Hermann Giesecke

Pädagogik als Beruf

Grundformen pädagogischen Handelns

Weinheim/München: Juventa-Verlag, 10. Aufl. 2010, 160 S., br. € 12,00

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Krise der pädagogischen Berufe 

1. Was ist "pädagogisches Handeln"? 

2. Der pädagogische Handlungsraum: Situation, Institution, Feld 

3. Die Struktur pädagogischen Handelns . 

4. Grundformen pädagogischen Handelns 
    Unterrichten - Informieren - Beraten - Arrangieren - Animieren 

5. Die professionelle "pädagogische Beziehung" 

6. Konsequenzen für die pädagogischen Berufsgruppen . 

7. Konsequenzen für die pädagogische Hochschulausbildung

Einleitung: Die Krise der pädagogischen Berufe (Auszug)

(Mit freundlicher Genehmigung des Juventa-Verlages)

Alle Berufe, die es gibt, können uns mittelbar oder unmittelbar von Nutzen sein: ein Anwalt vertritt meine Rechte, ein Zahnarzt saniert meine Zähne, ein Kfz-Schlosser repariert mein Auto, ein Maurer und andere Handwerker bauen mir unter Leitung eines Architekten ein Haus.

Wozu aber brauche ich einen Pädagogen? Gut, Lehrer unterrichten meine Kinder, Sozialpädagogen betreuen sie in einem Ferienlager - was mir die Möglichkeit gibt, einen Urlaub ohne Kinder zu verbringen - und wenn ich eine Fremdsprache lernen will, kann ich an einer Volkshochschule einen entsprechenden Kurs belegen. Pädagogen sind offenbar Menschen, von und mit denen man etwas lernen kann. Aber lernen kann ich von jedem Menschen, der von einer bestimmten Sache mehr versteht als ich: von meinem Arzt medizinische Erkenntnisse, von meinem Anwalt Einsichten in ein Rechtsproblem, von meinem Nachbarn Tips für die Gartenarbeit.

Im traditionellen Verständnis ist ein "Pädagoge" - wie es der Wortsinn nahelegt - jemand, der "Kinder", also Unmündige, "führt" beziehungsweise "leitet". Die Eltern gelten als gleichsam naturwüchsige Pädagogen, die professionellen Pädagogen - zum Beispiel Lehrer - verstehen sich als sachkundig im Hinblick auf die Bedürfnisse und Bildungsmöglichkeiten des Kindes. Sie haben das Kindsein wissenschaftlich studiert und kennen zum Beispiel seine Entwicklungsphasen; sie sind gleichsam "Kindfachleute". Von ihnen kann das Kind aber nicht nur etwas lernen, was ihm Spaß macht oder was ihm nützlich ist - das kann es von anderen Menschen auch - vielmehr gehört es herkömmlicherweise zum Selbstverständnis des Pädagogen, daß er im Unterschied zu anderen Menschen, von denen das Kind lernen kann, dessen Persönlichkeit im ganzen im Blick hat. Er hat eine Vorstellung davon, wie das Kind "ist" und wie es einmal werden soll, und deshalb versucht er, den Erziehungs- und Bildungsprozeß des Kindes im ganzen zu steuern. Er will dafür dem Kind eine entsprechende Umwelt schaffen, in der es sich "positiv" entwickeln kann; er bemüht sich, "schlechte" Einflüsse fernzuhalten. Die "positiven" Verhaltensweisen des Kindes werden ermutigt, zum Beispiel durch Lob, die "schlechten" werden getadelt. Die Schule soll - wie gesagt: in der überlieferten Berufsvorstellung - dem Kind einen "Bildungsgang" ermöglichen, wie er etwa in den Richtlinien der Kultusminister zum Ausdruck kommt, der über Jahre hinweg sorgfältig geplant ist. Es geht dabei keineswegs nur darum, daß der Schüler zum Beispiel in die Grundlagen der Naturwissenschaften eingeführt wird oder eine Fremdsprache lernt, also in bestimmten Sachen kundig wird, vielmehr muß dies alles einen zusätzlichen "pädagogischen Sinn" ergeben, eben im Hinblick auf die vorgestellte Gesamtentwicklung des Schülers. Der Schüler soll dabei zum Beispiel "mündig", "selbständig" und "kritisch" werden.

Das war bisher der Kern des professionellen pädagogischen Selbstverständnisses. Nicht, daß man von Lehrern oder Sozialpädagogen etwas lernen kann, sondern daß nur das gelernt beziehungsweise daß es nur so gelernt wird, daß jener "pädagogische Sinn" dabei auch erreicht wird.

Aber eben dieser zentrale Punkt des pädagogischen Selbstverständnis ist fragwürdig, ist brüchig geworden, und deshalb befinden sich gegenwärtig alle pädagogischen Berufe in einer mehr oder weniger bewußten Krise. Ursache dafür ist ein durch den sozio-kulturellen Wandel bedingter Rückgang erzieherischer Einflußmöglichkeiten zugunsten anonymer Sozialisationsprozesse, wie ich es in meinem Buch "Das Ende der Erziehung" (Stuttgart 1985) geschildert habe. Weder Eltern noch Lehrer haben heute die Macht und die Möglichkeit mehr, die Persönlichkeit des Kindes im ganzen zu steuern. Was sie tun, hat immer nur partikulare Bedeutung und Wirkung, erfolgt im Umkreis und angesichts der Konkurrenz der kulturellen Wirkungen der Massenmedien und der Einflüsse der Gleichaltrigen. Unser traditionelles pädagogisches Denken ging aber immer von der Voraussetzung aus, daß es möglich sei, Kindern und Jugendlichen vor allem in Schule und Familie einen kontrollierten Lebensraum anzubieten, sozusagen ein "pädagogisches Milieu", dessen Wirkungen der Pädagoge überblicken und handhaben kann. Das wiederum setzte voraus, daß die "Erziehungsmächte", die das außerfamiliäre und außerschulische Leben der Kinder und Jugendlichen bestimmten - Öffentlichkeit, Kirche, Militär - zumindest im Prinzip gleichsinnig sich zu den pädagogischen Zielen verhielten, daß Kinder und Jugendliche also überall auf die prinzipiell gleichen Forderungen und Erwartungen trafen. Dafür sollten etwa Schulordnungen sorgen, die zum Beispiel auch das Freizeitleben der Schüler reglementierten - es gab sie noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

Aber spätestens nach dem Ersten Weltkrieg begann mit der politischen und kulturellen Liberalisierung des öffentlichen Lebens die Einsinnigkeit der Erziehungsmächte zu zerbrechen, auch die erzieherischen Wirkungen und die Sozialisationseinflüsse wurden nun pluralistisch. Weltanschauliche Auseinandersetzungen und die dadurch bedingte Relativierung der Normen und Werte schlugen auch auf das Leben der Heranwachsenden durch. Seitdem gibt es einen hartnäckigen Kampf der pädagogischen Profession - lange, noch mindestens bis Ende der 50er Jahre unterstützt von der öffentlichen Meinung - gegen die "schädlichen", "erziehungswidrigen" Einflüsse des öffentlichen Lebens, vor allem des Freizeit- und Konsumbereichs und der Massenmedien. Die pädagogische Profession sah sich im Kern ihres Selbstverständnisses - nur sie könne wissen, was gut sei für das Kind - durch die Konkurrenz der "Miterzieher" bedroht. In der Weimarer Zeit wurden die "Jugendschutzgesetze" erfunden, um Kinder und Heranwachsende vor "sittlicher Gefährdung" durch Vergnügungsstätten, Filme und Schrifttum zu bewahren. Es handelte sich also im wesentlichen um "Freizeitschutzgesetze". Um die Einsinnigkeit des pädagogischen Umfeldes zu retten, wurde in der Weimarer Zeit erbittert um Konfessionsschulen gekämpft, mit der Begründung, daß Kinder und Jugendliche eine normative Eindeutigkeit brauchten, sozusagen ein "geschlossenes Weltbild", damit der junge Mensch Identität finden kann, um danach der Auseinandersetzung mit anderen weltanschaulichen Auffassungen gewachsen zu sein.

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Als Fazit dieses historischen Prozesses läßt sich feststellen, daß es in einem hochentwickelten Land wie dem unsrigen kein pädagogisches Umfeld mehr geben kann, in dem einsinniges pädagogisches Handeln im Blick auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes noch möglich wäre, aber das pädagogische Selbstverständnis geht nach wie vor davon aus. In diesem Widerspruch ist seine Verunsicherung begründet, und er ist die Ursache für mancherlei Kompensationen, zum Beispiel für das der pädagogischen Profession so eigentümliche politische und moralische Weltverbesserertum oder für tiefe Ressentiments gegenüber den Massenmedien, die die doch so gut gemeinte und wissenschaftlich und moralisch fundierte Erziehungsabsicht verhindern.

Diese heute zu beobachtende kulturkritische Empfindsamkeit ist insofern verständlich, als mit diesem Prozeß eine schleichende Abwertung der "pädagogischen Autonomie" einhergeht. Diese in den 20er Jahren von der sogenannten "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" formulierte Leitvorstellung besagte, daß gerade die normative Pluralität sowie die Pluralität der unterschiedlichen, auf das Kind wirkenden gesellschaftlichen Interessen eine Filterung durch den Pädagogen erforderlich macht, um für das Kind "bildend" wirken zu können. Die "relative Autonomie" des Pädagogen beruhte darauf, daß er gleichsam als Vermittler zwischen diesen Ansprüchen und dem Bildungsprozeß des Kindes fungierte und insofern ein gewisses Maß an eigenverantwortlichem Handlungsspielraum brauchte, also ein entsprechendes Maß an Unabhängigkeit von den gesellschaftlichen Interessenten (Staat, Kirche, Wirtschaft usw.).
Gemessen an dem damals herrschenden weltanschaulichen Monismus etwa der Verfechter der Konfessionsschule war dieses Konzept insofern ein Fortschritt, als es dem gesellschaftlichen Pluralismus Rechnung trug und gerade von daher ein neues professionelles Selbstverständnis begründete: den Pädagogen, der die wirkliche Welt in seiner Person so umformt, daß sie einer ideal gedachten Entwicklung des Kindes von Nutzen sein kann.

Dieser Gedanke der relativen pädagogischen Autonomie ist dann nach 1945 - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Erfahrungen im Nationalsozialismus - eigentlich erst zur öffentlichen Anerkennung gelangt. Ob Schule oder Sozialpädagogik - die Träger bzw. die Administration gewährten einen mehr oder weniger großen Handlungsspielraum für die so begründete pädagogische Professionalität.

Dieses durch die geisteswissenschaftliche Pädagogik fundierte Ideal pädagogischer Professionalität zerbrach seit den 60er Jahren. Manches kam dabei zusammen: Das politische Mißtrauen der 68er gegen die als konservativ geltende pädagogische Zunft überhaupt; die durch die "empirische Wende" der Erziehungswissenschaft unterstützte Forderung nach Präzisierung und öffentlicher Diskussion der Erziehungsziele und schließlich die darauf sich stützende Bürokratisierung und Verrechtlichung des pädagogischen Handlungsraumes, die wiederum dem Wunsch der Finanzminister entsprach, die Kosten des expandierenden Bildungswesens in Grenzen zu halten und dafür Legitimationsmarken zu gewinnen. Durch diese mit einander verzahnten und sich jeweils stützenden Entwicklungen ist das erwähnte "Autonomiekonzept" auf Fragmente seines ursprünglichen Umfangs reduziert worden, aber das Selbstverständnis der pädagogischen Berufe - längst im Widerspruch zur Realität stehend - orientiert sich nach wie vor daran. Tatsächlich jedoch muß die Frage nach der pädagogischen Professionalität auf diesem Hintergrund neu gestellt werden.

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In diesem Buch geht es mir also darum, das pädagogische Berufsverständnis neu zu formulieren. Dabei werde ich vor allem folgende Thesen zu begründen versuchen:

1. Zentrale Aufgabe des pädagogischen Handelns ist nicht "Erziehen", sondern "Lernen ermöglichen". Pädagogen sind professionelle "Lernhelfer".

2. Da alle Lebensalter heute lernbedürftig und lernwillig sind, ist pädagogisches Handeln nicht mehr auf das Kindes- und Jugendalter beschränkt, Kindheit und Jugend sind nur ein Sonderfall für die pädagogische Profession.

3. Pädagogisches Handeln hat eine partikulare Perspektive, d.h. es zielt nicht auf die ganze Persönlichkeit des anderen, sondern auf diejenigen Aspekte, die eben durch ein bestimmtes Lernen geändert werden sollen. Die Verantwortung für die Herausbildung der Persönlichkeit - also für die je individuelle "Bildungsgeschichte" - fällt von Kindheit an dem Einzelnen selbst zu. Pädagogen helfen dabei nur durch entsprechende Lernangebote. Pädagogisches Handeln ist also immer nur Intervention in einen unabhängig davon ablaufenden Lebens- bzw. Sozialisationsprozeß.

4. Im Unterschied zum privaten familiären Handeln ist berufliches pädagogisches Handeln öffentliches Handeln und insoweit in gesellschaftliche Institutionen eingebunden. Deren Erwartungen z.B. ökonomischer oder administrativer Art müssen deshalb in das pädagogische Handeln mit übernommen werden. Es gibt also kein "reines", das heißt nur auf Lernhilfe orientiertes pädagogisches Handeln.

5. Die empirisch vorfindbaren pädagogischen Tätigkeiten lassen sich auf 5 Grundformen reduzieren: Unterrichten, Informieren, Beraten, Arrangieren und Animieren. Diese Grundformen werden je nach Berufsart - z.B. Lehrer oder Sozialpädagoge - in unterschiedlichem Maße beansprucht, machen aber gemeinsam die professionelle Kompetenz eines jeden pädagogischen Berufes aus.

6. Pädagogisches Handeln ist eine Form des sozialen Handelns, also auf das Handeln anderer Menschen bezogen und hinsichtlich seines Erfolges von daher maßgeblich abhängig. Deshalb wird die professionelle pädagogische Kompetenz nicht in erster Linie durch Regeln einer "pädagogischen Technologie" fundiert, sondern durch die Qualität der jeweiligen "pädagogischen Beziehung".

7. Diese "pädagogische Beziehung" ist partikular, auf einen bestimmten Zweck ("Lernhilfe") und auf die Dauer dieses Zweckes begrenzt und somit auf ihre ständige Auflösung angelegt.

Um diese Thesen näher zu erläutern geht das erste Kapitel der Frage nach, was pädagogisches Handeln eigentlich ist im Unterschied zu anderen Formen menschlichen Handelns. Das zweite Kapitel lenkt den Blick auf den "Raum", in dem dieses Handeln stattfindet und damit auf diejenigen Faktoren, die es ermöglichen und begrenzen. Das dritte Kapitel wendet sich dann der inneren Struktur des pädagogischen Handelns zu und das vierte Kapitel versucht, die genannten Grundformen pädagogischen Handelns näher zu beschreiben. Daran schließt sich an eine Erörterung der für alle pädagogischen Berufe geltenden "pädagogischen Beziehung", und die letzten Kapitel versuchen schließlich, Konsequenzen für die pädagogischen Berufsgruppen und für die pädagogische Hochschulausbildung zu formulieren.

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Siehe  auch:  Nützt dem Lehrerberuf ein wissenschaftliches Studium?