Hermann Giesecke Vom elitären Anspruch zum Missbrauch Reformpädagogische Sozialromantik in der Odenwaldschule In: Das Gespräch aus der Ferne Nr.392, Sommer 2010, S. 17-21 Der folgende Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.© Hermann Giesecke Vorbemerkung:
Die Odenwaldschule, ein Internat im Hessischen Oberhambach, gilt seit
Jahrzehnten als eine reformpädagogische Vorzeigeschule. Zunächst durch
einen Artikel in der "Frankfurter Rundschau" vom 17.11.99, aber erst
seit Beginn des Jahres 2010 mit großer publizistischer Breitenwirkung
wird von ehemaligen Schülerinnen und Schülern ein Teil der Lehrer des
wiederholten, vor allem pädophil orientierten sexuellen Missbrauchs
beschuldigt. Als Täter wird insbesondere Gerold Becker (1936 - 2010)
genannt, der als pädagogischer Mitarbeiter (1969 – 1972) und als
Schulleiter (1972 – 1985) dort tätig war, aber auch nach seinem
Ausscheiden noch als Mitglied des Trägervereins und Vorsitzender des
Förderkreises der Schule verbunden blieb. Als Sexualdelikte sind die
Taten offenbar verjährt, dass sie tatsächlich stattgefunden haben, kann
angesichts der detaillierten Berichte von Opfern nicht bezweifelt
werden. Der Fall wirft viele Fragen auf, z.B.: Wieso konnten die Taten
so lange unentdeckt bleiben? Warum wurden die ersten Berichte Ende der
neunziger Jahre von der öffentlichen Meinung nicht aufgegriffen?
Wussten Verantwortliche davon und deckten die Täter? Dass in einer Internatseinrichtung wie der Odenwaldschule pädophil orientierte Männer sich sexuell an Kindern vergehen, ist nicht so ungewöhnlich, wie es scheinen könnte und zu wünschen wäre. Das kommt bekanntlich auch in Sportvereinen, in Jugendfreizeiten, in Jesuitenkollegs und anderen Internaten und vor allem und wohl am meisten in Familien und ihrem Umfeld vor. Insofern könnte man den Skandal, der die Odenwaldschule in Misskredit gebracht hat, als bedauerliche, aber leider nie ganz auszuschaltende Entgleisung einiger Lehrer abhaken. Die 'Einzelfälle' würden dann selbstverständlich aufgeklärt, die nötigen rechtlichen und personellen Konsequenzen gezogen, danach jedoch ginge es weiter wie gehabt. Aber in diesem Fall ist einiges schon besonders irritierend. Da gab es einen Schulleiter, der 13 Jahre lang alle, die mit ihm privat, kollegial oder sonst wie dienstlich zu tun hatten sowie alle einschlägigen Aufsichtsinstanzen täuschen und eine innerbetriebliche Struktur durchsetzen konnte, die seinen sexuellen Bestrebungen und Neigungen ebenso unauffällig wie effektiv entgegen kam. Man kann aus den Berichten gerade auch der Opfer sogar den Eindruck gewinnen, dass alles, was er tat, von diesem einen Zweck her gesteuert war: Die einfühlsame Aufmerksamkeit für das einzelne Kind; die demonstrativ zur Schau gestellte Verbundenheit mit einem Netzwerk öffentlich anerkannter reformpädagogischer Theoretiker und Praktiker; die gewollte und geduldete Aura von Regellosigkeit im internen Sozialgefüge, die auch den Schülern ein hohes Maß an persönlicher Freiheit zu garantieren schien; die Hochschätzung menschlicher Unmittelbarkeit verbunden mit der Abwertung institutioneller Verfahren - auch im Umgang mit der an sich programmatisch hochgehaltenen Mitbestimmung der Schüler. Was nicht wenige Schüler dieses Internats auch als Erwachsene rückschauend immer noch menschlich und pädagogisch für bedeutsam halten - nur Teil einer dem sexuellen Bedürfnis dienenden Strategie? Gewiss sind die für die Schule zuständigen Aufsichtsgremien nun auch verantwortlich für das, was geschehen ist, deshalb war der radikale personelle Wechsel, der inzwischen stattgefunden hat, wohl unvermeidlich. Aber das Phänomen der permanenten Täuschung und die damit verbundenen innerbetrieblichen Folgen müssen analysiert werden, damit sich ein Betrug dieser Größenordnung nicht so leicht wiederholen kann. Zum Komplex der Täuschung gehörte übrigens auch, dass der Schulleiter Becker vorsichtige Nachfragen und Andeutungen aus Anlass der ersten öffentlich geäußerten Vorwürfe mit der entwaffnend-treuherzigen Gegenfrage: "Traust du mir das zu"? konterte, was angesichts seines hohen Ansehens nicht so einfach mit einem "Ja" zu beantworten war, vielmehr zur "Übertragung der Beschämung auf die Fragenden"(1) führte. Nun ist durch diesen Eklat die sogenannte "Reformpädagogik", auf die sich die Odenwaldschule berief, generell in Verruf geraten, weil sie in besonderer Weise pädophilen Neigungen entgegen komme. Richtig daran ist wohl, dass es pädagogische Theorien gibt, die sich besser oder schlechter zur Verschleierung oder gar Rechtfertigung des Missbrauchs eignen. 17 Davon wird gleich noch die Rede sein. Aber klar ist auch, dass gegen einen Teil der Lehrer in der Odenwaldschule - vermutlich den größeren - niemals Vorwürfe wegen sexueller Verfehlungen erhoben wurden, obwohl sie sich doch aus dem gleichen reformpädagogischen Theorienschatz bedienten. Einfache Ableitungen sind hier offenbar nicht möglich, aber durchaus einige Hinweise auf pädagogische Besonderheiten, die sich zumindest in diesem Falle als fatal erwiesen haben. 1. Da ist zunächst ein falsches pädagogisches Verständnis von menschlicher Nähe zu nennen. Die soziale Grundeinheit in der Odenwaldschule war und ist die "Familie", nämlich eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die in einem Haus bzw. in der Etage eines bestimmten Hauses mit einem ohnehin im Internat tätigen Lehrer oder einem Ehepaar als "Familienhaupt" ihren 'Wohnsitz' hat. Offensichtlich befanden sich in den "Familien" Beckers und seines ebenfalls pädophilen Kollegen Held - die die beiden Etagen eines Hauses bewohnten - keine Mädchen, was eigentlich schon hätte auffallen müssen. Vermutlich beruht diese "Familien"-Konstruktion - gewerkschaftlich betrachtet - auf einem ausbeuterischen Arbeitsverhältnis, weil die moderne Trennung von Arbeit und Freizeit hier weitgehend aufgehoben wird. Selbst wenn diese Tatsache von den beteiligten Pädagogen dank eines elitären beruflichen Selbstverständnisses überspielt wird, bleibt die Frage, ob eine solche auf Dauer gestellte soziale Konstruktion den Schülern wirklich nutzt. Der Begriff 'Familie' ist hier nämlich schon deshalb irreführend, weil die Schüler als 'Kinder' zu Hause durchweg zu einer Familie gehören - auch wenn sie damit mehr oder weniger unzufrieden gewesen sein sollten. Selbst die Sozialpädagogik spricht in den Fällen, wo sie wie etwa in SOS-Kinderdörfern elternlose Kinder aufwachsen lässt, aus gutem Grund primär von "Kinderdorf", und in dessen Häusern nur mit emotionaler Distanz auch von "Familien" - bestehend aus Kindern unterschiedlichen Alters unter Betreuung einer "Hausmutter" -, zumal der "Vater" ohnehin fehlt. Dennoch entstehen dort nicht selten lebenslang verbindliche Beziehungen von Kindern untereinander wie auch zur Hausmutter. Familie, so ist die Erfahrung der klassischen Sozialpädagogik, kann nicht imitiert, sondern nur kompensiert werden, aber das bleibt 'Ersatz' und soll auch gar nicht erst soziale Illusionen aufkommen lassen. Die drohen aber leicht, wenn wie in der Odenwaldschule räumliche Dauernähe und falsche Sozialvorstellungen schon der Pädagogen und erst recht in den Erwartungen der Kinder und Jugendlichen das Klima einer permanenten Intimität entstehen lassen, die pädagogisch aus keinem Grunde nötig und vertretbar ist. Im Gegenteil käme es darauf an, Kindern und Jugendlichen ein primär auf kultivierter Distanz beruhendes Repertoire des Umgangs und Verhaltens beispielhaft vorzuführen, das vor allem auf wechselseitigem Wohlwollen und gegenseitigem Respekt beruht und - nicht zu vergessen - auf Solidarität - zur Not auch gegen Lehrer. Diejenigen ehemaligen Schüler, die subjektiv gewiss überzeugend ihre Schulzeit in den fraglichen Jahren trotz allem loben, müssen sich heute fragen lassen, warum sie etwa im Alter von Abiturienten zwar Spottlieder über die sexuellen Vorlieben des Schulleiters erfunden, aber den 'kleinen' Schülern keinerlei solidarische Unterstützung etwa in den dafür zuständigen Gremien der Schule angeboten haben. Das ist keine Frage individueller Schuld, wohl aber eine nach der objektiven pädagogischen Qualität der Schule in den damaligen Jahren. Generell müssen Kinder in der modernen Gesellschaft lernen, ihre emotionalen Bedürfnisse an die richtige soziale Adresse zu richten. Für "Nähe" sind Familien, Liebesbeziehungen und Freundschaften zuständig, nicht Lehrer oder andere professionelle pädagogische Berufsgruppen. Auch "Zärtlichkeit" kann nicht zum Leitmotiv einer professionellen pädagogischen Beziehung zählen. Diese gibt es im Unterschied zur Familienbeziehung, die lebenslang gültig bleibt, nur auf Zeit und sie darf emotional nicht so eng werden, dass sie nicht von beiden Seiten jederzeit wieder ohne allzu massive Verlustgefühle beendet werden könnte. Das schließt keineswegs aus, dass sich nach deren Ende dauerhafte Freundschaften etwa zwischen ehemaligen Schülern und ihren Lehrern entwickeln. Aber das ist eine private Entscheidung, für die es eine je individuelle Option geben muss. 2. Spätestens an dieser Stelle ist eine kurze Zwischenbemerkung über die deutsche Reformpädagogik insgesamt nötig. Sie war nämlich von Anfang an - schon vor dem 1. Weltkrieg - nicht nur ein leidenschaftlicher pädagogischer Korrekturversuch an der autoritären 'alten' Schule, sie war und ist bis heute immer noch primär eine politisch-gesellschaftliche Weltanschauung, deren pädagogische Kernpostulate etwa von "Ganzheitlichkeit" und "Nähe" auf vormoderne und vordemokratische Sozialvorstellungen zurückgehen. "Die Schulgründer der ersten Generation waren oft gefallene protestantische Theologen, die nach Glaubensersatz suchten und ihn in 'Landerziehungsheimen' fanden. Zu ihnen zählten ein bekennender Päderast und Antisemit (Gustav Wyneken), ein antisemitischer Chauvinist (Hermann Lietz) und ein selbsternannter pädagogischer Seher (Paul Geheeb), dessen Schule (die Odenwaldschule, H.G.) seine Frau geführt hat. Politisch bewegten sich einige der Gründer am rechten Rand, was für viele Reformpädagogen gesagt werden kann, die von der Idee der geschlossenen 'Volksgemeinschaft' ausgingen und damit 18 antidemokratische Führungsphantasien verbanden. Eine deutliche Nähe zum Nationalsozialismus zeigte etwa Peter Petersen, der mit seiner Jenaplan-Pädagogik bis heute Beachtung findet. Der Berliner Schulreformer Berthold Otto dachte sich die künftige Gesellschaft als sozialistische Monarchie, was es ihm leichtmachte, kurz vor seinem Tod noch die Machtergreifung Hitlers zu begrüßen. ... Ellen Key ..., die die "Pädagogik vom Kinde aus" verkündete, "war bekennende Eugenikerin. Und Maria Montessori, die andere Ikone, suchte zeitig die Nähe zum italienischen Faschismus, bevor sie sich der Theosophie zuwandte."(2) Nun diskreditieren derlei politisch-ideologische Merkwürdigkeiten ebenso wenig automatisch die pädagogische Qualität der damit verbundenen praktischen pädagogischen Projekte wie der aufgedeckte Missbrauch das Konzept der Odenwaldschule im Ganzen. Gelegentlich wie bei den Montessori-Kindergärten erwiesen sich die pädagogischen Ideen als den politideologischen Fehldeutungen ihrer Erfinder überlegen. Aber auch in der Gegenwart spielen beim Kult der Nähe und Ganzheitlichkeit politisch-ideologische Prämissen eine Rolle und sind in Einzelfällen vielleicht sogar der eigentliche Beweggrund. Durch sie unterschied sich von Beginn an die deutsche Variante von der internationalen Linie der Reformpädagogik, die sich stärker an wissenschaftlichen, vor allem kinderpsychologischen Begründungen orientierte. In der deutschen Version wird durchweg übersehen, dass die modernen Freiheiten nicht auf Ganzheiten, sondern auf Trennungen beruhen, etwa zwischen Arbeit und Freizeit, Nähe und Distanz, Privat und Öffentlich, Professionalität und Laientum bis hin zur Trennung zwischen den staatlichen Gewalten. Eine dem entgegenstehende anti-moderne Tendenz ist auch in der Odenwaldschule teilweise offensichtlich noch zu finden. Von der nicht geregelten Trennung von Arbeit und Freizeit war schon die Rede, die auf Dauer dazu führen kann, dass Kommunikation jederzeit erwartet werden darf. Der Lehrer ist Tag und Nacht leicht 'nebenan' für die Erörterung von 'Problemen' zu erreichen, ohne dass der Ratsuchende überlegen muss, ob seine Sache etwa im Unterschied zu einer aktuellen Gefahrenlage nicht auch bis zum nächsten Tag warten kann. Andererseits sind die Schüler der 'Familie' rund um die Uhr für den Lehrer zu erreichen - gegebenenfalls eben auch für sexuelle Belästigungen. Auch ohne diese ist die dabei zum Ausdruck kommende Distanzlosigkeit von keinerlei pädagogischem Nutzen. Die Berichte von Opfern zeigen, wie ohnmächtig sie sich durch die uneingeschränkte Verfügbarkeit gefühlt haben. 3. "Nähe" und "Ganzheitlichkeit" gehören im reformpädagogischen Vorstellungshorizont zusammen und werden in der Regel damit begründet, dass die Pädagogik sich auf den "ganzen Menschen" richten müsse, nicht nur auf seinen Verstand und auf begrenzte kognitive Leistungen, sondern auch auf seine Gefühle. Das ist tatsächlich bis etwa zum Schulentritt richtig, weil das Kind in den ersten Lebensjahren auf die umfassende Fürsorgetätigkeit der zuständigen Erwachsenen und damit im Wesentlichen auf die familiären Nahbeziehungen angewiesen ist. Aber schon in der Grundschulzeit muss eine soziale Differenzierung beginnen. Die Lehrerin ist nicht Mutter oder Tante, der Lehrer nicht Vater oder Onkel, die Mitschüler sind keine Geschwister, aber auch nicht von vornherein allesamt Freunde. Wenn ein Kind sich mit einigen Mitschülern enger anfreundet - wie und nach welchen Maßstäben soll es dann mit den anderen umgehen? Der gemeinsame Unterricht verlangt unabhängig davon, wie gut einem die anderen gefallen, eine sachbezogene Arbeitshaltung. Solidarisch etwa muss man auch mit denen sein, die man eigentlich nicht ausstehen kann. Mit der Schule beginnt also der Eintritt des Kindes in das öffentliche Leben, womit notwendigerweise wichtige Ergänzungen des bisher in der Familie auf Nähe und tendenziell auf personale Ganzheit begrenzten Verhaltensrepertoires verbunden sein müssen. Nun ändert sich auch der Modus von Erziehung, öffentliche Erziehung muss in modernen pluralistischen und komplexen Gesellschaften von anderer Art sein als familiäre, sie lässt sich nun nur noch als begrenzte Intervention in das Leben des Kindes beschreiben (3). Der Unterricht in der Schule z.B. fordert eben in erster Linie begrenzte unterrichtsrelevante Leistungen heraus. Wer schlecht in 'Mathe' ist, kann als Ersatz dafür nicht auf seine Künste beim privaten Klavierspielen verweisen. Die sozialpädagogische Intervention andererseits konzentriert sich auf die Korrektur eines bestimmten Verhaltens, ohne dabei einen Anspruch auf die Gesamtpersönlichkeit zu erheben. Der junge Mensch muss lernen, die Ganzheit seiner Person im Stile einer sich selbst und andere überzeugenden Konstruktion von Identität selbst zu entwickeln und dabei seine unterschiedlichen und nicht selten auch widersprüchlichen Erfahrungen zu nutzen. Das kann ihm nur gelingen, wenn die professionell mit seiner Erziehung beauftragten Erwachsenen etwa in der Schule ein hinreichend differenziertes Verhaltens auch von ihm erwarten. Die reformpädagogische Vorstellung jedoch unterscheidet nicht zwischen familiärer und öffentlicher Erziehung - dieser Mangel führt notwendig zu zahlreichen Missverständnissen und er lässt sich an einem Zitat aus einem Vortrag von Hartmut von Hentig erkennen, den er im Januar 2010 - noch vor Beginn der Diskussion über den Missbrauch in der Odenwaldschule - gehalten hat. Diese Schule bezog sich schon damals weitgehend auf Hentigs Erziehungstheorie. "Dass man Kinder mögen muss, um ihr Erzieher sein zu können, wird leicht dahergeredet. Man erspart sich damit die Einsicht, wie viel mehr dieses 'Mögen' sein muss als die Abwe- 19 senheit von Unlust und Ungeduld oder bloßes Aushalten aus Pflicht. Es muss eine Freude an ihrer Lebhaftigkeit und zunehmenden Freiheit, Neugier auf ihren Wandel, Wohlgefallen an ihrer Wohlgestalt einschließen – und von daher eine Bereitschaft, mit ihnen zu teilen, zu rechten, zu leiden, zu fantasieren, die Zeit zu vergessen, längst Bekanntes neu zu entdecken. Eine solche – nun wage ich das Wort – Liebe zu Kindern erleichtert dem Erzieher seine Aufgabe nicht nur, sie fordert Opfer von ihm, die nur dann taugen, wenn er sie gern bringt. Früher hat man das den 'pädagogischen Eros' genannt. ... Unsere aufgeklärte Gesellschaft ist in diesem Punkt kleinmütig. Sie blickt misstrauisch auf jede Zärtlichkeit und errichtet fürsorgliche Schutzvorkehrungen gegen den scheuen Gott."(4) Weil hier nicht zwischen familiärem und professionellem erzieherischen Handeln unterschieden wird, wird dem professionellen ein Anspruch entgegengebracht, der nirgendwo im wirklichen Berufsleben auch nur annähernd eingelöst werden kann. Man stelle sich einen Lehrer vor, der sich an diesen rigorosen Forderungen orientieren wollte - jede Stunde mit einer neuen Klasse; er soll immer wieder neu nicht nur "Opfer bringen", dies muss zudem unbedingt auch "gern" geschehen! Schon im Hinblick auf unser normales Privatleben lehrt uns die Psychoanalyse, mit dem Willen zum Opfer vorsichtig umzugehen. 4. Nach den bisherigen Überlegungen fällt die Schlussfolgerung nicht schwer, dass die pädagogische Beziehung in diesem Klima von Nähe und Ganzheitlichkeit nicht professionell verstanden und entsprechend organisiert wurde. Selbst wenn die Gefahr sexueller Verfehlung im Ernst nicht bestünde, kann Professionalität in pädagogischen Berufen im sprachlichen Umkreis von 'Liebe' und 'Zärtlichkeit' nur zu illusionären sozialen und emotionalen Erwartungen - und somit auch zu falschen Versprechungen - führen. Sie beruht unter anderem auf Erlernbarkeit und Wiederholbarkeit. Eine professionelle Einstellung muss keineswegs zu distanzierter Teilnahmslosigkeit führen. Zugewandtheit, Interesse, Aufmerksamkeit, Ermunterung, gegebenenfalls auch Trost - und damit Teile aus von Hentigs Liste - gehören als Bestandteile durchaus dazu. Aber ohne die professionell ebenfalls gebotene Zurückhaltung, die in der Odenwaldschule offensichtlich fehlte, droht eine 'Feudalisierung' der pädagogischen Beziehung, die dem Erwachsenen u.a. ein unzulässiges Maß an Macht verleiht. Als "Oberhaupt" in den "Familien" erlangen die jeweiligen Lehrer für eine bestimmte Gruppe von Schülern nicht nur während der Schulzeit, sondern darüber hinaus rund um die Uhr auf diesem Wege eine kaum eingeschränkte Machtfülle, von der nach Angabe von Opfern durchaus auch drohend Gebrauch gemacht wurde, um etwa eine Aufdeckung des Missbrauchs zu verhindern. Diese Macht ist viel zu umfassend, als dass sie der selbständigen Entwicklung der Kinder von Nutzen sein könnte - auch wenn nur sparsam von ihr Gebrauch gemacht würde. 5. Zu der 'Feudalisierung' der Beziehungen trug wesentlich der öfter in den Berichten erwähnte chaotische Führungs- und Organisationsstil des Leiters bei (5). Junge Leute nehmen einen solchen Schlendrian im Vergleich zu ihren früheren Schul- oder Familienerfahrungen zunächst vielleicht als wohltuend wahr. Er schwächt aber auch institutionell fundierte Korrektur- und Kritikmöglichkeiten etwa im Rahmen der Schülermitbestimmung - diese fallen ebenfalls der öffentlichen Verwahrlosung anheim. Was zunächst lediglich als persönliche Schwäche des Leiters erscheinen mag, stützt jedoch die erwähnte überdimensionierte Machtbeziehung, weil sich dagegen kaum ein institutionell abgesichertes Korrektiv entfalten kann. Statt dessen wird unter dem Leitmotiv der pädagogischen Ideologie von "Nähe" und "Ganzheit" mögliche Kritik von vornherein wieder nur im Rahmen der personalen Intimisierung - von Person zu Person - formulierbar, während institutionelle Autonomie als Störung dieser Kommunikation gedeutet und beklagt wird. 'Wir brauchen den Formalismus nicht, wir regeln alles von Angesicht zu Angesicht' - so etwa lautet dann die Parole. 6. Amelie Fried, die sich in einem Beitrag lobend wie kritisch zu ihrer Schulzeit in der fraglichen Zeit an der Odenwaldschule geäußert hat, schreibt über den Missbrauch: "Den missbrauchten Schülern ... wurde erfolgreich suggeriert, dass alles in Ordnung sei, dass der verehrte Direktor (oder Musiklehrer) jemand war, der sie ganz und gar verstand und besonders gern hatte, dass sie auf diese Auszeichnung stolz sein könnten, dass nichts Schlimmes daran war, sich die gegenseitige Zuneigung zu zeigen. Obendrein wurde gern das Ideal der griechischen Knabenliebe bemüht, womit dem kriminellen Treiben gewissermaßen die höheren Weihen verliehen wurden".(6) Diese Beschreibung scheint auf ein weiteres - damaliges - Problem in dieser Schule zu verweisen, nämlich das Fehlen einer dem Missbrauch entgegenstehenden 'öffentlichen Meinung'. Jedes einigermaßen dauerhafte soziale System und also auch eine Internatsschule bildet eine solche öffentliche Meinung aus, auf die sich das pädagogische Handeln wie auch das Verhalten der Schüler begründend beziehen kann. Für die Herstellung einer 'richtigen', die pädagogisch erstrebten Normen und Werte bewusst machenden, sie schützenden und durchsetzenden 'öffentlichen Meinung' sind die professionellen Pädagogen verantwortlich. Nur unter Bezug darauf können sie auf Dauer ihre pädagogischen Ziele erfolgreich zur Geltung bringen und realisieren. Nur dann erhalten die pädagogischen Argumente und Maßnahmen einen kollektiven Bezug zur gesamten Institution, sonst verbleiben sie in den Grenzen von Einzelgesprächen. In diesem Fall scheint der Missbrauch, als elitäres Auserwähltsein versteckt, ebenso 20 bereits Teil der öffentlichen Meinung geworden zu sein wie das 'selbstverständliche' gemeinsame Duschen (7). Die 'öffentliche Meinung' in einem Internat enthält mehr, als sich in den üblichen Hausordnungen findet, darüber hinaus geht es um Ton und Stil von Konfliktlösungen, um Aufklärung über die Maßstäbe des Zusammenlebens, überhaupt um ein Bewusstsein der gemeinsamen Sache, aber auch um den Schutz desjenigen, der Beschwerden vorzubringen hat. Dafür werden entsprechende innerbetriebliche Strukturen gebraucht und Institutionen, in denen so etwas verhandelt werden kann - vielleicht Vollversammlungen oder gewählte Schülergremien, deren Beschlüsse nur mit einem begründeten Vetorecht der Schulleitung abgelehnt werden können. Die erwähnte Feudalisierung der pädagogischen Beziehung ist dafür nicht geeignet. 7. Fazit: Man kann in pädagogischen Einrichtungen sexuelle Vergehen an Kindern nicht restlos ausschließen, aber man kann verhindern, dass sie wie in der Odenwaldschule Teil des sozialen Systems werden. Nötig ist dafür eine realistische Vorstellung über die Möglichkeiten von Erziehung und Bildung in einem Internat und damit der Verzicht auf weltfremde emotional-moralische Höchsterwartungen an die Erzieher. Eine professionelle Balance von Nähe und Distanz und die Vermeidung sozio-emotionaler Fehldeutungen ("Familie") sind dafür ebenso nützlich wie klar geregelte innerbetriebliche Institutionen für die Mitarbeit aller Beteiligten, für die Transparenz der pädagogischen Arbeit und für ihre Kontrolle von innen und außen. "Solidarität" untereinander und vor allem auch der Stärkeren und Älteren mit den Schwächeren und Jüngeren könnte ein zentrales Leitmotiv der 'öffentlichen Meinung' in einer solchen Einrichtung werden. In einem solchen Rahmen wäre dann auch Platz für vielfältige formelle wie informelle Umgangsformen zwischen Erwachsenen und Kindern, die letzteren dienen und beiden Seiten Freude bereiten können. 21 Anmerkungen: (1) Reinhard Kahl: Hartmut von Hentig
muss reden. In: DIE ZEIT Nr. 17/22.4.10 Dazu kritisch und zudem die Ansätze der
ideologisch anders fundierten sozialistischen und jüdischen
Reformpädagogik wieder in Erinnerung rufend: Micha Brumlik: Die
Reformpädagogik als internationale Bewegung. Ethos der Erziehung: Der
Streit um die Reformpädagogik. In: Blätter für deutsche und
internationale Politik, Mai 2010 (6) Amelie Fried: Die rettende Hölle. In: FAZ.NET, 13.03.2010 (7) Bei solchen Einzelheiten muss man sich allerdings an den damaligen Zeitgeist erinnern, der gerade auch im Rahmen 'linker' Überzeugungen öffentliche Diskussionen über die "Befreiung der kindlichen Sexualität" und die Straffreiheit für "gewaltfreie" sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern vom Zaune brach. Vgl.: "Kuck mal, meine Vagina". In: DER SPIEGEL Nr. 25/21.6.2010, S.40-45. Wolfgang Kraushaar: Bewegte Männer? Wie Teile der Linken und der alternativen Szene Pädophilie als Emanzipation begriffen. In: DIE ZEIT Nr.22/27.5.2010, S. 64
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