Alle Zensuren müssen dem Kandidaten mitgeteilt und mit ihm gegebenenfalls noch einmal diskutiert werden, bevor sie endgültig entschieden werden. Nach meinen Beobachtungen laufen noch im 6.Semester das Studium und die Prüfungsvorbereitung weitgehend unverbunden nebeneinander her. So wird aber die dominierende Lernmotivation in dieser Studienphase ignoriert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sollten im letzten Studiensemester Lehrangebote dominieren, die die Prüfungsthemen sinnvoll vorbereiten bzw. ergänzen (z.B. spezielle Kolloquien für diejenigen, die eine Examensarbeit anfertigen; für mündliche Prüfungskandidaten ein Seminar oder Kolloquium mit einem allgemeinen Thema, auf dessen Hintergrund die jeweiligen speziellen Prüfungsthemen noch einmal aus einer neuen Perspektive reflektiert werden können; für Fächer, bei denen ein Mindestmaß an allgemeinem Wissen notwendig ist, ein Repetitorium, usw.).

Diese Überlegungen gelten nur unter der Voraussetzung, daß das personalistische Prüfungsverfahren erhalten bleibt und nicht durch eine Reihenfolge von Qualifikationen ersetzt wird, - was in naher Zukunft offenbar nicht in der

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Diskussion ist (4). Vielleicht wird hier der Einwand laut, daß in meinen Vorstellungen die Prüfungen im didaktischen Zusammenhang des Studiums eine zu dominierende Rolle spielen. Aber erstens ist der Wunsch, Prüfungen möglichst erfolgreich zu bestehen, ein legitimes und auch durch ökonomische Interessen fundiertes Studienmotiv der Studenten; zweitens wird das, was im Studium im einzelnen unter "Wissenschaft" verstanden wird, in der Art und Weise der Prüfung konkret für die Studenten ("Sage mir, was und wie du prüfst, und ich sage dir, was und wie ich studiere"!). Und drittens schließlich scheint mir der Versuch, "Studienplanung" vom Ende her zu konzipieren, ergiebiger zu sein als jeder andere Weg: Am Ende des Studiums Lehrveranstaltungen für Examenskandidaten; in der Mitte Lehrangebote, die zu einer begründeten Wahl von vertieften Prüfungsthemen bei weitestgehender Wahlfreiheit von Themen und Dozenten anreizen; am Anfang Lehrveranstaltungen, die das möglichst individuelle und selbständige Studieren des Faches zum Ziel haben.

Wenn es überzeugt, daß in Formen, wie sie andeutungsweise beschrieben wurden, ein großer Teil der künftigen Lehrveranstaltungen ablaufen wird, dann allerdings hat dies eine Reihe von Konsequenzen für die technische und räumliche Ausstattung unserer Hochschulen. Die Räume bestehen auch bei Neubauten im wesentlichen aus "Klassenzimmern" und "I.ehrerzimmern". Informelle Kommunikationsmöglichkeiten für die Studenten werden kaum berücksichtige. Für künftige Bauten muß aber auch die Frage maßgebend sein: Wo kann wer mit wem worüber wann und wie lange in Ruhe kommunizieren? Ich halte z. B. die Einrichtung einer Cafeteria an jeder Hochschule mit voneinander abgegliederten Sitzecken und einem wenigstens minimalen Getränke- und Speiseservice für mindestens so wichtig wie den Bau eines neuen Hörsaals, im Konkurrenzfalle sogar für wichtiger. Es genügt nicht, wenn die "musischen Fächer" für die Studenten "Geselligkeit" anbieten, vielmehr müssen Studenten unter sich oder mit den Dozenten die Möglichkeit haben, spontan auftretende Gesprächsbereitschaft - z.B. im Anschluß an eine Lehrveranstaltung - sofort und ohne große Umstände zu befriedigen. Leider muß man vielen noch klarmachen, daß dazu die gemeinsame Tasse Kaffee oder das Glas Bier "didaktisch" wichtig ist (5). Bibliotheken brauchen neben "Schweigeräumen" auch "Diskussionsräume"; was hat es sonst für einen Sinn, Seminaraufgaben an Teams zu übertragen? Der "Geselligkeits-Service" an unseren Hochschulen muß also ganz entschieden verbessert werden, wenn wir das Selbststudium wirklich zum "didaktischen Zentrum" unseres Lehrbetriebs zu machen trachten. Über derartige "didaktische Randbedingungen" ist in der hochschuldidaktischen Diskussion bisher noch kaum nachgedacht worden.

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Nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen hat eine sehr große Zahl von Studenten nach 6 Semestern Studium nicht einmal gelernt, eine schriftliche Arbeit vernünftig zu gliedern, zweckmäßige Überschriften zu erfinden, den Gedankengang eines Aufsatzes von mittlerem Anspruch nachzuvollziehen, oder mit zwei kontroversen Texten zu argumentieren, ohne - etwa in einem Prüfungsgespräch - einfach zu "beschließen", was "richtig" ist und was nicht. Die Eifrigsten von ihnen belegen und belegen und belegen. ... . Und was die "Praxisnähe" unserer Ausbildung angeht, so empfehle ich einen einfachen Test: Man führe Studenten am Abschluß ihres Studiums ein einfaches pädagogisches Entscheidungsspiel vor - z. B. einen dokumentarischen Kurzfilm - und überprüfe, was sie mit einem solchen Planspiel anfangen. Spätestens dann entdeckt man, daß trotz - oder gerade wegen? - der zahlreichen Hospitationen Praktika und schulpraktischen Übungen die "praktische Phantasie" nicht nennenswert gefördert worden ist.

Ich möchte mit einigen Überlegungen zu den Finanzen schließen. Bis jetzt ist uns nicht sehr viel mehr eingefallen, als angesichts der Studentenlawine eine Vermehrung des Lehrpersonals zu fordern. Ich halte dies zumindest in dieser Einseitigkeit für falsch und meine sogar, die finanziell relevanten Planungen für die Zukunft betreffen ganz andere neuralgische Punkte: Eine durchrationalisierte Verwaltung, die den Lehrkörper wirklich entlastet und ihn davon befreit, ständig selbst auch im technischen Sinne ausführen zu müssen, was er beschließt (Dazu gehört allerdings auch eine strenge Rationalisierung der Selbstverwaltungsvorgänge selbst; solange die für Aufgaben der Selbstverwaltung aufgewendete Zeit die Lehrzeit übersteigt, kann man schwerlich eine Vergrößerung des Lehrpersonals fordern); eine Vermehrung des technischen Personals (z. B. Sekretärinnen) (6), das die Dozenten von den technisch notwendigen Beziehungen zu den Studenten befreit (fähige Mitarbeiter mit Studienratsgehältern werden für die Organisation von Praktika, für das Bedienen von Vervielfältigungsmaschinen u.ä. "verheizt"!); eine Verbesserung des technologischen Standards insbesondere auf audio-visuellem Gebiet, eine einschneidende Verbesserung der Lehrmittelausstattung einschließlich der Reproduktionsmöglichkeiten.

Daß solche Planungen nicht "durchgespielt" werden, hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß unsere Lehrkörper sich für hinreichend kompetent halten, "Pläne für den Aushau der Hochschulen" zu formulieren. Kompetent sind sie aber nur für die Vergangenheit, für das, was sich an vergangenen Erfahrungen und Traditionen in ihnen niedergeschlagen hat. Für die Zukunft werden sie es nicht schon dadurch, daß sie auf der Basis solcher Traditionen einfach über Planungen abstimmen. Kompetenz für die Zukunft bedarf vielmehr einer eigentümlichen wissenschaftlichen Anstrengung und auf jeden Fall einer intensiven Kommunikation mit Experten außerhalb der eigenen Branche.

Es geht mir nicht darum, neue uneinlösbare Finanzforderungen zu stellen, sondern darum, die möglichen Mittel sinnvoller zu verteilen. Die bisherigen Planungen für den Aushau der Hochschulen haben die notwendige didaktische Kritik unseres Lehrbetriebes ausgeklammert und führen deshalb schon heute in die Irre. Wieviel Geld man für den Dozentenstab braucht, hängt unmittelbar

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von der didaktischen Konzeption und Organisation des Studiums ab, und alle finanziellen Forderungen dieser Art beruhen auf bestimmten didaktischen Prämissen. So gesehen sind unsere didaktischen Probleme keine bloß interne Angelegenheit der Hochschule, sondern von unmittelbarem öffentlichen Interesse: Es geht um die sachliche Rechtfertigung verhältnismäßig umfangreicher Investitionen.

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Anmerkungen:

(1) Ich verzichte auch auf systematische Ausführungen zu den Begriffen ''Wissenschaft" und "Wissenschaftsdidaktik" und verweise statt dessen auf die Beiträge von Hartmut von Hentig: Das Lehren der Wissenschaft; Ludwig Huber: Thesen zu den Aufgaben der Hochschuldidaktik, Helmut Seiffert: Hochschuldidaktik in ideologiekritischer und wissenschaftstheoretischer Sicht; Volker Gerhardt: Die geschichtliche Funktion der Hochschuldidaktik, alle in: Detlef Spindler (Hrsg.): Hochschuldidaktik, 25 Dokumente zur Hochschul- und Studienreform, Verlag Studentenschaft Bonn 1968. Ferner nenne ich Klaus Mollenhauer: Wissenschaft und Praxis. Vorbemerkungen zu einer Wissenschafts- und Hochschuldidaktik in: Erziehung und Emanzipation, München 1968. Vor allem diesen Beiträgen verdanke ich den Anstoß zu den folgenden Überlegungen. Mir scheint, daß sich angesichts jedes heute denkbaren Begriffes von Wissenschaft bzw. Wissenschaftsdidaktik die im folgenden kritisierten Fakten und Tendenzen disqualifizieren.

(2) "Die Rolle, die das Lehrbuch-Wissen dem Schüler ansinnt, ist die eines die vorgestellt definite Wahrheit zur Kenntnis-Nehmenden... Mit der Definitheit sucht sich das Wissen gegen das Denken zu immunisieren, von dem ihm Zersetzung droht." - Diese Kritik Horst Rumpfs an Schulbüchern gilt auch weithin für unseren Lehrbetrieb. (Horst Rumpf: Schulwissen, in: Neue Sammlung Heft 1/1968, S.74.)

(3) Die Festsetzung der "Pflichtstunden" ist in Niedersachsen - im Unterschied zu anderen Bundesländern - Sache der "Studienordnung", für die die Hochschulen zuständig sind; daher sind die tatsächlichen Regelungen an den einzelnen Hochschulen unterschiedlich. Teilweise wird auch statt von "Pflichtstunden" von "empfohlenen Richtzahlen" gesprochen, - eine Nuance, die für den Orientierung suchenden Studenten praktisch belanglos ist, zumal der Nachweis der belegten Pflichtstunden in der Regel Voraussetzung für die Zulassung zur Prüfung ist.

(4) Die Diskussion der Prüfungsproblematik und der daraus resultierenden Konsequenzen für die Studienordnung an den Hochschulen befindet sich erst in den Anfängen; darauf kann hier nur hingewiesen werden. Vgl. Prüfungen als hochschuldidaktisches Problem. Ergebnisse und Materialien eines Expertenseminars in Hamburg-Rissen vom 31.1. - 2.2.1969, hrsg. von Mathias Schütz, Helmut Skowronek Werner Thieme, Blickpunkt Hochschuldidaktik Heft 1, o. O. 1969.

(5) Für den Neubau an der PHN Abt. Göttingen wurde die vom Lehrkörper vorgeschlagene Cafeteria nicht genehmigt; übrig blieb lediglich eine Ecke mit Getränkeautomaten. An einem solchen Beispiel wird nicht nur didaktische Ignoranz deutlich sondern auch ein Moment von Inhumanität und Unterdrückung: durch Lernen soll offenbar nicht nur der Verstand, sondern auch der Spaß ausgetrieben werden.

(6) Die Abteilung Göttingen hat für 117 hauptamtliche Lehrkräfte und für die Organisation von 3 großen Praktika ganze 5 Schreibkräfte zur Verfügung.


 
 

64. Massenmedien und Pädagogik (1969)

( In: deutsche jugend, H. 4/1969, S. 183-189)
 

Die Literatur über Massenkommunikation und Massenmedien schwillt enorm an. Der folgende Literaturbericht kann nur auf einige Arbeiten aus der letzten Zeit aufmerksam machen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ausgewählt werden dabei vor allem die Publikationen, die für die Pädagogik von Interesse sind. Für sie wird die Beschäftigung mit den Massenmedien immer wichtiger. Nicht nur mausern sich diese Medien zunehmend zur "zweiten Schule" (Paul Heimann), die den traditionellen Schulen starke Konkurrenz macht; die Medien haben darüber hinaus auch eine allgemeine pädagogische Funktion übernommen: Die politischen Informationen erreichen nicht nur die Erwachsenen, sondern schon die Schulkinder; Formen der Lebensberatung, von den Horoskop-Spalten über "Frau Irene" bis zum Gesundheits-Magazin "Praxis" im ZDF, erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Pädagogische Veranstaltungen der Schule, der Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung unterliegen seit langem der Konkurrenz effektiver und interessanter "gemachter" Angebote der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, und der immer noch spürbare Affekt vieler Pädagogen gegen die unliebsame Konkurrenz kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die traditionellen pädagogischen Institutionen auf das besinnen müssen, was ihnen die Massenmedien nicht abnehmen können. Mit anderen Worten: Keine pädagogische Institution kann heute mehr ihr Selbstverständnis ohne Rücksicht auf diese Medien formulieren, jede muß deren Möglichkeiten und Wirkungen in ihr Kalkül einbeziehen. Schulfernsehen und Tele-Kolleg werden auch die Unterrichtsformen in Schule und Hochschule erheblich verändern. Je mehr man sich mit den Lehrmöglichkeiten von Funk und Fernsehen beschäftigt, um so mehr bemerkt man, wie hoffnungslos antiquiert unsere Lehrverfahren allenthalben geworden sind.

So sehr also einerseits die Massenmedien - wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise - die Pädagogik geradezu revolutionieren, so groß sind andererseits die Schwierigkeiten für unsere Erziehung, sich produktiv darauf einzustellen. Seit dem Tode von Paul Heimann gibt es nur noch wenige Erziehungswissenschaftler in unserem Lande, die pädagogische Kenntnisse und Erfahrungen mit einer gründlichen Kenntnis der Massenmedien-Forschung vereinen können - und vielleicht signalisiert dies die bedenklichste Seite des Modernitätsrückstandes in der Pädagogik. Es reicht nämlich keineswegs aus, "aus pädagogischer Sicht" sich mit den Wirkungen und Möglichkeiten der Massenmedien zu befassen, solange nicht eine detaillierte Kenntnis der Sache selbst hinzukommt.

Beginnen wir unseren Bericht also zunächst mit einigen Arbeiten "zur Sache selbst". Da ist vor allem ein sehr bedeutendes Buch von Harry Pross zu nennen: "Moral der Massenmedien". Was sich

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vom Titel her wie eins der üblichen vordergründigen kulturkritischen Pamphlete gegen die Medien ausnimmt, wird schon im Untertitel präzisiert, wo es (zutreffender) "Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik" heißt. (An diesem Beispiel der Titelgebung wird übrigens eine sich immer mehr ausbreitende Unsitte deutlich, die generell zu beobachten ist: Titel verraten zunehmend weniger von Inhalt und Intention des Autors und immer mehr darüber, auf welche Weise der Verleger ein Produkt am besten zu verkaufen glaubt). "Publizistik" ist für Pross das zentrale Stichwort, "Massenmedien" im modernen Sinne des Wortes sind für ihn nur Modalitäten ein und derselben - und recht alten - Sache. Es geht ihm nämlich um diejenigen Formen der Kommunikation, die auf "Öffentlichkeit" in gesellschaftlichen und politischen Fragen gerichtet sind und deren Problematik von der Rhetorik der alten Polis bis hin zu den modernen Fernsehstationen reicht.

Wie sieht Pross diese Entwicklung? Die "politische Kunst der Rede", von Aristoteles ausführlich theoretisiert und in der Polis Athen praktiziert, blieb - auch als geschriebene Rede - die einzige politische Kommunikationsform bis ins hohe Mittelalter hinein. In den christlichen Jahrhunderten war Publizistik "ein Mittel der Vertreter des Gottesstaates auf Erden" (S. 52). Das änderte sich, als diese "Vertreter des Gottesstaates" in einer wichtigen Sache uneins wurden: beim Investitur-Streit, also angesichts der Frage, ob die geistlichen oder weltlichen Herrschaftsträger die Bischöfe ernennen dürften. In diesem Zusammenhang entstand in der Streitschrift ein neuer Typus der publizistischen Kommunikation, nun ging es nicht mehr nur darum, "das Überzeugende sichtbar zu machen" (Aristoteles), sondern auch um die Herabsetzung des Gegners. "Von nun an durchzieht der Konflikt der Werte alle abendländischen Medien. Die Texte sind nur noch in einem Kontext zu verstehen, in dem geistliche und weltliche Werte miteinander rivalisieren" (S. 53 f.). Die revolutionäre Wirkung der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (Gutenberg) ist bekannt; ohne sie hätte die Reformation nicht ihre Wirkung gewinnen können. Luthers Bibelübersetzung wurde der erste "Bestseller". Weniger bekannt dagegen sind die Folgen, die bis zum heutigen Tag noch aktuell sind: Die Durchbrechung des Wissens- und Informationsmonopols wurde nicht einfach hingenommen. Die Versuche zur Zensur setzten ein; von der katholischen Kirche wurde ein "Index verbotener Bücher" aufgestellt. Aber auch andere Formen der Manipulation wurden erprobt, etwa die "Kanalisierung" der neuen Freiheit im "Lehrbuch", wo der Autor seinen Lesern durch die Auswahl diktiert, was er für gut und richtig hält - ein Problem, das uns heute noch im Schulbuch begegnet. Die periodisch erscheinende Zeitschrift und Zeitung schließlich stellte jene kontinuierliche Öffentlichkeit her, auf die die liberale bürgerliche Gesellschaft angewiesen war. Der Kampf um und gegen die Pressefreiheit wurde folgerichtig ebenso wichtig wie der Kampf um die parlamentarische Verfassung selbst. Aus ähnlichen Motiven konstituierte sich dann die Arbeiterpresse, um nämlich den Widerspruch von gesellschaftlicher Realität und demokratischem Anspruch so "öffentlich" wie möglich zu machen. Die audiovisuellen Medien wie Foto und Film dienten der Individuation der Menschen, korrespondieren also auch mit einer charakteristischen historischen Entwicklung, der Entdeckung des Individuums. - Der letzte, in die Gegenwart führende Teil des Buches untersucht das "atlantische" (westliche) und sowjetische Modell der Massenkommunikation und strahlt nicht wenig Pessimismus aus: Die Abhängigkeit der Massen wächst; die Macht der politischen Funktionäre wird größer, die der produzierenden Intellektuellen geringer. "Die dem industriellen System entsprechenden Medien gehören dank der Kosten, die sie verursachen, in Ost und West den herrschenden Klassen" (S. 235). Und was wird aus dem Empfänger? Die modernen Medien liefern nach Pross die Mittel zu ihrem Verständnis nicht mit ins Haus, "denn sie können die Realisierung der Erkenntnis, die in der persönlichen Kommunikation, und fast ausschließlich dort, erfolgt, nicht ersetzen. Ihre Nachrichten kommen veranstaltungslos ins Haus; aber Erkenntnis erfordert die Veranstaltung von Rede und Gegenrede, von Spruch und Widerspruch" (S. 237). Hier hat Pross auf seine Weise das didaktische Grundproblem definiert: die Menschen zum Zwecke der Aufklärung ihrer selbst und ihrer Verhältnisse Sendungen der Massenkommunikation lesen und verstehen zu lehren.

Pross schreibt nicht irgendeine Geschichte der Medien und der Publizistik, sondern eine unter dem Leitgesichtspunkt der politischen Beteiligung, das heißt der Teilnahme der Menschen am öffentlichen Leben. Er zeigt, daß die modernen Medien nur dann "geschichtslos" sind, wenn man sie absichtlich aus ihrer geschichtlichen Kontinuität herauslöst. Vielleicht ist dies sogar das Herausragende an

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diesem so fündigen Buch: Es zeigt, was historische Kritik bei diesem Thema wirklich vermag.

Zur Geschichte der Zeitung gibt es eine sehr interessante Dokumentation, die unter dem Titel "Die Zeitung" in der Sammlung Dieterich erschienen ist. Die 89 Dokumente reichen vom Jahre 1609 mit einem Aufruf "An den großgünstigen Leser" bis zum Jahre 1967 mit einem Beitrag von Nina Grunenberg aus dem Buch "Die Journalisten". Die den einzelnen Beiträgen von den Herausgebern vorangestellten Einleitungen sind knapp, aber instruktiv und informativ und stellen einen Zusammenhang zwischen den Dokumenten her. Wie Zeitungen gemacht wurden, mit welchen Schwierigkeiten Redakteure und Herausgeber zu kämpfen hatten, wie der Kampf um die Pressefreiheit "von unten" aussah, wie die Zeitung zu einem Instrument der politischen Propaganda und der Sprachregelung werden konnte, all dies findet der Leser in diesem ausgezeichneten Band, dessen Texte auch als Material für den Geschichtsunterricht und für die politische Bildung hervorragend geeignet sind.

Eine Spezifität der Zeitung, die nun auch schon ihre nicht uninteressante Geschichte hat, ist die "Illustrierte". Mit ihr haben sich die Wissenschaften bei uns noch verhältnismäßig wenig beschäftigt. Nun hat Hans Holzer eine vergleichende inhaltsanalytische Darstellung der Illustrierten "Quick", "Revue" und "Stern" vorgelegt, konzentriert auf deren "politischen Gehalt". Diese Arbeit ist zunächst schon deshalb für Pädagogen interessant, weil sie knapp, aber auch für Nicht-Soziologen verständlich die methodischen Probleme der Inhaltsanalyse beschreibt, so daß diese Methoden auch in reduzierter Form als didaktische Prinzipien in Schule und Jugendarbeit Verwendung finden können, wenn man dort Illustrierte bearbeiten will. Holzer geht von der "öffentlichen Aufgabe" aus, die die Illustrierten sich selbst stellen, und er prüft, inwieweit sie diesem Selbstanspruch tatsächlich gerecht werden. Dabei zeigt sich, daß diese selbstgestellte Aufgabe voller Widersprüche steckt: Der Widerspruch zwischen Information und Unterhaltung oder zwischen Aufklärung und politischer Kritik einerseits und dem auf Expansion angewiesenen kapitalistischen Wirtschaftsunternehmen andererseits bringt jene schillernde Mehrdeutigkeit zustande, die auch vorurteilslosen Benutzern dieser Publikationsart zu schaffen macht. Gerade beim "Stern" werden diese Schwierigkeiten besonders deutlich, weil er sich am meisten von den verglichenen Produkten ins aufklärerisch-kritische Engagement vorwagt. Als Kompensation dafür muß er, um den Leser nicht allzusehr zu verunsichern, "Fluchtmöglichkeiten" anbieten: zum Beispiel Identifikationsmöglichkeiten mit der "heilen Welt" von Fürstenhochzeiten oder mit anderen Formen der Idylle. Und man kann da natürlich mit Recht fragen, ob auf diese Weise der aufklärerische Aspekt nicht im selben Heft schon wieder aufgehoben wird. Diese Problematik besteht für alle Illustrierten darin, "daß erstens die ernst zu nehmende Orientierung und Aufklärung, Meinungsbildung, Kritik und Kontrolle sowie Praktische Hilfe der Illustrierten hinter der Quantität des Unterhaltungsstoffes und der allzusehr mit human touch versehenen Information zu verschwinden drohen, daß zweitens diese ernst zu nehmende Arbeit der Zeitschriften mit unterhaltenden Elementen vermischt, mit human interest und sentimental appeal durchsetzt wird und dadurch auch brauchbare Information als escapist material endet und daß drittens die unterhaltenden sowie sonstige angeblich absatzfördernden Elemente der Illustrierten genau die Rationalisierungen und Stereotype, Irrationalitäten und Ideologien, Ängste und Unsicherheiten, Frustrationen und Aggressionen wieder einschleppen, die abzubauen die informierenden, kommentierenden, kritisierenden und kontrollierenden Beiträge gerade zur Aufgabe haben" (S. 288).

Holzer gelangt zu seinen Ergebnissen nicht geradlinig, auf dem Wege einer eindimensionalen Argumentation, vielmehr werden mehrdimensionale quantitative und qualitative Kategorien verwendet, die von verschiedenen Perspektiven her dasselbe Material befragen. Es ist hier nicht möglich, die Fülle der auch im Detail höchst interessanten Ergebnisse zu referieren. Gerade durch diese Details (etwa über die Rolle der Frau in den Illustrierten) und dadurch, daß Holzer sich auch auf die Probleme der Hersteller und Verkäufer dieser Produkte einläßt, gewinnt dieses Buch seine Bedeutung für Pädagogen, die sich ernsthaft mit der "Sache" der Illustrierten beschäftigen wollen. Zu fragen bliebe nur, warum ein solches Buch 42 DM kosten muß; ein solcher Preis blockiert seine Benutzung auch für Studenten. Preiskritik gehört zwar herkömmlich nicht zu den Aufgaben des Rezensenten, aber es scheint mir an der Zeit, auch Verlage (und nicht immer nur Autoren) darauf aufmerksam zu machen, daß Bücher für Leser geschrieben werden.

In der "öffentlichen Meinung" ist gegenwärtig aber

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weniger die Illustrierte umstritten als vielmehr das Fernsehen Die kulturkritischen Vorwürfe nehmen kein Ende, und viele Einwände scheinen sich um so zäher zu halten, je mehr sie sich empirisch als unhaltbar erweisen. Insbesondere über die "Wirkungen" dieses Mediums wird immer noch mehr oder weniger sachkundig spekuliert. Was wir von diesen Wirkungen heute tatsächlich wissen - und das ist wenig genug! - hat der Engländer James D. Halloran in einem Bericht vorgetragen, der die wichtigsten englischen und amerikanischen Untersuchungen kritisch referiert. Der Verfasser ist Leiter des 1963 vom Britischen Innenministerium gegründeten "Television Research Committee", das Forschungen fördern soll, die die Wirkungen des Fernsehens - besonders auf die Jugend - untersuchen. An diesen Bericht schließt sich ein weiteres Referat über geplante Untersuchungen an. Beides zusammen vermittelt auch dem unspezialisierten Leser eine gute Einführung in die Problematik der Erforschung des Themas.

Den dem Fernsehen entgegengebrachten Vorurteilen, vor allem dem "Trauma der Vermassung", tritt auch eine umfangreiche Studie von A. Silbermann entgegen: "Vorteile und Nachteile des kommerziellen Fernsehens". Daß insbesondere die Kommerzialisierung des Fernsehens zur Verflachung der Kultur beitragen müsse, versucht Silbermann durch einen Vergleich der Fernsehversorgung in den Städten Köln und Pittsburgh (USA) zu entkräften: Das amerikanische Fernsehen biete "weitaus größere Möglichkeiten bei der Programmauswahl als das deutsche", weil - als Resultat der Kommerzialisierung - die Zahl der Sendestationen erheblich größer sei; das von den kommerziellen Stationen in Pittsburgh ausgestrahlte Programm enthalte "noch immer mehr kulturell hochstehende Sendungen ... als das vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlte Programmangebot in Köln" (S. 173). Daraus leitet der Verfasser die Forderung ab, das Angebot müsse möglichst breit angelegt sein, also möglichst viele Alternativen enthalten. Silbermanns Thesen, die für die Zulassung eines kommerziellen Fernsehens sprechen, sind in der Presse schon ausführlich diskutiert worden. Die Kritiker des kommerziellen Fernsehens haben dagegen vor allem die politische Unabhängigkeit der Fernsehanstalten ins Gefecht geführt, also die höchstmögliche Freiheit der Berichterstattung und deren öffentliche Nachprüfbarkeit. Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit dem berühmten Pilkington-Report, der im Jahre 1962 dem englischen Parlament unterbreitet wurde. Dieser Teil des Buches scheint mir der interessantere zu sein; denn hier wird ein weit über England hinaus bedeutsames Dokument vorgestellt und mit seiner spezifisch englischen Problemlage ausführlich und kritisch interpretiert. Auch dabei geht es dem Verfasser darum, die Vorurteile gegenüber dem kommerziellen Fernsehen abzubauen und die Diskussion auf die tatsächlichen Probleme im Rahmen der öffentlichen Funktion solcher Medien zu konzentrieren. Und die generelle Alternative öffentlich-rechtliches oder kommerzielles Fernsehen scheint in der Tat diese Probleme eher zu verdecken als zu klären. Die Grenze der Argumentation liegt allerdings wohl darin, daß Silbermann die "funktionale" Perspektive des sozialen Gleichgewichtes nicht mehr hinterfragt: er nimmt die real vorfindbaren Bedürfnisse und Erwartungen des Publikums als gegeben (und formaldemokratisch legitimiert) hin und hält die Befriedigung dieser Bedürfnisse solange für gerechtfertigt, wie sie nicht über Gebühr "dys-funktional" im gesamtgesellschaftlichen Mechanismus werden. So richtig seine Ansicht ist, daß das Fernsehen nicht "besser" sein kann als die gesellschaftliche Organisation im ganzen und daß man dem Fernsehen nicht anhängen darf, was zum Beispiel ein Versäumnis des allgemeinen Schulwesens ist, so muß doch zurückgefragt werden, ob und in welcher Weise das Fernsehen zur Verbesserung eben dieser gesellschaftlichen Organisation beitragen kann.

Eine dieser Möglichkeiten liegt sicher in der hohen didaktischen Ergiebigkeit dieses Mediums, in seiner Eignung für organisiertes Lehren und Lernen. Im Ausland gibt es dafür schon eigene Fernsehstationen, in Bayern das Tele-Kolleg. Wie vielfältig diese "schulischen" Möglichkeiten sind, sowohl im Hinblick auf die Unterrichtung von großen Schülerzahlen wie auch im Hinblick auf die Veranschaulichung sonst unanschaulicher Details, zeigt die aus einer Tagung entstandene Schrift "Fernsehen in der Schule". Sie enthält neun durchweg instruktive und knappe Einzelbeiträge über das "Telekolleg" (Schardt), "Fernsehen in der Berufsausbildung" (Radoux), "Fernsehen in der Lehrerbildung" (Schorb), "Schulinternes direktes und indirektes Demonstrationsfernsehen" (Dresing), "Schlulfernsehen in Bayern als Modell für Enrichment-Programme" (Simmerding), "Einsatz von geschlossenen Fernsehsystemen in der Industrie" (Angress), "Hochschulinternes Fernsehen" (Jensen), "Fernsehen als Unterrichtsfaktor" (Gies) und "Schul-

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internes Fernsehen" (Heinrichs). Die in den Titeln genannten vielfältigen Aspekte geben einen Hinweis auf die Variationsmöglichkeiten des Einsatzes und darauf, wie hoffnungslos antiquiert angesichts solcher Möglichkeiten unser Unterricht heute schon geworden ist. Es ist so, als ob wir Autos mit den Mitteln des Handwerks im 19. Jahrhundert produzieren. Und man wird die bange Frage nicht los, ob nicht unsere "Bildungsplanung" schon heute riesige Summen falsch investiert, nämlich immer noch einseitig in Personen anstatt wenigstens zunehmend auch in lerntechnische Ausstattungen und deren Erprobung.

Mit diesem Buch ist unser Literaturbericht bereits zu den im engeren Sinne "pädagogischen" Fragen vorgedrungen. Auf dieser Ebene geht es unter anderem darum, welche tatsächlichen Wirkungen Filme und Fernsehsendungen auf Kinder haben und wie diese Wirkungen zu beurteilen sind. Darüber findet sich schon einiges in dem Buch von Halloran. Außerdem verfügen wir in Deutschland neuerdings über eine zwar begrenzte, aber sehr interessante empirische Untersuchung. Die Grenze, um dies gleich vorweg zu sagen, liegt darin, daß man nur punktuelle Wirkungen, nicht langfristige untersuchen konnte. In der Untersuchung "Filmische Darstellungsformen im Erleben des Kindes" wurden psychologische Methoden mit medizinischen gekoppelt, die bestimmte körperliche Reaktionen (Pulsfrequenz) in die Beobachtung einbeziehen. 6- bis 12jährigen Kindern wurden sechs Märchenfilme vorgeführt, die für die Beobachtung in Szenen aufgeteilt wurden, so daß die emotionale und körperliche Reaktion Szene für Szene kontrolliert werden konnte. Diese Beobachtungen und Messungen sind zusammen mit der Beschreibung der jeweiligen Filmszene abgedruckt worden, so daß man sich ein sehr deutliches Bild vom Erlebensprozeß der Kinder machen kann. Da für Kinder in diesem Alter das "Erleben" noch eine seelisch-körperliche Einheit ist, sind diese synchronen Erhebungen methodisch auch einigermaßen zuverlässig. Umgekehrt konnten die Verfasser auch auf die dramatische Gestaltung von Filmen zurückschließen: rasche Schnitte, überraschender Szenenwechsel, zu geringe Unterschiede in Kleidung und Aussehen der Personen werden von den Kindern auch bei schon bekannten Märchenstoffen nicht verstanden. Da die Kinder - anders als Erwachsene - sich vom dramatischen Geschehen nicht oder kaum distanzieren können, werden die filmischen Situationen und Szenen auch affektiv stark besetzt. "Die größte Intensität des Erlebens und zugleich die höchsten Pulsfrequenzsteigerungen traten bei Affekten wie Angst, Verlassenheit, Freude, Furcht, Schreck, Spannung, Mitgefühl, Überraschung auf. Die Untersuchungen konnten aufzeigen, daß die kindlichen Zuschauer mit bemerkenswerter Intensität ihrer Leib-Seele-Einheit vom Filmgeschehen affiziert werden" (S. 121).

Die Verfasser haben sich mit Erfolg bemüht, den methodischen Gang ihrer Untersuchung sowie deren Auswertung auch für Nichtfachleute verständlich zu formulieren. Eine erfreuliche Gemeinschaftsleistung von Pädagogen, Medizinern und Psychologen, die Schule machen sollte!

Mit dem Film beschäftigt sich auch Adolf Reichweins Schrift "Film in der Schule", die 1938 zum ersten Male erschien und nun eine Neuauflage erlebte. Der Titel ist mißverständlich, denn es geht um den Unterrichtsfilm, der als Mittel des Unterrichts verwendet wird, nicht jedoch um den Film überhaupt. Der Film ist hier ein Anschauungsmittel, zum Beispiel für den Werkunterricht oder für die Naturbeobachtung. Die Arbeit besteht aus zwei Teilen. Im ersten, der "Schule des Sehens", wird eine Theorie des Sehenlernens formuliert, die offensichtlich im Anklang an die Tradition der Kunsterziehung bezeichnenderweise vom stehenden Bild (der Photographie) ausgeht und die Eigentümlichkeiten des bewegten Bildes gar nicht weiter thematisiert. Der zweite Teil ("Der Film als Organ des erziehenden Unterrichts") stellt Vorhaben dar, die Reichwein in seiner einklassigen Dorfschule in Tiefensee mit Hilfe von damals verfügbaren Unterrichtsfilmen durchgeführt hat.

Entgegen der Meinung des Herausgebers, dieses Buch sei "in seiner Gesamtkonzeption wie in der Fülle der didaktischen Aussagen" auch nach 30 Jahren noch "aktuell" (S. 9), scheint es mir nur noch historischen Wert zu haben: es erlaubt einen guten Einblick in die damalige Arbeit eines genialen Lehrers in einer einklassigen Dorfschule, der sich den neuen Möglichkeiten des Unterrichtsfilmes öffnet, diesen aber auch auf verhängnisvolle Weise "umfunktioniert" auf bestimmte pädagogische Prämissen der sogenannten "geisteswissenschaftlichen Pädagogik". Verhängnisvoll ist dieses Verfahren deshalb geworden, weil es den Pädagogen bis auf den heutigen Tag den Blick dafür verstellte, daß es in der Filmerziehung nicht nur um die "Pädagogisierung" des Filmes geht, sondern auch darum, die Thematisierung des Lebens im Film und in seiner

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eigentümlichen Ästhetik zur Korrektur des herkömmlichen Unterrichts, didaktisch wie methodisch, zu verwenden. In dem Maße also, wie sich diese Prämissen heute geändert haben und der Film in seinen Aussagemöglichkeiten fortgeschritten ist, muß ein solches Buch auch "unaktuell" werden. Mit der gewaltsamen Aktualisierung hat man dem Verfasser keinen Dienst erwiesen. Besonders ärgerlich ist, daß der Herausgeber durch Streichungen massiv in den Text eingegriffen hat. Die Streichungen werden zwar im Anhang nachgewiesen, sie haben aber zum Teil groteske Ausmaße. So wird 33mal das Wort "deutsch" bzw. "deutscher" oder "Deutschland" eliminiert, selbst dort, wo solche Weglassungen auch den Sinn zum Verschwinden bringen. So heißt es auf Seite 81: "Der (gestrichen: deutsche) Landschaftsgeist war in uns gefahren, und wir versenkten uns zunächst in den niederdeutschen Raum." Oder es wird gestrichen, daß die Mehrheit der Schulen damals noch kein Stehbildgerät besaß (S. 4) und daß der Filmgeber rattert (S. 13). So darf ein Text einfach nicht behandelt und auf modern getrimmt werden! Sein Reiz liegt darin, und nur darin, daß er auf eine sehr anspruchsvolle Weise eine der ersten Begegnungen von Film und Schule thematisiert - mit allen Stärken und Schwächen, die zu solchen Frühbegegnungen nun einmal gehören.

Sehr viel "aktueller" ist da schon die "Medienkunde in der Schule" von Ludwig Kerstiens, in der die Medien - im Unterschied zu Reichwein - Themen des Unterrichts sind und nicht mehr nur Mittel. "Wer die Medien zu Erziehungsmitteln umdeuten will oder mit pädagogischen Argumenten verbindliche Vorschriften über die Inhalte machen will, hat kaum Aussichten, gehört zu werden" (S. 11). Entsprechend dieser Einsicht stellt Kerstiens seinen pädagogischen Lesern zunächst die modernen Medien unter einigen Aspekten vor, thematisiert sie dann als pädagogisches Problem, um sich schließlich der "Didaktik der Medienkunde" zuzuwenden. Die beiden letzten Kapitel sind methodischen Überlegungen gewidmet. Die didaktische Theorie läßt noch manche Wünsche offen und macht die Schwierigkeiten, die Pädagogen mit diesen Medien haben, in eigentümlicher Weise deutlich. Wahrscheinlich liegt dies am Ansatz, das heißt in dem Versuch begründet, von "Fundamentalerfahrungen" auszugehen und diese pädagogisch zu veranstalten. Die Erfahrung, daß wir in einer vermittelten Welt leben, ist dabei die entscheidende "Grunderfahrung". So abstrakt gefaßt, gilt diese Erfahrung aber nicht nur für die Medien, sondern für alle Formen der Vermittlung, also auch für den herkömmlichen Schulunterricht. Dennoch einen Unterschied zwischen beiden Formen der Vermittlung zu finden, hat Kerstiens seine Schwierigkeiten. Er gibt zu, "daß die meisten Kinder nie im Leben die Möglichkeit (haben), zu prüfen, ob das stimmt, was man ihnen im Erdkunde- und Geschichtsunterricht gesagt hat. Eigene Erfahrungen sind ausgeschlossen" (S. 42). Aber: "Der Lehrer als Vermittler ist eine konkrete Person, deren Glaubwürdigkeit man vertrauen kann; wenigstens mit ihm kann man seine Erfahrungen machen" (S. 43). Diese Personalisierung scheint aber das Problem eher zu verschieben als zu beschreiben oder gar zu lösen. Wahrscheinlich müßte man wohl davon ausgehen, daß die pädagogische Beziehung in der Schule grundsätzlich dem gleichen Vermittlungsproblem unterliegt wie die Massenkommunikation auch, erst dann könnte man über die nur noch graduellen Unterschiede sprechen.

Kerstiens didaktische Theorie der Medienerziehung ist sicher nicht das letzte Wort in dieser Sache, aber sein Buch ist (vor allem in den methodischen Teilen) ein nützlicher Ratgeber für den Lehrer, der in seinem Fach Medienkunde als "Untersuchungsprinzip" betreiben will; zu einem eigenen Fach möchte Kerstiens sie - in realistischer Einschätzung der Schwierigkeiten - nicht machen.

Gerade das Buch von Kerstiens zeigt, daß eine überzeugende Integration von Massenkommunikationsforschung und pädagogischer Theoriebildung noch aussteht. Am besten ist sie bisher gelungen in der Habilitationsschrift von Hertha Sturm "Masse - Bildung - Kommunikation". In die Interpretation der bisherigen Wirkungsforschung bezieht sie die Lerntheorien von Heinrich Roth - in idealtypisch vereinfachter Form - ein. Ohne Zweifel vermag das Fernsehen Lernanstöße zu geben und Lerninteressen zu wecken, aber es vermag nicht, daraus auch Lernprozesse zu initiieren, weil es die Lernwiderstände des Sehers nicht verständlich machen kann. Dies ist für Sturm nicht nur ein Problem der "Entfernung" des Senders vom Seher ("Einweg-Kommunikation"), sondern ein prinzipielles Problem der Darstellungsweise dieses Mediums selbst: Es stellt Sachverhalte so dar, daß der Seher seinen eigenen Lernprozeß nicht ins Bewußtsein nehmen kann. Überläßt man daher diese Lernwirkungen sich selbst, so werden Funk und Fernsehen im wesentlichen nur vorhandene Lernmuster - das heißt angelernte Vor-Einstellungen und Vor-Urteile -

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bestätigen und vertiefen, also Lernen im Sinne einer Änderung von Urteilen und Einstellungen gerade verhindern. Große Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Spracherziehung: Die Sprache - insbesondere die gedruckte - muß die Gefahr des bloß additiven Lernens einer bloßen "Tagesbildung" verhindern. Dies gilt vor allem dafür, daß der Zuschauer den Widerspruch zwischen der additiven Wissens- und Informationsaufnahme und den demgegenüber gleichbleibenden Attitüden wahrnimmt. Mit einem Wort: Das Fernsehen kann ebenso Lernen verhindern, wie es Lernen fördern kann. Damit appelliert die Verfasserin keineswegs nur an die Pädagogik, den Gebrauch von Medien zu lehren, sondern an die Sendestationen selbst, deren Probleme sie ja aus ihrer Mitarbeit beim ZDF kennt. Die Vorstellung, man brauche sich lediglich nach den Indexzahlen der Zuschauerinteressen zu richten oder könne die Strukturierung der Programme einfach dem auswählenden Zuschauer überlassen, werde der objektiven Funktion dieser Medien nicht gerecht. Die Bildungsaufgabe des Fernsehens dürfe nicht allein auf eigene Dritte Programme oder Studienprogramme abgewälzt werden, da die Zuschauer im "normalen" Programm für solche speziellen Bildungsprogramme gewonnen werden müßten. Hertha Sturm schreibt: "Noch kann man es sich einfach machen mit den Bildungsangeboten. Man kann davon ausgehen, daß sich immer Teilnehmer finden werden, denen bestimmte Sendungen gefallen und die davon profitieren. Auf die Dauer gesehen jedoch wird der Vorwurf nicht zurückzuweisen sein, daß auf diese Weise immer nur denjenigen Verstehbares angeboten wird, die - auf welcher Ebene auch immer - ohnedies verstehen; die Sozial- und Bildungsbarrieren fänden so weitere Verstärkung. Wir meinen, daß in einer Zeit der großangelegten Bildungsförderung den renommierten Massenmedien andere Aufgaben zufallen, nämlich Bildungschancen anzubieten, die den Erfordernissen der Zukunft entsprechen. Solche Aufgaben können, so scheint es uns, freilich nur gelöst werden, wenn es den Rundfunk- und Fernsehanstalten gelingt, zu einer schrittweise engeren, sach-orientierten Zusammenarbeit mit den Institutionen der Wissenschaft wie mit den Unterrichtsbehörden zu kommen" (S. 208).

Mit dem Buch von Hertha Sturm ist im deutschsprachigen Bereich das Verhältnis von Massenkommunikation und Pädagogik auf seinen gegenwärtig höchsten Stand gebracht worden. Bisher vorliegende Forschungen wurden unter diesem Gesichtspunkt interpretiert und geordnet und zu vorsichtigen und teilweise sicher auch bestreitbaren, in jedem Falle aber brauchbaren Hypothesen verarbeitet. Von hier aus müssen die Überlegungen und Forschungen weitergehen. Dieser Stand muß andererseits aber nun auch von der pädagogischen Wissenschaft und Praxis erst einmal adaptiert werden. Dies ist möglich, weil das Buch gut und klar geschrieben ist.

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Harry Pross: Moral der Massenmedien. Prolegomena zu einer Theorie der Publizistik. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin 1967. 240 Seiten, DM 18,50

Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausgewählt und erläutert von Elger Blühm und Rolf Engelsing. Carl Schünemann-Verlag, Bremen 1967.298 Seiten, DM 19,80

Horst Holzer: lllustrierte und Gesellschaft. Zum politischen Gehalt von "Quick", "Revue" und "Stern". Verlag Rombach, Freiburg 1967. 358 Seiten, DM 42,-

James D. Halloran: Wirkungen des Fernsehens. Verlag Hans Bredow-lnstitut, Hamburg 1966. 79 Seiten, DM 10,-

Alphons Silbermann:Vorteile und Nachteile des kommerziellen Fernsehens. Eine soziologische Studie. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien 1968. 319 Seiten, DM 38,-

Fernsehen in der Schule. Henn-Verlag, Ratingen 1966. 84 Seiten, 30 Abbildungen, DM 14,-

Margarete Keilhacker/ Joseph Rutenfranz/ Walter Tröger/ Günther Vogg: Filmische Darstellungsformen im Erleben des Kindes. Untersuchungen über psycho-physische Begleiterscheinungen und Auswirkungen des Filmerlebens. Ernst-Reinhardt-Verlag, München-Basel 1967. 135 Seiten, DM 12,50

Adolf Reichwein: Film in der Schule. Vom Schauen zum Gestalten. Neu herausgegeben mit einem Anhang über neue Filme und andere Unterrichtshilfen von Heinrich Lenzen. Georg Westermann Verlag, Braunschweig 1967. 195 Seiten, DM 6,80

Ludwig Kerstiens: Medienkunde in der Schule. Pädagogische Voraussetzungen, didaktische Grundfragen, methodische Ratschläge. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 1968. 136 Seiten, DM 8,80

Hertha Sturm: Masse - Bildung - Kommunikation. Ernst Klett-Verlag, Stuttgart 1968. 231 Seiten, DM 28,50 

 

65. Wissenschaft lernen (1969)

Die Krise der technologischen Hochschuldidaktik

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 41/12.10.1969)
 

(Wieder abgedruckt in: H. Giesecke: Bildungsreform und Emanzipation. München 1973, S. 82-88, H. G.)
 

Im Prüfungszimmer sitzt eine Studentin, blaß und fahrig, ihre Aufregung in das zerknüllte Taschentuch pressend. Gleichwohl wirkt sie merkwürdig unbeteiligt und abwesend, bringt während der ganzen Prüfung keinen zusammenhängenden Satz zustande, versteht fast keine Frage und antwortet auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden. Selbst die Mitteilung, daß sie die Prüfung leider nicht bestanden habe, beeindruckt sie so wenig, als handele es sich dabei nicht um sie selbst. Im daran anschließenden Gespräch ergibt sich: sie war erst vor einigen Wochen aus einer einjährigen stationären psychiatrischen Behandlung entlassen worden, die sie wegen "Arbeitsstörungen" und Depressionen aufsuchen mußte. Nach der Entlassung meinten ihre Eltern - Vater kleiner Beamter - : "Nun mach mal endlich Dein Examen, Du wirst es schon schaffen!"

Ich will hier keine Eltern kritisieren, wahrscheinlich haben sie es gut gemeint und wollten "Mut machen" - wohl auch irritiert von der ihrer Erfahrung weit entfernten Tatsache, daß jemand "Arbeitsstörungen" hat, der eigentlich arbeiten und etwas leisten will, ja, den das, was er da an der Hochschule tun soll, sogar sehr interessiert.

Einige Zeit vorher hatte ein Student Selbstmord verübt - drei Tage vor dem Abgabetermin seiner Examensarbeit. Auch er war seit längerer Zeit wegen psychisch bedingter Arbeitsstörungen in ärztlicher Behandlung. Von seinen Freunden auf den bevorstehenden Termin besorgt angesprochen hatte er geantwortet: "Das ist für mich kein Problem. Ich arbeite die letzten Nächte durch, dann schaffe ich das schon."

Diese Beispiele sind kein "Gag"; dafür ist die Sache viel zu ernst. Sie bezeichnen vielmehr genau den Punkt, an dem sich die hochschuldidaktische Diskussion im wesentlichen festgefahren hat. Denn es handelt sich hierbei nicht um Einzelfälle, die man mit dem Hinweis abtun könnte, die Betreffenden seien eben "krank", aber die meisten Studenten seien doch "gesund". Gewiß ist die Zahl derjenigen, die so auffällig an Arbeitsstörungen leiden, daß sie in medizinische Behandlung gehen müssen, noch verhältnismäßig gering. Aber gerade unter den intelligentesten und fähigsten Studenten breitet sich diese "Krankheit" wie eine neue Seuche aus, von der wir noch wenig wissen.

Was ist hier Ursache, was bloßes Symptom? Muß man diese Arbeitsstörungen als isolierte Krankheit behandeln, oder drückt sich darin nur die Kapitulation vor ganz anderen Schwierigkeiten aus? Vor dem Leistungsdruck im allgemeinen, vor der drohenden Isolation, vor familiären oder sexuellen oder noch anderen Konflikten? Welche sozialen Ängste sind es, vor denen man auf diese Weise fliehen will?

Als vor einigen Jahren an unseren Hochschulen die Diskussionen über die Notwendigkeit einer Hochschuldidaktik zu einem wesentlichen Bestandteil der Reformprogramme wurden, als die Hinweise sich häuften, daß sich zumal im Massenbetrieb unserer Hochschulen Wissenschaft nicht von selbst lernen lasse, sondern daß auch hier das Lernen der Wissenschaft planmäßig organisiert werden müsse, da glaubten nicht nur die Hochschullehrer, sondern auch der größte Teil der studentischen Reformgruppen, daß es nur oder doch im wesentlichen darum gehe, den Lehrbetrieb an den Hochschulen methodisch neu zu ordnen; durch übersichtliches Studium, ständige Leistungskontrollen, Abbau überflüssiger Herrschaft in den Prüfungen, Abschaffung der Vorlesungen und Intensivierung der Seminararbeit in kleinen Gruppen.

All dies ist sicherlich auch in Zukunft wichtig, aber schon heute ist sicher, daß diese rein lerntechnischen Vorstellungen - von den Kritikern auch "technologische" genannt - allein das Ziel verfehlen werden. Es handelt sich nämlich dabei um Vorstellungen, die die Lernprozesse und die Lernschwierigkeiten der Studenten als etwas Isolierbares begreifen: hier wurde die durch eine positivistisch-empirische Methode zum Zwecke der Forschung erst hergestellte Wirklichkeit mit der Lebenswirklichkeit verwechselt.

Gegen diese "technologische" Hochschuldidaktik hat sich die studentische Linke von Anfang an gewehrt, allerdings mit dem Argument, es werde dabei das Falsche gelernt: reines Anpassungswissen, das von den Herrschenden verfügbar gehalten werde, nicht jedoch kritisches Bewußtsein, das sich nur bei der Reflexion auf die Totalität gesellschaftlicher Prozesse einstellen könne. Wir haben heute schon Grund, über diesen Einwand hinauszugehen: Nicht einmal das wird vermutlich gelernt, was die Verfechter der technologischen Hochschuldidaktik anstreben.

Wollen wir in der Hochschuldidaktik weiterkommen, so müssen wir den Studenten thematisieren. Je mehr wir dies jedoch tun, um so mehr entdecken wir, daß kurzfristige Lösungen nicht erreichbar sind. Wir bemerken vielmehr, daß die Lernstörungen und Lernschwierigkeiten primär gar nichts mit der Hochschule im engeren Sinne zu tun haben, daß sich in ihnen vielmehr gesellschaftliche Widersprüche ankündigen, die sich wiederum in unbewältigten persönlichen Problemen widerspiegeln.

Ähnliches gilt übrigens, wenn man anfängt, die Lehrschwierigkeiten der Hochschullehrer selbst zu thematisieren, was in der technologischen Version auch nicht vorgesehen war. Auch hier entdeckt man sehr bald, in welchem Maße gesellschaftlich produzierte Ängste eine Rolle spielen: die Angst vor der Konkurrenz der Kollegen etwa, oder die Angst, den immensen Fortschritt nicht mehr zu beherrschen und damit bei den Studenten aufzufallen.

Sieht man dies alles zusammen, so wird erklärlich, warum die hochschuldidaktische Diskussion sich in einer Sackgasse befindet: Wenn es stimmt, daß die festzustellenden Lernschwierigkeiten gesellschaftliche Ursachen haben, dann sind sie nicht nur schwer zu erforschen, sondern auch schwer zu beseitigen; vor allem aber wird dann die junge Disziplin "Hochschuldidaktik" zu einer Institution der politisch-gesellschaftlichen Kritik, was nicht nur das Interesse der Herrschenden an ihr folgerichtig verringert, sondern auch in den Hochschulen selbst massive Vorbehalte gegen sie mobilisieren muß. Und wenn es zweitens stimmt, daß die Lehrenden thematisiert werden müssen, dann treten zusätzliche Barrieren auf, die menschlich ja nur allzu verständlich sind: Wer gesteht sich schon gerne ein, daß er Angst hat, und wieviel Stärke kostet es, so, wie es erforderlich wäre, seine eigene berufliche Identität zur Debatte zu stellen!

Wenn es drittens stimmt, daß die Lernschwierigkeiten der Studenten nicht in ihrer Rolle als Studierende isolierbar sind, sondern weit in psychische und tiefenpsychologische Dimensionen hineinreichen, dann taucht am Horizont der künftigen Hochschuldidaktik das Schreckgespenst einer "totalen Lernfürsorge" auf. Dann wird sich die didaktische Planung nicht mehr allein auf die äußerliche Organisation des Studiums im Hinblick auf die richtigen Methoden und die richtigen Veranstaltungsformen bescheiden können, sondern im Sinne einer "totalen Pädagogisierung" das ganze Leben des Studierenden "erfassen" und manipulieren. In den USA ist dieser Prozeß schon weit fortgeschritten, wie das Buch "Hochschulpsychiatrie" von Klaus Dörner zeigt, das die Bestrebungen der "Psychohygiene" an den Hochschulen der USA zusammenfaßt und kritisch sondiert.

Gespenstisch ist diese Vorstellung deshalb, weil sie notwendig solche Bildungsziele wie Selbständigkeit, Mündigkeit und Emanzipation zerstören müßte. Die wichtigste Voraussetzung für das Erreichen dieser Ziele war bisher, daß das in jedem Lehrer-Schüler-Verhältnis implizierte Moment an Herrschaft an den Türen der jeweiligen Schule oder Hochschule aufhörte. Denkt man sich jedoch eine Situation, in der der Student nicht nur Objekt der Lehrveranstaltungen seiner Hochschule, sondern auch psychohygienischer und therapeutischer Instanzen ist, die ihrerseits aus Gründen des optimalen Erfolges mit den Lehrenden kooperieren, so nähme Hochschuldidaktik unzweifelhaft die Züge einer totalitären Fürsorge an, über deren Ziele der Student schon aus technischen Gründen gar nicht mehr mitbestimmen könnte.

Aber noch eine vierte Barriere scheint wenigstens einstweilen unüberwindbar. Schon in seinem Aufsatz "Das Lehren der Wissenschaft" aus dem Jahre 1966 hat Hartmut von Hentig darauf aufmerksam gemacht, daß der Charakter der Wissenschaft sich ändern müsse, wenn man wirklich daranginge, sie didaktisch zu strukturieren; das bloße Postulat von der Einheit von Forschung und Lehre helfe da nicht weiter. In der Tat ist Wissenschaft letztlich das, als was sie organisiert ist. Man kann sie unter mindestens drei Aspekten organisieren und erhält dabei drei ganz verschiedene Inhalte: Man kann sie organisieren unter dem Aspekt ihrer optimalen Verwaltung, der optimalen Forschung und der optimalen Lehre. Diese drei Organisationsweisen stehen notwendig in einem Widerspruch.

In welchem Maße etwa die Kategorien der Verwaltung denen der Forschung widersprechen, ist jedem Betroffenen klar. Aber auch zwischen den Aufgaben der Forschung und der Lehre gibt es Widersprüche. Sie zeigen sich am deutlichsten vielleicht am Beispiel der Spezialisierung. Sie spielt bei der Forschung eine andere - größere - Rolle als bei der Lehre. Die Wissenschaften didaktisch organisieren heißt, sie auf die Bedürfnisse der Lehrenden hin zu organisieren. Dabei kommt es nun darauf an, wie diese Bedürfnisse näher bestimmt werden. Denkt man etwa in der Lehrerbildung nur an die künftige Berufsrolle, also daran, daß die Betreffenden künftig das Gelernte wieder in didaktisch optimaler Weise lehren sollen, so ergeben sich andere Lernziele, als wenn man auch das Bedürfnis der Studenten nach Aufklärung über sich selbst und ihre Welt - also ihre eigene Bildung - mit sehen will.

Gegenwärtig widersprechen sich beide Motive noch vielfach. Zahlreiche Studenten kommen in den Fächern, die sie für ihren Beruf studieren müssen, hinsichtlich ihrer eigenen Bildung nicht auf ihre Kosten und studieren etwa Philosophie oder Sozialwissenschaften nebenher; oder aber sie wenden sich enttäuscht von ihrem Berufsstudium ab und studieren Fächer, die wenigstens bisher noch nicht recht in den beruflichen Bedarf passen. Es ist jedoch grundsätzlich zweifelhaft, ob diese Trennung zwischen Berufs- und Bildungsstudium tatsächlich möglich und wünschenswert ist.

Am Beispiel des Lehrers läßt sich dies besonders gut verdeutlichen: Wie kann jemand ein guter Lehrer werden, der sich in seinem Studium nicht selbst thematisiert? Der nicht auch für sich selbst die Auseinandersetzung mit der Welt und mit seinen Konflikten auf sich nimmt? Wie immer man diesen Zusammenhang nun bestimmen mag, die Tatsache, daß die Hochschuldidaktik die traditionellen Systeme der Wissenschaften zutiefst verunsichert, macht sie nicht gerade beliebter. Die Lehre ist nicht mehr einfach ein Abfallprodukt der Forschung und es geht primär auch gar nicht darum, zu "schwere" Vorlesungen "leichter" zu machen. Es geht um nichts weniger als um die Funktionalisierung der Wissenschaften auf die subjektiven und objektiven Bedürfnisse der Adressaten hin.

Auf diese Weise kommt in die relativ starre Verwaltungs- und Forschungsstruktur ein schwer kalkulierbares dynamisches Moment: eben der Adressat mit seinen Bedürfnissen. Wenn man sich über den Adressaten bisher überhaupt Gedanken machte, dann allenfalls über den eigenen Fachkollegen; für ihn wurden die wissenschaftlichen Veröffentlichungen geschrieben und nur für ihn. Wer an dieser Kommunikation partizipieren wollte, der mußte "so werden wie sie". Bis in die Details der publizistischen Formen kann man nachweisen - man denke etwa an den funktional oft überflüssigen Umfang des wissenschaftlichen Apparates - , daß über den Kreis der Fachkollegen hinausreichende Adressaten weniger bewußt, aber doch planvoll ausgeschaltet wurden.

Wie wenig dies wirklich nötig ist, kann man am Beispiel des seriösen Sachbuches sehen. Die hochschuldidaktischen Überlegungen weisen unerbittlich darauf hin, daß die innere Systematik eines Faches, die teils historische, teils forschungssystematische Gründe hat, in der Regel nicht die didaktische Systematik ist, mit anderen Worten: daß ein Fach eine Menge Erkenntnisse aufgestapelt hat, die für eine bestimmte Gruppe von Adressaten völlig uninteressant sind. Daraus folgt aber eben, daß bestimmte Spezialgebiete eines bestimmten Hochschullehrers in einem bestimmten Fach für eine bestimmte studentische Zielgruppe unwichtig sind. Und je rebellischer die Studenten werden, um so deutlicher sagen sie dies.

Wäre es nicht zu abgedroschen, so könnte man sagen, es komme auch hier wieder auf den Menschen an; die Hochschuldidaktik hat begonnen als eine lerntechnisch orientierte Fragestellung, sie hat nach der optimalen Methode gefragt, nicht jedoch nach den tatsächlichen Problemen der hier agierenden Menschen, nicht nach den Zielen und nicht nach der Substanz der Wissenschaft. Aber das wäre allenfalls die halbe Wahrheit. Denn die Menschen, die sich hier teils verständnislos, teils feindlich, in jedem Falle aber ängstlich gegenüberstehen, sind allesamt die Opfer einer a-sozialen Gesellschaft, die sich für menschliche Bedürfnisse nur interessiert, sofern sie ökonomisch verwertbar sind. Die Lernschwierigkeiten der Studenten und die Lehrschwierigkeiten der Hochschullehrer stigmatisieren die wissenschaftliche Kommunikation mit einem Unterton des Leidens, gegen das man wehrlos ist. Daraus letztlich resultiert das Potential an Wut und Aggressivität auf der einen und allzuoft bornierter Regression auf der anderen Seite. Beides wird sich mit Sicherheit in nächster Zukunft noch steigern. 

 

 

66. Emanzipation - ein neues pädagogisches Schlagwort? (1969)

(In: deutsche jugend, H. 12/1969, S. 539-544)
 
 

Pädagogische Zielbegriffe sind immer einem besonderen Verschleiß ausgesetzt. Das liegt an ihrem hohen normativen Gehalt, denn sie sagen ja in erster Linie etwas darüber aus, wie ein Mensch sein soll, wenn er eine bestimmte Erziehung durchlaufen hat. Und selbst diejenigen, die sich dem einmal gemeinten Inhalt nicht anschließen wollen, schmücken sich mit dem Ansehen eines pädagogischen Zielbegriffes, wenn er erst einmal allgemein anerkannt ist. So ist es der "Bildung" und der "Mündigkeit" ergangen, und so scheint es neuerdings auch dem noch sehr jungen Begriff "Emanzipation" zu gehen.

Das Dilemma wird deutlich in einigen Beiträgen der letzten Zeit aus der "deutschen jugend"' vor allem an der Kontroverse zwischen Arno Kosmale ("Emanzipiert oder verwahrlost«, Septemberheft 1969) und Helmut Kentler ("Jugendarbeit mit emanzipierter Jugend«, Maiheft 1969), an die ich unmittelbar anknüpfen möchte. Der Begriff "Emanzipation" spielt in beiden Beiträgen eine dominante Rolle, ohne daß er näher bestimmt würde. Beide Verfasser setzen beim Leser offenbar die damit gemeinte Zielvorstellung selbstverständlich voraus. Der folgende Beitrag soll versuchen, diesen Begriff etwas zu präzisieren.

Zunächst fällt auf, daß beide Autoren von denselben pädagogischen Sachverhalten sprechen, die sie verschieden bewerten, daß es dabei aber für den Leser, der nicht dabei war, sehr schwer ist, sich Klarheit zu verschaffen. Damit ist auf eine erste Bestimmung des Begriffes "Emanzipation" hingewiesen: Im Unterschied zu den früheren Begriffen "Bildung" und "Mündigkeit" bezeichnet "Emanzipation" keinen idealisierten Endzustand eines Lern- oder Bildungsprozesses, sondern "nur" einen partiellen Fortschritt der Lernprozesse unter den Bedingungen einer bestimmten, konkreten Situation. Kosmale schreibt: "In einem Erholungslager für Kinder (12 bis 14 Jahre) setzt das Leitungsteam ('erwachsene' Studenten) die Hausordnung außer Kraft und läßt auf einer Vollversammlung aller Kinder unter anderem beschließen, daß erst um 24 Uhr Nachtruhe zu sein braucht; daß geraucht werden darf; daß jeder nach Belieben seine Frühstücksmahlzeiten einnehmen

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kann ... ; daß Kinder Alkohol trinken und daran nicht gehindert werden." (S. 399). Und er fragt: "Ist es repressiv oder autoritär, wenn dieses Ferienlager abgebrochen und die Kinder nach Hause geholt werden?" - Die Schwierigkeit ist nun, daß unter dem Begriff von "Emanzipation" die Frage so nicht entscheidbar ist. "An und für sich" sagen alle diese Tatsachen noch gar nichts über das Problem der Emanzipation aus. Es käme vielmehr darauf an, ob diese Regelungen und Maßnahmen wirklich von den Kindern in Lernprozessen verarbeitet werden konnten, ob das Team sich dazu etwas hat einfallen lassen, ob dabei Erfahrungen über sich selbst und die anderen sowie über solche Sachverhalte wie "Ordnung" zustande gekommen sind. Einstweilen wage ich das zu bezweifeln, weil es dafür - soweit ich es überblicken kann - noch keine pädagogischen Strategien gibt.

Wenn man also entscheiden will, ob eine in bestimmter Weise arrangierte pädagogische Situation Chancen an Emanzipation auch wirklich realisiert, kommt es ganz entscheidend auf die Details an. Und die bisher bekannten Berichte über solche zum Zwecke der Emanzipation in der Jugendarbeit hergestellten Situationen leiden darunter, daß sie diese Details nicht bringen. Infolgedessen wird die öffentliche Diskussion solange in dieser Frage nicht weiterkommen, wie es nicht gelingt, in ganz anderer Weise als bisher über die in Frage stehenden pädagogischen Situationen und Maßnahmen zu berichten. Entweder müßten solche Berichte die Form eines "Hearing" annehmen, wo die kontroversen Parteien und Positionen sich an gleicher Stelle zu einem "Fall" äußern könnten, oder aber es müßten zumindest Kategorien bzw. Leitfragen für die Abfassung solcher Berichte entworfen werden, um die für den Gesichtspunkt der Emanzipation nötigen Details auch formulieren zu können. Solange dies in dieser oder einer anderen Form nicht geschieht, werden auch weiterhin die Kontrahenten mit dem Leitbegriff "Emanzipation" ganz verschiedene Darstellungen ein und derselben Sache geben können. Vom Leser aus gesehen entsteht dann immer der Eindruck, daß alle Seiten auf ihre Weise recht haben. Der Begriff "Emanzipation" droht damit zu einer neuen Leerformel, zu einem neuen Schlagwort zu werden, so wie es mit den Begriffen "Mündigkeit" oder "Bildung" längst geschehen ist; sie sind längst zu einer Art von "affirmativer Sonntagssprache" heruntergekommen, und selbst der reaktionärste und autoritärste Zeitgenosse benutzt sie, wenn er sich über pädagogische Fragen äußert.

Genau diesem Schicksal wollte der Begriff "Emanzipation" entgehen, indem er die konkreten Bedingungen und Maßnahmen auch für die pädagogische Zielkritik endlich ernst nahm. Dies unterschied ihn von den anderen genannten Zielvorstellungen. Er unterschied und unterscheidet sich jedoch auch noch von seiner Herkunft her. Der Begriff "Emanzipation" ist kein original pädagogischer Begriff, er ist vielmehr aus der historisch-politischen Sphäre auf die Pädagogik nachträglich übertragen worden. Unter "Emanzipation" verstand man zunächst in der Sozialgeschichte und der politischen Geschichte die mit der Französischen Revolution anhebenden Befreiungsbewegungen, den Kampf gegen die bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaftsprivilegien und den Kampf für eine Beteiligung an der Herrschaft. So kennt die Geschichtsschreibung die Emanzipation des dritten Standes, des vierten Standes (der Arbeiter), der Frauen und zuletzt der Jugend. Diese Emanzipationskämpfe hatten immer konkrete politische Ziele, vor allem das gleiche Wahlrecht, im gesellschaftlichen Bereich aber zum Beispiel

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auch die Beteiligung an dem ökonomischen Reichtum der Gesamtgesellschaft (ökonomische Chancengleichheit) oder auch die sinngemäße Übertragung des Wahlrechtes auf gesellschaftliche Macht (zum Beispiel Mitbestimmung in der Industrie).

Aus diesen historischen und politischen Auseinandersetzungen ist der Begriff "Emanzipation" nun seit einiger Zeit auf pädagogische Aufgaben und Maßnahmen übertragen worden, in der Erkenntnis, daß demokratische pädagogische Zielvorstellungen mit den genannten gesellschaftlichen Demokratisierungsprozessen in einen Zusammenhang gebracht werden müssen. Die Schwierigkeit des Wortgebrauches besteht nun gerade darin, daß er die mit dieser Übertragung nötig gewordene neue Definition noch nicht erhalten hat, so daß er im Augenblick eher Unsicherheit verbreitet als zum Ausgangspunkt für neue pädagogische Strategien dient. Diese Unklarheit äußert sich vor allem darin, daß die politische Bedeutung des Begriffes beibehalten wird, daß er zugleich aber als ein pädagogischer interpretiert wird. Wenn zum Beispiel Schüler in ihren Schulen Mitbestimmung bei der Wahl der Lehrer oder der Themen des Unterrichts fordern, so ist dies ein Akt der politischen Emanzipation. Von pädagogischer Emanzipation kann man in diesem Falle jedoch erst dann sprechen, wenn dabei gelernt wird: im Sinne einer Zunahme an Selbständigkeit und Ich-Stärke und im Sinne eines Abbaus von verinnerlichten Autoritätsängsten, von Konformismus usw. Nun wird niemand, der etwas von der Sache versteht, annehmen, daß dieses Lernen gleichsam als ein "Abfallprodukt" der auf politische Emanzipation gerichteten Aktionen den Betreffenden in den Schoß fällt. Wenn also Arno Kosmale vor der Grenzüberschreitung von "Emanzipation" und "Verwahrlosung" warnt, so trifft er damit den Kern des Problems, obwohl der Begriff "Verwahrlosung" ihm Beifall von der falschen Seite eintragen wird, weil er bei den Nicht-Fachleuten gefährliche Vorurteile mobilisieren wird. Ich mochte lieber so sagen: Noch jede politisch-pädagogische Emanzipationsbewegung ist als soziale Abweichung, als Dissozialität denunziert worden. Man würde diejenigen, gegen die Emanzipation sich richtet, einfach überfordern, wenn man ihnen dies verübelte. Aber diese soziale Stigmatisierung ist eine gefährliche Waffe, die die politische Intention zerstört, wenn man sie akzeptiert. Das heißt: Wenn heute diejenigen, die für sich und andere politisch-gesellschaftliche Emanzipation fordern, in falsch verstandenem sozialen Heldentum die angesonnene Rolle des "Außenseiters", des "Dissozialen", "nicht ganz Normalen" oder des "Verwahrlosten" annehmen, werden sie zu nützlichen Idioten derer, gegen die sie sich mit ihren Ansprüchen wenden. Es ist eben diese Attitüde, die einen bei vielen unter dem Stichwort "Emanzipation" durchgeführten pädagogischen Unternehmen nicht recht froh werden läßt. Und genau diese Attitüde bezeichnet das markanteste pädagogische Defizit. Denn die Spannung, in die sich die Betroffenen begeben - die angesonnene Rolle nicht zu akzeptieren - , verlangt ein besonders hohes Maß an Lernen, an ständiger nach Regeln vor sich gehender Kontrolle der Affekte und Gedanken. Sonst erstickt die Intention der politisch-gesellschaftlichen Emanzipation im Gestus des "denen haben wir es aber einmal gezeigt"; sonst tritt in der Tat Verwahrlosung in dem Sinne ein, daß das Ich nicht mehr mitwächst mit dem, was es tut, daß fehlende Identität kompensiert werden muß mit zunehmender Aggression. Die Forderung nach Emanzipation muß der Öffentlichkeit gegenüber so dargestellt werden, als ob es nichts "Normaleres" gäbe. Man darf sich dabei nicht davon irritieren lassen, daß der Satz:

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"Mangelhafte Pädagogik ist noch keine Revolution" heute von denjenigen ins Feld geführt wird, die so mit pädagogischen Argumenten - um die sie sich sonst den Teufel scheren - eine politische Intention bekämpfen wollen. Der Satz ist insofern richtig, als ohne genaue Ermittlung der nötigen Lernleistungen die politische Intention ins Leere stoßen muß.

Geht man also davon aus, daß dem Bestreben nach politisch-gesellschaftlicher Emanzipation eine subjektive Dimension - eben im Sinne bestimmter Lernprozesse - entsprechen muß, so muß der Begriff Emanzipation von politischen Prozessen sinngemäß auf lebensgeschichtliche übertragen werden. Dann muß man sich darüber klar sein, daß die in einer bestimmten Situation möglichen Lernschritte äußerst klein sind, daß die "Lernreichweite" eines bestimmten Menschen in einem bestimmten Punkte seiner Biographie deutliche Grenzen hat. Dann muß man den Menschen neue Identifizierungen anbieten, die eben gerade nicht die bisherige Sozialisationsgeschichte "revolutionär" zu liquidieren trachten, sondern dem anderen erlauben, im Kontinuum seiner bisherigen Lebensgeschichte einen Schritt weiter zu tun: ein Stück Angst vor dem Ungehorsam abzubauen, ein Stück an Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung dazu zu gewinnen; einem Stück eigener Erfahrung mehr zu trauen als den bisher erlernten Disziplinierungsregeln; ein bißchen Mißerfolg ohne Aggression zugeben zu können; wenigstens experimentell einen Teil seines Verhaltens zu ändern und auszuprobieren, ob man dies unter den Bedingungen des Alltags wird durchhalten können. Da wir uns die Gesellschaft, in der wir leben, nicht aussuchen können, ist emanzipatorisches Lernen immer mit Angst verbunden, mit der Angst vor Sanktionen wegen der Änderung des Denkens und Verhaltens. Und nur in dem Maße, wie es gelingt, Stück für Stück diese Angst zu verarbeiten, wird ein kontinuierlicher politischer Lernprozeß möglich. Wenn man also zum Beispiel junge Menschen, die bis über beide Ohren in ihrer bisherigen Erziehung mit sexuellen Ängsten vollgestopft wurden, plötzlich in eine extrem liberalisierte Sozialsituation versetzt, in der nichts Sexuelles mehr verboten ist, dann ist das deshalb - und nur deshalb! - keine vernünftige pädagogische Maßnahme, weil der Sprung im Kontinuum der Biographien einfach zu groß ist und überhaupt nicht souverän verarbeitet werden kann. Man kann in der Tat Lernmotivationen dadurch stiften, daß man Menschen in ungewöhnliche Sozialsituationen bringt, die die Chancen einer freieren und humaneren Gesellschaft wenigstens teilweise experimentell antizipieren. Und weniger ein politischer Unterricht als vielmehr genau dies ist die große didaktische Chance der Jugendarbeit. Aber diese künstlich-pädagogisch hergestellten Sozialsituationen dürfen nach dem eben Gesagten nicht soweit von den sonst real zu bewältigenden entfernt sein, daß in dieser zu großen Distanz nicht mehr gelernt werden kann. Gewiß: Irgendwie werden Menschen - gerade auch junge Menschen - mit solchen Situationen schon fertig, irgend etwas werden sie schon damit anstellen, aber mit Sicherheit nicht das, was man sich davon verspricht: ein Zuwachs an Emanzipation, der auch den ganz anders bestimmten Alltag durchzustehen vermag.

Was also heißt Emanzipation im pädagogischen Sinne? Die Realisierung desjenigen Maßes an Selbstbestimmung, das im Kontinuum einer Lebensgeschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist. Dies ist schwierig genug und ein ganz unsensationelles Geschäft. Wo es als ein lautes Geschäft betrieben wird, sollte man skeptisch werden. Auch unter dem Leitgesichtspunkt der Emanzipation, also

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unter dem Gesichtspunkt von optimaler Selbstbestimmung und des optimalen Abbaus von Fremdbestimmung, gibt es keine "revolutionären Sprünge", jedenfalls keine organisierbaren.

An dieser Stelle können wir das von Arno Kosmale zitierte Beispiel wieder aufgreifen: Man kann durchaus 12- bis 14jährige Kinder beschließen lassen, die Nachtruhe erst um 24 Uhr eintreten zu lassen, wenn erstens eine solche Maßnahme verständlich erklärt wird und zweitens die Erfahrungen der Kinder dabei ins Bewußtsein genommen werden mit dem Ergebnis, daß man auf Änderung dieser Entscheidung drängt, wenn sie anfängt, als unangenehm empfunden zu werden; daß man über solche Lust- oder Unlustgefühle nachdenkt sowie darüber, warum hier der Wunsch nach Freiheit und die Möglichkeit, sie befriedigend zu nutzen, auseinanderfallen. Drittens wäre es bei solchen "ungewöhnlichen" Maßnahmen auf jeden Fall nötig, die Eltern vorher ins Bild zu setzen und sie möglichst auch dafür zu gewinnen: dies nicht nur deshalb, um dem "Elternrecht" seine Reverenz zu erweisen, sondern vor allem deshalb, weil sonst anschließend die Kinder zu Hause mit ihren Erfahrungen nichts mehr anfangen können. Unter Umständen muß man die Entscheidung, ob ein bestimmtes Kind an diesem Lager teilnehmen soll, von der vorherigen Reaktion der Eltern abhängig machen, denn es hat nach dem oben Gesagten nun wirklich keinen Sinn, die Kinder in einen Konflikt zum Elternhaus zu bringen, den sie selbst nicht mehr bewältigen können. Ähnliches ließe sich für die anderen von Kosmale angeführten Tatsachen sagen: Wenn es sich organisatorisch einrichten läßt, ist gar nichts dagegen zu sagen, daß die Kinder ihr Frühstück "nach Belieben" einnehmen. Pädagogisch interessant wird auch dies allerdings erst dann, wenn den Kindern klar wird, warum sie eigentlich diesen Wunsch haben, ob sie nach längerer Zeit diese Regelung noch für wünschenswert halten und warum möglicherweise nicht (auf diese Weise ständig "vergammelte" Vormittage könnten ja zum Beispiel auch als Verlust im Hinblick auf andere Chancen der Zeitverbringung erlebt werden). Auch das Trinken von Alkohol ist nicht unbedingt ein Zeichen von Verwahrlosung, wenn es nicht zur "Prestigefrage" in der Gruppe gemacht wird und unmittelbar gesundheitsschädigende Ausmaße annimmt. Unter nicht-repressiven Bedingungen neigen Kinder in diesem Alter dazu, allenfalls einmal Alkohol zu probieren, um damit ein Erwachsenenvorrecht zu durchbrechen, dann wenden sie sich wieder den ihnen viel angenehmeren Getränken zu. Wenn dies in dem genannten Lager nicht so war, so müßte sich das Team fragen, ob es nicht direkt oder indirekt zum Alkoholkonsum animiert hat.

Spielt man solche Einzelheiten durch, so entdeckt man ein weiteres Problem: Inwieweit ist Menschen überhaupt und Kindern zwischen 12 und 14 Jahren im besonderen zumutbar, in ein solches Maß an Dauerreflexion einzutreten? Auch diese Frage hängt mit dem Problem der Lern-Reichweite zusammen. Selbst dem pädagogischen Laien dürfte einleuchten, daß man auch für kurze Zeit Menschen nicht dazu bewegen kann, in eine Art von totaler Lernrolle zu schlüpfen: Man kann nicht über alles, was man Tag und Nacht tut, reflektieren, schon gar nicht mit dem Ziel des Lernens. Erwartet man dies dennoch, so produziert man einen Leistungsterror, der den weit übertrifft, den man in der "normalen" Gesellschaft, im Alltag also, mit Recht kritisiert. Daraus folgt: Wenn man Sozialsituationen

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schafft, die neue und bisher ungewöhnliche Lernprozesse motivieren sollen, so darf nicht zuviel auf einmal "ungewöhnlich" werden, weil sonst eine Art von quantitativer Überforderung eintreten muß.

Es hat also nichts mit emanzipatorischer Pädagogik zu tun, wenn Erwachsene ohne durchdachte didaktische Strategie Kinder und Jugendliche in extreme Situationen manövrieren, die die Betroffenen selbst nicht mehr verarbeiten können. Tun sie dies doch, so handeln sie nicht weniger autoritär als jener Lehrer, der ohne Rücksicht auf die aktuelle Lernfähigkeit seiner Kinder in seinem Stoff fortschreitet. Die Aufgabe der an einer anti-autoritären und emanzipatorischen Erziehung interessierten Erwachsenen ist vielmehr die unerbittliche Kritik dessen, was unter jenem Anspruch tatsächlich an pädagogischer Praxis geschieht. Ihre Aufgabe ist ferner, sich für die politischen Bedingungen der Möglichkeit von emanzipatorischer Pädagogik einzusetzen. Dazu gehört heute "intern" die Befreiung von Rechtsvorschriften, die für die Fürsorge- und Ersatzerziehung möglicherweise nötig sind, weil es dabei ja immer auch um nachhaltige Eingriffe in Personenrechte geht, die aber für die auf Freiwilligkeit beruhende Jugendarbeit nachgerade unerträglich geworden sind. Wahrscheinlich ist dies nur durch eine andere Ressortierung der Jugendarbeit zu erreichen.

Darüber hinaus geht es aber vor allem auch darum, die Jugendarbeit vor "externen" Pressionen zu stützen: vor der Dummheit lokaler Politiker und "anständiger Bürger", der Ignoranz auch derjenigen Apparate, deren Zweck "Pädagogik" ist, sowie vor allem vor den massiven Interessen von Wirtschaftsunternehmen, die ihre ökonomische Macht über ihre Lehrlinge zunehmend dazu mißbrauchen, die auf Emanzipation gerichtete politische Bildungsarbeit mit Lehrlingen zunichte zu machen (so zum Beispiel in Bad Boll, Loccum, Steinkimmen). Es ist an der Zeit, die Träger der Jugendarbeit auch politisch in den Stand zu versetzen, daß sie diese sich zweifellos verschärfenden Konflikte auch durchzustehen vermögen. Denn die Gegner der politischen und pädagogischen Emanzipation verwirren die Diskussion geschickt dadurch, daß sie ihre gesellschaftlichen Interessen, die ihnen die Öffentlichkeit nicht mehr ohne weiteres abkaufen würde, in eine pädagogische Argumentation kleiden. Dafür darf ihnen durch eine unnötig problematische "emanzipatorische" pädagogische Praxis nicht länger Munition geliefert werden. Nötig ist daher zweierlei: Einmal die Entlarvung der "pädagogischen" Einwände als Interessenstandpunkte. Zweitens die Arbeit an einer pädagogischen Theorie, Strategie und Didaktik von "Emanzipation", die als eine ernst zu nehmende Argumentation in diese Auseinandersetzung eingebracht werden kann, weil sie in der Lage ist, die pädagogische Diskussion an den konkreten Details festzumachen: denn nur an den pädagogischen Details kann die "pädagogische Reaktion" erfolgreich bekämpft werden. Läßt man sich dagegen auf Leerformeln ein und macht man auch "Emanzipation" zu einer solchen Leerformel, so hat man damit bereits die Position des Gegners bezogen. Pädagogische Leerformeln dienen immer der Unterdrückung, gerade weil sie die Erörterung der Details zum Verschwinden bringen. 

 

 
 

67. Unterrichtsziele im Sozialkundeunterricht in der differenzierten Gesamtschule (1969)

(In: Deutscher Bildungsrat: Gutachten und Studien der Bildungskommission 12: Lernziele der Gesamtschule. Stuttgart 1969, S. 55-59)
 
 

Das Aufstellen von Unterrichtszielen und deren Realisierung in der Sozialkunde der Gesamtschule muß insbesondere mit folgenden Schwierigkeiten rechnen:

1. Diese Ziele sind abhängig von den Lernzielen anderer Fächer bzw. Unterrichtskomplexe; so ist das Niveau an sprachlicher Bildung Voraussetzung für ein bestimmtes Niveau des Sozialkundeunterrichts. Wird also ein bestimmtes Niveau der sozialkundlichen Lernziele gewünscht, muß ein dementsprechendes Niveau der sprachlichen Lernziele gefordert werden. Ähnliches gilt für alle anderen Fach- und Gegenstandsbereiche: die Formulierung der sozialkundlichen Lernziele kann in keinem Falle isoliert davon erfolgen.

2. Ferner sind die sozialkundlichen Lernziele abhängig von den didaktischen und methodischen Grundprinzipien des Gesamtschulunterrichts überhaupt. Es ist ein wichtiger Unterschied, ob und in welchem Maße allgemein im Unterricht "definites Wissen" (Horst Rumpf) oder Problembewußtsein, "Kunde" oder wissenschaftlich durchgeformte kritische Distanz angestrebt wird. Auch in diesem Sinne läßt sich Sozialkunde vom übrigen Zusammenhang des Gesamtschulunterrichts nicht isolieren: Ihr kritisches Niveau kann kaum höher sein als das des Gesamtschulunterrichts überhaupt.

3. Unabhängig vom allgemeinem Grundsatz der Differenzierung, wie er konstitutiv für die Gesamtschule ist, muß der sozialkundliche Unterricht in besonderem Maße die verschiedenen, z. T. schichtenspezifischen Ausgangspunkte der Schüler gebührend einkalkulieren, soll in der Praxis die Differenzierung nicht doch wieder zu einer schichtenspezifischen Separierung führen. Die Unterrichtsziele - und nicht nur die Unterrichtsmethoden - müssen z. B. berücksichtigen, daß in der außerschulischen Kommunikation über soziale und politische Fragen verschiedene Medien und Modalitäten eine Rolle spielen, z. B. eine mehr sprachlich oder eine mehr optisch-sprachlich orientierte. Der sozialkundliche Unterricht erreicht sein Ziel nicht, wenn er nur "schul-intern" kalkuliert wird und die realen außerschulischen Kommunikationen über Politik nicht unterstützt und verbessert. Hier, wie auch im Falle anderer Lernziele, kann es nicht einfach darum gehen, "mittelständische" Leitbilder und Modelle unkritisch zum Maßstab zu machen; dies würde mit Sicherheit Kinder und Jugendliche mit anderen Einstellungen von ihren außerschulischen Sozialbeziehungen isolieren und damit eines der

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wichtigsten Motive der Gesamtschulkonzeption, nämlich das schichtenspezifische Bildungsgefälle zu überwinden, von vornherein wieder in Frage stellen.

Die detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Problemen ist nicht Aufgabe dieses Gutachtens. Die folgenden Lernziele sind allgemein und prinzipiell formuliert und abstrahieren von den eben genannten Schwierigkeiten. Allerdings muß das Bewußtsein dafür wach bleiben, daß die Aufgaben der Sozialkunde nicht isoliert formuliert werden können.

Die Lernziele der Sozialkunde bestehen aus den folgenden Teilzielen, die zu einander in ein angemessenes Gleichgewicht gebracht werden müssen. Beim gegenwärtigen Stand der didaktischen Forschung und Theoriebildung ist es noch nicht möglich, für die Kombination und Verschränkung dieser Teilziele ein allseits überzeugendes systematisches Konzept zu formulieren. Man wird hier pragmatische Lösungen (z. B. im Hinblick auf Stundenzahlen) anstreben müssen. Dies ist aber kein Grund dafür, die einzelnen Teilziele des Sozialkundeunterrichts nicht optimal anzustreben. Diese Teilziele stehen nicht nur im Verhältnis der Ergänzung und Verstärkung zueinander, sondern auch im Verhältnis der Korrektur und der Kontrolle. Insofern ist es wichtig, diese Teilziele als ein Ensemble zu betrachten; sie rechtfertigen sich nur im Zusammenhang der übrigen, nicht für sich allein. So müßte das folgende Teilziel 1 (Untersuchung aktueller Konflikte) seine aufklärende Funktion einbüßen und zum bloßen "Gelegenheitsunterricht" werden, wenn es nicht durch das Teilziel 2 (Training weitreichender systematischer Vorstellungen) ergänzt und korrigiert würde. Ähnliches ließe sich für das Verhältnis aller anderen Teilziele zueinander zeigen. Es kommt also entscheidend auf die einzelnen Teilziele und auf deren Kombination an.

3.1. Teilziel 1: Untersuchung aktueller Konflikte

Der Unterricht muß wichtige aktuelle politisch-gesellschaftliche Probleme und Konflikte aufgreifen und dem gemeinsamen, didaktisch-organisierten Nachdenken unterwerfen. Im Sinne dieses Teilzieles geht es in erster Linie um das Training der politischen Urteils- und Vorstellungsfähigkeit angesichts tatsächlicher, zur Entscheidung stehender politischer Fragen. Die politische Wirklichkeit wird auf diese Weise unmittelbar in den Unterricht hineingeholt und dort verarbeitet. Auf diese Weise wird den Schülern deutlich, wozu der Sozialkundeunterricht im Ganzen sie letztlich befähigen soll: zur kritischen Beteiligung am gegenwärtigen und künftigen politischen Leben. Für diese Aufgabe hat der Unterricht "Planspielcharakter", d. h. er ist zwar in einem allgemeinen Sinne auf aktive Beteiligung an politischen Auseinandersetzungen angelegt, intendiert sie aber nicht unmittelbar. Um so wichtiger ist jedoch, daß die Schüler, wenn sie innerhalb und außerhalb der Schule in einem politisch relevanten Sinn agieren, innerhalb der Schule und möglichst auch im Rahmen des Sozialkundeunterrichts ein Forum finden, das ihnen zum Zweck der gemeinsamen Reflexion, der Kritik und als ein Stück Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

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In diesem Teilziel kommt besonders deutlich zum Ausdruck, was für den Sozialkundeunterricht im Ganzen gilt: Er hat nicht nur lebensvorbereitende, sondern in hohem Maße auch schon lebensbegleitende Funktion.

3.2. Teilziel 2: Schulung systematischer Denk- und Vorstellungszusammenhänge

Dieses eben genannte Lernziel bedarf der Ergänzung durch die Schulung systematischer Denk- und Vorstellungszusammenhänge, sonst führt die additive Folge von konflikt-orientierten Unterrichtseinheiten nicht zu der nötigen Reichweite des politischen Bewußtseins. Nicht auf eine Summe abstrakter "Einsichten" käme es hier an, die aus dem Unterrichtsmaterial abgezogen und an immer neuen Stoffen wiederholt würden; vielmehr geht es darum, wichtige sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Modelle didaktisch ergiebig zur Grundlage des Sozialkundeunterrichts zu machen, um die geforderte Reichweite der Vorstellungen zu erzielen (z. B. Funktion und Dysfunktion; Gewaltenteilung; Kommunikation; Interdependenz; Wechselwirkung). Mindestens folgende Sachbereiche müßten auf diese Weise erschlossen werden:

1. das Produktions- und Verteilungssystem in hochindustrialisierten Gesellschaften;

2. das politische Regierungssystem in der Bundesrepublik und in der DDR;

3. das System der Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Verwaltungszweige, die vor allem für den Schüler bzw. dessen Familie von Bedeutung sind (Finanzverwaltung; Sozialverwaltung; Verwaltungen mit beratender Funktion wie Berufsberatung, Erziehungsberatung; Kultusverwaltung am Beispiel der Schule);

4. die Grundzüge der weltpolitischen Gesamtlage;

5. eine Lehre der verschiedenen menschlichen Kommunikationsweisen auf der Grundlage des sozialwissenschaftlichen Kommunikationsmodells (z. B. Familie; Bezugsgruppe; Massenorganisation; Massenkommunikation);

6. eine elementare "Kunde" des modernen Informationswesens, nämlich der organisierten Informations-Beschaffung (z. B. Pressedienste; Korrespondenten), der Informations-Verarbeitung (z. B. Nachricht, Kommentar, Dokumentation, Feature), der damit verbundenen medialen Gesichtspunkte (Sprache, Sprache-Bild-Kombinationen) sowie schließlich der politischen Implikationen dieser "Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts";

7. anthropologische Grundkenntnisse unter Berücksichtigung psychoanalytischer Einsichten (z. B. Projektion; Aggression; Identifikation mit dem Aggressor; Verdrängung).

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3.3. Teilziel 3: Geschichtsunterricht

Beide bisher genannten Lernziele bedürfen der Ergänzung durch einen neu zu durchdenkenden Geschichtsunterricht. Ohne historisches Bewußtsein verliert auch das aktuelle und auf die Zukunft bezogene politisch-kritische Bewußtsein ein wichtiges Fundament. Allerdings bedarf der Geschichtsunterricht dazu einer didaktischen Überprüfung. Im Rahmen der Sozialkunde wäre er in zweierlei Weise zu berücksichtigen:

1. als Unterrichtsprinzip, insofern die unter Teilziel 1 genannten aktuellen Konflikte auf ihren geschichtlichen Ursprung zurückverfolgt werden;

2. als selbständiges Teilziel des Sozialkundeunterrichts. Dabei wären zwei Gesichtspunkte miteinander zu verbinden:

a) eine chronologische ereignisgeschichtliche Darstellung unter dem Leitgesichtspunkt des Demokratisierungsprozesses in der Neuzeit. Sie müßte in einer pragmatischen Entscheidung einen "Kanon" wichtiger Schlüsselereignisse der neueren Geschichte bis 1945 in ein Kontinuum unter den Leitgesichtspunkt ihrer fördernden bzw. hemmenden Demokratisierungswirkung stellen. Unter diesem (politisch-sozialkundlichen) Gesichtspunkt erscheint eine Beschäftigung mit der neueren Geschichte etwa seit der Französischen Revolution ausreichend. Begründungen für einen dahinter zurückgehenden Geschichtsunterricht bedürften anderer Kriterien; wir können sie daher für unseren Zusammenhang ausklammern. Im übrigen wird es sich im praktischen Unterricht gelegentlich als notwendig erweisen, auf vorindustrielle Verhältnisse einzugehen - dann nämlich, wenn die Behandlung eines aktuellen politischen Konflikts im Sinne des Teilzieles 1 z. B. die Beschäftigung mit den Verhältnissen in Entwicklungsländern erzwingt.

Zu einem solchen "Kanon" wären mindestens die folgenden Ereignisse zu rechnen: die Französische Revolution; Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit in Deutschland; das Jahr 1848; das Sozialistengesetz; die Bismarcksche Sozialpolitik, der Erste Weltkrieg; die Russische Revolution; die Deutsche Revolution 1918/19 und die Entstehung der Weimarer Republik; die Weltwirtschaftskrise; die Nationalsozialistische Machtergreifung; die Nürnberger Gesetze; der Zweite Weltkrieg; das Potsdamer Abkommen.

b) Empirische Untersuchungen haben immer wieder erwiesen, daß ein ereignisgeschichtlich orientierter Unterricht - nach welchen didaktischen Prinzipien er immer gestaltet sein mag - allein nicht zu tragfähigen geschichtlichen Vorstellungen führt. Offensichtlich muß eine "strukturgeschichtliche" Orientierung hinzutreten. "Moderne Industriegesellschaft" muß als ein zusammenhängendes Ganzes verstanden werden können, als ein Zusammenhang gleicher oder sehr ähnlicher Probleme, die im konkreten Fluß der Geschichte sich immer wieder modifizieren und verändern. Die grundlegenden Gemeinsamkeiten des modernen industriegesellschaftlichen Lebens erschließen sich nicht schon einem didaktisch noch so gut durchdachten ereignisgeschichtlichen Unterricht, sondern bedürfen eines davon unabhängigen, eigenen und unmittelbaren Zugangs; er muß didaktisch eigens thematisiert werden. "Ereignisgeschichte" und "Strukturgeschichte" stehen in einem

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ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander wie die Teilzeile 1 und 2: Ereignisgeschichtliche Chronologie ohne strukturgeschichtliche Interpretation führt zu einem bloß additiven geschichtlichen Verständnis; strukturgeschichtliche Interpretation wiederum ohne ein Minimum an ereignisgeschichtlicher Konkretisierung fuhrt zum undifferenzierten Subsumieren von Ereignissen unter ein statisches Verständnismodell, also im Grunde zu einem eklatant ungeschichtlichen Verständnis von Geschichte.

Die Notwendigkeit strukturgeschichtlicher Lernziele ergibt sich aber nicht nur aus diesem allgemeinen Grunde, sondern darüber hinaus als eine Bedingung der Möglichkeit des Lernzieles 1 (Interpretation aktueller Konflikte); denn die sogenannte "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" im Verhältnis der hochentwickelten zu den weniger entwickelten Ländern, die ein durchgängiges Thema gegenwärtiger und künftiger internationaler Politik anzeigt, ist weder durch ein funktionales Gesellschaftsmodell noch durch eine bloß ereignisorientierte historische Blickrichtung angemessen zu verstehen.

3.4. Teilziel 4: Training selbständiger Informationsentwicklung und Informationsverarbeitung

Die mit diesem Teilziel gemeinten Fähigkeiten und Fertigkeiten sollen den Schüler zunehmend unabhängig von den didaktischen Hilfen der Schule machen. Im einzelnen gehört zu diesem Teilziel:

1. die gezielte Benutzung von Lexika und anderen Nachschlagewerken;

2. die - möglichst mit Exkursionen verbundene - Inanspruchnahme öffentlicher Informations-Dienstleistungen, zum Beispiel Beratungsinstitutionen (Berufsberatung) oder der Presse- und Informationsbüros von Behörden, Verbänden, Gewerkschaften, Industriebetrieben usw.;

3. die planmäßige Übung der Informationsermittlung und Informationsordnung aus dem Material der Presse und sonstiger Massenmedien;

4. das Training kooperativer Ermittlungs-, Darstellungs- und Diskussionsmethoden in Gruppensituationen.

Die vorstehend genannten Lernziele sind - obwohl als notwendiges Minimum bis einschließlich 10. Schuljahr konzipiert - insgesamt verhältnismäßig umfangreich. Darin drückt sich die Vorannahme aus, daß insbesondere im 9. und 10. Schuljahr Sozialkunde (falls dieser Begriff nicht durch einen weniger mißverständlichen ersetzt werden soll) ein Hauptschwerpunkt des Gesamtschulunterrichts sein wird. Am Schluß sei noch einmal betont, daß zur Realisierung und zur kritischen Kontrolle der eben genannten Lernziele ein umfangreiches didaktisches Forschungs- und Experimentalprogramm nötig ist, da die wissenschaftlichen Grundlagen dafür bisher noch gänzlich unzureichend sind.

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