Hermann Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend

München: Juventa-Verlag 1981

Teil IV: Zusammenfassung und Ausblick:

Die schwierige Balance zwischen Integration, Bindung und Autonomie

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis
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Überblickt man die Entwicklung der Jugendbewegung und Jugendarbeit in der Zeit von 1900 bis 1945, so lassen sich einerseits gewisse epochale Grundprobleme und Tatsachen erkennen, andererseits aber auch bedeutsame Veränderungen, die noch mehr ins Auge fallen, wenn man sie bis zur Gegenwart verlängert.

1. Ein Grundproblem ist die gesellschaftliche Ausgliederung des Jugendalters als einer besonderen sozialen Gruppe. Sie wird nötig in dem Maße, wie die Herkunftsfamilie—repräsentiert durch den Vater—nicht mehr die Zukunft der Kinder bestimmen und garantieren kann, und wie normative Pluralität bewältigt werden muß und in einem gewissen Handlungsspielraum für die Zukunft relevante Entscheidungen—zum Beispiel beruflicher Art—getroffen werden müssen. Unter diesen Bedingungen bedeutet der Übergang in den Erwachsenenstatus nicht mehr nur einfach die Übernahme vorgegebener Werte und Verhaltensrituale, kommt Identität nicht einfach mehr durch Identifikation damit zustande. Vielmehr wird nun ein gewisses Maß an persönlicher, individueller, also von niemandem mehr abzunehmender Verantwortung und Entscheidung nötig, sowie ein hohes Maß an Verinnerlichung von Normen und Werten im Unterschied zu fraglos ritualisierter Übernahme. Es wird—mit anderen Worten—den Jugendlichen "Kulturpubertät" zugemutet, das heißt ein relativ offener Lebens- und Handlungsspielraum, in dem sie selbst durch Erfahrung und Auseinandersetzung eine Identität gewinnen und—praktisch gesprochen—einen eigenen Lebensplan entwerfen und seine Realisierung beginnen müssen.

Dieser durch sozialen und normativen Wandel hervorgerufene Sachverhalt, der—wie wir sahen—zunächst nur für eine Minderheit der Jugendlichen, aber tendenziell für alle gilt, ist ambivalent. Er ist einerseits eine Form der

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Emanzipation, eines Freiwerdens von den Determinanten der traditionellen familiären und gesellschaftlichen Erziehungsmächte, ist insofern ein Stück Autonomie und Eigenverantwortung. Andererseits bedeutet dies aber auch Verunsicherung, Ungeborgenheit und Vereinzelung. Diese Spannung muß ausbalanciert werden, und die zwischen 1900 und 1945 auftretenden Jugendgenerationen haben dieses Problem sehr unterschiedlich bewältigt. Die Wandervogelgeneration vor dem Ersten Weltkrieg lebte noch so stark in die Gesellschaft integriert, daß sie ihr Interesse verstärkt auf Emanzipation bzw. Autonomie richten konnte. Nach dem Kriege, bis etwa 1923, setzte sich diese Haltung zunächst mit einer Generation fort, die die durch den Krieg aufgezwungenen Entbehrungen kompensieren wollte Da aber das gesellschaftliche System nun selbst offen und mehrdeutig war, und insofern wenig Orientierung und Geborgenheit vermittelte, versuchte die folgende Generation, diesen Mangel durch Bindung an einen Bund oder eine andere Jugendorganisation zu kompensieren. Bei der Jugendgeneration am Ende der Republik verstärkte sich dieses Bedürfnis noch, wie wir sahen, bis dahin, daß sie die Emanzipation, die die liberale Gesellschaff bot—nun einschließlich der nicht erwünschten Befreiung von der Arbeit—, nicht auch noch in den Jugendverbänden doppelt erleben wollte, sondern es entwickelte sich ein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Integration, wie es die Nationalsozialisten mit ihren Jugendverbänden anboten.

Natürlich ist diese Charakteristik sehr grob und vernachlässigt zum Beispiel, daß auch unter Gleichaltrigen ganz unterschiedliche "Generationsgefühle" (K. Mannheim) bestehen können. Aber trotzdem läßt sich prinzipiell folgendes sagen: Was Jugendliche in einer Jugendbewegung oder in einem Jugendverband suchen, hängt davon ab, was die sie umgebende Gesellschaft ihnen bietet oder vorenthält, und zwar im Hinblick auf die Balance von Emanzipation und Geborgenheit bzw. sozialer Integration. Die Geschichte der Jugendarbeit ist bis heute nämlich voll von Mißverständnissen, die aus der Ignorierung dieser Tatsache entstanden. Die Ratlosigkeit der Pädagogen am Ende der Weimarer Republik über den neuen "Sozialisationstypus" ist dafür nur ein Beispiel. Sie gingen davon aus, daß— entsprechend ihrer eigenen früheren Erfahrung—die junge

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Generation das in der Jugendarbeit suchen müsse, was sie selbst früher dort gesucht und womöglich auch gefunden hatten. Das erwähnte Grundproblem der Spannung von Emanzipation und Geborgenheit und die Notwendigkeit, in einer angemessenen Balance zwischen beiden Polen Identität zu finden, ist also ein epochales, bis heute gültiges Grundproblem des Jugendalters. Aber die Rolle der Jugendgemeinschaften in diesem Zusammenhang ändert sich je nach den gesellschaftlichen Bedingungen und nach der Art und Weise, wie diese jeweils in einem Generationsgefühl erlebt werden. Dabei ist der subjektive Aspekt nicht minder wichtig als der objektive; denn von einer gesellschaftlichen Desorganisation oder normativen Verunsicherung kann man erst dann sprechen, wenn diese Zustände auch so erlebt werden. Und das kann—auch in ein und derselben Generation—ganz unterschiedlich sein. Die Jugendarbeit aber kann in diesem Zusammenhang immer nur kompensatorische Funktion haben, also das anbieten, was im Rahmen dieser Balance im übrigen gesellschaftlichen Umfeld fehlt. Sie kann also das je vorhandene Sozialisationsangebot nur ergänzen oder korrigieren im Hinblick auf die erwähnte Balance. Die jugendliche Gruppe kann also einmal eher Mittelpunkt und Ausgangspunkt jugendlicher Rebellion, ein anderesmal eher Ort sozialer Geborgenheit und Stabilisierung sein.

2. Der erwähnte Handlungs-, Entscheidungs- und Verantwortungsspielraum, der dem Jugendalter zugemutet werden muß, macht es aber auch zugänglich für öffentliche Zugriffe. Zumindest im Freizeitbereich wird es gleichsam aus der "pädagogischen Provinz" entlassen und sieht sich Wertungen und Erwartungen ausgesetzt, mit deren Pluralität und Widersprüchlichkeit sich die Jugendlichen individuell auseinandersetzen müssen, um eine eigene Position zu finden. Nachwuchs für die Erwachsenenorganisationen und ihre Normen und Werte wird nicht mehr geboren, sondern muß im Jugendalter geworben werden. So ist unser Thema die Geschichte eines unermüdlichen "Kampfes um die Jugend". Die Freisetzung des Jugendalters ermöglicht seine Vergesellschaftung und tendenziell seine Abschaffung, das heißt seine volle gesellschaftliche Integration außerhalb der jeweiligen Familienzugehörigkeit, wie das

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der Nationalsozialismus zum ersten Mal praktiziert hat. Der Weg vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend ist der Weg einer von der Familie her vergesellschafteten und integrierten Jugend zu einer auf neuer Stufe erneut integrierten, wobei Familienzugehörigkeit und—daraus folgend— Klassenzugehörigkeit prinzipiell keine Rolle mehr spielen. Es wäre aber ein Irrtum, den Vergesellschaftungsprozeß in der nationalsozialistischen Zeit lediglich als Zwischenstadium zu verstehen. Der schon in der Weimarer Zeit fortgeschrittene Prozeß der Vergesellschaftung geht nämlich nicht nur von den Verbänden und Institutionen der Erwachsenen aus, sondern auch—was in diesem Buch verständlicherweise nicht so zum Ausdrucks kommt—vom kommerziellen Freizeit- und Konsumsystem, das—vor allem dann nach 1945 und bis zur Gegenwart—das gesellschaftlich Übliche in die Nischen transportiert, in denen sich Jugendliche Teilkulturen ansiedeln könnten bzw. umgekehrt deren Teilkulturen auf die Gesamtgesellschaff hin verbreitet. Gegenwärtig scheint im Vergleich dazu der Zugriff von Erwachsenenverbänden bedeutungslos geworden zu sein.

Ergänzend kommt hinzu die Wirkung der Massenmedien. Sie machen einerseits unentwegt die Probleme des Jugendalters zum öffentlichen Thema und stellen damit ein öffentliches Bewußtsein darüber her, andererseits aber verhindern sie dadurch jede authentische Selbstartikulierung von Jugendlichen, wie dies in der Fülle der Eigenpublizistik der Jugendverbände in Weimar noch möglich war. Schon die HJ hatte die publizistischen Äußerungen monopolisiert. Aber die durch Kapitalkonzentration in der Gegenwart erzwungene weitgehende Monopolisierung der Publizistik—ergänzt durch die Apparate der öffentlich-rechtlichen Medien—wirkt vom Standpunkt der öffentlichen Äußerungsmöglichkeit Jugendlider Gruppen ähnlich, obwohl die Pressefreiheit nach wie vor besteht. Entweder nämlich werden jugendliche Selbstdarstellungen im Keime erstickt bzw. verfälscht, wie dies zum Beispiel geschieht, wenn sie im Fernsehen etwa sofort den dort gültigen politischen (zum Beispiel "Ausgewogenheit") und dramaturgischen Regeln unterworfen werden. Oder aber jede nicht in der offiziellen Publizistik erscheinende Selbstäußerung gerät relativ leicht in den Verdacht, zum kriminellen Untergrund zu gehören. Ein schon klassisches Bei-

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spiel dafür war die Wirkung des sogenannten "Mescalero-Artikels" in einer Göttinger Studentenzeitung. Keineswegs an die offizielle Publizistik adressiert, sondern an eine bestimmte Gruppe, in der Jargon und Nuancen verstanden werden konnten, geriet er zum öffentlichen Skandal, nachdem er an den Maßstäben der öffentlichen Publizistik gemessen und von dieser—in Ausschnitten, auch das gehört dazu—verbreitet worden war.

Noch bedeutsamer ist die vergesellschaftende Wirkung der Publizistik aber im Hinblick auf das von ihr ständig geschaffene und veränderte "Jugendbild" in der Öffentlichkeit. Würde heute eine neue Jugendbewegung entstehen, sie hätte nicht die mindeste Chance, ihr Selbstverständnis zu artikulieren und überhaupt darüber zu kommunizieren, ohne sich vom ersten Tage an mit Wertungen aus der offiziellen Publizistik auseinandersetzen zu müssen, in die korrigierend einzugreifen sie keine Macht und Gelegenheit hätte. (Wyneken konnte immerhin noch sich in Vortragsreisen gegen die gegen ihn und die Freideutschen gerichteten Angriffe wehren).

Daß die Jugend sich in der Publizistik einem Bild ihrer selbst gegenüber sieht, das—mag es nun positiv oder negativ sein—auf ihr Selbstverständnis zurückwirken muß, ja, daß man auf diese Weise Jugendprobleme "machen" oder auch verschweigen kann, hatte schon F. Paulsen gesehen, und der Wandervogel hatte davon einen Vorgeschmack bekommen. Am Ende der Republik war "Jugend" ein Lieblingsthema der Publizistik—die übrigens überwiegend unrecht behielt, denn ein Großteil der damaligen bürgerlichen Jugend tat das, was man nicht von ihr erwartete: sie unterwarf sich begeistert der Führung Hitlers.

Der Vergesellschaftungsprozeß, von dem hier die Rede ist, definiert Jugendliche als von ihren konkreten sozialen Herkünften losgelöst gedachte Individuen, die dadurch für die genannten Einwirkungen und Erwartungen zur Disposition stehen. Mit dieser Tendenz überschneidet sich das vorhin erwähnte Problem der Balance zwischen Emanzipation und Geborgenheit, und je länger dieser Prozeß fortschreitet, um so mehr wird diese Balance gestört, weil eben die konkreten sozialen Herkünfte und Kontexte diesem Prozeß mehr oder weniger zum Opfer fallen. Identität finden bedeutet daher zunehmend auch, diese Kontexte als ver-

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bindliche selbst wieder herzustellen, zum Beispiel in Form von Freundschaften oder Gruppenbindungen. Oder aber dieser Prozeß führt zu einem Sozialisationstyp, wie ihn Riesman schon früh als "außengeleiteten" beschrieben hat, dessen Identität abhängig ist von der unentwegten "Rückmeldung" durch möglichst viele andere—im Unterschied zum "innengeleiteten", der von solcher Zustimmung relativ unabhängig ist und sein Verhalten eher nach einem "inneren Kompaß" steuert.

Sieht man sich den Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters genauer an, so stellt sich heraus, daß das ursprüngliche Konzept eines von äußeren Zwängen und Verantwortlichkeiten relativ "freien Jugendraumes" bzw. der "Kulturpubertät" oder des "psychosozialen Moratoriums" immer weniger durch die gesellschaftliche Realität gedeckt wird. Das begann schon in der politischen Polarisierung in Weimar und erreichte seinen ersten Höhepunkt in der HJ, die ja die gesellschaftliche—keineswegs die individuelle— Pubertät praktisch abschaffte. Aber ihren wirklichen Höhepunkt erreicht diese Tendenz erst in der Gegenwart. Schule und Hochschule sind weitgehend den industriell-bürokratischen Prinzipien der Effizienz und Kontrolle unterworfen, das Studium wird nicht mehr mit der Erwartung eines "psychosozialen Moratoriums" verbunden, sondern ist selbst "Arbeit" geworden, in Stundenzahlen aufgeteilt, der Rest ist das übliche Maß an Freizeit. Jugendliche Arbeitslose zum Beispiel sind eben Arbeitslose wie andere auch, nur eben junge.

3. Unterstrichen wird diese Einschätzung dadurch, daß gegenwärtig der Jugend als sozialer Gruppe kaum noch eine Zukunftsbedeutung für die Gesellschaff zugeschrieben wird, an sie knüpft sich keine Hoffnung auf einen besseren Zustand der gesellschaftlichen Verhältnisse. Von eben dieser Erwartung aber hatten die Jugendbewegungen und die Jugendarbeit gelebt: Der "Jugendkult" der Kulturkritik ebenso wie die Bünde und Arbeiterparteien in Weimar und die staatlich geförderte Jugendpflege. Diese Erwartung setzte sich nach 1945 fort. Daß sie in der NS-Zeit pervertiert wurde, kann nichts daran ändern, daß sie die entscheidende Legitimationsgrundlage war für das öffentliche Interesse an "Jugendwohlfahrt" und damit auch an

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Jugendarbeit. Es war jene Vorstellung, die den Heranwachsenden neben dem negativen Status des "noch nicht Erwachsenseins" zugleich den positiven Status eines Garanten der Zukunft aller gab. Entfällt aber diese positive Zuschreibung—wie es gegenwärtig zu sein scheint—und bleibt nur die negative des "noch nicht" übrig, dann sind auch entscheidende Voraussetzungen für die sogenannte "Kulturpubertät" entfallen, dann wird Jugend zu einer Teilgruppe der Erwachsenen, die aber wegen ihrer ökonomischen Abhängigkeit zu einem großen Teil einer materiellen Fürsorge, einer Art von "Jugendrente" bedarf, und die damit tendenziell zu einer Randgruppe wird wie andere negativ definierte Gruppen auch, die etwas nicht, noch nicht oder nicht mehr haben oder können.

4. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob die Jugendbewegung und Jugendarbeit ein historisch begrenztes Phänomen ist, dessen Ende inzwischen in Sicht ist. Von ihren Anfängen in diesem Jahrhundert her waren beide Bestrebungen ja Begleiterscheinungen eines soziokulturellen Wandels, der in Deutschland sich innerhalb weniger Generationen vollzog, und in dessen Verlauf die bürgerliche Jugend, aber auch der "verbürgerlichende" Teil der Arbeiterjugend einen neuen gesellschaftlichen Status zugeschrieben erhielt. Möglicherweise war dabei Jugendarbeit nur eine Art von pädagogisch arrangierter Begleitung des beschriebenen Vergesellschaftungsprozesses und ist deshalb nachgerade historisch überfällig.

Aber derartige Schlußfolgerungen könnten kurzschlüssig sein. Man kann nämlich schwerlich annehmen, daß in Zukunft die nachwachsenden Generationen sich einfach einfügen werden in die jeweils vorgegebene Form der für sie vorgesehenen Vergesellschaftung. Die gegenwärtige Protestszene macht das bereits erkennbar. Zumindest in vielen Bereichen des "alternativen« Lebens" werden wieder Vorstellungen und Erlebnisse aufgegriffen, die auf die Jugendbewegung—vor allem auf die bürgerliche—wenn auch meist unbewußt wieder zurückführen. Das alte Leitthema von "Gemeinschaft und Gesellschaft" steht wieder in Rede, in alternativen Lebensgemeinschaften und Kooperationen wird jene alte Sehnsucht nach umgreifenden statt rollenmäßig parzellierten menschlichen Beziehungen, nach gegen-

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wärtiger und nicht erst zukünftiger Lebenserfüllung, kurz: nach sozialer Integration und Geborgenheit sichtbar. Auch die antizivilisatorischen, antitechnischen, antiliberalen und antidemokratischen Affekte sind wieder parat, wobei bei letzteren oft (noch) unterschieden wird zwischen den zu verachtenden "technischen" Regeln des Parlamentarismus und der Bürokratie einerseits und den demokratischen Grundwerten andererseits, die zur Unterstützung der eigenen Argumentation benutzt werden. Jedenfalls beginnt sich—wie unklar immer—ein Lebensgefühl zu artikulieren, das weder in den etablierten Institutionen noch im Rahmen der überlieferten Normen und Verhaltensregeln angemessen zu realisieren ist: eine klassische Voraussetzung für das Entstehen einer "Bewegung". Dabei darf man keine historische Kopie erwarten, eine "Bewegung" sucht sich ihre Ideen im kulturellen Repertoire ihrer Zeit. So fehlen heute die für die bürgerliche Jugendbewegung charakteristischen politisch-ideologischen Fragmente, lediglich die lebensreformerische Komponente kommt wieder durch, was möglicherweise ein Indiz dafür ist, daß die Frage des "richtigen Lebens" in der modernen Gesellschaft eines ihrer epochalen Grundprobleme geblieben ist.

Aus all dem ist zu erwarten, daß die beschriebene radikale Vergesellschaftung des Jugendalters von den nachfolgenden Generationen nicht unbeantwortet bleiben wird. Dabei ist schwer vorauszusehen, wie sich eine jugendliche Protestbewegung artikulieren und realisieren kann in einer Gesellschaft, die dafür keinen spezifischen Ort mehr gewährt und die sich von der Substanz des Protestes keinen Gewinn mehr für die Zukunft verspricht—was sich allerdings, zum Beispiel im Rahmen der Umweltbewegung, auch wieder ändern könnte. Das ratlose Festhalten der etablierten Generationen etwa an Rechtsgrundsätzen, deren Praktizierung ja den Protest in hohem Maße provoziert hat, ist dafür nur ein Symptom.

5. "Kulturpubertät" gab es nur für diejenigen, so sahen wir, die eine reale Entscheidungs- und Handlungsperspektive vorfanden. Das galt keineswegs für alle Jugendlichen, zum Beispiel nicht für die nicht-aufstiegsorientierte Arbeiterjugend und nicht für die meisten Mädchen. Für die Mädchen stellte sich die Identitätsproblematik etwas an-

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ders als für die Jungen. Ihre traditionelle Sozialisation und Erziehung zielte auf eine Existenz in der Familie, an der Seite eines Mannes. Darauf wurden ihre sozialen Vorstellungen und Handlungsmöglichkeiten weitgehend beschränkt. Berufstätigkeit, die sich nach 1918 ausdehnte, wurde weniger als eigenständige soziale Handlungskompetenz verstanden, die es mit der anerzogenen "Familienkompetenz" zu verbinden galt, sondern eher als ein Durchgangs- oder Zwischenstadium bis zur Familiengründung. In dem Maße jedoch, wie sich auch für Mädchen im Jugendalter ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum öffnete, stellte sich auch für sie das Problem der Identität neu. Erschwert wurde die Lösung dieses Problems jedoch dadurch, daß—anders als beim Jungen—die gesellschaftlichen Erwartungen, die auf der Erfüllung der traditionellen Rolle bestanden, dieser neuen Chance widersprachen. Das galt für die proletarische weibliche Jugend wie für die bürgerliche. In der bürgerlichen Jugendbewegung zielte etwa das Konzept der "Kameradin" an der Seite des Mannes eher auf eine Erweiterung der traditionellen Rolle als auf den Erwerb neuer sozialer Kompetenzen. Die Arbeiterjugendbewegung vertrat zwar aus Prinzip die Gleichberechtigung der Geschlechter, unterschätzte aber die damit für die Mädchen aufgeworfene Identitätsproblematik. Sie bestand schlicht darin, daß die überlieferte, immer noch mit hohem öffentlichen Ansehen ausgestattete "Rolle" der Frau neu interpretiert werden mußte, wenn berufliche und politische Handlungsstrukturen sachgemäß bewältigt werden sollten. So war zum Beispiel im traditionellen Selbstverständnis die andere Frau eher die individuelle Konkurrentin, die vom eigenen Mann möglichst ferngehalten werden mußte, und nicht etwa die Kollegin am Arbeitsplatz, mit der Kooperation einerseits und Solidarität andererseits zu pflegen ist—diese neue soziale Kompetenz stand im Widerspruch zu jener alten Rollenerwartung. Er zeigte sich durchweg in den gemischten Gruppen, wie in denen der Arbeiterjugend, wo es vielen Mädchen offensichtlich schwerfiel, das Bedürfnis nach dem einen Jungen und die damit verbundenen Rivalitätsgefühle den Bedürfnissen der ganzen Gruppe unterzuordnen—wobei man allerdings immer wieder sehen muß, daß die Jungen in der Regel selbst zumindest unbewußt jene traditionellen Erwartun-

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gen an die Mädchen richteten, deren Versuche, ihre soziale Kompetenz zu erweitern, also keineswegs unbedingt honorierten. Anders als die Jungen waren die Mädchen also dem Widerspruch zwischen dem öffentlich verkündeten Postulat der Gleichberechtigung und der dem widersprechenden inneren Einstellung auch der eigenen Genossen ausgesetzt. Und möglicherweise beruhte die Faszination, die der BDM nach 1933 unzweifelhaft auf viele Mädchen ausübte, nicht nur auf tiefenpsychologischen, mit dem Mythos der Person Hitlers zusammenhängenden Ursachen, sondern auch schlicht darauf, daß der BDM diesen Widerspruch zu lösen schien: Einerseits bestätigte er in seiner Ideologie nachdrücklich die traditionelle Rolle der Frau, beendete damit also die Identitätskonfusion, andererseits eröffnete er den Mädchen auf der Basis dieses Selbstverständnisses Teilnahme an der Öffentlichkeit und damit auch eine gewisse Emanzipation vom Elternhaus. Inzwischen hat der erwähnte Vergesellschaftungsprozeß auch die Mädchen erfaßt—jedenfalls die "bürgerlichen" - , und das Problem der weiblichen Identität scheint sich in einer normativ weitgehend horizontlosen Gesellschaft eher noch verschärft zu haben.

6. Bei derlei Überlegungen muß man jedoch bedenken, daß die große Mehrheit der Jugendlichen im untersuchten Zeitraum an den Angeboten und Maßnahmen der Jugendbewegung und Jugendarbeit nicht teilnahm, daß wir also auch nicht ohne weiteres aus den Artikulierungen von Minderheiten auf die Lage der ganzen Generation schließen dürfen. Vielmehr erhebt sich die Frage, ob es nicht ein ganz bestimmter Teil der Jugendlichen war, der die Angebote nutzte. Waren es vielleicht die weniger widerstandsfähigen, die besonders große Anpassungsschwierigkeiten hatten, wie gelegentlich in den Reihen der bürgerlichen Jugendbewegung selbst vermutet wurde? Für die bürgerliche Jugendbewegung scheint dies zuzutreffen; allerdings darf das nicht falsch gewertet werden. "Anpassungsschwierigkeiten" kann sowohl der haben, der überfordert ist, wie auch derjenige, der mit einer besonderen Sensibilität ausgestattet ist. Das könnte nur im Einzelfall beurteilt werden.

Wichtiger scheint mir aber zu sein, daß Jugendbewegung und Jugendarbeit bis 1933 überwiegend eine Sache der

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bürgerlich-kleinbürgerlichen Jugend waren—einerseits der Aufstiegsorientierten wie eher in der sozialdemokratischen Jugendarbeit, andererseits der "Abstiegsbedrohten" wie eher in der bürgerlichen Jugendbewegung. Demnach wäre unser Thema ein Teil der Sozial- und Sozialisationsgeschichte der deutschen Mittelschichten, die unter anderem gekennzeichnet sind durch eine relativ große ideologische, ökonomische und politische Verunsicherung. Auch die gegenwärtige Protestszene scheint durchaus in dieser Tradition zu liegen. Aus der Sicht der Jugendlichen wird die Statusunsicherheit der Mittelschichten erfahren als je individueller "Erfolgszwang", weil "Scheitern" (in der Schule, im Beruf) Statusverlust bzw. Statusminderung zur Folge hat. Wir hatten am Beispiel der Bündischen gesehen, daß diese Statusunsicherheit durch elitäre Ideologien kompensiert wurde. Zumindest ideologisch beseitigte der Nationalsozialismus diese Unsicherheit, indem er diesen Schichten wie allen anderen ihren "Stand" im Volke zuwies. Nach 1945 haben die Mittelschichten nicht wieder ein vergleichbares Selbstbewußtsein erhalten, und gegenwärtig—nach der Erschütterung der Leistungs- und Karriere-Ideologie — bieten sie das Bild einer geschichts- und traditionslosen Masse von Individuen, die für den Arbeitsmarkt zur Disposition stehen, und die für ihre Statusangst keine öffentlich anerkannten Kompensationsmöglichkeiten mehr haben —eine Tatsache, die für die gegenwärtige Protestszene nicht ohne Bedeutung sein kann.

7. Die Geschichte der Jugendbewegung und Jugendarbeit spiegelt also Prozesse wider, die teils einander ergänzen, teils aber auch im Widerspruch zueinander stehen: Der gesellschaftliche Freiraum, der Jugendlichen eingeräumt wird, ist Ergebnis sozialer Veränderungen, die einen Spielraum individueller Entscheidungen und Handlungsperspektiven notwendig machen; hier muß in einer neuen Weise Identität in Balance zwischen Integration und Emanzipation gewonnen werden. Der "Freiraum" ermöglicht zugleich aber einen Prozeß der Vergesellschaftung des Jugendalters, dessen Tendenz die Aufhebung des Jugendalters als besonderer Lebensphase zu sein scheint, die zumindest aber gleichgültig wirkt gegenüber jener Identitätsproblematik. In diesem Prozeß geht zudem die positive gesellschaftliche De-

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finition des Jugendalters als Garant der besseren Zukunft aller verloren, damit aber auch die wichtigste Legitimation für das offizielle Engagement in Sachen Jugendarbeit und Jugendpflege. Entsprechende Maßnahmen werden immer mehr in die—den Geist der Jugendpflege von Anfang an prägende—"bewahrende" bzw. "fürsorgerische" Funktion gedrängt. Diese Tendenzen gelten im Prinzip für alle Jugendlichen, aber sie werden für Teile der mittelständischen Jugendligen offensichtlich besonders prekär. Aus ihren Reihen stammten überwiegend die Mitglieder der bürgerlichen Jugendbewegung vor 1933, und nach 1933 rückten sie verstärkt in die Führungspositionen der HJ ein. Soweit erkennbar bestimmen sie auf die gegenwärtige Protestszene in erheblichem Maße mit.

8. Mit den nun schon mehrmals erfolgten Hinweisen auf die gegenwärtige Situation haben wir allerdings einen großen zeitlichen Sprung gemacht. Dazwischen liegt der Neuanfang nach 1945. In der SBZ bzw. DDR wurde die von der HJ etablierte Monopolstellung eines Staatsjugendverbandes in Gestalt der "Freien Deutschen Jugend" (FDJ) beibehalten, wobei man Formen und Inhalte der Arbeit weitgehend aus den Traditionen der nationalen wie internationalen Arbeiterjugendbewegung bezog. Die Entwicklung in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland habe ich in dem Buch "Die Jugendarbeit" (München: Juventa Verlag) beschrieben. Hier etablierten sich wieder die ideellen und organisatorischen Grundstrukturen der Jugendarbeit, wie sie charakteristisch für die Weimarer Zeit waren. Neu war unter anderem die schon früh einsetzende, durch die staatliche Förderung nun ermöglichte Professionalisierung der Jugendarbeit, die erhebliche Veränderungen zur Folge hat und zweifellos ein wichtiger Schritt ist auf dem Wege der Vergesellschaftung des Jugendalters. Den Anfang damit hatte übrigens Schirach gemacht, der den "Jugendführer" zu einem eigenständigen pädagogischen Beruf mit einer besonderen Ausbildung machen wollte, aber der Krieg ließ dieses Projekt nicht zur Vollendung kommen. Inzwischen bestimmt das berufliche Selbstverständnis—einschließlich der dazu gehörenden gewerkschaftlichen Aspekte—das Gesicht der Jugendarbeit in erheblichem Maße mit.

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