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Hermann Giesecke

Was ist eine moderne Schule?

Zu: Hans Brügelmann: Pädagogik von gestern - in der Welt heute - für ein Leben morgen? Vom Unterricht als Bekehrung und Belehrung zur Schule als Ort der Begegnung und Bereicherung

In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 21 (2010), Heft 1, S. 31 - 33

(Der folgende Text antwortet auf den o.g. Artikel von Hans Brügelmann: Pädagogik von gestern - in der Welt heute - für ein Leben morgen? Vom Unterricht als Bekehrung und Belehrung zur Schule als Ort der Begegnung und Bereicherung. In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 21 (2010), Heft 1, S 3-14.
Auf die entsprechenden Gliederungsangaben in diesem Artikel beziehen sich die in Doppelklammern gesetzten Ziffern in meinem Text, im Unterschied zu dessen Gliederung, die  durch fortlaufende Zählung  - ebenfalls in Doppelklammern - betont wird.  Der Beitrag von Brügelmann wurde vor Drucklegung anderen Autoren  zur Stellungnahme vorgelegt, 31 von ihnen äußerten sich. Brügelmann antwortete auf die Kritik im selben Heft S. 90-106, H.G.)

© Hermann Giesecke


 


((1)) Der Titel verrät schon die Kernthese: In der Welt von heute herrscht eine (Schul)Pädagogik von gestern, die für das Leben von morgen nicht taugt. Laut Untertitel muss sich die Schule "vom Unterricht als Bekehrung und Belehrung" abwenden und zum "Ort der Begegnung und Bereicherung" werden - als solche "Orte" galten früher eher außerschulische Einrichtungen wie Pfadfinder, Freizeitheime, Sportvereine, Jugendbildungsstätten oder auch Evangelische Akademien. Inzwischen soll sich offenbar alles, was irgendwie als pädagogisch relevant gilt, monopolisiert in Schulen abspielen. Die längst zur Kampagne angewachsene Kritik an der überlieferten Schule zu Gunsten ihrer reformpädagogischen Umdefinition ist keineswegs neu, aber früher wurde die alte, noch nicht 'neu gedachte' Schule eher als politisch reaktionär oder als im Dienste der herrschenden Klassen stehend verurteilt. Heute wird ihr vorgeworfen, sie sei unmodern, den allgemeinen gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen und daraus resultierenden Arbeitsmarktanforderungen von morgen nicht mehr gewachsen. So ist eine ursprünglich politische Kritik zum Sachzwang umetikettiert worden, als der er unter vernünftigen Menschen eigentlich nicht mehr kritisierbar ist. In diesen Zusammenhang gehört auch Brügelmanns Text.

((2)) Seine einseitige historische Kritik verführt ihn dazu,
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die Schulentwicklung insgesamt als einen Verfall zu deuten, so dass daraus für Gegenwart und Zukunft eigentlich nichts Rechtes mehr herauszuholen ist, außer dass sie als abschreckende Folie für den eigenen 'fortschrittlichen' Gegenentwurf dient. Dazu wäre manches anzumerken, vor allem aber entfällt damit die Möglichkeit, Traditionen differenziert zu beurteilen und nach ihrem künftigen Nutzen zu befragen. Das hat problematische Folgen, von denen nur einige hier angedeutet werden können (1).

((3)) Brügelmann stützt sich zwar nicht auf eine ökonomische Begründung, wie sie seit dem Schlagwort 'Globalisierung' modisch geworden ist und woraus vermeintlich unabwendbare wirtschaftliche und kulturelle Folgen abgeleitet werden. Vielmehr verweist der Autor durchaus zu Recht auf die Notwendigkeit konsequenter Individualisierung im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft. Sein Verständnis von Individualität kommt jedoch dem von ihm kritisierten Konzept einer radikalen Ökonomisierung und Vermarktung des öffentlichen Lebens ((44)) sehr entgegen, was in einer Gegenüberstellung mit dem klassischen Bildungsverständnis sofort deutlich wird.

((4)) Hier produziert der sich Bildende selbst seine Individualisierung, indem er sich auf kulturelle Objektivationen einlässt, weil die sich gerade nicht seiner Subjektivität - oder deren 'konstruktivistischen' Phantasien - verdanken. Sie fragen nämlich von sich aus nicht nach seinem aktuellen Geschmack, seiner Befindlichkeit, seiner Gestimmtheit, seinen persönlichen Optionen, nicht nach seiner jeweiligen Lust und Laune. Vielmehr stehen sie in Konfrontation dazu und verlangen eine entsprechende Bearbeitung dieser Differenz. Die "Auseinandersetzung mit konkurrierenden Weltsichten" ((20)) findet demnach im bildenden Unterricht nicht nur als Meinungsaustausch und als unmittelbare zwischenmenschliche "Begegnung" statt, sondern ist ein eher beiläufiges Nebenprodukt der gemeinsamen Bearbeitung einer vom Lehrer - die Schüler können das im voraus selten beurteilen - für bedeutsam gehaltenen kulturellen Manifestation, zum Beispiel eines literarischen Textes, einer historischen Quelle, einer naturwissenschaftlichen Formel, einer Straßenverkehrsordnung, einer Alltagsnorm u.a.m.. Dabei werden die biographisch und milieuspezifisch dimensionierten aktuellen "Weltsichten" der Schüler nicht wie beim Stammtisch unmittelbar ausgetauscht, sondern durch Bindung an die gemeinsame Sache bereits kritisch relativiert und reflektiert. In diesem Verständnis gibt es schon programmatisch "Bildung nicht als bloße Weitergabe des kulturellen Erbes" und die "Auseinandersetzung mit konkurrierenden Weltsichten" ((20)) folgt geradezu zwangsläufig aus der Art und Weise der Bearbeitung von 'Stoffen' des Unterrichts, die "Integrationsfunktion" ((6)) der Schule ist also keineswegs als davon getrennte erzieherische Aufgabe nur hinzugefügt. Bloß spontaner Meinungsaustausch ist selbstverständlich nicht grundsätzlich abzuwerten, aber dabei handelt es sich um eine andere Form der Kommunikation mit anderen Regeln. Pointiert: Für den bildenden Unterricht ist es egal, ob jemand Muslim, Christ oder Agnostiker ist, entscheidend ist eine von allen zu fordernde geistige Mühe und Disziplin - wobei durchaus auch mit kleineren Münzen wie etwa in der Grundschule hantiert werden darf. Auf diesem Hintergrund konnten bis die Nazis kamen und nach deren Entmachtung erneut Katholiken, Protestanten, Juden, Sozialisten und Kommunisten z.B. gemeinsam ein Gymnasium besuchen, obwohl dessen Schüler und Lehrer erheblich "konkurrierende Weltsichten" hatten.

((5)) Brügelmann hofiert dagegen nur die jeweils wahrnehmbare Individualität des einzelnen Schülers, wie es auch in der Konsumwerbung geschieht und überhaupt als ein flexibles Marktverhalten in Form von "Selbstoptimierung" weithin gefeiert wird (2). Die empirisch gegebene Subjektivität wird dabei durch keinen darüber hinausgehenden Anspruch mehr auf Distanz gebracht und reflektiert, wie es durch die Kanonisierung von Lehrstoffen und Fächern oder auch nur durch die fachlich-didaktische Autorität der Lehrenden in der 'alten' Schule vorgesehen war. Wenn man nämlich "dasselbe an unterschiedlichen Inhalten und Aufgaben lernen kann" ((41)), wird das, woran man es lernen soll, gleichgültig. Dann wird jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt fachlich fundierter Unterricht überhaupt überflüssig. Statt dessen werden entsprechende kulturelle Objektivationen instrumentalisiert und in 'didaktischer Bearbeitung' Erziehungs- oder sogar Gesinnungsansprüchen unterworfen, deren Legitimationsgrundlage sich wiederum nur auf die 'realexistierende' Subjektivität des Schülers gründen kann - auf was sonst? Diese neue Schule ist insoweit eine sich im Bildungsjargon präsentierende Erziehungsanstalt, die zwar auf leisen Sohlen und entschlossen antiautoritär auftritt, aber Bildung mittels Erziehung und Gesinnung überspielt und von ihren Schülern allenfalls willkürlich etwas fordern kann, was diese nicht sowieso für wichtig halten.

((6)) In diesen Zusammenhang passt, dass "der Überlegenheitsanspruch der älteren Generation grundsätzlich in Frage gestellt" ((31)) wird. Das kann nur kontrafaktisch gemeint sein, denn tatsächlich reicht dieser Anspruch immerhin noch aus, ganze Generationen des Nachwuchses jahrzehntelang zu versorgen, zu ernähren, zu 'beschulen' und sogar einigermaßen zu erziehen, was ihnen selbst und allein ja wohl kaum möglich wäre. Herkömmlicherweise ist Schule in der Moderne eine öffentliche - nicht familienanaloge - Einrichtung, die die Gesellschaft der Erwachsenen ihrem Nachwuchs offeriert. Dieser soll dadurch einerseits einen Einblick in gesellschaftliche Teilhabechancen erhalten, wie sie unter anderem durch systematisches unterrichtliches Lernen zugänglich sind, andererseits aber auch mit Forderungen konfrontiert werden - etwa während des Aufwachsens und auch danach der Allgemeinheit nicht länger als unvermeidbar einseitig zur Last zu fallen. Bezeichnenderweise ist von Forderungen(3) gar nicht erst die Rede, sie würden in diesem schulpädagogischen Entwurf auch keinen Sinn machen. Was immer die Gesellschaft jedoch als Bringschuld zu verlangen hat, setzt einen "Überlegenheitsanspruch der älteren Generation" voraus, kann nicht ernsthaft der jüngeren ins Belieben gestellt sein. Zwar trifft es zu, dass "die heutigen SchülerInnen ... sich in einer Welt bewähren müssen, deren Anforderungen niemand voraussehen kann" ((42)). Dieses Problem ist allerdings nicht neu, es wurde schon zur Zeit Humboldts wahrgenommen, weshalb er die Allgemeinbildung und deren Verhältnis zur Berufsausbildung 'erfand' und propagierte. Eine bessere Lösung, um Erziehung und Bildung für eine
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individuell wie kollektiv unbekannte und ungewisse künftige Verwendungssituation zu organisieren, ist bis heute offensichtlich noch niemandem eingefallen - erst recht nicht denen, die nur noch die Maximierung des 'Humankapitals', also seine unmittelbare und möglichst ungehinderte Verwertbarkeit am Arbeitsmarkt als Kernaufgabe der organisierten Bildung verstehen und damit protzend 'modern' hinter Humboldt zurückfallen. Um die wechselseitige Bringschuld der Generationen zu garantieren, ist der Lehrer immer noch mit Amtsautorität ausgestattet, weil zu seinem Auftrag gehört, Forderungen gegenüber der jungen Generation - und ihren Eltern - zur Geltung zu bringen. Weil das andererseits aus politischer Feigheit heute öffentlich verschwiegen, aber gleichwohl allgemein erwartet wird, ist der Lehrberuf in eine pathologische Krise geraten.
Die Gesellschaft kann nicht ernsthaft 10 Jahre Mindestschulzeit von ihrem Nachwuchs verlangen - und das möglicherweise auch noch ganztags - , ohne in einer Art von Lehrplan oder Kanon zu sagen, worum es dabei warum gehen soll. Wenn man weitgehend ohne inhaltliche Festlegung lediglich auf den Prozesscharakter unter der Flagge eines in diesem Sinne nihilistischen Lernbegriffs(4) setzt und auf eine "Schule als lernende Institution" ((61)) vertraut - 'mal sehen, wie's weitergeht' - gerät man erneut in die Nähe der marktradikalen Weltanschauung. Ihr zufolge gibt nämlich der sich ständig und unkalkulierbar verändernde Markt durch Angebot und Nachfrage vor, welche Ziele jeweils wie lange zu verfolgen vernünftig ist, so dass darüber hinausgehende langfristige Perspektiven und Bindungen nur als hinderlich, weltfremd und unrealistisch erscheinen können. Diese triviale ideologische Entsprechung ist zwar per se schon aus pragmatisch-beruflichen Erwägungen nicht unbedingt verwerflich, sie relativiert aber doch Brügelmanns begeistertes Eintreten für die Subjektivität der Schülersubjekte. Bei ihm findet sich im Unterschied zur klassischen Fassung auch kein Hinweis auf die Schule als Chance zur individuellen Entwicklung - etwa was von der Grundschule bis zum Abitur in all den Jahren eigentlich geschehen soll. Alles mutet eigentümlich gleichzeitig und gegenwärtig an, die Zukunft ist unklar, deshalb kann sie kein stabiler pädagogischer Bezugspunkt sein, auch die Vergangenheit hält keine Verbindlichkeiten parat, bleiben also lediglich unendliche Sequenzen von Gegenwärtigkeit - eine in diesem Sinne zeitlose Schule im Stile einer immerwährenden Grundschule. Jedenfalls ist der euphorische Appell ans "Lernen" ohne einen klaren inhaltlichen Bezug und ohne die Perspektive eines biografischen Wachsens eine Zumutung für die Schüler, und ein Beitrag zur Bildungsemanzipation der Unterschicht ist dieses Schulkonzept schon gar nicht(5). Der Rahmen für die nötigen Vorgaben muss allerdings letzten Endes politisch entschieden werden, auch wenn und weil dafür keine weltanschaulichen oder wissenschaftlichen Gewissheiten (mehr) zur Verfügung stehen.
 

((7)) Eine genauere Analyse verdiente Brügelmanns pädagogisiertes Politikverständnis. Zwar ist "Mitbestimmung" ((34 - 39)) ein Grundbegriff unserer demokratischen Gesellschaft, dennoch muss überlegt werden, wie sie im Rahmen der Aufgabenbestimmung des jeweiligen gesellschaftlichen Ortes, also hier der Schule, näher zu konkretisieren ist. Die Lehrinhalte können ernsthaft nicht davon betroffen sein; denn wenn die Schüler dazu über Wunschäußerungen hinaus fähig wären, bräuchten sie die Schule nicht mehr. Abgesehen davon muss sich Mitbestimmung, zumal formalisierte, für die Schüler und ihre Interessen lohnen, sonst stiehlt sie ihnen nur die Zeit. Mitbestimmung zu gewähren oder sogar zu fordern ist nämlich längst auch zu einem Mittel der Machtausübung und zur Ausschaltung von Kritikern geworden - man muss sie nur ihrer Zeit und Kraft durch sinn- und folgenlose Aktivitäten berauben. Möglicherweise wäre es wichtiger, rückmeldende Kritik durch die Schüler zu institutionalisieren.
 

((8)) Schülersein ist kein Exempel für Staatsbürgersein, Schule keins für den parlamentarischen Staat. Vielmehr ist sie eine Institution sui generis, die es in der Gesellschaft nur dort gibt, wo die spezifischen Aufgaben des planmäßig organisierten Lehrens und Lernens zum Hauptzweck erklärt werden. Wenn sie gut ist, trägt sie die Merkmale einer 'Bildungsgemeinschaft' und folglich eines Kommunikationsstils unter Schülern und Lehrern, der durch angenehme Manieren, gegenseitigen Respekt, wechselseitiges Wohlwollen und den Willen zur Arbeit an gemeinsamen geistig und persönlich lohnenden - und nicht nur erzieherisch gut gemeinten - Aufgaben und Projekten charakterisiert ist. Diesen Stil muss der Lehrer durchsetzen, weil er nicht von selbst aus der kindlichen Seele herauswächst. Werden dort "Werte" wie "Solidarität und Hilfsbereitschaft, Empathie, Zuwendung und Mitleid" ((47, 3.)) tatsächlich gebraucht, bahnt sich möglicherweise bereits Verwahrlosung an.
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Anmerkungen

(1) Zur ausführlichen Kritik muss ich auf andere Arbeiten verweisen: Hermann Giesecke (1996): Wozu ist die Schule da? Stuttgart - Ders.: (2001) Was Lehrer leisten. Porträt eines schwierigen Berufes. Weinheim/München
(2) Zum Zusammenhang von Individualisierung und Marktkonformität: Ulrich Bröckling (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt
(3) Zur pädagogischen Kategorie der Forderung: Hermann Giesecke (2009): Pädagogik - quo vadis? Ein Essay über Bildung im Kapitalismus. Weinheim - München, vor allem S. 17 ff.
(4) Hermann Giesecke (1998): Kritik des Lernnihilismus. Zur Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft". In: Neue Sammlung H. 1/1998, S.85-102, als Volltext unter:
www.hermann-giesecke.de/werke24.htm#187.
(5) Dazu ausführlicher: Hermann Giesecke (2009), S. 85 ff.
 

 
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