Hermann Giesecke


Schlechte Noten für Lehrer und Schulen -           

Versagen die Universitäten?

Gesendet am 9.11.05, 20:30 - 21:00  in: NDR Info – Das Forum

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Sprecher:
So wie die Medizin die Berufswissenschaft für Ärzte ist die Erziehungswissenschaft diejenige für Lehrer. Sie soll die Lehrerstudenten mit den Grundlagen ihres künftigen Berufes vertraut machen und ihnen beibringen, was sie später für einen erfolgreichen Unterricht und für eine angemessene Erziehung der Schüler brauchen. Weil Experten, Politiker und die öffentliche Meinung diese Aufgabe für besonders wichtig hielten, ist die Zahl der Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter in diesem Fach in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen, auf etwa 700 habilitierte Hochschulpädagogen und etwa 1500 wissenschaftliche Mitarbeiter.

Sprecherin:
Nun werden jedoch Zweifel daran laut, ob die Erziehungswissenschaft diese Aufgabe tatsächlich noch erfüllt. Besonders pointiert wurden sie formuliert im März in der Zeitung DIE ZEIT. Unter der Überschrift "Nur bedingt wissenschaftlich" lautete das Urteil kurz und bündig: Die deutsche Erziehungswissenschaft habe in der Forschung und in der Lehrerausbildung versagt. Im internationalen Vergleich sei sie provinziell, sie werbe zu wenig Drittmittel ein, das Lehrpersonal publiziere nicht genug, und das meiste von dem, was veröffentlicht werde, sei nicht empirisch fundiert.
 

Sprecher:
Nun könnte man ein solches Urteil auf sich beruhen lassen, wenn es sich um irgendeine spezielle Wissenschaft handelte, deren Ergebnisse für das gesellschaftliche Leben nicht so interessant wären. Hier geht es aber um unsere Schulen, die bei internationalen Vergleichen wie bei den PISA-Studien verhältnismäßig schlecht abschneiden. Ein leichter Aufwärtstrend ist zwar erkennbar - alle deutschen Bundesländer haben sich inzwischen verbessert - , aber bis zur internationalen Spitze ist nur Bayern vorgestoßen. Es gibt also Grund genug, diese Kritik ernst zunehmen und sorgfältig zu prüfen.

Sprecherin:
Die Kritik ist nicht unberechtigt, geht aber am Kern des Problems vorbei. Man wird sich gewiss schnell darüber verständigen können, dass nicht alle Erziehungswissenschaftler herausragende Vertreter ihres Faches sind, ein Gefälle der Kompetenz ist hier wie auch bei anderen Berufen nicht zu übersehen. Zudem sind in der Vergangenheit viele Lehrer an die Hochschulen berufen worden, von denen man zwar eine praxisnahe Ausbildung der Studenten, aber von vornherein keine eigenständigen Forschungen erwartet hat. Die erwähnte Kritik ist jedoch grundsätzlicher formuliert. Sie geht nämlich wie selbstverständlich davon aus, dass die empirische Forschung - die sich an beobachtbare und messbare Daten hält - das Kernstück der erziehungswissenschaftlichen Tätigkeit zu sein hat und dass nur sie letzten Endes zur wissenschaftlichen Reputation des Faches führt. Das ist nun eine sehr verkürzte Auffassung von den Aufgaben der Erziehungswissenschaft, die zudem den Problemen der Schulpraxis nicht gerecht wird.

Sprecher:
Es ist Mode geworden, die Höhe der für Forschungsprojekte eingeworbenen Drittmittel zum Maßstab für die Qualität einer Wissenschaft zu machen. Mit Drittmittel sind Finanzierungen gemeint, die im normalen Etat der Hochschulen nicht zur Verfügung stehen, sondern von Fall zu Fall von außerhalb  - z.B. aus der Wirtschaft - besorgt werden müssen. Wer zahlt, kann natürlich auch darüber mitbestimmen, welche Themen erforscht werden sollen und welche nicht. Aber ein normal besetztes pädagogisches Institut an einer Universität oder Fachhochschule ist weder personell noch materiell im Stande, neben der in der Regel sehr aufwändigen Lehr- und Prüfungstätigkeit auch noch ein solide begründetes Forschungsprojekt zu entwickeln und das dafür nötige Geld zu beschaffen. Empirische Bildungsforschung, deren Resultate etwas taugen sollen, ist längst zu einer hoch spezialisierten und entsprechend teuren Aufgabe geworden, die nicht zufällig zu einem erheblichen Teil außerhalb der Hochschulen stattfindet wie etwa im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin oder im Deutschen Jugendinstitut in München. Nur wenige Einrichtungen an den Hochschulen können da noch mithalten.

Sprecherin:
Bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, dass die bisherigen Ergebnisse der einschlägigen empirischen Forschungen für die pädagogische Praxis wenig erbracht haben. Deshalb sind diese Forschungen auch nur sehr begrenzt von Nutzen für die Ausbildung von Lehrern. Mit dem, was uns zum Beispiel die PISA-Untersuchungen an Einsichten beschert haben, lässt sich keine einzige Unterrichtsstunde verbessern.
Die Öffentlichkeit erwartet jedoch von der kostspieligen Bildungsforschung gerade möglichst konkrete Handlungsanweisungen - sowohl für die Pädagogen als auch für die Bildungspolitiker. Insbesondere die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse hat die Vorstellung entstehen lassen, nun wisse man doch, worauf es ankomme, jetzt müsse eigentlich nur noch gehandelt werden, der Erkenntnis nur noch die Anwendung folgen.

Sprecher:
Der Ertrag der bisherigen empirischen Forschung für die unmittelbare pädagogische Praxis ist aber, wie erwähnt, sehr gering. Das liegt im Kern daran, dass jede solche Untersuchung ihren Gegenstand - z.B. die Unterrichtssituation - erst einmal für ihre Zwecke herrichten muss. Die einzelnen Aspekte, die sie untersuchen will - Variablen genannt -  wie zum Beispiel die Redezeit des Lehrers oder die Wortmeldungen der Schüler müssen aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und so definiert werden, dass man mit ihrer Hilfe zu messbaren Tatsachen gelangt, die sich in Tabellen und Statistiken umsetzen lassen. Auf diese Weise entsteht eine künstliche und auf den Forschungszweck hin konstruierte Wirklichkeit, die mit derjenigen, in der Lehrer tatsächlich handeln müssen, nicht mehr viel zu tun hat.

Sprecherin:
So hat die PISA-Studie, um überhaupt unterschiedliche nationale Bildungssysteme miteinander vergleichen zu können, den Maßstab der "Kompetenz" eingeführt. Nachweisen sollten die befragten Schüler ihre Kompetenz durch die Lösung anwendungsorientierter Aufgaben. Dabei wurden verschiedene Schwierigkeitsgrade vorgegeben, weil man ja auf ein Ranking im Vergleich der Nationen hinaus wollte. Geprüft wurde also nicht, was vorher gelernt wurde, wie es etwa bei Klassenarbeiten die Regel ist, sondern was das Gelernte wert ist, wenn damit bestimmte Anwendungsaufgaben gelöst werden sollen. Von der Fähigkeit dazu wird auf die Wirksamkeit des vorangegangenen Unterrichts zurückgeschlossen. Das nennt man Output-Orientierung, die also lediglich das Ergebnis im Blick hat. Warum der Unterricht nur teilweise zu einem guten Ergebnis führt, und wie man ihn verbessern könnte, war jedoch nicht das Thema der Untersuchung.



Sprecher:
Der Maßstab für "Kompetenz" hat Kritik in mancherlei Form auf sich gezogen: Erstens seien für die darauf bezogenen Tests nur solche Aufgaben geeignet, die eines geringen Maßes an Interpretation bedürfen, weil sonst die Antworten bzw. Lösungen nicht mehr miteinander verglichen werden können; Interpretationen von Gedichten oder anderen literarischen Texten z.B. seien so nicht zu beurteilen.  - Zweitens sei keineswegs erwiesen, dass die auf diese Weise propagierte Anwendungsorientierung des Lernens im späteren Berufsleben von Vorteil ist, wie unterstellt wird; in der Tat erscheinen manche Testaufgaben reichlich konstruiert und lebensfremd, in der beruflichen Praxis stellen sich Probleme selten in dieser Form.  - Drittens hätten diejenigen Schüler, die im Unterschied zu den deutschen an regelmäßige Tests gewöhnt seien, eine größere Chance, die für eine solche Untersuchung typischen Testaufgaben zu lösen; das könne man also trainieren.

Sprecherin:
Solche Einwände zeigen jedoch nur Grenzen eines solchen Verfahrens auf. Wenn andererseits fast ein Viertel der deutschen Schüler - wie PISA festgestellt hat - nur mangelhaft über eine so wichtige "Basiskompetenz" wie richtiges Lesen verfügen, dann fehlt ihnen eine notwendige Voraussetzung für alle darüber hinaus gehenden Bildungsansprüche - daran kann gar kein Zweifel bestehen. Aber wie Lehrer, in deren Klasse z.B. kaum ein Schüler der deutschen Sprache mächtig ist, diesen Mangel in den Griff kriegen sollen, sagt die Untersuchung nicht.
Ein anderes Beispiel: Jahrzehntelang hat die pädagogische Psychologie - national wie international - in zahllosen empirischen Untersuchungen herauszufinden versucht, ob es Regeln des erfolgreichen Lernens und Lehrens gibt, die für alle Unterrichtssituationen gültig sind und im Sinne einer Technik immer wieder erfolgreich benutzt werden können. Das Ergebnis ist ernüchternd. Keineswegs gibt es hier bereits ein hinreichendes Wissen, das nur auf seine Anwendung wartet.

Sprecher:
Franz E. Weinert, der auch international renommierteste deutsche Forscher auf diesem Gebiet, hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die hohen Erwartungen nicht erfüllt worden sind. Man habe alle möglichen Gesichtspunkte für den Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in Verbindung zu bringen versucht. Aber generell gültige Zusammenhänge seien dabei nicht zum Vorschein gekommen. Fast alles, was man untersucht habe, sei in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig; was in manchen Fällen erfolgreich funktioniere, versage unter anderen Bedingungen. Fazit: Man weiß nicht, was guter Unterricht ist und schon gar nicht, wie er zustande kommen könnte.

Sprecherin:
Wenn wir uns also die empirischen Forschungen genauer ansehen, machen wir eine merkwürdige Entdeckung: Was Lehrer mit ihren Schülern in Schulen tun, ist trotz einer unübersehbaren Fülle von Forschungsresultaten  von archaischer Unaufgeklärtheit geblieben. Je näher diese Forschung der Unterrichtssituation kommt, um so bedeutungsloser scheint sie dafür zu werden. Was in der Schule wirklich geschieht und warum es so und nicht anders geschieht, ist trotz aller bisherigen Bildungs- und Lernforschung immer noch weitgehend unbekannt. Was hat also ein Lehrer davon, wenn er deren Ergebnisse zur Kenntnis nimmt? Erhält er Hinweise darauf, was und wie er unterrichten soll oder seinen bisherigen Unterricht verbessern kann?
Was uns die Lernforschung anzubieten vermag, sind allgemeine Hinweise wie: Der Lehrer soll seinen Unterricht gut strukturieren, so dass die Schüler erkennen, an welchem Punkt des Lernprozesses sie gerade stehen. Er soll gelegentlich die Methode wechseln, also etwa vom Frontalunterricht zur Gruppenarbeit übergehen. Er soll die Schüler motivieren und Disziplinprobleme vermeiden. Das weiß ein erfahrener Lehrer eigentlich auch ohne Lernforschung, aber die Frage bleibt, wie er unter seinen Bedingungen solche Ziele  erreicht.

Sprecher:
Es geht bei solchen Vorbehalten nicht darum, die Bedeutung der empirischen Bildungs- und Lernforschung in Frage zu stellen, aber doch ihre Grenzen ins Bewusstsein zu heben. Was am pädagogischen Handeln und seinen Resultaten zu messen ist, sollte selbstverständlich auch gemessen werden. Die Stärke etwa der PISA-Studien liegt zweifellos darin, für bildungspolitische Entscheidungen und für die Überprüfung von Ergebnissen des pädagogischen Handelns nützliches Datenmaterial zur Verfügung zu stellen. Problematisch jedoch werden empirische Forschungsergebnisse dann, wenn das, was gemessen wird, nur weil es gemessen werden kann, auch schon für das Ganze gehalten wird.  Eine solche Fehleinschätzung darf jedenfalls nicht zum leitenden Motiv für die politische und administrative Führung der Schule werden. Dann droht die einfache Frage zu verschwinden, wozu wir eigentlich Kinder und Jugendliche solange in die Schule schicken.

Sprecherin:
Die Erziehungswissenschaft kann für sich nicht in erster Linie zum Maßstab machen, wie viel Drittmittel sie an Land zu ziehen vermag oder welche Position sie auf dem Markt des internationalen Ranking einnimmt. Die wichtigere Frage ist, welchen Beitrag sie für die Ausbildung von Lehrern und für die Aufklärung schulischen Handelns leistet. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Sache ganz anders dar, als die Kritiker meinen.


Sprecher:
Wer regelmäßig eine Fachzeitschrift wie die "Zeitschrift für Pädagogik" liest, wird kaum den Eindruck gewinnen, die Erziehungswissenschaft sei "nur bedingt wissenschaftlich" - wie die Kritiker meinen. Im Gegenteil hat sie sich gerade deshalb immer mehr von den Problemen der Praxis entfernt, weil sie sich in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenständigen Wissenschaft gemausert hat. Allerdings gilt das nicht nur für die empirische Forschung. Die historische Bildungsforschung z.B. hat enorme Fortschritte gemacht und inzwischen den handwerklichen Standard der Geschichtswissenschaft erreicht. Dass ihre Ergebnisse öffentlich nicht zur Kenntnis genommen werden, liegt nicht an den Autoren, sondern an der Geschichtslosigkeit der gegenwärtigen Bildungsdebatte. Wäre es anders, könnte man zum Beispiel leicht erkennen, dass manches von dem, was gegenwärtig in der Schulpädagogik als wichtige Neuheit und als besonders modern gehandelt wird, schon in der Weimarer Zeit icht gerade von Erfolg gekrönt war. Beispiele dafür sind etwa die Animosität gengen den Frontalunterricht, übertriebene Hoffnungen auf die Klassengemeinschaft als Medium "sozialen Lernens" oder methodische Einfälle, die die Schüler über die mit dem Lernen verbundenen Anstrengungen hinwegtäuschen sollen.  So etwas aus historischer Distanz mit der Gegenwart zu vergleichen, gäbe aktuellen Forschungsergebnissen erst ihre Würze.
Da nun die Erziehungswissenschaft eine richtige Wissenschaft geworden ist, bewegt sie sich auch in diesem Rahmen. Was dort getan und geschrieben wird, richtet sich vor allem nach den internen wissenschaftlichen Maßstäben, und weniger danach, ob es auch für die Schulpraxis von Bedeutung ist.

Sprecherin:
Dafür ein Beispiel: An der Universität lassen sich fast beliebig viele und verschiedene Schuldidaktiken - also Theorien des schulischen Lehrens und Lernens -  erfinden, sie müssen nur halbwegs logisch aufgebaut sein. Ob sie für den Schulunterricht etwas taugen, ist dabei belanglos. Die Lehrerstudenten lernen diese verschiedenen Didaktiken für die Prüfung, aber welchen Stellenwert diese in ihrem künftigen Beruf haben, erfahren sie oft nicht. Dabei ist die Sache ganz einfach: Wer einem anderen etwas erklären will, hat ein didaktisches Problem. Wenn zum Beispiel ein Ortsfremder nach dem Weg zum Bahnhof fragt, überlegt der Einheimische, wie er es ihm am einfachsten erklären kann. Im Prinzip ist das auch das Problem des Lehrers, wenn er seinen Stoff unterrichten will. Befragt der Lehrer also die Erziehungswissenschaft, wird er feststellen, dass viele Forschungsergebnisse für den Unterricht untauglich sind.

Sprecher:
Das hat durchaus einleuchtende Gründe. In der Erziehungswissenschaft muss sich immer mehr Personal wissenschaftlich profilieren, also etwa Doktorarbeiten schreiben. Das führt zu immer mehr Publikationen. Aber die dafür benötigte Themenfülle gibt die pädagogische Praxis nicht her, sie muss also anderswo gefunden werden. Dafür bieten sich die Nachbarwissenschaften wie Psychologie, Soziologie und neuerdings auch Hirnforschung an. Man übernimmt deren Erkenntnisse und Konstruktionen und deren für den Laien meist unverständliche Fachsprache und wendet sie auf pädagogische Themen an. Beispiele dafür aus der letzten Zeit sind etwa "Neurolinguistik", "Systemtheorie" und "Konstruktivismus". Außer vielleicht aus Gründen der Allgemeinbildung muss kein Lehrer wirklich wissen, worum es dabei geht, denn für die Qualität seines Unterrichts hat sich dies alles als weitgehend irrelevant erwiesen. Solche Theorien treten - den Gesetzen des Marktes gehorchend - gewissermaßen als Stein der Weisen für einen erfolgreichen Unterricht auf, hinterlassen aber wenig mehr als eine gespreizte Begriffsdogmatik, die nichts erklärt, was man nicht auch ohne sie bereits wusste. Die Probleme des pädagogischen Handelns werden ja nicht dadurch leichter gelöst, dass man sie immer wieder in neuen Fremdsprachen zum Ausdruck bringt. Was an solchen Moden teilweise vernünftig ist, lässt sich einfacher aus der pädagogischen Tradition oder aus überlieferter Berufserfahrung entnehmen. Für die Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft können solche theoretischen Konstruktionen durchaus interessant und sogar notwendig sein, aber vom Standpunkt des schulischen Handelns aus gesehen wird die Erziehungswissenschaft auf diese Weise vielfach selbst zum Problem, dessen Lösung sie eigentlich sein will: Sie hilft der Schulpraxis nicht, sondern belastet sie nur zusätzlich.
 


Sprecherin:
Damit sind wir auf den Kern unseres Problems gestoßen. Erziehung und Bildung sind als eine besondere gesellschaftliche Praxis anzusehen wie auf andere Weise Wirtschaft, Politik und Rechtsprechung. Erziehung und Bildung verdanken ihre Existenz nicht wissenschaftlichen Konstruktionen oder Anwendungen, sondern allein der biologischen Tatsache,  dass der Mensch bei seiner Geburt  nicht fähig ist, in seiner gesellschaftlichen Umgebung so aufzuwachsen, dass er an deren Regeln und Chancen optimal teilhaben kann. So gesehen, beruht zumindest die öffentliche Erziehung etwa in unseren Schulen auf einem politischen Willen, um nämlich in geeignet erscheinender Weise den Nachwuchs in die bestehenden sozialen Formationen zu integrieren; gelingt das nicht, droht politische Instabilität, wie sie gegenwärtig etwa am Beispiel der Parallelgesellschaften unter Immigranten diskutiert wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind in diesem Zusammenhang lediglich Hilfsmittel, die bei der Planung, Vorbereitung und Durchführung von Nutzen sein können, aber aus ihnen lässt sich keine gute oder richtige Praxis ableiten.

Sprecher:
Die pädagogische Praxis hat ihre eigene Logik, weil sie auf Handeln beruht. Der empirische Forscher muss nicht pädagogisch handeln, deshalb kann er das Handlungsfeld in beliebig viele Variablen zerlegen. Der Lehrer dagegen kann so nicht agieren, ohne zu scheitern. Wie jedes soziale Handeln eröffnet auch das Unterrichten Freiheiten für alle Beteiligten, die keine wissenschaftliche Logik gänzlich voraussehen kann. Die Schüler können mitmachen, abschalten oder stören, einige mögen den Lehrer, andere nicht, die einen verstehen schnell, die anderen brauchen dafür mehr Zeit. Anders gesagt: Der Schulunterricht ist immer auch ein Stück gemeinsamen Lebens, das von Klasse zu Klasse, von Lehrer zu Lehrer, je nach Region, Milieu oder Altersstufe erheblich variieren kann. Daraus entsteht ein komplizierter Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, der nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen ist, so dass man dem Lehrer sagen könnte: Wenn du das oder jenes so oder so tust, wirst du Erfolg haben.

Sprecherin:
Die wissenschaftliche Forschung - mag sie empirisch, historisch oder philosophisch sein - ist also für sich genommen für die pädagogische Praxis bedeutungslos. Sie wird vielmehr erst dann im Schulunterricht umgesetzt werden können, wenn der Lehrer die Ergebnisse der Forschung verknüpft mit seinen bisherigen Einsichten und Erfahrungen, auch wenn diese in den wissenschaftlichen Untersuchungen gar keine Rolle gespielt haben; er kann  also nicht bloß anwenden, was die Forschung ihm sagt. Was in der Praxis brauchbar ist oder nicht, kann nicht an den Schreibtischen der Hochschulen entschieden werden. Vom Standpunkt des pädagogischen Handelns aus können Forschungsresultate nichts weiter als Hilfsmittel sein, die je nach pädagogischer Situation erheblich, teilweise oder auch gar nicht von Nutzen sind.

Sprecher:
Bestimmte Lehrer unterrichten bestimmte Schüler an einer bestimmten Schule - das ist das einfachste Grundgerüst für das Verständnis der schulischen Praxis. Der Lehrerstudent bringt darüber bereits Vorstellungen mit, weil er Lehrer, Unterricht und Schule viele Jahre selbst erlebt hat. Diese Grundstruktur lässt sich in zentrale Themen aufteilen, die Gegenstand des Studiums sogar mehrerer Fächer werden können. Zu denken ist etwa an Themen wie Sozialisation, Erziehung, Bildung, Lehren, Lernen, Kindheit, Jugendalter usw.. Nun kommt es darauf an, die bei den Studenten schon vorhandenen Vorstellungen mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu präzisieren und dabei immer auch die eigenen Einstellungen und Erwartungen einer Prüfung zu unterziehen. Das ist ein Lernprozess, der mit dem Studium beginnt und bis zum Ende der Berufstätigkeit dauert.

Sprecherin:
Ferner muss man die unterschiedlichen Lernorte bedenken: An der Hochschule kann man nicht lernen, wie man mit Kindern umgeht, die gibt es dort nicht. Hier geht es unter anderem darum, die Fächer gründlich zu studieren, die später unterrichtet werden sollen. Nur mit einer guten Fachausbildung ist der Lehrer in der Lage, didaktische und methodische Fantasie in seinem Unterricht zu entfalten. Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist, den Studenten dabei zu helfen, wissenschaftlich fundierte Vorstellungen über das künftige Berufsfeld zu entwickeln. Dafür eignen sich - man glaubt es kaum - in besonderem Maße pädagogische Klassiker, also Autoren, die selbst pädagogisch tätig waren oder sind und darüber systematisch nachgedacht haben; hier steht nämlich die Handlungssituation im Mittelpunkt der Überlegungen. In der kritischen Auseinandersetzung mit ihnen lässt sich auch vorzüglich das wissenschaftliche Handwerk lernen, und in diesem Rahmen hätten auch empirische Forschungsergebnisse ihren Sinn. Vieles kann man jedoch nur im Berufsfeld selbst lernen - vor allem in den ersten Berufsjahren.

Sprecher:
Ob die Erziehungswissenschaft ihren Status als Berufswissenschaft für angehende und tätige Lehrer wird aufrechterhalten können, hängt davon ab, ob sie flexibel genug ist, ihr Wissen auch auf die Bedürfnisse berufsorientierter Studiengänge und auf die damit verbundenen Tätigkeiten hin zu organisieren. Gelingt ihr dies nicht, wird sie wie Psychologie, Soziologie oder Hirnforschung zu einem Fach, das sich mit vielem beschäftigt und dabei irgendwie auch mit pädagogischen Problemen. In welchem Ausmaß sie empirisch arbeitet, ist für ihre praktische Funktion nicht ausschlaggebend - es sei denn, sie findet dafür Formen, die der pädagogischen Praxis zum Beispiel in den Schulen unmittelbar von Nutzen sein können. Zu denken ist etwa an die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen oder an eine wissenschaftlich kontrollierte Unterstützung einzelner Schulen, um deren Probleme aufzuklären und das Handeln der Lehrer erfolgreicher zu machen. Derartige Forschungen gibt es längst, aber sie sind unspektakulär und werden wegen der lokalen Begrenztheit ihrer Ergebnisse international kaum Furore machen.

Sprecherin:
Die lediglich am Ergebnis orientierten groß angelegten empirischen Untersuchungen wie PISA lassen die Lehrer im Stich. Die Schulbehörden verzichten auf präzise Lehrpläne und legen statt dessen Standards fest, die der Unterricht erreichen soll. Diese Ergebnisorientierung kümmert sich wenig um die Probleme der Lehrer. Sie werden allein gelassen und leicht zum Prügelknaben für Eltern, Kultusbürokratie und öffentliche Meinung, wenn die Arbeit in der Schule nicht von Erfolg gekrönt ist. Siehe PISA. An dieser Art von Forschung muss sich die Erziehungswissenschaft nicht unbedingt beteiligen, die kann sie getrost den anderen Sozialwissenschaften überlassen.

Sprecher:
Auch wenn es durchaus auch schlechte Lehrer gibt, steckt in jedem Lehrerkollegium ein erhebliches Potenzial an pädagogischer Erfahrung, das genutzt werden sollte. Eine Ahnung davon bekommt man bei der Lektüre von Texten, die Lehrer über ihre Tätigkeit geschrieben haben. Deshalb könnte eine praxisbezogene Forschung durchaus ergiebig sein, wenn sie von den Problemen derjenigen ausgeht, die die Arbeit tun, nämlich der Lehrer. Daran ist die Politik als Auftraggeber und Hausherr der Schulen offensichtlich wenig interessiert, wohl weil sie dann viele Federn lassen müsste. Bei derart betriebsnahen Untersuchungen würden nicht nur Lehrer, Schüler und Eltern in die Kritik geraten, sondern selbstverständlich auch Politik und Bildungsbürokratie. Nur auf den ersten Blick gewährt nämlich die bildungspolitische Ergebnisorientierung den Lehrern neue didaktische und methodische Autonomie. Andererseits stiehlt sich dabei die Politik aus der Verantwortung für die Bedingungen, unter denen Lehrer arbeiten müssen. So wird das Desinteresse vieler Schüler und Eltern oft einseitig als pädagogisches Manko der Lehrer betrachtet, für dessen Beseitigung Fortbildung  nahegelegt wird.

Sprecherin:
 Das Desinteresse ist aber über weite Strecken auch Ergebnis der Demontage der Schule als staatlicher Institution. Diese fordert zwar Leistungen von den Lehrern, unterstützt sie aber kaum, wenn sie entsprechende Forderungen an Schüler oder Eltern richten; Lehrer müssten eben zur freiwilligen Mitarbeit motivieren können, heißt es dann. "Motivieren" ist zu einem pädagogischen Zauberwort geworden, das die Rücknahme staatlicher Forderungen an Schüler und deren Eltern kompensieren soll. Die Ergebnisse der großen empirischen Untersuchungen wie PISA würden eine ganz andere Farbe erhalten, wenn Lehrer öffentlichkeitswirksam beschreiben könnten, warum es gegenwärtig nach ihren Erfahrungen kaum möglich ist, bestimmten Gruppen von Kindern die Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben beizubringen.

Sprecher:
Eine praxisnahe Forschung kann aber nicht nur am Widerstand der Schulverwaltung, sondern auch an der Einstellung der Erziehungswissenschaftler scheitern. Groß ist nämlich die Versuchung, die Schulpraxis lediglich als Rohstoff für wissenschaftliche Arbeiten zu benutzen, die im wesentlichen nur innerhalb der Hochschulen von Bedeutung sind. Wird das vermieden, können daraus jedoch Hilfen für die pädagogische Praxis entstehen, aus denen sich auf Dauer vielleicht eher praktikable Faustregeln für erfolgreichen Unterricht finden oder bestätigen lassen als aus den verbissen auf Allgemeingültigkeit erpichten empirischen Großuntersuchungen.

Sprecherin:
Die Entwicklung von der Pädagogik zur modernen Erziehungswissenschaft wird sich nicht rückgängig machen lassen. Vermutlich wird sich die Distanz zwischen ihr und der pädagogischen Praxis noch weiter verschärfen. Man spricht bereits von zwei pädagogischen Kulturen, die einander fremd gegenüberstehen, die immer mehr auseinander driften und sich immer weniger zu sagen haben. Aufgegeben werden muss jedenfalls die Hoffnung, Erziehungswissenschaft sei die Lehre vom pädagogisch Machbaren, durch direkte Anwendung ihrer Forschungsergebnisse könne man lernen, wie man erfolgreich Schule macht.

Sprecher:
Die primäre Aufgabe der Erziehungswissenschaft ist im weitesten Sinne die Erforschung, Beschreibung und kritische Sondierung der Erziehungswirklichkeit. Dabei geht es in erster Linie um Kritik der Praxis, aus der aber nicht im Umkehrschluss auch deren erfolgreiche Konstruktion abgeleitet werden kann. Pädagogisch konstruiert werden kann nur dort, wo auch gehandelt wird, und dann bleibt die Praxis letztlich selbst das wichtigste Erfolgskriterium - ob es geklappt hat oder nicht. Empirische Forschungsmethoden sind nicht die einzigen, auf die es ankommt. Im Augenblick wäre eher nötig, durch eine gründliche historische und philosophische Kritik die Banalität der gegenwärtigen Bildungsdebatte aufzuzeigen oder doch die Akteure wenigstens zum Nachdenken zu bringen. Auch dafür gibt es längst Veröffentlichungen auf hohem Niveau - es fehlt nur das Publikum dafür. Der Zeitgeist, dem auch die eingangs zitierten Kritiker den Hof machen, wehrt sich noch gegen die notwendige Einsicht. - Aber das wird sich ändern, wenn der inhaltsleere Formalismus der aktuellen Bildungspolitik offenkundig und die einfache Frage wieder gestellt wird: Wozu ist die Schule eigentlich da - und auf welche Weise soll sie dem Bildungsgang der Schüler nützen?