Hermann
Giesecke Pädagogik
- quo vadis? Ein Essay über Bildung im
Kapitalismus Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Forderung als pädagogische Maxime 2. Kritik der Psychologisierung 3. Kritik der Ökonomisierung 4. Praxis und Theorie 5. Ausblick (Mit freundlicher Genehmigung des Juventa-Verlages) ... Der
folgende Essay geht davon aus, dass die Verworrenheit und
Kompliziertheit der gegenwärtigen Bildungsdiskussion nicht
unvermeidlich ist und dass durch eine weitere Fortschreibung der bisher
üblichen Argumentationssequenzen kein Nutzen mehr zu erwarten ist. Er
wählt deswegen eine Perspektive "von unten" - aus der Sicht derer, die
pädagogisch handeln müssen - und geht damit auf direktem Wege, ohne
Durchgang durch die wissenschaftliche und politische Quellenlage, auf
jene umfangreiche gesellschaftliche Tätigkeit zu, die man eine
pädagogische nennt. Ausgangspunkt ist also die Praxis, nicht irgendeine
Theorie darüber. Wählt man diesen Blick, dann ordnet sich die
Wirklichkeit in eigentümlicher Weise neu - nicht nach bestimmten
politisch-ideologischen Positionen, nicht nach einem bestimmten
massenmedialen publizistischen Mainstream, auch nicht nach der
Systematik moderner Wissenschaft. Pädagogik 'von unten' heißt nicht, Rezepte zum Besten zu geben, damit hantiert bereits eine kaum zu überblickende Ratgeberliteratur, die allerdings für den pädagogischen Alltag mehr verspricht, als sie halten kann. Es geht vielmehr zunächst - im 1. Kapitel - um die Frage, wieso eigentlich von Pflichten und Forderungen im aktuellen pädagogischen Diskurs praktisch keine Rede mehr ist. Demgegenüber gilt es, das Grundproblem des pädagogischen Handelns freizulegen, ... : Die naturgegebene Differenz zwischen der Geburt eines Menschen und seiner biologischen und gesellschaftlichen Reife über Jahre hinweg so zu gestalten, dass sie von den Heranwachsenden selbst überwunden werden kann. Ist die notwendige gesellschaftliche und soziale Integration im biographischen Prozess auf diese Weise erreicht, ist die pädagogische Aufgabe und damit die allgemeine Begründung für die Veranstaltung von Erziehung und Bildung beendet. Was wir heute darüber hinaus unter "lebenslangem Lernen" verstehen - also etwa der Bereich der Erwachsenenbildung - bedarf einer davon unterschiedenen Begründung, ist gleichsam eine kulturell bedingte Zutat, wie notwendig sie auch sein mag. Wenn man die Mitwirkung am Abbau der Differenz zwischen Geburt und Reife als den Kernpunkt der pädagogischen Aufgabe versteht, dann ist sie nicht nur als eine private etwa in den Familien, oder als eine professionelle wie in den Schulen, sondern darüber hinaus als eine gesamtgesellschaftliche zu verstehen, also als eine solche, an der alle Teile der Gesellschaft in irgendeiner Form beteiligt sind und sein müssen. Darin besteht der politische Charakter bzw. die politische Implikation des pädagogischen Handelns. Dieses pädagogische Fundamentalprogramm wird im 1. Kapitel gleichsam 'von unten' her beschrieben und in einigen wesentlichen Schlussfolgerungen erörtert, wobei die Kategorie der Forderung besonders betont wird, weil sie im öffentlichen Diskurs - im Vergleich zu ihrem Pendant, der Förderung - weitgehend zum Verschwinden gebracht wurde, obwohl Fördern doch nur unter Bezug zu Fordern einen Sinn ergibt. Man kann dieses Kapitel also auch als eine kurz gefasste Antwort auf die Frage lesen: Was ist Pädagogik? Die folgenden drei Kapitel gehen der Frage nach, welche Einflüsse dafür gesorgt haben, dass die im Grunde so elementare wie einfache Aufgabenbeschreibung des pädagogischen Handelns bis weit in den öffentlichen Diskurs hinein in Vergessenheit geraten oder auch wirksam verdrängt worden ist. Das pädagogische Prinzip - so die Antwort - steht gewissermaßen in Wettbewerb mit ideologischen Widersachern, von denen Psychologisierung und Ökonomisierung genauer erörtert werden. Die Pädagogik bzw. das pädagogische Handeln, so das 2. Kapitel, wurde Zug um Zug verdrängt durch eine Psychologisierung aller pädagogisch relevanten menschlichen Beziehungen - bzw. umgekehrt durch die Umdeutung aller pädagogischen Tatsachen, Aufgaben und Ansprüche in unmittelbare, insbesondere emotional zu verstehende menschliche Beziehungsdimensionen. Diese Tendenz ist schon seit Ende der sechziger Jahre zu beobachten, in ihrem Rahmen verschwindet nicht nur die Kategorie der Forderung, sondern auch das Soziale wird als Hüter und Vermittlungsinstanz von normativen Ansprüchen ausgeblendet und auf die unmittelbare Beziehungsebene reduziert. Mit dem Sozialen als pädagogischer Kategorie sind auch die damit verbundenen inneren Grundstrukturen - Hierarchien, Arbeitsteilungen, Normalfall und Abweichung - verdrängt worden, obwohl gerade diese das Alltagsleben von Kindern ordnen und normieren ... . Diese als 'Psychologisierung' beschriebene Veränderung ist so weit fortgeschritten, dass sie in der öffentlichen Argumentation nachgerade als selbstverständlich gilt und deswegen kaum noch bemerkt oder gar als Problem betrachtet wird. Sie hat positive, aber leider auch negative Folgen für das öffentliche Verständnis pädagogischer Interpretationen und Handlungen. Zu den positiven gehört zweifellos eine erhebliche Zunahme an einfühlendem Verständnis auch in der nichtfachlichen Öffentlichkeit für die Schwierigkeiten und Problemlagen von Kindern und Jugendlichen. Eine bedeutsame negative Nebenwirkung besteht jedoch darin, dass sich auf diese Weise eine Vorstellung von Individualität und Individualisierung herausbilden konnte, die auf politischen, sozialen und ökonomischen Illusionen beruht und schon insofern als pädagogisches Leitmotiv eigentlich untauglich ist. So kann sie als Wegbereiter wie als Stützpunkt für die Ökonomisierung des Bildungswesens und des pädagogischen Denkens verstanden werden, wie es sich über weite Strecken gerade auch unter dem Eindruck der modernen neo-liberalen Theoreme im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt hat. Mit dieser Tendenz wurden ökonomisch-organisatorische Prinzipien vom wirtschaftlichen Terrain aus auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche wie Politik, Kultur und Bildung ausgedehnt. In Folge davon wurde der Wertepluralismus zerstört, der noch in der traditionellen "Sozialen Marktwirtschaft" dafür sorgte, dass die ökonomischen Werte durch andere kulturelle und religiöse Werte gleichsam in Schach gehalten wurden, so dass auf diese Weise sich eine Wertebalance zwischen den wichtigsten gesellschaftlichen Teilbereichen entfalten, stabilisieren und im öffentlichen Diskurs durchsetzen konnte. Durch das Entschwinden der erwähnten Balance setzte sich eine pädagogisch neue 'Theorie der Individualisierung durch, die die Psychologisierung bereits erfunden hatte. Sie kann sich allerdings nicht mehr auf die Bildungstradition berufen, obwohl das verbal immer wieder geschieht. Die klassische Bildungstheorie ging vielmehr davon aus, dass Individualisierung nur als Resultat einer ständigen geistigen Bearbeitung des Selbst in der Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen Zug um Zug entstehen könne; deshalb galt es als so wichtig, "Fächer" zu studieren und zu unterrichten. Das neue Konzept der Individualisierung beruht dem gegenüber auf der von vornherein "autonom" und insofern voraussetzungslos gedachten, aber deswegen eben auch nicht durch vorgegebene soziale Bindungen definierten Persönlichkeitsvorstellung eines frei nach Marktlage entscheidenden "flexiblen" Marktteilnehmers. Davon und überhaupt von den vielfältigen Beziehungen der Pädagogik zur Ökonomie ist im 3. Kapitel die Rede. Dazu gehört auch die Kritik einer Reihe aktueller pädagogischer Konzepte, die zwar als besonders modern gelten, die bei Licht und ideologiekritisch betrachtet jedoch nur das Bildungsprivileg der Mittelschicht festigen und verstärken. Das Thema 'Ökonomisierung' erhält eine besondere aktuelle Bedeutung dadurch, dass mit dem Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems auch die ihm zu Grunde liegende neoliberale, ökonomisch und verwaltungstechnisch geprägte Gesellschaftsideologie 'in Konkurs gehen' könnte. Das hätte für das aktuelle pädagogische und bildungspolitische Denken und für die dadurch geschaffenen Realitäten erhebliche Folgen, weil sich sehr schnell herausstellen würde, dass beides ohne den Rückbezug aufs Ökonomische und ohne von daher legitimiert zu sein als weitgehend substanzlos wahrgenommen werden muss. Es wird seine Plausibilität verlieren und die Loyalität der Bevölkerung zu ihm könnte so sehr schwinden, dass die grundlegenden Diskussionen von neuem entbrennen, die man fälschlich für längst geklärt hielt oder jedenfalls unterm Deckel halten wollte. Um derartige Analysen vorzunehmen ist eigentlich die Berufswissenschaft der Pädagogen, die Erziehungswissenschaft, zuständig. Ihr gilt daher das vierte und letzte Kapitel. Sie ist in unserem Zusammenhang jedoch wenig hilfreich, weil sie in letzter Zeit zu sehr mit sich selbst, nämlich mit ihrer Emanzipation von der pädagogischen Praxis, beschäftigt ist. Das wiederum bringt sie und ihre Vertreter in ein Dilemma: Je mehr die Erziehungswissenschaft nämlich zu einer modernen Wissenschaft wird, um so mehr entfernt sie sich dabei und dadurch von den praktischen Alltagsproblemen der Pädagogen. Deren Metier wiederum ist nicht die wissenschaftliche Systematik, sondern die theoretische Dimension ihres eigenen Handelns. Die wissenschaftliche Systematik ist unersättlich offen für immer neue Erkenntnisse und Erkenntnisverfahren - auch für solche, die schließlich in die Irre führen und deshalb nach geraumer Zeit wieder aufgegeben werden. Auf der anderen, der "praktischen" Seite, stellt sich eher die Frage, ob man alles, was man wissen könnte, auch wirklich wissen kann und tatsächlich wissen muss, um erfolgreich zu handeln. Wäre das so, könnten wir unser Alltagsleben auch außerhalb des Berufes gar nicht mehr bewältigen. ... In dem Maße jedenfalls, wie die Erziehungswissenschaft die ihr bisher zugeordnete Praxis verlässt, wird diese kolonisiert durch Nachbarwissenschaften, die wie etwa die empirisch konstruierte sozialwissenschaftliche Bildungsforschung zwar wenig zur Aufklärung der genuin pädagogischen Tätigkeit beitragen, aber sich gleichwohl in der öffentlichen Meinung als besonders kompetent präsentieren konnte. Deshalb ist es an der Zeit, ihre tatsächliche Bedeutung genauer zu erörtern. Kurz zusammengefasst geht es darum, einerseits die Pädagogik wieder als eine notwendige, eigentümliche und unverwechselbare gesellschaftliche Praxis zu entdecken, diese andererseits gegen unangemessene ideologische wie wissenschaftliche Ansprüche von außen so zu verteidigen, dass sie dennoch brauchbare Erkenntnisse mit Gewinn für sich nutzen kann, wenn sie dort bereitgestellt werden. ... |