Hermann Giesecke

Wer braucht (noch) Erziehungswissenschaft?

In: Neue Sammlung H. 2/2004, S. 151-165

© Hermann Giesecke


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Je besser die Erziehungswissenschaft sich als moderne Wissenschaft entfaltet, um so entbehrlicher scheint sie als Berufswissenschaft zu werden. Ihre Bedeutung für das Handeln der in der pädagogischen Praxis Tätigen und für die Ausbildung derjenigen, die dort künftig wirken werden, ist umstrittener denn je. Längst ist von "zwei Kulturen" die Rede, die immer mehr auseinander driften und sich immer weniger zu sagen haben. Die Folgen dieser Entwicklung für beide Seiten sind noch nicht abzusehen, denn immerhin verdankt die Erziehungswissenschaft ihre Expansion in den letzten Jahrzehnten der Annahme, sie sei für die Ausbildung und Weiterbildung pädagogischer Berufe von zentraler Bedeutung und deshalb dafür unentbehrlich. Sollte diese Begründung künftig nicht mehr plausibel sein, dürfte das angesichts rigider Sparmaßnahmen an den Universitäten Rückwirkungen auf den materiellen und personellen Bestand der Erziehungswissenschaft haben. Die folgenden Überlegungen machen den Widerspruch zwischen den beiden Kulturen jedoch nicht aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft, sondern des schulpädagogischen Handelns und der Ausbildung der Lehrer zum Thema. Dabei geraten vor allem zwei Aspekte in die Kritik: die Überschätzung der empirischen Forschung einerseits und das Entschwinden einer handlungsorientierenden Allgemeinen Pädagogik andererseits. Die Leitfrage lautet: Was hat ein Lehrer von der modernen Bildungsforschung bzw. von den systematischen Ergebnissen der Erziehungswissenschaft? Diese Frage spielt weder in der öffentlichen Diskussion über die PISA-Studien eine Rolle, noch scheint sie innerhalb der Erziehungswissenschaft besonderes Interesse zu finden. Lehrer gelten in diesem Zusammenhang nicht als Akteure, sondern eher als Publikum, Abnehmer und Adressaten. Aber wozu können sie brauchen, was ihnen vorgesetzt, angeboten oder gar aufgedrängt wird? Den Abschluss bilden im Anschluss an die Kritik Überlegungen darüber, wie ein produktiver Transfer gestaltet sein könnte, wenn Lehrer für ihre unmittelbare Berufstätigkeit aus "ihrer" Wissenschaft künftig noch Nutzen ziehen sollen.

Überschätzung der empirischen Forschung

Zur Zeit steht die empirische Bildungsforschung in hohem Ansehen, was in erster Linie der öffentlichen Debatte über die PISA-Studien zu verdanken ist. Mit deren Ergebnissen und mit denen weiterer Forschungen dieser Art sind jedoch Erwartungen verbunden, die aller Voraussicht nach enttäuscht werden müssen. Man erhofft sich davon unter anderem eine verbesserte "praxisnahe" Ausbildung und eine didaktisch effektivere Gestaltung des Unterrichts - in der Annahme, das dafür benötigte Fachwissen stünde nun bereit und müsste nur gutwillig abgerufen werden oder aber durch gezielte weitere Forschung zu beschaffen sein. Ist diese Annahme realistisch?

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Zunächst ist daran zu erinnern, dass Erziehung und Bildung als eine spezifische gesellschaftliche Praxis anzusehen sind, die sich der "Entwicklungstatsache" (Bernfeld) verdankt, nicht wissenschaftlichen Konstruktionen oder Ableitungen. Jede menschliche Gesellschaft, auch die unsere, ist darauf angewiesen, in irgendeiner Weise ihren Nachwuchs in die bestehenden sozialen Formationen zu integrieren, weil der Mensch bei seiner Geburt diese Fähigkeit von sich aus nicht bereits entwickelt hat. Das ist ein naturbedingter Ausgangspunkt, der nicht hintergangen, sondern nur unterschiedlich gestaltet werden kann. Insofern beruht alle öffentliche Erziehung und Bildung primär auf politischen Entscheidungen, für die wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung allerdings hilfreich sein können. Ist die notwendige Integration im biographischen Prozess erreicht, ist der Entwicklungstatsache Rechnung getragen und deren Begründung für die Veranstaltung von Erziehung und Bildung beendet. Was wir heute darüber hinaus unter "lebenslangem Lernen" verstehen - also etwa der ganze Bereich der Erwachsenenbildung - bedarf einer davon unterschiedenen Begründung, ist gleichsam eine kulturell bedingte Zutat, wie notwendig sie auch sein mag.

Obwohl in die gegenwärtige Praxis von Erziehung und Bildung - also in das, was in Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen tatsächlich geschieht - zahlreiche wissenschaftliche Elemente aus verschiedenen Disziplinen eingedrungen sind, kann sie im ganzen nicht als bloße Anwendung wissenschaftlicher Forschungen betrachtet werden. Die Praxis hat ihre eigene Logik, weil sie durch Handeln konstituiert wird und jedes soziale Handeln Freiheitsspielräume für alle Beteiligten eröffnet, die keine wissenschaftliche Logik gänzlich zu antizipieren vermag. Das gilt auch für das institutionelle Bedingungsgefüge, in dessen Rahmen sich das jeweils aktuelle Handeln entfaltet. Deshalb sind folgerichtig alle Versuche unbefriedigend geblieben, das System von Bildung und Erziehung von außen in eine gewünschte Richtung zu steuern. Weder konnten auf diese Weise das politische Ziel der Chancengleichheit noch das pädagogische Ziel der optimalen Förderung eines jeden Kindes erreicht werden. Gemessen am komplexen und hochentwickelten wissenschaftlichen Umfeld ist das pädagogische Handeln etwa in Gestalt des Unterrichts in einer Schulklasse von archaischer Unaufgeklärtheit geblieben. Vornehmer ausgedrückt: Das Technologiedefizit des pädagogischen Handelns ist begründbar und beschreibbar, gewiss auch zu begrenzen, aber prinzipiell nicht aufzuheben.

Die Erwartungen der politischen Öffentlichkeit - und teilweise in der Erziehungswissenschaft selbst - sind jedoch andere. Man erhofft sich insbesondere von den umfangreichen und kostspieligen Bildungsforschungen Handlungsanweisungen für eine wirksamere bürokratische und pädagogische Praxis und außerdem politische Entlastung von Zielentscheidungen etwa im Hinblick auf Lehrpläne, deren öffentlicher Kritik man sich nicht aussetzen will; was als wissenschaftlich schlüssig gilt, kann in diesem Verständnis politisch nicht falsch sein. Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankommt, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.

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Dabei wird leicht übersehen, dass der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis sehr gering ist. Das liegt im Kern daran, dass jede Untersuchung das komplexe Untersuchungsfeld auf überprüfbare Variablen reduzieren und diese unter dem Gesichtspunkt der vergleichbaren Messbarkeit definieren muss. Auf diese Weise entsteht eine künstliche und auf den Forschungszweck hin konstruierte Wirklichkeit, die mit der, die dem Handeln gegeben ist, nicht mehr viel zu tun hat. So hat die PISA-Studie, um überhaupt unterschiedliche nationale Bildungssysteme miteinander vergleichen zu können, den Maßstab der "Kompetenz" definiert und ihn durch anwendungsorientierte Aufgaben präzisiert, deren Schwierigkeitsgrad sogar in verschiedene Stufen gefasst, um unterschiedliche Kompetenzniveaus der Befragten unterscheiden und quantifizieren zu können. Geprüft wurde also nicht, was vorher gelernt wurde, wie es etwa bei Klassenarbeiten die Regel ist, sondern, was das Gelernte wert ist, wenn damit bestimmte Anwendungsaufgaben gelöst werden sollen. Von der Fähigkeit dazu wird auf die Wirksamkeit des vorangegangenen Unterrichts zurückgeschlossen.

An der Vorgabe des so definierten Maßstabs der "Kompetenz" hat sich die Kritik in mancherlei Form entzündet: Er könne nur solche Aufgaben zulassen, die eines geringen Maßes an Interpretation bedürfen, weil sonst die Antworten bzw. Lösungen nicht mehr eindeutig zugeordnet werden könnten. - Es sei keineswegs erwiesen, dass die auf diese Weise propagierte Anwendungsorientierung des Lernens im späteren Berufsleben von Vorzug sei, wie unterstellt wird. - Diejenigen Schüler, die im Unterschied zu den deutschen an regelmäßige Tests gewöhnt seien, hätten eine größere Chance, die für eine solche Untersuchung typischen Testaufgaben zu lösen; das könne man also trainieren. Diese grundsätzlichen Einwände setzen jedoch die Einsicht nicht außer Kraft, dass die durch PISA formulierten "Basiskompetenzen" wichtige Voraussetzungen für alle darüber hinaus gehenden Bildungsansprüche enthalten, wie immer diese im Einzelnen formuliert sein mögen; diese Kompetenzen für möglichst viele Schüler anzustreben ist demnach dringend geboten.

Die für unseren Zusammenhang entscheidende und in der öffentlichen Debatte kaum gestellte Frage schließt jedoch daran an: Was hat ein Lehrer davon, wenn er diese Untersuchungen zur Kenntnis genommen hat? Erhält er Hinweise darüber, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann? Die Frage ist insofern nicht fair, als sie erklärtermaßen nicht Gegenstand von PISA war, aber für wen ist der ganze Aufwand dann überhaupt von Nutzen?

PISA sagt nichts darüber aus, was an den Schulen unter dem Stichwort Unterricht tatsächlich geschieht, welche didaktischen und methodischen Konstrukte in welcher statistischen Verteilung dabei eine Rolle spielen. Getestet wird vielmehr ein End- beziehungsweise Zwischenprodukt - im Sinne einer Momentaufnahme - von erworbenem Wissen und erlernten Fähigkeiten an einem Maßstab, der sich nicht pädagogischen, sondern sozialwissenschaftlichen Kriterien zum Zweck der Vergleichbarkeit verdankt. Selbst wenn man den gewählten Maßstab der Kompetenz - zumindest als einen von mehreren - für pädagogisch brauchbar hält, erfährt der Lehrer nicht, durch welche Organisation seines Handelns er ihm gerecht wer-

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den könnte. Lässt sich Kompetenz zuverlässig didaktisch-methodisch operationalisieren? Offensichtlich ist dieser Begriff so komplex - vergleichbar der inzwischen weitgehend wieder aus der Mode gekommen "Schlüsselqualifikation" - dass erhebliche Anteile davon gar nicht in Schulen, sondern nur im außerschulischen - nicht zuletzt auch familiären - Umfeld erworben werden können. Was davon ist dann aber eine unverzichtbare und von ihr auch realisierbare Teilaufgabe der Schule? "Aus PISA lässt sich die Verbesserung nicht einer einzigen Unterrichtsstunde unmittelbar ableiten"(1).

Dennoch werden bildungspolitische Konsequenzen gezogen. So gehen inzwischen die Überlegungen zum als Heilmittel allseits verlangten Kerncurriculum in die Richtung, statt eines inhaltlich fixierten Lehrplans lediglich eine Liste von Kompetenzen aufzuführen, für deren Realisierung die Lehrer bzw. die Kollegien freie Hand haben, aber auch verantwortlich gemacht werden sollen. Das klingt gut, scheint den Lehrern neue didaktische und methodische Autonomie zu gewähren, blendet aber die Randbedingungen aus, die sein Handeln erschweren oder gar verhindern und wofür die staatliche Administration einen guten Teil der Verantwortung trägt: das Desinteresse vieler Schüler und Eltern, das einseitig als pädagogisches und deshalb fortbildungsbedürftiges Manko der Lehrer und nicht zumindest auch als Resultat der Demontage der Schule als staatlicher Institution gedeutet wird; die Verrechtlichung des Lehrerhandelns, die sanktionierende Interventionen im Namen der zu fordernden Leistungen im Keim erstickt(2) - von bürokratischer Gängelung und materieller Unterausstattung ganz zu schweigen. Wie schon früher bei den Lernzielkatalogen ist eine praktisch weitgehend belanglose Addition von gut klingenden und deshalb leicht konsensfähigen Unter-Kompetenzen und Unter-Unter-Kompetenzen zu erwarten, deren Abstraktheit dem Unterricht wenig nützt, aber den Tatendrang der Bildungspolitiker und ihrer Gremien für das Wahlvolk dokumentiert. Während sich der Eindruck aufdrängt, dass die Bildungsforschung sich von der pädagogischen Praxis um so mehr entfernt, je besser sie als sozialwissenschaftliches Produkt wird, sind die kurzschlüssigen Konsequenzenzieher nicht zu bremsen, obwohl die Autoren von PISA immer wieder vor voreiligen praktischen Schlussfolgerungen gewarnt haben. Unbefriedigende Resultate des Bildungsbetriebs nachzuweisen ist die eine Sache, eine ganz andere die Rekonstruktion der Ursachen dafür und die Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der als misslich gedeuteten Lage.

Die Zuordnung von Ursachen und Wirkungen ist nämlich das eigentliche Problem. Statistische Korrelationen, mögen sie noch so signifikant sein, deuten nicht unbedingt auch auf Kausalitäten hin. Das gilt schon für die relativ abstrakte statis-

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tische Ebene und erst recht für die durch diese Statistik nicht mehr gedeckte einzelne pädagogische Handlungssituation. Welche pädagogische Handlung bewirkt was warum mit welcher Prognosequalität? Das kann die empirische Lehr-Lern-Forschung - um auf ein anderes Feld der Empirie zu wechseln - bis heute nicht annähernd angeben. Keineswegs gibt es hier bereits ein hinreichendes Wissen, das nur seiner Anwendung harrt - wie die veröffentlichte Meinung glauben machen will. Frank-Olaf Radtke spricht in diesem Zusammenhang kritisch von einem "Kausalitätsmythos"(3) und zitiert als Beleg unter anderem eine Zusammenfassung der Lernforschung von Franz E. Weinert:

"Es gibt fast nichts, was man ... nicht mit dem Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in Verbindung gebracht hätte. Die Folge davon war und ist eine Inflationierung der in pädagogisch-psychologischen Untersuchungen berücksichtigten potentiellen Einflußvariablen mit dem ebenso verallgemeinerbaren wie enttäuschenden Resultat, daß sich keine substantiellen, stabilen und generell gültigen Zusammenhänge zwischen isolierten Unterrichtsmerkmalen und den verschiedensten Erfolgskriterien des Unterrichts finden lassen. Dieser Eindruck verändert sich auch nicht, wenn statt einzelner Untersuchungen mit Hilfe statistischer Meta-Analysen die Befunde aus vielen einschlägigen Studien simultan berücksichtigt werden. Eine Zusammenstellung der dabei erzielten Resultate, die sich auf 7.827 einzelne Studien und auf nicht weniger als 22.155 korrelative Beziehungen stützt ... , könnte zu der zynischen Schlußfolgerung verleiten, daß fast jede der berücksichtigten Variablen in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig ist"(4).

Alles in allem ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass die Bedeutung der empirischen Forschung für die schulpädagogische Praxis erheblich überschätzt wird. Schon vor 20 Jahren hat Rainer Dollase nach gründlicher Analyse von Korrelationskoeffizienten die These vertreten, dass selbst solche von 0.60 – was relativ hoch ist - "für praktische Konsequenzen noch zu unsicher" seien. "Wenn man sich dieser These anschließen würde, könnte man 90% der Resultate der empirischen Erziehungswissenschaft als praktisch belanglos klassifizieren"(5). Weil die empirischen Resultate unter der Maßgabe des pädagogischen Handelns derart unklar bleiben, können sich alle bildungspolitischen und pädagogischen Positionen auf PISA berufen, ohne mit sich ins Gericht gehen zu müssen; alle fühlen sich in dem bestätigt, was sie vorher auch geglaubt haben.

Möglicherweise wird auf Dauer das pädagogische Handeln in den Schulen jedoch in ganz anderer Weise durch die Empirie-Euphorie tangiert. Ausgehend von den europäischen Institutionen und damit national übergreifend könnte sich ein "pädagogisch-industrieller Komplex" - formuliert in Anlehnung an den von Eisenhower geprägten Begriff vom "militärisch-industriellen Komplex" - auftun, in dem es um erhebliche Ressourcen und ihre Verteilung und damit auch um

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Macht, Einfluss und öffentliche Selbstdarstellung geht(6). Angesichts der Größenordnung könnte sich ein institutionelles Eigenleben entfalten, das mit der Legitimation scheinbarer internationaler Selbstverständlichkeit ("nur die Deutschen haben es noch nicht begriffen ... ") Fakten schaffen und eine Politik machen will, die nicht durch demokratische Institutionen gedeckt ist, sondern sich statt dessen auf angeblich gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse beruft - Forschung als politische Waffe. Die pädagogische Praxis in den Schulen könnte dabei wesensfremden – etwa ökonomisch-administrativen - Maßstäben unterworfen werden, die die frühere bürokratische Gängelung weit in den Schatten stellen (7). Einiges davon deutet sich bereits an:

- Die von der OECD angestrebte Ökonomisierung des bildungspolitischen und - als Folge davon - auch des pädagogischen Denkens mit dem möglichen Ziel der weitgehenden Privatisierung der Bildungskosten;

- die Wende von der Input-Orientierung zur Output-Orientierung, die etwa zu oberflächlichen internationalen Vergleichen von Abiturienten- und Studentenzahlen führt, ohne die jeweiligen Ansprüche an das Abitur und dessen Einbettung in den gesamten Komplex der Berufsausbildung zu berücksichtigen;

- die rein ökonomisch-administrativ konzipierte und sich selbst begründende internationale Standardisierung von allem und jedem ohne Rücksicht auf inhaltliche Substanz, Differenz und Tradition;

- die mit dem Begriff der Kompetenz verbundene Favorisierung eines pädagogischen Leitmotivs, das mit dem traditionellen deutschen Bildungsverständnis nur schwer kompatibel ist;

- die schon erwähnte Output-Orientierung der Leistungskontrolle, die das Personal der Schule ohne Rücksicht auf die Bedingungen zum Erfolg verdammt.

Was am pädagogischen Handeln und seinen Resultaten zu messen ist, sollte selbstverständlich auch gemessen werden. Es geht nicht darum, die Bedeutung der empirischen Bildungsforschung in Frage zu stellen, sondern ihre Grenzen ins Bewusstsein zu heben. Ihre Stärke liegt zweifellos darin, für bildungspolitische Entscheidungen und für Wirkungskontrollen relevantes Datenmaterial zur Verfügung zu stellen. Wenn es aber so ist, dass diese Forschung immer nur einen für ihre Zwecke eigens definierten Teil des Handlungskomplexes aufklären kann, muss es einen darüber hinausgehenden Interpretationshorizont geben, der nicht aus dem Instrumentarium dieser Forschung selbst erwächst – z.B. eine Bildungstheorie oder zumindest eine Handlungstheorie. Brauchbar für die pädagogische Praxis werden die empirischen Ergebnisse also nur dann, wenn sie in den Horizont des pädagogisch Handelnden übersetzt und dabei von diesem mit anderen Einsichten und Erfahrungen kombiniert werden, die in der fraglichen empirischen

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Untersuchung gar keine Rolle gespielt haben. In diesem Transformationsprozess geht dann aber auch die Definitionshoheit vom Empiriker auf den Praktiker über. Vereinfacht gesagt: Vom Standpunkt des pädagogischen Handelns aus können empirisch gewonnene Forschungsresultate nichts weiter als Hilfsmittel sein, die je nach pädagogischer Situation erheblich, teilweise oder auch gar nicht von Nutzen sind. Wenn die Bildungspolitik dieses Transformationsproblem ignoriert, werden ihre vorgeblich so modernen und angeblich auf Forschung beruhenden Entscheidungen der Schule nicht nützen, sondern sie nur wie in den vergangenen Jahrzehnten mit unangemessenen Erwartungen überschwemmen. Der notorische Eigensinn und die daraus resultierende Widerständigkeit der schulpädagogischen Praxis, deren Verlauf und Ende weitgehend offen und unkalkulierbar bleibt, mag einerseits als Ärgernis gelten, trägt andererseits aber auch der Freiheit und Würde der Beteiligten Rechnung.

Problematisch werden empirische Forschungsergebnisse also dann, wenn das, was gemessen wird, zur Substanz der Sache selbst gerät, nur weil es gemessen werden kann, und wenn das auch noch zum Ziel der politischen und administrativen Führung der Schule erhoben wird. Ein Beispiel: Im überlieferten Bildungsbegriff gilt die Art und Weise der je subjektiven Aneignung als zentral. Der Schüler soll sich demnach durch einen "bildenden" Unterricht einerseits die Grundlagen der natürlichen und kulturellen Welt zu eigen machen und andererseits dabei seine wesentlichen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen lassen. Diese subjektive Seite der Bildungsprozesse entzieht sich einer Messung, bleibt meist auch dem Lehrer und sogar dem Schüler selbst verborgen. Wird sie aber als pädagogisches Leitmotiv akzeptiert, hat das Folgen für die Auswahl der Fächer und Stoffe und für die didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts. Für eine auf anwendungsorientierte Verwertbarkeit gerichtete Leitidee – wie sie PISA offensichtlich zu Grunde liegt - ergeben sich dagegen ganz andere Konsequenzen.

Halten wir also fest: Was in der Schule wirklich geschieht und warum es so und nicht anders geschieht, ist trotz aller bisherigen Bildungsforschung weitgehend unbekannt geblieben. Um mehr zu erfahren, müsste man wohl in einer repräsentativen Auswahl Unterrichtsstunden optisch und akustisch aufzeichnen und für die Auswertung geeignete Maßstäbe finden - ein gewaltiger Aufwand, dessen Effekt jedoch ungewiss bleibt. Jedenfalls reicht es nicht, dafür nur Lehrer oder Schüler zu befragen. Das bedeutet nicht, dass es keine Parameter gäbe, an denen sich erfolgreiches pädagogisches Handeln orientieren könnte. Die aber erschließen sich der reflektierten Erfahrung der Praktiker oder teilweise vielleicht auch dem gesunden Menschenverstand möglicherweise eher als dass sie durch empirische Untersuchungen bewiesen würden.

Weinert/Helmke z.B. resümieren "Forschungsergebnisse, nach denen es viele hinreichende, aber kaum notwendige Bedingungskonstellationen erfolgreichen Lehrens gibt. Gestützt wird diese Auffassung durch empirische Befunde, die zum Beispiel dafür sprechen, daß ein vom Lehrer stark kontrollierter Unterricht je nach der Art dieser Kontrolle sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Lernleistungen der Schüler haben kann ... . Entscheidend für den Effekt ist offenkundig, ob es dem Pädagogen durch sein Handeln gelingt, die Schüler zu aktivieren, zu eigenen Denkanstrengungen zu bewegen, sie bei der produktiven Überwindung von

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Schwierigkeiten und Fehlern zu unterstützen, sie vor Sackgassen und Holzwegen zu bewahren, ihnen beim Aufbau einer geordneten Wissensbasis behilflich zu sein und ihnen notwendig werdende remediale Unterstützungen zukommen zu lassen - oder ob die Schüler unter dem Einfluß eines dominanten Lehrers zu passiven Rezipienten des Unterrichtsstoffes werden ... (8).

Das alles dürfte ein Lehrer mit einiger Berufserfahrung ohnehin wissen, weiterhelfen würden ihm darüber hinaus jedoch gesicherte Erkenntnisse darüber, wie im Einzelnen sein "stark kontrollierter Unterricht" die beschriebene positive Wirkung erreichen und die negative vermeiden kann. Aber damit kann die empirische Forschung (bisher?) offensichtlich nicht dienen. Hans N. Weiler hat unter Hinweis auf amerikanische Erfahrungen der deutschen Erziehungswissenschaft einen Mangel an kontinuierlicher empirischer Begleitung der notwendigen Reformen in Schule und Hochschule vorgeworfen (9). Das mag zutreffen, insofern wenig qualitativ überzeugende Projekte von der Disziplin selbst ausgehen, wozu das für PISA zuständige Max-Planck-Institut in Berlin ja institutionell nicht zu rechnen ist; andererseits sollten an eine Intensivierung entsprechender Forschungen nach den bisherigen Resultaten keine allzu großen Hoffnungen geknüpft werden.

"Pädagogiken" als Erben der Allgemeinen Pädagogik

Den eben erwähnten Transformationsprozess vom empirischen Resultat (und überhaupt von der wissenschaftlichen Systematik) zur praktischen Verwertbarkeit zu leisten bzw. vorzudenken ist traditionell die Aufgabe der Allgemeinen Pädagogik. Diesen Zwischenhandel im Sinne einer wechselseitigen Erschließung von Theorie und Praxis - keineswegs einer einseitigen Präskription - hatte die geisteswissenschaftliche Pädagogik zum Kern ihrer Aufgabe erklärt, und genau das hatte sie zur Berufswissenschaft für pädagogische Berufe werden lassen. Dieses Selbstverständnis ist jedoch vor allem aus zwei Gründen immer mehr in Frage gestellt worden: aus wissenschaftsinternen Gründen einerseits und aus solchen der ideologisch bedingten Separation andererseits.

Die traditionelle Allgemeine Pädagogik ist mehr und mehr überlagert worden durch das Selbstverständnis einer Systematischen Erziehungswissenschaft, die ihrer internen Wissenschaftslogik folgt. Das aus dieser Entwicklung resultierende Problem beschreibt Ewald Terhart so:

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"Erziehungswissenschaft folgt immer mehr ihren eigenen, 
innerwissenschaftlich-systematischen Regulativen bei der Beschäftigung mit Theorie- und Forschungsproblemen, diese Regulative können aber eben nicht die der pädagogischen Berufspraxis sein, die dem Motiv der Bewältigung und Gestaltung von Handlungsproblemen folgt, folgen muss und folgen soll. Nicht nur, dass es schon jetzt schwierig wird, eine volle Kompetenz in beiden Bereichen entwickeln zu wollen: Wenn die zurzeit viel diskutierte These von der allmählichen 'Normalisierung' der Erziehungswissenschaft als Disziplin zutrifft, so wird die Kluft zwischen den 'zwei Kulturen' von Theorie und Praxis noch weitaus größer werden. Damit geraten nicht nur fundamentale Axiome der traditionellen Pädagogik als Wissenschaft ins Wanken, sondern auch eingespielte Formeln und Vorstellungen über die berufsvorbereitende Rolle einer Beschäftigung mit erziehungswissenschaftlichen Themen"(10).

Auch unter diesem Aspekt - also ganz unabhängig von den eben skizzierte Problemen der empirischen Bildungsforschung - scheint sich unsere Eingangsthese zu bewahrheiten, dass die Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft um so entbehrlicher wird, je mehr sie sich als Disziplin "normalisiert." Warum sollen sich angehende Lehrer in ihrem Studium mit Problemen befassen, die nicht die Aporien ihrer künftigen Berufspraxis zum Ausdruck bringen, sondern sich lediglich begrifflichen Suchbewegungen einer selbstreferenziellen Erziehungswissenschaft verdanken? Für Studenten gedachte Lehrbücher aus diesem Hintergrund tragen oft die Stichworte "Grundwissen" oder "Grundbegriffe" im Titel, präsentieren begriffslogische Feinheiten sowie Argumentationsfiguren unterschiedlicher "Positionen" innerhalb der Disziplin, die dann in Prüfungen präsent sein müssen. Zweifellos schult das die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken und Argumentieren, aber vielleicht wäre dafür ein Studium der Philosophie ja noch besser geeignet.

Terhart sieht in dieser Lage die Gefahr,

"dass Erziehungswissenschaft und Lehrerausbildung in Zukunft 'getrennte Welten' sein" könnten. "Wenn es ... nicht gelingen sollte, innerhalb der Erziehungswissenschaft eine Differenzierung von Aufgabenstellungen, Rollen, Veröffentlichungsformen etc. zu finden, in der auch die Vermittlung ausbildungsrelevanter Kenntnisse ihren ebenso wohl begründeten wie selbstverständlichen Platz hat, wenn also die Disziplin keine 'klinische' Komponente entwickelt, so könnte sie sich eines Tages tatsächlich vor die Entscheidung gestellt sehen, ob sie nun 'normale' Disziplin oder Betreuungswissenschaft für pädagogische Berufe sein will. Wie immer dann die Entscheidung fallen wird: Die Folgen wären gravierend, und zwar sowohl für die Erziehungswissenschaft wie für die pädagogischen Berufe. Deshalb an dieser Stelle das Plädoyer für die Ausarbeitung einer 'klinischen' Komponente in der Disziplin."(11)

Inzwischen werden die Widersprüche zwischen den Eigeninteressen der sich entwickelnden Erziehungswissenschaft und ihrer Vertreter einerseits und den Ausbildungsansprüchen etwa in der Lehrerausbildung andererseits immer größer.(12) Der Staat will tendenziell die Lehrerausbildung straffen, berufsbezogen organisie-

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ren und in inhaltlich festgelegte Module aufteilen, die insbesondere die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die Schulpraxis zum Thema haben sollen. Das hätte zur Folge, dass die Erziehungswissenschaftler einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Lehr- und Prüfungstätigkeit statt für einen grundständigen Studiengang (z.B. Diplom; Magister) lediglich im Rahmen eines zumal bei Gymnasiallehrerstudenten eher unbeliebten Begleitstudiums, zudem in thematisch begrenzten und sich wiederholenden Kursen ableisten müssten. Nicht wenige wollen sich davon am liebsten ganz zurückziehen (13). Die von der Erziehungswissenschaft früher vielfach erhobene Klage über das Desinteresse der Universitätsfächer an der Lehrerausbildung fällt nun auf sie selbst zurück; sie lernt am eigenen Leibe zu verstehen, warum die anderen Disziplinen sich der Forderung nach Selbstpädagogisierung stets widersetzt haben. Angesichts dieser Entwicklung lässt sich die bereits gestellte Frage unter neuem Aspekt wiederholen: Was hat ein Lehrer für seine Berufstätigkeit (noch) davon, wenn er regelmäßig eine erziehungswissenschaftliche Fachzeitschrift wie die "Zeitschrift für Pädagogik" liest?

Insofern in Fortführung der geisteswissenschaftlichen Tradition noch praxisorientierte Theorien über die Schule formuliert und vertreten werden, haben sie sich in erheblichem Maße voneinander separiert. Diese Entwicklung beruht einerseits auf normativen Vorentscheidungen, die mehr oder weniger mit bestimmten partei- und/oder berufspolitischen Präferenzen verbunden sind – etwa GEW bzw. SPD hier, Philologenverband bzw. CDU/CSU dort. Andererseits spielt auch hier wieder der Prozess der inneren Differenzierung der Erziehungswissenschaft eine Rolle. Der innerbetriebliche Zwang zur wissenschaftlichen Profilierung von immer mehr Personal führt in den Universitäten zu immer mehr Publikationen, aber die dafür benötigte Themenfülle kann die pädagogische Praxis nicht hergeben, sie muss also anderswo gefunden werden. So werden etwa aus den Nachbarwissenschaften immer wieder im Stile sich ablösender Moden theoretische "Ansätze" einschließlich des dazu gehörenden Begriffsapparates ins Spiel gebracht, die dann eine Zeit lang die Ausbildung dominieren und etwa über Fortbildungsveranstaltungen den amtierenden Lehrern ins Bewusstsein implantiert werden sollen. Vom Standpunkt des schulischen Handelns aus gesehen wird die Erziehungswissenschaft auf diese Weise vielfach selbst zum Problem, dessen Lösung sie eigentlich sein will. Für die diagnostische und planende Qualität des Unterrichts hat sich dies alles als weitgehend irrelevant erwiesen - außer dass immer wieder neue (pädagogische) Sprachspiele unter die Leute gebracht wurden. Haben Neurolinguistik, Systemtheorie, Konstruktivismus - um nur einige Beispiele zu nennen - für das, was ein Lehrer tut, wirklich einen Erkenntniszuwachs gebracht, den man nicht auch unter Verzicht auf eine gespreizte Begriffsdogmatik aus der pädagogischen Tradition oder aus überlieferter Berufserfahrung hätte entnehmen können? Je bunter jedoch das Spektrum von derart zu Stande gekomme-

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nen pädagogischen Theorien wird, um so besser stehen die Universitäten bzw. deren pädagogische Institute da. Auf diese Weise kann Pädagogisches fast beliebig erfunden werden, solange es nur logisch als halbwegs konsistent erscheint und sich nicht im praktischen Vollzug bewähren muss. Diese Vielfalt von Theorien, die meist auf Grundüberzeugungen basieren, die als solche nicht in Frage gestellt werden, sind längst auch für die Erziehungswissenschaft selbst zum Problem geworden, weil und insofern sie nicht anschlussfähig aneinander sind. Sie kreisen teilweise um sich selbst und sind nur schwer auf gemeinsame Kriterien oder auf einen gemeinsamen Problemzusammenhang zu beziehen, präsentieren sich also in diesem Sinne als "Lagertheorien", die weniger wissenschaftlich als vielmehr sozial fundiert sind; sie werden für bestimmte Bezugsgruppen verfasst, was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass Autoren, die nicht dazu gerechnet werden, entweder gar nicht oder lediglich als abschreckende Beispiele Erwähnung finden.

Harm Paschen hat versucht, diese "Pädagogiken" zu ordnen und gemeinsamen Kriterien zu unterwerfen(14), woran sich eine ausführliche Diskussion entzündet hat, die hier nicht im Einzelnen referiert werden kann (15). Ob diese Anstrengung Aussicht auf Erfolg hat, ist mehr als zweifelhaft, weil die Pädagogiken keinen entsprechenden Leidensdruck fühlen. Es handelt sich dabei offensichtlich eher um ein Marktphänomen, dem wissenschaftlich-systematische Einwände wenig anzuhaben vermögen. Aus der Sicht von Schulpraktikern stellt sich also das, was von der Allgemeinen Pädagogik übrig geblieben ist, entweder als zu "abgehoben" oder als vorweg parteilich dar. Warum also sollen sie sich damit befassen?

Was nun?

Die eingangs gestellte Frage, wer denn noch (wozu) Erziehungswissenschaft braucht, lässt sich natürlich an jede Disziplin stellen, aber nicht jede versteht sich wie die Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft; diese Selbsteinschätzung ist jedoch fragwürdig geworden. Einerseits wird die beschriebene Entwicklung der "Normalisierung" der Erziehungswissenschaft nicht aufzuhalten sein, andererseits muss man dann auch akzeptieren, dass damit ihre bisherige Aufgabe als zentrale Disziplin für die pädagogische Aus- und Weiterbildung - auch im Hinblick auf die Gestaltung der universitären Studiengänge – erheblich zu relativieren ist. Ist ein pädagogisches Begleitstudium für Lehrer überhaupt noch sinnvoll und wie müsste es neu begründet und gestaltet werden? Terharts Vorschlag, eine "klinische" Komponente zu entwickeln, greift – wenn ich ihn richtig verstehe - im Grunde die alte geisteswissenschaftliche Position wieder auf, (universitäre) Theorie und (schulpädagogische) Praxis in einen wechselseitig produktiven Austausch

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zu verwickeln. Aber allein die Tatsache, dass es einen solchen erziehungswissenschaftlichen Schwerpunkt trotz aller jahrzehntelangen Anstrengungen, Theorie und Praxis zu "integrieren", bis heute allenfalls in Ansätzen gibt, sollte skeptisch stimmen. In der Medizin, woher der Ausdruck "klinisch" ja stammt, ist das gemeinsame Ziel relativ klar beschrieben: Gesundheit bzw. höchstmögliche Lebensqualität bei Krankheit. Eine vergleichbar unstrittige Zielorientierung fehlt der Schulpädagogik. Solange die Politik sich weigert klarzustellen, was sie mit der Schule eigentlich will, welche präzisen und überprüfbaren Lernleistungen sie dort erwartet, solange sie statt dessen mit inhaltsleeren Kategorien wie Schlüsselqualifikation oder Kompetenz hantiert, solange kann sich auch keine ernsthafte klinische Komponente in der Erziehungswissenschaft entwickeln, weil die inhaltlichen Interpretationsspielräume dafür viel zu groß bleiben. Allein in der Spannbreite zwischen lehrerzentriertem und schülerzentriertem Unterricht, kombiniert mit unterschiedlich akzentuierten kognitiven, sozialen und emotionalen Lernzielen, gibt es so viele Variationen, dass die Wenn-dann-Relationen einer "klinischen" Strategie – wenn es sie denn gäbe - kaum handlungsorientiert zu bündeln wären. Nur weil das so ist, können die erwähnten Pädagogiken mit ihrer Pluralität von Wünschen, Zielen und Strategien zu vielfältiger Blüte gelangen; sie füllen stellvertretend eine Lücke, die die politische Zielabstinenz hinterlassen hat.

Was bleibt ist zunächst einmal die Abkehr von der Hoffnung, Erziehungswissenschaft sei die Lehre vom pädagogisch Machbaren, mit ihrer Hilfe und Unterstützung könne man lernen, wie man erfolgreich Schule macht. Diese Hoffnung ist in allen jahrzehntelangen Versuchen zu spüren, die frühere Lehrerbildung in Lehrerausbildung zu transformieren und als Berufsausbildung an den Universitäten zu verbessern; nichts davon hat entsprechendes bewirkt (16). Die universitäre Erziehungswissenschaft sollte klarstellen, dass sie das unter wissenschaftlichen Maßstäben nicht kann. Ihr Angebot kann nur darin bestehen, aus der Fülle ihrer möglichen Themen vorzugsweise solche anzubieten, die für angehende Lehrer von besonderem Interesse sind. Darüber hinaus gibt es keine spezielle Erziehungswissenschaft für künftige Lehrer und keine andere etwa für künftige Sozialpädagogen. Wer weiterhin ein wissenschaftliches Studium für Pädagogen für wünschenswert hält, und dafür gibt es gute Gründe(17), muss auch die dafür gültigen Regeln akzeptieren. Wer etwas anderes will, kann das ernsthaft nicht an der Universität erwarten und muss es dann auch nach anderen Kriterien ("klinisch"; "angewandt") organisieren. Damit wird die Notwendigkeit einer Verbesserung der universitären Lehre keineswegs geleugnet, aber die kann nicht dadurch erfolgen, dass einzelne Gruppen je nach ihren vermeintlichen aktuellen und künftigen Bedürfnissen oder auch nach der Begrenztheit ihres geistigen Anspruchs ("Wozu brauche ich das?") sich eine Wissenschaft zurechtstutzen.

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Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit, nicht deren Konstruktion. Demnach steht ihr zu, auf dem Hintergrund ihrer Forschungsergebnisse die Mängel des dreigliedrigen Schulwesens oder der Gesamtschule zu beschreiben und zu begründen, aber nicht für die eine oder andere Variante zu plädieren, als sei das wissenschaftlich geboten; sie mag die Grenzen der Reichweite didaktischer Konzepte benennen, sollte aber nicht bestimmte didaktische Liebhabereien propagieren. Die Differenz von Kritik und Konstruktion ist viel zu wenig beachtet worden. Pädagogisch konstruiert werden kann nur dort, wo auch gehandelt wird, und dann bleibt die Praxis letztlich selbst das wichtigste Erfolgskriterium - ob es geklappt hat oder nicht.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn wieder stärker zwischen den jeweiligen Kompetenzen unterschieden würde. Über Pädagogisches werden nämlich in der Gesellschaft auf mindestens drei verschiedenen Ebenen(18) Diskurse geführt, die sich auf den jeweils eigenen Handlungshorizont nach dessen spezifischen Regeln beziehen: auf der (bildungs)politischen, der (hochschul)wissenschaftlichen und der praktischen (etwa in der Schule). Auf diesen verschiedenen Ebenen werden pädagogisch relevante Texte - im wörtlichen wie übertragenen Sinne - produziert, die in erster Linie dem eigenen sozialen Rahmen gelten (etwa parteipolitische Forderungen, Arbeiten zum Zweck der wissenschaftlichen Qualifizierung, Beratungen in einem Kollegium über das Schulprofil). Diese Diskurse müssen die jeweils anderen Ebenen gar nicht im Blick haben, um bei sich erfolgreich zu sein. Ein bildungspolitischer Text – auch aus der Feder von Lehrergewerkschaften - kann z.B. pädagogisch unsinnig, irrelevant oder undurchführbar sein, aber gleichwohl dem politischen Gegner schaden oder die eigenen Anhänger ideologisch wieder mobilisieren. Selbst wenn er die beiden anderen Ebenen als bloße Legitimation selektiv benutzt, vermag er in seinem Rahmen durchaus sein Ziel zu erreichen. - Eine erziehungswissenschaftliche Dissertation über ein schulbezogenes Thema kann in der Universität als exzellent gelten, ohne für die Schulpraxis von Nutzen zu sein. Jede Ebene muss also das Wissen der anderen, wenn sie es nutzen will, erst einmal in ihren eigenen Handlungshorizont und in die damit verbundene Semantik übersetzen. Dieses Transformationsproblem verdiente eine genauere Betrachtung, (19) soll hier jedoch lediglich für die wissenschaftliche und schulpraktische Ebene angesprochen werden.

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- Die Erziehungswissenschaft vermag auf ihrer Diskursebene Hilfe für die Praxis nur im Rahmen ihrer Forschungs- und internen Argumentationslogik anzubieten. Davon war in diesem Beitrag die Rede.

- Die Diskurse, die auf der Ebene der Schulwirklichkeit geführt werden, spielen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle, obwohl sie das, was in den Schulen geschieht, wesentlich bestimmen. Über die Quellen des Lehrerbewusstseins und wie darin die anderen Diskursebenen eingehen wissen wir wenig. Andererseits steckt in jedem Lehrerkollegium ein erhebliches Potenzial an pädagogischer Erfahrung, das durchaus gehoben zu werden verdiente. Eine Ahnung davon bekommt man bei der Lektüre von Texten, die von Lehrern darüber geschrieben werden. Aber die beiden anderen Diskursebenen (Politik und Wissenschaft) sehen in den Praktikern im Wesentlichen Objekte ihrer eigenen Bestrebungen, was durch die Output-Orientierung der Bildungsforschung noch verstärkt wird. Dabei könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemskizzen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun; sie könnte ohne unvertretbaren Aufwand über einen längeren Zeitraum exemplarisch in einzelnen Schulen stattfinden. Daran ist die Politik als Auftraggeber und Hausherr offensichtlich wenig interessiert, wohl weil sie dann viele Federn lassen müsste. Die Ergebnisse von PISA würden eine andere Farbe erhalten, wenn Lehrer z.B. öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, warum es gegenwärtig kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen beizubringen. - Die Erziehungswissenschaft würde dann zum Beispiel erfahren, dass man Unterricht nicht unter Berücksichtigung einer Vielzahl, sondern nur einer Handvoll von Variablen machen kann, und dass bei weitem nicht alles, was die Erziehungswissenschaft an Forschung und Theorien produziert, in der Schulpraxis auch verzehrt werden kann.

Wenn also die Erziehungswissenschaft die Transformation ihres Wissens in die Schulpraxis leisten will, muss sie sich auf relativ wenige Variablen beschränken, die ursprüngliche wissenschaftliche Systematik verlassen, deren Komplexität erheblich reduzieren, eine kontinuierliche und eingeschränkte Terminologie ("einheimische Begriffe") benutzen, Problematisierungen aus dem pädagogischen Alltag aufnehmen und für alles zusammen eine Argumentationsstruktur verwenden, die - im Unterschied zu den Pädagogiken - für einen kritischen wissenschaftlichen Diskurs offen bleibt. Das ist nicht einfach und gelingt bisher immer nur einzelnen Autoren. Wird es institutionalisiert in einer eigenen erziehungswissenschaftlichen Abteilung, drohen nach aller Erfahrung Profilierungszwänge und Abkehr von den wissenschaftlichen Originalen, oder aber – wie z.B. bei fachdidaktischen Texten zu beobachten – über kurz oder lang Tendenzen zur wissenschaftlichen "Normalisierung", so dass die vorgebliche Lösung sich erneut zum Problem mausert, gewissermaßen eine Didaktik der Didaktik nötig wird.

Es scheint so, als sei diese Transformationsaufgabe im Rahmen einer sich im Wesentlichen - empirisch oder systematisch - als Sozialwissenschaft verstehenden Erziehungswissenschaft gar nicht zu leisten - auch nicht von einer möglichen "kli-

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nischen" Variante. Vielleicht sollte deshalb (wieder) deutlich zwischen Erziehungswissenschaft einerseits und (Praktischer) Pädagogik andererseits unterschieden werden. Letztere müsste phänomenologisch verfahren, das pädagogische Handlungsfeld im ganzen in den Blick nehmen, empirisches und Erfahrungswissen gleichrangig behandeln, beides in eine wechselseitige kritische Beziehung setzen, aber auch akzeptieren, dass sogar im besten Falle ein Rest an Unaufgeklärtheit bleiben wird, den das pädagogische Handeln durch Entscheidungen wird auflösen müssen, für deren Erfolg es keine Gewissheit geben kann, die jedoch - wenn es gut geht - der nachträglichen Reflexion zugänglich sind.

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Anmerkungen:

1. Toni Hansel: PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in der Schule - eine Einführung. In: Toni Hansel (Hrsg.): PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in der Schule, Herbolzheim 2003, S. 18-29, hier S. 27

2. Anschauliche Belege dafür findet man vor allem in von Lehrern verfassten Publikationen, z.B.: Walter Hensel: Erziehungsnotstand. Asendorf 2003; Jochen Korte: Erziehung in der Schule: Krise oder Kapitulation? Donauwörth 2002

3. Frank-Olaf Radtke: Die Erziehungswissenschaft der OECD – Aussichten auf die neue Performanz-Kultur. In: Erziehungswissenschaft H. 27/2003, S. 109-136

4. Franz E. Weinert: Psychologische Orientierungen in der Pädagogik. In: H. Röhrs/H. Scheuerl (Hrsg.): Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaft und pädagogische Verständigung. Frankfurt 1989, S.210, ,zit. n. Radtke a.a.O., S. 127

5. Rainer Dollase: Grenzen der Erziehung. Düsseldorf 1984, S. 71

6. Ein wichtiges Mittel der politischen Einflussnahme ist das Verschweigen sowie verspätete oder selektive Publizieren von Forschungsergebnissen. Vgl. für Nachweise aus der Bundesrepublik Ulrich Sprenger: Zurückhaltung am falschen Platz! In: Toni Hansel (Hrsg.):PISA - und die Folgen? Herbolzheim 2003, S. 53-105

7. Dazu ausführlich Radtke, a.a.O. (dort auch weitere Literatur)

8. Franz E. Weinert/Andreas Helmke: Der gute Lehrer: Person, Funktion oder Fiktion? In: A. Leschinsky (Hrsg.): Die Institutionalisierung von Lehren und Lernen, Weinheim 1996, S. 225

9. Hans N. Weiler: Bildungsforschung und Bildungsreform – Von den Defiziten der deutschen Erziehungswissenschaft. In: Ingrid Gogolin/Rudolf Tippelt (Hrsg.): Innovation durch Bildung. Beiträge zum 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Opladen 2003, S. 181-203. Zur Kritik: Hans-Georg Herrlitz: Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik – zwei getrennte Kulturen? In: DDS H. 1/2004, S. 6-9

10. Ewald Terhart: Lehrerbildung - unangenehmer Wahrheiten. In: Ders.: Lehrerberuf und Lehrerbildung. Weinheim 2001, S.165-173, hier S. 170f.

11. Ewald Terhart: ebenda

12. Eine vergleichbare Diskussion ist auch in der Sozialpädagogik festzustellen. Vgl. zuletzt: Werner Thole/Michael Galuske: Sozialpädagogik – "Jahrhundertprojekt" oder "Entsorgungsfall"? In: Z.f.Päd. H. 6/2003, S. 885-902

13. Dieter Wunder: Welche Bedeutung hat die Berufsausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für die Erziehungswissenschaft? Eine besorgte Anfrage. In: Erziehungswissenschaft H. 11, 2000 (Online-Fassung)

14. Harm Paschen: Pädagogiken. Zur Systematik pädagogischer Differenzen. Weinheim 1997

15. Harm Paschen: Zur Systematik pädagogischer Differenzen - ein Forschungsprogramm zur pädagogischen Kompetenz. In: Ethik und Sozialwissenschaften (EuS) 10(1999) H. 1, S. 73-82 - Kritik und Metakritik im Anschluss an diesen Beitrag ebenda S. 82-169

16. Vgl. Jürgen Oelkers: Studium als Praktikum? Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung. In: Frank-Olaf Radtke (Hrsg.): Lehrerbildung an der Universität. Frankfurt 1999, S. 66-81

17. Ausführlicher dazu: Hermann Giesecke: Was heißt: Wissenschaftliche Ausbildung für pädagogische Berufe? In: Neue Sammlung, H. 1/2000, S. 83-90

18. Genau genommen müsste man als vierte Ebene noch die massenmediale hinzurechnen und deren Verhältnis zu den anderen Ebenen sorgfältig analysieren, was hier jedoch zu weit führen würde. Sie produziert kein eigenes pädagogisches Wissen, sondern selektiert es nur für ihre besonderen Zwecke, ist dabei weder wissenschaftlichen Maßstäben noch solchen der praktischen Realisierbarkeit sondern im besten Falle den Regeln des sorgfältigen journalistischen Recherchierens verpflichtet. Gleichwohl ist ihr Einfluss vor allem auf die Bildungspolitik kaum zu überschätzen.

19. Vgl. Andreas von Prondczynsky: Erziehungswissenschaft als Berufswissenschaft für Lehrerinnen und Lehrer? In: DDS H.4/2001, S. 395-410

 

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