Hermann Giesecke

Fünf Thesen: Werteerziehung in der Schule

In: Hamburg macht Schule, H. 6/2004, S. 8-9

© Hermann Giesecke



(Ohne Zwischenüberschriften der Redaktion)

1. Unter den Bedingungen einer pluralistischen Sozialisation speist sich die Werteorientierung von Kindern und Jugendlichen - im Sinne moralischer Leitmotive für ihr Denken und Handeln - aus vielen Quellen, von denen Pädagogen - Eltern und Lehrer - nur wenige wirklich beeinflussen können. Pädagogen können also die Werteorientierung von Kindern und Jugendlichen nicht herstellen, sondern nur ergänzend und korrigierend in sie eingreifen. Was immer in diesem Zusammenhang pädagogisch bewirkt werden soll - es kann sich stets nur um Interventionen in Abläufe handeln, die zu jedem Zeitpunkt des pädagogischen Handelns bereits stattgefunden haben. Deshalb führt es nicht weit, Wunschlisten zu formulieren und daraus Schlussfolgerungen für das pädagogische Handeln abzuleiten. Ein entsprechender Handlungsrahmen steht faktisch an keinem pädagogischen Ort zur Verfügung - auch nicht in der Schule. Diese kann jedoch auf drei Ebenen in den Wertbildungsprozess ihrer Schüler eingreifen, ohne darin eine besondere oder gar neue Aufgabe sehen zu müssen, für die es einer speziellen Ausbildung, eines besonderen Faches oder Lehrplans bedürfte: durch Unterricht, das Geltendmachen der dafür nötigen Verhaltensweisen und durch eine entsprechende Schulkultur.

2. Die Unterrichtsstoffe berühren in jedem Schulfach unausweichlich Werte und Normen, also Fragen des guten und richtigen Lebens. Diese müssen nur aufgegriffen werden, wo sie sich anbieten. Dabei geht es nicht um eine von außen herangetragene Moralisierung der Stoffe, die in der Regel von Schülern innerlich abgewehrt wird, sondern um sachbezogene Reflexion. Das didaktische Strukturmuster dafür ist die Konfrontation. Das heißt: Die bisherige Wertbildung der Schüler - wodurch immer sie erfolgt ist - wird konfrontiert mit solchen Werten und Normen, die im sachorientierten Unterricht - etwa in einem literarischen Text - zum Vorschein kommen. Die Konfrontation schafft die nötige Distanz, um Auseinandersetzungen über Wertfragen führen zu können, deren Ergebnis vielleicht die kritische Revision oder die neu erarbeitete Bestätigung des bisherigen eigenen Standpunktes ist. Der Unterricht trägt also nicht schon dadurch zur Wertbildung bei, dass einfach nur Meinungen ausgetauscht werden - mit dem mehr als wahrscheinlichen Resultat, dass jeder das kund gibt, was er sowieso schon weiß, und insofern keinen Anlass sieht, seine eigenen Wertvorstellungen für sich zur Debatte zu stellen. Vielmehr kommt es darauf an, eine Sache zu bearbeiten, die sich gerade nicht den aktuellen Befindlichkeiten und Gestimmtheiten verdankt, sondern diese zu transzendieren vermag.

3. Damit die Schule ihre Kernaufgabe, nämlich das Unterrichten, erfüllen kann, müssen diejenigen Grundregeln des Verhaltens von Schulleitung und Lehrern geltend gemacht werden, die dafür unentbehrlich sind: eine gewisse Grunddisziplin, gewaltloser und höflicher Umgang miteinander, Toleranz in Verbindung mit Bereitschaft zur argumentativen Auseinandersetzung, prinzipielle Bereitschaft zur Mitwirkung an der ge-

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meinsamen Aufgabe. Sonst kann Unterricht nicht gelingen. Hier kommen also Normen ins Spiel, die von der Schule als Institution ausgehen. Die Begründung für die daraus resultierenden Forderungen ist primär nicht pädagogischer, sondern politischer Art. In Gestalt der Schule als Institution bietet die Gesellschaft der nachwachsenden Generation einerseits eine Ausbildung für die optimale Teilhabe an ihren beruflichen, kulturellen und politischen Handlungsmöglichkeiten an; ohne schulische Bildung bleibt in modernen Gesellschaften der Mensch auf eine randständige Existenz beschränkt. Andererseits braucht die Gesellschaft die in der Schule erworbenen Fähigkeiten für ihre wirtschaftliche, kulturelle und politische Reproduktion und Weiterentwicklung. Beide Seiten können nur zusammen gesehen werden, den enormen Investitionen für das Bildungswesen muss eine angemessene Bereitschaft zur Leistung und Anstrengung seitens der Schüler - und ihrer Eltern - entsprechen. Unsere Gesellschaft hat z.B. ein Recht darauf, sich kein soziales Dynamit heranzuziehen, das aus - vermeidbarer - massenhafter schlechter Schulbildung resultiert. Die Bereitschaft des Schülers, seine Fähigkeiten in der Schule optimal zu entfalten, ist auch so etwas wie eine Bürgerpflicht; weigert er sich, werden andere in Zukunft für ihn aufkommen müssen - aber warum sollten die sich darauf einlassen?

4. In der jüngsten Vergangenheit war es jedoch eher verpönt, Normen überhaupt als pädagogisch bedeutsam anzuerkennen. Die Schüler sollten vielmehr in innerer Freiheit und aus eigener Einsicht zu den erwünschten Wertbildungen finden, ohne durch den Druck von Normen dazu genötigt zu werden. Diese Tendenz verdankt sich unter anderem einer übertriebenen Psychologisierung, die die sozialen Implikationen und Determinanten des Problems weitgehend außer Acht lässt. Tatsächlich jedoch ist der Aufbau einer inneren Wertstruktur nicht möglich ohne die ständige Auseinandersetzung mit denjenigen Normen, die im Rahmen der jeweiligen sozialen Formationen - und eben auch in der Schule - die individuellen Bestrebungen immer wieder begrenzen und zu entsprechenden Konflikten führen, die gelöst oder zumindest ausbalanciert werden müssen. Sieht man diesen Zusammenhang nicht, werden Erwartungen an die Selbstverantwortung der Schüler unrealistisch und illusionär. Weder individuell vertretene Werte noch kollektiv geforderte Normen werden stets neu aus der Innerlichkeit heraus erfunden, sie sind vielmehr im sozialen und gesellschaftlichen Leben immer schon da.

5. Die von der Schule als Institution ausgehenden Normen und Regeln stehen einerseits nicht zur Disposition der Beteiligten, können andererseits aber auch die Vielfalt der Beziehungen in der Schule nicht im Einzelnen regeln. Hier öffnet sich ein breiter Raum für Verhandlungen und Vereinbarungen im Rahmen einer alle Aufgaben verbindenden Schulkultur. Deshalb haben viele Schulen inzwischen Schulordnungen verabschiedet, in denen Alltagsfragen in autonomer Verantwortung geregelt sind. Zu diesem Zweck können auch interne Institutionen ins Leben gerufen werden, die etwa der Konfliktschlichtung dienen. Solche Ämter erlauben - wie bei anderen Institutionen auch - in eine förmliche und damit auch emotionale Distanz zu den Beteiligten zu treten, insofern Sache und Person zu trennen und auf diese Weise nach angemessenen Lösungen zu suchen. Im Allgemeinen geht es um die gemeinsame Gestaltung des sozialen Miteinanders, um Stil und Ton des täglichen Umgangs, um Möglichkeiten der formellen und informellen Mitbestimmung der Schüler, um ästhetische Gestaltung der Räumlichkeiten wie der menschlichen Beziehungen, aber auch um das, was man im engeren Sinne "Schulleben" nennt, also z.B. künstlerische Aufführungen, Feste und Feiern. In einem aus all dem resultierenden, im Idealfall wohlwollenden und wohltuenden, aber auch Geborgenheit und Orientierung stiftenden "Klima" sind grundlegende Werterfahrungen möglich, die weit über das Leben in der Schule hinausreichen können.

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