Hermann Giesecke
In:
Neue Sammlung H. 2/2004, S. 151-165
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Hermann Giesecke
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Je besser die
Erziehungswissenschaft
sich als
moderne Wissenschaft entfaltet, um so entbehrlicher scheint sie als
Berufswissenschaft zu werden. Ihre Bedeutung für das Handeln der in der
pädagogischen Praxis Tätigen und für die Ausbildung derjenigen, die
dort künftig wirken werden, ist umstrittener denn je. Längst ist von
"zwei Kulturen" die Rede, die immer mehr auseinander driften und sich
immer weniger zu sagen haben. Die Folgen dieser Entwicklung für beide
Seiten sind noch nicht abzusehen, denn immerhin verdankt die
Erziehungswissenschaft ihre Expansion in den letzten Jahrzehnten der
Annahme, sie sei für die Ausbildung und Weiterbildung pädagogischer
Berufe von zentraler Bedeutung und deshalb dafür unentbehrlich. Sollte
diese Begründung künftig nicht mehr plausibel sein, dürfte das
angesichts rigider Sparmaßnahmen an den Universitäten Rückwirkungen auf
den materiellen und personellen Bestand der Erziehungswissenschaft
haben. Die folgenden Überlegungen machen den Widerspruch zwischen den
beiden Kulturen jedoch nicht aus der Perspektive der
Erziehungswissenschaft, sondern des schulpädagogischen Handelns und der
Ausbildung der Lehrer zum Thema. Dabei geraten vor allem zwei Aspekte
in die Kritik: die Überschätzung der empirischen Forschung einerseits
und das Entschwinden einer handlungsorientierenden Allgemeinen
Pädagogik andererseits. Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von
der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen
der Erziehungswissenschaft? Diese Frage spielt weder in der
öffentlichen Diskussion über die PISA-Studien eine Rolle, noch scheint
sie innerhalb der Erziehungswissenschaft besonderes Interesse zu
finden. Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern
eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten. Aber wozu können sie
brauchen, was ihnen vorgesetzt, angeboten oder gar aufgedrängt wird?
Den Abschluss bilden im Anschluss an die Kritik Überlegungen darüber,
wie ein produktiver Transfer gestaltet sein könnte, wenn Lehrer für
ihre unmittelbare Berufstätigkeit aus "ihrer" Wissenschaft künftig noch
Nutzen ziehen sollen.
Überschätzung der empirischen Forschung
Zur
Zeit steht die empirische
Bildungsforschung in hohem Ansehen, was in erster Linie der
öffentlichen Debatte über die PISA-Studien zu verdanken ist. Mit deren
Ergebnissen und mit denen weiterer Forschungen dieser Art sind jedoch
Erwartungen verbunden, die aller Voraussicht nach enttäuscht werden
müssen. Man erhofft sich davon unter anderem eine verbesserte
"praxisnahe" Ausbildung und eine didaktisch effektivere Gestaltung des
Unterrichts - in der Annahme, das dafür benötigte Fachwissen stünde nun
bereit und müsste nur gutwillig abgerufen werden oder aber durch
gezielte weitere Forschung zu beschaffen sein. Ist diese Annahme
realistisch? 151
Zunächst ist
daran zu erinnern, dass
Erziehung und
Bildung als eine spezifische gesellschaftliche Praxis anzusehen sind,
die sich der "Entwicklungstatsache" (Bernfeld) verdankt, nicht
wissenschaftlichen Konstruktionen oder Ableitungen. Jede menschliche
Gesellschaft, auch die unsere, ist darauf angewiesen, in irgendeiner
Weise ihren Nachwuchs in die bestehenden sozialen Formationen zu
integrieren, weil der Mensch bei seiner Geburt diese Fähigkeit von sich
aus nicht bereits entwickelt hat. Das ist ein naturbedingter
Ausgangspunkt, der nicht hintergangen, sondern nur unterschiedlich
gestaltet werden kann. Insofern beruht alle öffentliche Erziehung und
Bildung primär auf politischen Entscheidungen, für die
wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Planung, Vorbereitung und
Durchführung allerdings hilfreich sein können. Ist die notwendige
Integration im biographischen Prozess erreicht, ist der
Entwicklungstatsache Rechnung getragen und deren Begründung für die
Veranstaltung von Erziehung und Bildung beendet. Was wir heute darüber
hinaus unter "lebenslangem Lernen" verstehen - also etwa der ganze
Bereich der Erwachsenenbildung - bedarf einer davon unterschiedenen
Begründung, ist gleichsam eine kulturell bedingte Zutat, wie notwendig
sie auch sein mag. Obwohl in die
gegenwärtige Praxis
von Erziehung und
Bildung - also in das, was in Schulen und anderen pädagogischen
Einrichtungen tatsächlich geschieht - zahlreiche wissenschaftliche
Elemente aus verschiedenen Disziplinen eingedrungen sind, kann sie im
ganzen nicht als bloße Anwendung wissenschaftlicher Forschungen
betrachtet werden. Die Praxis hat ihre eigene Logik, weil sie durch
Handeln konstituiert wird und jedes soziale Handeln Freiheitsspielräume
für alle Beteiligten eröffnet, die keine wissenschaftliche Logik
gänzlich zu antizipieren vermag. Das gilt auch für das institutionelle
Bedingungsgefüge, in dessen Rahmen sich das jeweils aktuelle Handeln
entfaltet. Deshalb sind folgerichtig alle Versuche unbefriedigend
geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine
gewünschte Richtung zu steuern. Weder konnten auf diese Weise das
politische Ziel der Chancengleichheit noch das pädagogische Ziel der
optimalen Förderung eines jeden Kindes erreicht werden. Gemessen am
komplexen und hochentwickelten wissenschaftlichen Umfeld ist das
pädagogische Handeln etwa in Gestalt des Unterrichts in einer
Schulklasse von archaischer Unaufgeklärtheit geblieben. Vornehmer
ausgedrückt: Das Technologiedefizit des pädagogischen Handelns ist
begründbar und beschreibbar, gewiss auch zu begrenzen, aber prinzipiell
nicht aufzuheben. Die Erwartungen der
politischen
Öffentlichkeit - und
teilweise in der Erziehungswissenschaft selbst - sind jedoch andere.
Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen
Bildungsforschungen Handlungsanweisungen für eine wirksamere
bürokratische und pädagogische Praxis und außerdem politische
Entlastung von Zielentscheidungen etwa im Hinblick auf Lehrpläne, deren
öffentlicher Kritik man sich nicht aussetzen will; was als
wissenschaftlich schlüssig gilt, kann in diesem Verständnis politisch
nicht falsch sein. Insbesondere die Veröffentlichung der
PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man
doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt
werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.
152
Dabei wird leicht
übersehen, dass
der Ertrag der
bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische
Praxis sehr gering ist. Das liegt im Kern daran, dass jede Untersuchung
das komplexe Untersuchungsfeld auf überprüfbare Variablen reduzieren
und diese unter dem Gesichtspunkt der vergleichbaren Messbarkeit
definieren muss. Auf diese Weise entsteht eine künstliche und auf den
Forschungszweck hin konstruierte Wirklichkeit, die mit der, die dem
Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat. So hat die
PISA-Studie, um überhaupt unterschiedliche nationale Bildungssysteme
miteinander vergleichen zu können, den Maßstab der "Kompetenz"
definiert und ihn durch anwendungsorientierte Aufgaben präzisiert,
deren Schwierigkeitsgrad sogar in verschiedene Stufen gefasst, um
unterschiedliche Kompetenzniveaus der Befragten
unterscheiden
und quantifizieren zu können. Geprüft wurde also nicht, was vorher
gelernt wurde, wie es etwa bei Klassenarbeiten die Regel ist, sondern,
was das Gelernte wert ist, wenn damit bestimmte Anwendungsaufgaben
gelöst werden sollen. Von der Fähigkeit dazu wird auf die Wirksamkeit
des vorangegangenen Unterrichts zurückgeschlossen.
An der Vorgabe
des so definierten
Maßstabs der
"Kompetenz" hat sich die Kritik in mancherlei Form entzündet: Er könne
nur solche Aufgaben zulassen, die eines geringen Maßes an
Interpretation bedürfen, weil sonst die Antworten bzw. Lösungen nicht
mehr eindeutig zugeordnet werden könnten. - Es sei keineswegs erwiesen,
dass die auf diese Weise propagierte Anwendungsorientierung des Lernens
im späteren Berufsleben von Vorzug sei, wie unterstellt wird. -
Diejenigen Schüler, die im Unterschied zu den deutschen an regelmäßige
Tests gewöhnt seien, hätten eine größere Chance, die für eine solche
Untersuchung typischen Testaufgaben zu lösen; das könne man also
trainieren. Diese grundsätzlichen Einwände setzen jedoch die Einsicht
nicht außer Kraft, dass die durch PISA formulierten "Basiskompetenzen"
wichtige Voraussetzungen für alle darüber hinaus gehenden
Bildungsansprüche enthalten, wie immer diese im Einzelnen formuliert
sein mögen; diese Kompetenzen für möglichst viele Schüler anzustreben
ist demnach dringend geboten. Die für unseren
Zusammenhang
entscheidende und in
der öffentlichen Debatte kaum gestellte Frage schließt jedoch daran an:
Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis
genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten
soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann? Die Frage ist
insofern nicht fair, als sie erklärtermaßen nicht Gegenstand von PISA
war, aber für wen ist der ganze Aufwand dann überhaupt von Nutzen?
PISA sagt nichts
darüber aus, was an
den Schulen
unter dem Stichwort Unterricht tatsächlich geschieht, welche
didaktischen und methodischen Konstrukte in welcher statistischen
Verteilung dabei eine Rolle spielen. Getestet wird vielmehr ein End-
beziehungsweise Zwischenprodukt - im Sinne einer Momentaufnahme - von
erworbenem Wissen und erlernten Fähigkeiten an einem Maßstab, der sich
nicht pädagogischen, sondern sozialwissenschaftlichen Kriterien zum
Zweck der Vergleichbarkeit verdankt. Selbst wenn man den gewählten
Maßstab der Kompetenz - zumindest als einen von mehreren - für
pädagogisch brauchbar hält, erfährt der Lehrer nicht, durch welche
Organisation seines Handelns er ihm gerecht wer-
153
den könnte. Lässt
sich Kompetenz
zuverlässig
didaktisch-methodisch operationalisieren? Offensichtlich ist dieser
Begriff so komplex - vergleichbar der inzwischen weitgehend wieder aus
der Mode gekommen "Schlüsselqualifikation" - dass erhebliche Anteile
davon gar nicht in Schulen, sondern nur im außerschulischen - nicht
zuletzt auch familiären - Umfeld erworben werden können. Was davon ist
dann aber eine unverzichtbare und von ihr auch realisierbare
Teilaufgabe der Schule? "Aus PISA lässt sich die Verbesserung nicht
einer einzigen Unterrichtsstunde unmittelbar ableiten"(1).
Dennoch werden
bildungspolitische
Konsequenzen
gezogen. So gehen inzwischen die Überlegungen zum als Heilmittel
allseits verlangten Kerncurriculum in die Richtung, statt eines
inhaltlich fixierten Lehrplans lediglich eine Liste von Kompetenzen
aufzuführen, für deren Realisierung die Lehrer bzw. die Kollegien freie
Hand haben, aber auch verantwortlich gemacht werden sollen. Das klingt
gut, scheint den Lehrern neue didaktische und methodische Autonomie zu
gewähren, blendet aber die Randbedingungen aus, die sein Handeln
erschweren oder gar verhindern und wofür die staatliche Administration
einen guten Teil der Verantwortung trägt: das Desinteresse vieler
Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb
fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als
Resultat der Demontage der Schule als staatlicher Institution gedeutet
wird; die Verrechtlichung des Lehrerhandelns, die sanktionierende
Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim
erstickt(2) - von bürokratischer
Gängelung und
materieller
Unterausstattung ganz zu schweigen. Wie schon früher bei den
Lernzielkatalogen ist eine praktisch weitgehend belanglose Addition von
gut klingenden und deshalb leicht konsensfähigen Unter-Kompetenzen und
Unter-Unter-Kompetenzen zu erwarten, deren Abstraktheit dem Unterricht
wenig nützt, aber den Tatendrang der Bildungspolitiker und ihrer
Gremien für das Wahlvolk dokumentiert. Während sich der Eindruck
aufdrängt, dass die Bildungsforschung sich von der pädagogischen Praxis
um so mehr entfernt, je besser sie als sozialwissenschaftliches Produkt
wird, sind die kurzschlüssigen Konsequenzenzieher nicht zu bremsen,
obwohl die Autoren von PISA immer wieder vor voreiligen praktischen
Schlussfolgerungen gewarnt haben. Unbefriedigende Resultate des
Bildungsbetriebs nachzuweisen ist die eine Sache, eine ganz andere die
Rekonstruktion der Ursachen dafür und die Entwicklung von Strategien
zur Verbesserung der als misslich gedeuteten Lage.
Die Zuordnung von
Ursachen und
Wirkungen ist nämlich
das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so
signifikant sein, deuten nicht unbedingt auch auf Kausalitäten hin. Das
gilt schon für die relativ abstrakte statis-
154
tische Ebene und
erst recht für die
durch diese
Statistik nicht mehr gedeckte einzelne pädagogische Handlungssituation.
Welche pädagogische Handlung bewirkt was warum mit welcher
Prognosequalität? Das kann die empirische Lehr-Lern-Forschung - um auf
ein anderes Feld der Empirie zu wechseln - bis heute nicht annähernd
angeben. Keineswegs gibt es hier bereits ein hinreichendes Wissen, das
nur seiner Anwendung harrt - wie die veröffentlichte Meinung glauben
machen will. Frank-Olaf Radtke spricht in diesem Zusammenhang kritisch
von einem "Kausalitätsmythos"(3)
und zitiert als
Beleg unter anderem
eine Zusammenfassung der Lernforschung von Franz E. Weinert:
"Es gibt fast
nichts, was man ...
nicht mit dem
Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in
Verbindung gebracht hätte. Die Folge davon war und ist eine
Inflationierung der in pädagogisch-psychologischen Untersuchungen
berücksichtigten potentiellen Einflußvariablen mit dem ebenso
verallgemeinerbaren wie enttäuschenden Resultat, daß sich keine
substantiellen, stabilen und generell gültigen Zusammenhänge zwischen
isolierten Unterrichtsmerkmalen und den verschiedensten
Erfolgskriterien des Unterrichts finden lassen. Dieser Eindruck
verändert sich auch nicht, wenn statt einzelner Untersuchungen mit
Hilfe statistischer Meta-Analysen die Befunde aus vielen einschlägigen
Studien simultan berücksichtigt werden. Eine Zusammenstellung der dabei
erzielten Resultate, die sich auf 7.827 einzelne Studien und auf nicht
weniger als 22.155 korrelative Beziehungen stützt ... , könnte zu der
zynischen Schlußfolgerung verleiten, daß fast jede der berücksichtigten
Variablen in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig
ist"(4).
Alles in allem
ist der Eindruck
nicht von der Hand
zu weisen, dass die Bedeutung der empirischen Forschung für die
schulpädagogische Praxis erheblich überschätzt wird. Schon vor 20
Jahren hat Rainer Dollase nach gründlicher Analyse von
Korrelationskoeffizienten die These vertreten, dass selbst solche von
0.60 – was relativ hoch ist - "für praktische Konsequenzen noch zu
unsicher" seien. "Wenn man sich dieser These anschließen würde, könnte
man 90% der Resultate der empirischen Erziehungswissenschaft als
praktisch belanglos klassifizieren"(5).
Weil die
empirischen Resultate
unter der Maßgabe des pädagogischen Handelns derart unklar bleiben,
können sich alle bildungspolitischen und pädagogischen Positionen auf
PISA berufen, ohne mit sich ins Gericht gehen zu müssen; alle fühlen
sich in dem bestätigt, was sie vorher auch geglaubt haben.
Möglicherweise
wird auf Dauer das
pädagogische
Handeln in den Schulen jedoch in ganz anderer Weise durch die
Empirie-Euphorie tangiert. Ausgehend von den europäischen Institutionen
und damit national übergreifend könnte sich ein
"pädagogisch-industrieller Komplex" - formuliert in Anlehnung an den
von Eisenhower geprägten Begriff vom "militärisch-industriellen
Komplex" - auftun, in dem es um erhebliche Ressourcen und ihre
Verteilung und damit auch um 155
Macht, Einfluss
und öffentliche
Selbstdarstellung
geht(6). Angesichts der
Größenordnung könnte sich ein
institutionelles
Eigenleben entfalten, das mit der Legitimation scheinbarer
internationaler Selbstverständlichkeit ("nur die Deutschen haben es
noch nicht begriffen ... ") Fakten schaffen und eine Politik machen
will, die nicht durch demokratische Institutionen gedeckt ist, sondern
sich statt dessen auf angeblich gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse
beruft - Forschung als politische Waffe. Die pädagogische Praxis in den
Schulen könnte dabei wesensfremden – etwa ökonomisch-administrativen -
Maßstäben unterworfen werden, die die frühere bürokratische Gängelung
weit in den Schatten stellen (7).
Einiges davon deutet
sich bereits an: - Die von der OECD
angestrebte
Ökonomisierung des
bildungspolitischen und - als Folge davon - auch des pädagogischen
Denkens mit dem möglichen Ziel der weitgehenden Privatisierung der
Bildungskosten;
- die Wende von der
Input-Orientierung zur
Output-Orientierung, die etwa zu oberflächlichen internationalen
Vergleichen von Abiturienten- und Studentenzahlen führt, ohne die
jeweiligen Ansprüche an das Abitur und dessen Einbettung in den
gesamten Komplex der Berufsausbildung zu berücksichtigen;
- die rein
ökonomisch-administrativ
konzipierte und
sich selbst begründende internationale Standardisierung von allem und
jedem ohne Rücksicht auf inhaltliche Substanz, Differenz und Tradition;
- die mit dem
Begriff der Kompetenz
verbundene
Favorisierung eines pädagogischen Leitmotivs, das mit dem
traditionellen deutschen Bildungsverständnis nur schwer kompatibel ist;
- die schon
erwähnte
Output-Orientierung der
Leistungskontrolle, die das Personal der Schule ohne Rücksicht auf die
Bedingungen zum Erfolg verdammt. Was am pädagogischen
Handeln und
seinen Resultaten
zu messen ist, sollte selbstverständlich auch gemessen werden. Es geht
nicht darum, die Bedeutung der empirischen Bildungsforschung in Frage
zu stellen, sondern ihre Grenzen ins Bewusstsein zu heben. Ihre Stärke
liegt zweifellos darin, für bildungspolitische Entscheidungen und für
Wirkungskontrollen relevantes Datenmaterial zur Verfügung zu stellen.
Wenn es aber so ist, dass diese Forschung immer nur einen für ihre
Zwecke eigens definierten Teil des Handlungskomplexes aufklären kann,
muss es einen darüber hinausgehenden Interpretationshorizont geben, der
nicht aus dem Instrumentarium dieser Forschung selbst erwächst – z.B.
eine Bildungstheorie oder zumindest eine Handlungstheorie. Brauchbar
für die pädagogische Praxis werden die empirischen Ergebnisse also nur
dann, wenn sie in den Horizont des pädagogisch Handelnden übersetzt und
dabei von diesem mit anderen Einsichten und Erfahrungen kombiniert
werden, die in der fraglichen empirischen
156
Untersuchung gar
keine Rolle
gespielt haben. In
diesem Transformationsprozess geht dann aber auch die Definitionshoheit
vom Empiriker auf den Praktiker über. Vereinfacht gesagt: Vom
Standpunkt des pädagogischen Handelns aus können empirisch gewonnene
Forschungsresultate nichts weiter als Hilfsmittel sein, die je nach
pädagogischer Situation erheblich, teilweise oder auch gar nicht von
Nutzen sind. Wenn die Bildungspolitik dieses Transformationsproblem
ignoriert, werden ihre vorgeblich so modernen und angeblich auf
Forschung beruhenden Entscheidungen der Schule nicht nützen, sondern
sie nur wie in den vergangenen Jahrzehnten mit unangemessenen
Erwartungen überschwemmen. Der notorische Eigensinn und die daraus
resultierende Widerständigkeit der schulpädagogischen Praxis, deren
Verlauf und Ende weitgehend offen und unkalkulierbar bleibt, mag
einerseits als Ärgernis gelten, trägt andererseits aber auch der
Freiheit und Würde der Beteiligten Rechnung.
Problematisch
werden empirische
Forschungsergebnisse
also dann, wenn das, was gemessen wird, zur Substanz der Sache selbst
gerät, nur weil es gemessen werden kann, und wenn
das auch noch
zum Ziel der politischen und administrativen Führung der Schule erhoben
wird. Ein Beispiel: Im überlieferten Bildungsbegriff gilt die Art und
Weise der je subjektiven Aneignung als zentral. Der Schüler soll sich
demnach durch einen "bildenden" Unterricht einerseits die Grundlagen
der natürlichen und kulturellen Welt zu eigen machen und
andererseits dabei seine wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen
lassen. Diese subjektive Seite der Bildungsprozesse entzieht sich einer
Messung, bleibt meist auch dem Lehrer und sogar dem Schüler selbst
verborgen. Wird sie aber als pädagogisches Leitmotiv akzeptiert, hat
das Folgen für die Auswahl der Fächer und Stoffe und für die
didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts. Für eine auf
anwendungsorientierte Verwertbarkeit gerichtete Leitidee – wie sie PISA
offensichtlich zu Grunde liegt - ergeben sich dagegen ganz andere
Konsequenzen. Halten
wir also fest: Was in der
Schule wirklich
geschieht und warum es so und nicht anders geschieht, ist trotz aller
bisherigen Bildungsforschung weitgehend unbekannt geblieben. Um mehr zu
erfahren, müsste man wohl in einer repräsentativen Auswahl
Unterrichtsstunden optisch und akustisch aufzeichnen und für die
Auswertung geeignete Maßstäbe finden - ein gewaltiger Aufwand, dessen
Effekt jedoch ungewiss bleibt. Jedenfalls reicht es nicht, dafür nur
Lehrer oder Schüler zu befragen. Das bedeutet nicht, dass es keine
Parameter gäbe, an denen sich erfolgreiches pädagogisches Handeln
orientieren könnte. Die aber erschließen sich der reflektierten
Erfahrung der Praktiker oder teilweise vielleicht auch dem gesunden
Menschenverstand möglicherweise eher als dass sie durch empirische
Untersuchungen bewiesen würden. Weinert/Helmke z.B.
resümieren
"Forschungsergebnisse, nach denen es viele hinreichende, aber kaum
notwendige Bedingungskonstellationen erfolgreichen Lehrens gibt.
Gestützt wird diese Auffassung durch empirische Befunde, die zum
Beispiel dafür sprechen, daß ein vom Lehrer stark kontrollierter
Unterricht je nach der Art dieser Kontrolle sowohl positive als auch
negative Auswirkungen auf die Lernleistungen der Schüler haben kann ...
. Entscheidend für den Effekt ist offenkundig, ob es dem Pädagogen
durch sein Handeln gelingt, die Schüler zu aktivieren, zu eigenen
Denkanstrengungen zu bewegen, sie bei der produktiven Überwindung von
157
Schwierigkeiten
und Fehlern zu
unterstützen, sie
vor Sackgassen und Holzwegen zu bewahren, ihnen beim Aufbau einer
geordneten Wissensbasis behilflich zu sein und ihnen notwendig werdende
remediale Unterstützungen zukommen zu lassen - oder ob die Schüler
unter dem Einfluß eines dominanten Lehrers zu passiven Rezipienten des
Unterrichtsstoffes werden ... (8).
Das alles dürfte
ein Lehrer mit
einiger
Berufserfahrung ohnehin wissen, weiterhelfen würden ihm darüber hinaus
jedoch gesicherte Erkenntnisse darüber, wie im Einzelnen
sein
"stark kontrollierter Unterricht" die beschriebene positive Wirkung
erreichen und die negative vermeiden kann. Aber damit kann die
empirische Forschung (bisher?) offensichtlich nicht dienen. Hans N.
Weiler hat unter Hinweis auf amerikanische Erfahrungen der deutschen
Erziehungswissenschaft einen Mangel an kontinuierlicher empirischer
Begleitung der notwendigen Reformen in Schule und Hochschule
vorgeworfen (9). Das mag zutreffen,
insofern wenig
qualitativ
überzeugende Projekte von der Disziplin selbst ausgehen, wozu das für
PISA zuständige Max-Planck-Institut in Berlin ja institutionell nicht
zu rechnen ist; andererseits sollten an eine Intensivierung
entsprechender Forschungen nach den bisherigen Resultaten keine allzu
großen Hoffnungen geknüpft werden.
"Pädagogiken" als Erben der Allgemeinen
Pädagogik Den eben erwähnten
Transformationsprozess
vom empirischen Resultat (und überhaupt von der wissenschaftlichen
Systematik) zur praktischen Verwertbarkeit zu leisten bzw. vorzudenken
ist traditionell die Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik. Diesen
Zwischenhandel im Sinne einer wechselseitigen Erschließung von Theorie
und Praxis - keineswegs einer einseitigen Präskription - hatte die
geisteswissenschaftliche Pädagogik zum Kern ihrer Aufgabe erklärt, und
genau das hatte sie zur Berufswissenschaft für pädagogische Berufe
werden lassen. Dieses Selbstverständnis ist jedoch vor allem aus zwei
Gründen immer mehr in Frage gestellt worden: aus wissenschaftsinternen
Gründen einerseits und aus solchen der ideologisch bedingten Separation
andererseits. Die
traditionelle Allgemeine
Pädagogik ist mehr und
mehr überlagert worden durch das Selbstverständnis einer Systematischen
Erziehungswissenschaft, die ihrer internen Wissenschaftslogik folgt.
Das aus dieser Entwicklung resultierende Problem beschreibt Ewald
Terhart so: 158
"Erziehungswissenschaft folgt immer
mehr ihren
eigenen, innerwissenschaftlich-systematischen Regulativen bei der
Beschäftigung mit Theorie- und Forschungsproblemen, diese Regulative
können aber eben nicht die der pädagogischen Berufspraxis sein, die dem
Motiv der Bewältigung und Gestaltung von Handlungsproblemen folgt,
folgen muss und folgen soll. Nicht nur, dass es schon jetzt schwierig
wird, eine volle Kompetenz in beiden Bereichen entwickeln zu wollen:
Wenn die zurzeit viel diskutierte These von der allmählichen
'Normalisierung' der Erziehungswissenschaft als Disziplin zutrifft, so
wird die Kluft zwischen den 'zwei Kulturen' von Theorie und Praxis noch
weitaus größer werden. Damit geraten nicht nur fundamentale Axiome der
traditionellen Pädagogik als Wissenschaft ins Wanken, sondern auch
eingespielte Formeln und Vorstellungen über die berufsvorbereitende
Rolle einer Beschäftigung mit erziehungswissenschaftlichen Themen"(10).
Auch unter diesem
Aspekt - also ganz
unabhängig von
den eben skizzierte Problemen der empirischen Bildungsforschung -
scheint sich unsere Eingangsthese zu bewahrheiten, dass die
Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft um so entbehrlicher wird,
je mehr sie sich als Disziplin "normalisiert." Warum sollen sich
angehende Lehrer in ihrem Studium mit Problemen befassen, die nicht die
Aporien ihrer künftigen Berufspraxis zum Ausdruck bringen, sondern sich
lediglich begrifflichen Suchbewegungen einer selbstreferenziellen
Erziehungswissenschaft verdanken? Für Studenten gedachte Lehrbücher aus
diesem Hintergrund tragen oft die Stichworte "Grundwissen" oder
"Grundbegriffe" im Titel, präsentieren begriffslogische Feinheiten
sowie Argumentationsfiguren unterschiedlicher "Positionen" innerhalb
der Disziplin, die dann in Prüfungen präsent sein müssen. Zweifellos
schult das die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken und
Argumentieren, aber vielleicht wäre dafür ein Studium der Philosophie
ja noch besser geeignet. Terhart sieht in
dieser Lage die
Gefahr, "dass
Erziehungswissenschaft und
Lehrerausbildung in
Zukunft 'getrennte Welten' sein" könnten. "Wenn es ... nicht gelingen
sollte, innerhalb der Erziehungswissenschaft eine Differenzierung von
Aufgabenstellungen, Rollen, Veröffentlichungsformen etc. zu finden, in
der auch die Vermittlung ausbildungsrelevanter Kenntnisse ihren ebenso
wohl begründeten wie selbstverständlichen Platz hat, wenn also die
Disziplin keine 'klinische' Komponente entwickelt, so könnte sie sich
eines Tages tatsächlich vor die Entscheidung gestellt sehen, ob sie nun
'normale' Disziplin oder Betreuungswissenschaft für pädagogische Berufe
sein will. Wie immer dann die Entscheidung fallen wird: Die Folgen
wären gravierend, und zwar sowohl für die Erziehungswissenschaft wie
für die pädagogischen Berufe. Deshalb an dieser Stelle das Plädoyer für
die Ausarbeitung einer 'klinischen' Komponente in der Disziplin."(11)
Inzwischen werden
die Widersprüche
zwischen den
Eigeninteressen der sich entwickelnden Erziehungswissenschaft und ihrer
Vertreter einerseits und den Ausbildungsansprüchen etwa in der
Lehrerausbildung andererseits immer größer.(12)
Der
Staat will
tendenziell die Lehrerausbildung straffen, berufsbezogen organisie-
159
ren und in
inhaltlich festgelegte
Module aufteilen,
die insbesondere die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die
Schulpraxis zum Thema haben sollen. Das hätte zur Folge, dass die
Erziehungswissenschaftler einen mehr oder weniger großen Teil ihrer
Lehr- und Prüfungstätigkeit statt für einen grundständigen Studiengang
(z.B. Diplom; Magister) lediglich im Rahmen eines zumal bei
Gymnasiallehrerstudenten eher unbeliebten Begleitstudiums, zudem in
thematisch begrenzten und sich wiederholenden Kursen ableisten müssten.
Nicht wenige wollen sich davon am liebsten ganz zurückziehen (13). Die
von der Erziehungswissenschaft früher vielfach erhobene Klage über das
Desinteresse der Universitätsfächer an der Lehrerausbildung fällt nun
auf sie selbst zurück; sie lernt am eigenen Leibe zu verstehen, warum
die anderen Disziplinen sich der Forderung nach Selbstpädagogisierung
stets widersetzt haben. Angesichts dieser Entwicklung lässt sich die
bereits gestellte Frage unter neuem Aspekt wiederholen: Was hat ein
Lehrer für seine Berufstätigkeit (noch) davon, wenn er regelmäßig eine
erziehungswissenschaftliche Fachzeitschrift wie die "Zeitschrift für
Pädagogik" liest? Insofern in
Fortführung der
geisteswissenschaftlichen Tradition noch praxisorientierte Theorien
über die Schule formuliert und vertreten werden, haben sie sich in
erheblichem Maße voneinander separiert. Diese Entwicklung beruht
einerseits auf normativen Vorentscheidungen, die mehr oder weniger mit
bestimmten partei- und/oder berufspolitischen Präferenzen verbunden
sind – etwa GEW bzw. SPD hier, Philologenverband bzw. CDU/CSU dort.
Andererseits spielt auch hier wieder der Prozess der inneren
Differenzierung der Erziehungswissenschaft eine Rolle. Der
innerbetriebliche Zwang zur wissenschaftlichen Profilierung von immer
mehr Personal führt in den Universitäten zu immer mehr Publikationen,
aber die dafür benötigte Themenfülle kann die pädagogische Praxis nicht
hergeben, sie muss also anderswo gefunden werden. So werden etwa aus
den Nachbarwissenschaften immer wieder im Stile sich ablösender Moden
theoretische "Ansätze" einschließlich des dazu gehörenden
Begriffsapparates ins Spiel gebracht, die dann eine Zeit lang die
Ausbildung dominieren und etwa über Fortbildungsveranstaltungen den
amtierenden Lehrern ins Bewusstsein implantiert werden sollen. Vom
Standpunkt des schulischen Handelns aus gesehen wird die
Erziehungswissenschaft auf diese Weise vielfach selbst zum Problem,
dessen Lösung sie eigentlich sein will. Für die diagnostische und
planende Qualität des Unterrichts hat sich dies alles als weitgehend
irrelevant erwiesen - außer dass immer wieder neue (pädagogische)
Sprachspiele unter die Leute gebracht wurden. Haben Neurolinguistik,
Systemtheorie, Konstruktivismus - um nur einige Beispiele zu nennen -
für das, was ein Lehrer tut, wirklich einen Erkenntniszuwachs gebracht,
den man nicht auch unter Verzicht auf eine gespreizte Begriffsdogmatik
aus der pädagogischen Tradition oder aus überlieferter Berufserfahrung
hätte entnehmen können? Je bunter jedoch das Spektrum von derart zu
Stande gekomme- 160
nen pädagogischen
Theorien wird, um
so besser stehen
die Universitäten bzw. deren pädagogische Institute da. Auf diese Weise
kann Pädagogisches fast beliebig erfunden werden, solange es nur
logisch als halbwegs konsistent erscheint und sich nicht im praktischen
Vollzug bewähren muss. Diese Vielfalt von Theorien, die meist auf
Grundüberzeugungen basieren, die als solche nicht in Frage gestellt
werden, sind längst auch für die Erziehungswissenschaft selbst zum
Problem geworden, weil und insofern sie nicht anschlussfähig aneinander
sind. Sie kreisen teilweise um sich selbst und sind nur schwer auf
gemeinsame Kriterien oder auf einen gemeinsamen Problemzusammenhang zu
beziehen, präsentieren sich also in diesem Sinne als "Lagertheorien",
die weniger wissenschaftlich als vielmehr sozial fundiert sind; sie
werden für bestimmte Bezugsgruppen verfasst, was nicht zuletzt daran zu
erkennen ist, dass Autoren, die nicht dazu gerechnet werden, entweder
gar nicht oder lediglich als abschreckende Beispiele Erwähnung finden.
Harm Paschen hat
versucht, diese
"Pädagogiken" zu
ordnen und gemeinsamen Kriterien zu unterwerfen(14),
woran sich eine
ausführliche Diskussion entzündet hat, die hier nicht im Einzelnen
referiert werden kann (15). Ob
diese Anstrengung
Aussicht auf Erfolg
hat, ist mehr als zweifelhaft, weil die Pädagogiken keinen
entsprechenden Leidensdruck fühlen. Es handelt sich dabei
offensichtlich eher um ein Marktphänomen, dem
wissenschaftlich-systematische Einwände wenig anzuhaben vermögen. Aus
der Sicht von Schulpraktikern stellt sich also das, was von der
Allgemeinen Pädagogik übrig geblieben ist, entweder als zu "abgehoben"
oder als vorweg parteilich dar. Warum also sollen sie sich damit befassen?
Die eingangs gestellte
Frage, wer
denn noch
(wozu) Erziehungswissenschaft braucht, lässt sich natürlich an jede
Disziplin stellen, aber nicht jede versteht sich wie die
Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft; diese Selbsteinschätzung
ist jedoch fragwürdig geworden. Einerseits wird die beschriebene
Entwicklung der "Normalisierung" der Erziehungswissenschaft nicht
aufzuhalten sein, andererseits muss man dann auch akzeptieren, dass
damit ihre bisherige Aufgabe als zentrale Disziplin für die
pädagogische Aus- und Weiterbildung - auch im Hinblick auf die
Gestaltung der universitären Studiengänge – erheblich zu relativieren
ist. Ist ein pädagogisches Begleitstudium für Lehrer überhaupt noch
sinnvoll und wie müsste es neu begründet und gestaltet werden? Terharts
Vorschlag, eine "klinische" Komponente zu entwickeln, greift – wenn ich
ihn richtig verstehe - im Grunde die alte geisteswissenschaftliche
Position wieder auf, (universitäre) Theorie und (schulpädagogische)
Praxis in einen wechselseitig produktiven Austausch
161
zu verwickeln.
Aber allein die
Tatsache, dass es
einen solchen erziehungswissenschaftlichen Schwerpunkt trotz aller
jahrzehntelangen Anstrengungen, Theorie und Praxis zu "integrieren",
bis heute allenfalls in Ansätzen gibt, sollte skeptisch stimmen. In der
Medizin, woher der Ausdruck "klinisch" ja stammt, ist das gemeinsame
Ziel relativ klar beschrieben: Gesundheit bzw. höchstmögliche
Lebensqualität bei Krankheit. Eine vergleichbar unstrittige
Zielorientierung fehlt der Schulpädagogik. Solange die Politik sich
weigert klarzustellen, was sie mit der Schule eigentlich will, welche
präzisen und überprüfbaren Lernleistungen sie dort erwartet, solange
sie statt dessen mit inhaltsleeren Kategorien wie
Schlüsselqualifikation oder Kompetenz hantiert, solange kann sich auch
keine ernsthafte klinische Komponente in der Erziehungswissenschaft
entwickeln, weil die inhaltlichen Interpretationsspielräume dafür viel
zu groß bleiben. Allein in der Spannbreite zwischen lehrerzentriertem
und schülerzentriertem Unterricht, kombiniert mit unterschiedlich
akzentuierten kognitiven, sozialen und emotionalen Lernzielen, gibt es
so viele Variationen, dass die Wenn-dann-Relationen einer "klinischen"
Strategie – wenn es sie denn gäbe - kaum handlungsorientiert zu bündeln
wären. Nur weil das so ist, können die erwähnten Pädagogiken mit ihrer
Pluralität von Wünschen, Zielen und Strategien zu vielfältiger Blüte
gelangen; sie füllen stellvertretend eine Lücke, die die politische
Zielabstinenz hinterlassen hat. Was bleibt ist
zunächst einmal die
Abkehr von der
Hoffnung, Erziehungswissenschaft sei die Lehre vom pädagogisch
Machbaren, mit ihrer Hilfe und Unterstützung könne man lernen, wie man
erfolgreich Schule macht. Diese Hoffnung ist in allen jahrzehntelangen
Versuchen zu spüren, die frühere Lehrerbildung in
Lehrerausbildung
zu transformieren und als Berufsausbildung an den Universitäten zu
verbessern; nichts davon hat entsprechendes bewirkt (16).
Die
universitäre Erziehungswissenschaft sollte klarstellen, dass sie das
unter wissenschaftlichen Maßstäben nicht kann. Ihr Angebot kann nur
darin bestehen, aus der Fülle ihrer möglichen Themen vorzugsweise
solche anzubieten, die für angehende Lehrer von besonderem Interesse
sind. Darüber hinaus gibt es keine spezielle Erziehungswissenschaft für
künftige Lehrer und keine andere etwa für künftige Sozialpädagogen. Wer
weiterhin ein wissenschaftliches Studium für Pädagogen für
wünschenswert hält, und dafür gibt es gute Gründe(17),
muss auch die
dafür gültigen Regeln akzeptieren. Wer etwas anderes will, kann das
ernsthaft nicht an der Universität erwarten und muss es dann auch nach
anderen Kriterien ("klinisch"; "angewandt") organisieren. Damit wird
die Notwendigkeit einer Verbesserung der universitären Lehre keineswegs
geleugnet, aber die kann nicht dadurch erfolgen, dass einzelne Gruppen
je nach ihren vermeintlichen aktuellen und künftigen Bedürfnissen oder
auch nach der Begrenztheit ihres geistigen Anspruchs ("Wozu brauche ich
das?") sich eine Wissenschaft zurechtstutzen.
162
Die primäre
Aufgabe der
Erziehungswissenschaft ist
im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische
Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion.
Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse
die Mängel des dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu
beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere
Variante zu plädieren, als sei das wissenschaftlich geboten; sie mag
die Grenzen der Reichweite didaktischer Konzepte benennen, sollte aber
nicht bestimmte didaktische Liebhabereien propagieren. Die Differenz
von Kritik und Konstruktion ist viel zu wenig beachtet worden.
Pädagogisch konstruiert werden kann nur dort, wo auch gehandelt wird,
und dann bleibt die Praxis letztlich selbst das wichtigste
Erfolgskriterium - ob es geklappt hat oder nicht.
Es wäre schon
viel gewonnen, wenn
wieder stärker
zwischen den jeweiligen Kompetenzen unterschieden würde. Über
Pädagogisches werden nämlich in der Gesellschaft auf mindestens drei
verschiedenen Ebenen(18) Diskurse
geführt, die sich
auf den jeweils
eigenen Handlungshorizont nach dessen spezifischen Regeln beziehen: auf
der (bildungs)politischen, der (hochschul)wissenschaftlichen und der
praktischen (etwa in der Schule). Auf diesen verschiedenen Ebenen
werden pädagogisch relevante Texte - im wörtlichen wie übertragenen
Sinne - produziert, die in erster Linie dem eigenen sozialen Rahmen
gelten (etwa parteipolitische Forderungen, Arbeiten zum Zweck der
wissenschaftlichen Qualifizierung, Beratungen in einem Kollegium über
das Schulprofil). Diese Diskurse müssen die jeweils anderen Ebenen gar
nicht im Blick haben, um bei sich erfolgreich zu sein. Ein
bildungspolitischer Text – auch aus der Feder von Lehrergewerkschaften
- kann z.B. pädagogisch unsinnig, irrelevant oder undurchführbar sein,
aber gleichwohl dem politischen Gegner schaden oder die eigenen
Anhänger ideologisch wieder mobilisieren. Selbst wenn er die beiden
anderen Ebenen als bloße Legitimation selektiv benutzt, vermag er in
seinem Rahmen durchaus sein Ziel zu erreichen. - Eine
erziehungswissenschaftliche Dissertation über ein schulbezogenes Thema
kann in der Universität als exzellent gelten, ohne für die Schulpraxis
von Nutzen zu sein. Jede Ebene muss also das Wissen der anderen, wenn
sie es nutzen will, erst einmal in ihren eigenen Handlungshorizont und
in die damit verbundene Semantik übersetzen. Dieses
Transformationsproblem verdiente eine genauere Betrachtung, (19) soll
hier jedoch lediglich für die wissenschaftliche und schulpraktische
Ebene angesprochen werden. 163
- Die
Erziehungswissenschaft vermag
auf ihrer
Diskursebene Hilfe für die Praxis nur im Rahmen ihrer Forschungs- und
internen Argumentationslogik anzubieten. Davon war in diesem Beitrag
die Rede.
- Die Diskurse, die auf der Ebene
der
Schulwirklichkeit geführt werden, spielen in der öffentlichen
Wahrnehmung kaum eine Rolle, obwohl sie das, was in den Schulen
geschieht, wesentlich bestimmen. Über die Quellen des
Lehrerbewusstseins und wie darin die anderen Diskursebenen eingehen
wissen wir wenig. Andererseits steckt in jedem Lehrerkollegium ein
erhebliches Potenzial an pädagogischer Erfahrung, das durchaus gehoben
zu werden verdiente. Eine Ahnung davon bekommt man bei der Lektüre von
Texten, die von Lehrern darüber geschrieben werden. Aber die beiden
anderen Diskursebenen (Politik und Wissenschaft) sehen in den
Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was
durch die Output-Orientierung der Bildungsforschung noch verstärkt
wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig
sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die
Arbeit tun; sie könnte ohne unvertretbaren Aufwand über einen längeren
Zeitraum exemplarisch in einzelnen Schulen stattfinden. Daran ist die
Politik als Auftraggeber und Hausherr offensichtlich wenig
interessiert, wohl weil sie dann viele Federn lassen müsste. Die
Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B.
öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, warum es gegenwärtig kaum
möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen
beizubringen. - Die Erziehungswissenschaft würde dann zum Beispiel
erfahren, dass man Unterricht nicht unter Berücksichtigung einer
Vielzahl, sondern nur einer Handvoll von Variablen machen kann, und
dass bei weitem nicht alles, was die Erziehungswissenschaft an
Forschung und Theorien produziert, in der Schulpraxis auch verzehrt
werden kann. Wenn
also die Erziehungswissenschaft
die
Transformation ihres Wissens in die Schulpraxis leisten will, muss sie
sich auf relativ wenige Variablen beschränken, die ursprüngliche
wissenschaftliche Systematik verlassen, deren Komplexität erheblich
reduzieren, eine kontinuierliche und eingeschränkte Terminologie
("einheimische Begriffe") benutzen, Problematisierungen aus dem
pädagogischen Alltag aufnehmen und für alles zusammen eine
Argumentationsstruktur verwenden, die - im Unterschied zu den
Pädagogiken - für einen kritischen wissenschaftlichen Diskurs offen
bleibt. Das ist nicht einfach und gelingt bisher immer nur einzelnen
Autoren. Wird es institutionalisiert in einer eigenen
erziehungswissenschaftlichen Abteilung, drohen nach aller Erfahrung
Profilierungszwänge und Abkehr von den wissenschaftlichen Originalen,
oder aber – wie z.B. bei fachdidaktischen Texten zu beobachten – über
kurz oder lang Tendenzen zur wissenschaftlichen "Normalisierung", so
dass die vorgebliche Lösung sich erneut zum Problem mausert,
gewissermaßen eine Didaktik der Didaktik nötig wird.
Es scheint so,
als sei diese
Transformationsaufgabe
im Rahmen einer sich im Wesentlichen - empirisch oder systematisch -
als Sozialwissenschaft verstehenden Erziehungswissenschaft gar nicht zu
leisten - auch nicht von einer möglichen "kli-
164
nischen"
Variante. Vielleicht sollte
deshalb
(wieder) deutlich zwischen Erziehungswissenschaft einerseits und
(Praktischer) Pädagogik andererseits unterschieden werden. Letztere
müsste phänomenologisch verfahren, das pädagogische Handlungsfeld im
ganzen in den Blick nehmen, empirisches und Erfahrungswissen
gleichrangig behandeln, beides in eine wechselseitige kritische
Beziehung setzen, aber auch akzeptieren, dass sogar im besten Falle ein
Rest an Unaufgeklärtheit bleiben wird, den das pädagogische Handeln
durch Entscheidungen wird auflösen müssen, für deren Erfolg es keine
Gewissheit geben kann, die jedoch - wenn es gut geht - der
nachträglichen Reflexion zugänglich sind.
165
Anmerkungen:
1.
Toni Hansel:
PISA - und die
Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in der Schule - eine
Einführung. In: Toni Hansel (Hrsg.): PISA - und die Folgen? Die Wirkung
von Leistungsvergleichsstudien in der Schule, Herbolzheim 2003, S.
18-29, hier S. 27 2.
Anschauliche
Belege dafür findet
man vor allem in
von Lehrern verfassten Publikationen, z.B.: Walter Hensel:
Erziehungsnotstand. Asendorf 2003; Jochen Korte: Erziehung in der
Schule: Krise oder Kapitulation? Donauwörth 2002
3.
Frank-Olaf
Radtke: Die
Erziehungswissenschaft der
OECD – Aussichten auf die neue Performanz-Kultur. In:
Erziehungswissenschaft H. 27/2003, S. 109-136
4.
Franz E.
Weinert: Psychologische
Orientierungen
in der Pädagogik. In: H. Röhrs/H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in
der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verständigung. Frankfurt
1989, S.210, ,zit. n. Radtke a.a.O., S. 127
5.
Rainer Dollase:
Grenzen der
Erziehung. Düsseldorf 1984, S. 71 6.
Ein wichtiges
Mittel der
politischen
Einflussnahme ist das Verschweigen sowie verspätete oder selektive
Publizieren von Forschungsergebnissen. Vgl. für Nachweise aus der
Bundesrepublik Ulrich Sprenger: Zurückhaltung am falschen Platz! In:
Toni Hansel (Hrsg.):PISA - und die Folgen? Herbolzheim 2003, S. 53-105
7.
Dazu ausführlich
Radtke, a.a.O.
(dort auch weitere Literatur) 8.
Franz E.
Weinert/Andreas Helmke:
Der gute Lehrer:
Person, Funktion oder Fiktion? In: A. Leschinsky (Hrsg.): Die
Institutionalisierung von Lehren und Lernen, Weinheim 1996, S. 225
9.
Hans N. Weiler:
Bildungsforschung
und
Bildungsreform – Von den Defiziten der deutschen
Erziehungswissenschaft. In: Ingrid Gogolin/Rudolf Tippelt (Hrsg.):
Innovation durch Bildung. Beiträge zum 18. Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen 2003, S. 181-203. Zur
Kritik: Hans-Georg Herrlitz: Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik
– zwei getrennte Kulturen? In: DDS H. 1/2004, S. 6-9
10.
Ewald Terhart:
Lehrerbildung -
unangenehmer
Wahrheiten. In: Ders.: Lehrerberuf und Lehrerbildung. Weinheim 2001,
S.165-173, hier S. 170f. 11.
Ewald Terhart:
ebenda 12. Eine
vergleichbare Diskussion
ist auch in der
Sozialpädagogik festzustellen. Vgl. zuletzt: Werner Thole/Michael
Galuske: Sozialpädagogik – "Jahrhundertprojekt" oder "Entsorgungsfall"?
In: Z.f.Päd. H. 6/2003, S. 885-902 13.
Dieter Wunder:
Welche Bedeutung
hat die
Berufsausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für die
Erziehungswissenschaft? Eine besorgte Anfrage. In:
Erziehungswissenschaft H. 11, 2000 (Online-Fassung)
14.
Harm Paschen:
Pädagogiken. Zur
Systematik pädagogischer Differenzen. Weinheim 1997
15.
Harm Paschen:
Zur Systematik
pädagogischer
Differenzen - ein Forschungsprogramm zur pädagogischen Kompetenz. In:
Ethik und Sozialwissenschaften (EuS) 10(1999) H. 1, S. 73-82 - Kritik
und Metakritik im Anschluss an diesen Beitrag ebenda S. 82-169
16.
Vgl. Jürgen
Oelkers: Studium als
Praktikum?
Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung. In: Frank-Olaf Radtke
(Hrsg.): Lehrerbildung an der Universität. Frankfurt 1999, S. 66-81
17.
Ausführlicher
dazu: Hermann
Giesecke: Was heißt:
Wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe? In: Neue
Sammlung, H. 1/2000, S. 83-90 18.
Genau genommen
müsste man als
vierte Ebene noch
die massenmediale hinzurechnen und deren Verhältnis zu den anderen
Ebenen sorgfältig analysieren, was hier jedoch zu weit führen würde.
Sie produziert kein eigenes pädagogisches Wissen, sondern selektiert es
nur für ihre besonderen Zwecke, ist dabei weder wissenschaftlichen
Maßstäben noch solchen der praktischen Realisierbarkeit sondern im
besten Falle den Regeln des sorgfältigen journalistischen
Recherchierens verpflichtet. Gleichwohl ist ihr Einfluss vor allem auf
die Bildungspolitik kaum zu überschätzen.
19.
Vgl. Andreas
von Prondczynsky:
Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft für Lehrerinnen und
Lehrer? In: DDS H.4/2001, S. 395-410 URL dieser Seite: www.hermann-giesecke.de/erzwiss.htm |