Hermann Giesecke

"Versager in der Wirklichkeit und Helden in der Phantasie"

Rezension  zu:
Gertrud Hardtmann: 16, männlich, rechtsradikal. Rechtsextremismus - seine gesellschaftlichen und psychologischen Wurzeln. Düsseldorf: Patmos-Verlag 2007, 160 S. 18,00 EUR
In: Das Gespräch aus der Ferne, Heft Nr. 383/2007, S. 50-51

© Hermann Giesecke









Gewalttätige, rechtsextreme Jugendliche haben inzwischen einen festen Platz in den Medien gefunden. Sie machen von sich reden, weil sie immer wieder Menschen, die wie Ausländer aussehen oder sichtbar behindert sind, auf offener Straße brutal zusammenschlagen - auch wenn sie ihnen gar nicht persönlich bekannt sind. Was treibt die Täter zu ihren Taten und warum ist es so schwierig, sie davon abzuhalten, obwohl ihnen dafür Kriminalstrafen drohen? Wie sieht es in diesen Jugendlichen aus?
Darauf versucht die Psychoanalytikerin und Sozialpädagogin Gertrud Hardtmann in ihrem neuen Buch Antworten zu finden. Sie resümiert wichtige Daten der vorliegenden Forschung zum Thema, stützt sich aber im wesentlichen auf Beobachtungen und Erfahrungen, die sie in ihrer sozialpädagogischen Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen in Berlin machen konnte. Teils handelte es sich um unstrukturierte und spontane Gespräche, teils um ein vom Jugendgericht angeordnetes soziales Training, das sich über zwei Jahre erstreckte.
Nun gibt es gewiss keinen Mangel an einschlägiger Literatur, aber das Besondere an diesem Buch ist die Perspektive von innen heraus, die sensible Einfühlung der Autorin in die Mentalität und Gefühlswelt dieser jungen Leute. Zum Vorschein kommt eine trostlose Existenz ohne attraktive Perspektiven: Verlierer schon in der Schule und danach erst recht; geringes Selbstbewusstsein, das überspielt wird durch nationalistische und rassistische Überheblichkeit; traditionelle Verengung der Geschlechtsrollen auch innerhalb der eigenen Gruppe; unfähig, Kritik produktiv aufzugreifen; der gehasste "Fremde" muss verdinglicht werden, so dass die Gewalt gegen ihn kein Mitleid oder ein schlechtes Gewissen hervorrufen kann - er ist gar nicht persönlich gemeint und wird sogar akzeptiert, wenn er "in seine Heimat" zurückkehrt; das Ehrgefühl wird nicht fundiert durch eigene Leistung, sondern durch Heruntermachen des Anderen.
Ein Leben nach solchen Maximen ist nur in einer Welt der Lüge möglich. "Durch die Lüge wurde Gewalt zur Notwehr umetikettiert, wurde das Opfer zum Angreifer gemacht, die eigene Feigheit zu Mut und Tapferkeit stilisiert" (S. 59). In der eigenen Gruppe wird diese Weltsicht immer wieder reproduziert und bestätigt. Sie ist Produkt einer fehlgeschlagenen Identitätssuche - viel zu simpel, um damit im wirklichen Leben Orientierung zu finden. "Sie sind Versager in der Wirklichkeit und Helden in der Phantasie" (S. 93).
Hardtmanns Kernthese lautet: "Es gibt in unserer Gesellschaft bei Jungen und Mädchen einen ungestillten Vaterhunger und eine ungestillte Vatersehnsucht" (S. 153). Alle rechtsradikalen Jungen, mit denen sie Kontakt hatte, "hatten Väter, die mit sich selbst beschäftigt waren, Väter, die keine Verantwortung für ihre Kinder übernahmen und alle Verantwortung den Müttern überließen" (S. 80). "Was ihnen gefehlt hatte, war ein zuverlässiger und präsenter Vater, der sie verständnisvoll auf dem Übergang von der Fantasie zur Realität begleitete und ihnen Mut machte. Ein Vater, der ihnen auch zutraut, dass sie diesen Übergang schafften" (S. 94f.). Weil sie diese Qualität von Väterlichkeit entbehren mussten, lassen sie ihren Frust heimtückisch und feige an Schwächeren und Hilflosen aus, obwohl dies eigentlich ihrem Männlichkeitsideal widersprechen müsste. Oft füllten die Großväter die Lücke, die die Väter hinterließen, vermittelten dabei aber teilweise nationalistische und rassistische Ansichten, mit denen sie ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus rechtfertigten; auf diese Weise erhält die Nazi-Ideologie in den jungen Köpfen eine Art familiärer Legitimation. Ohne diese familiäre Rückbindung - und darüber hinaus ohne eine wenn auch nur nicht-öffentliche Ermutigung aus dem umgebenden Milieu - könnten diese Gruppen nicht existieren; ihre Ideologie ist zwar weltfremd, aber ihre sozialen Bezüge sind durchaus von dieser Welt.
Eine Korrektur des verbiesterten Weltbildes erweist sich deshalb als schwierig, weil jeder Versuch sofort als Angriff auf die ohnehin nur mühsam montierte Identität wahrgenommen wird. Trotzdem ergaben sich vor
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allem durch die Gerichtsauflage eines längeren sozialen Trainings, an dem die Verurteilten also teilnehmen mussten, um nicht ins Gefängnis gehen zu müssen, Möglichkeiten der pädagogischen Einwirkung: Durch den allmählichen Aufbau einer pädagogischen Beziehung sowie durch eine Gesprächskultur, in der die Lebenserfahrungen der Jugendlichen ernst genommen und die Tatsache akzeptiert wurde, dass sie nicht nur zu verurteilende Täter, sondern in anderen Lebenszusammenhängen auch Opfer waren. Auch die Konfrontation mit der historischen Wahrheit konnte gelegentlich Eindruck hinterlassen. Bei aller Empathie fehlt dem Buch jede falsche Sentimentalität: Die Gewalttätigkeit muss - notfalls auch durch ein Gericht - bestraft werden; Forderungen im Namen einer angemessenen Realitätsbewältigung müssen unmissverständlich geltend gemacht werden, nur dann machen auch nachholende Förderangebote Sinn. Diese Grundsätze markieren den Übergang vom therapeutischen Verstehen zum pädagogischen Handeln, das ja im Kern auf Forderungen und deren Begründung und Realisierung beruht.
Gewiss handelt es sich hier um eine Intensivstudie mit wenigen beteiligten Personen und deshalb auch nicht um repräsentative Ergebnisse. Aber Pädagogen haben es ja auch nicht mit irgendwelchen statistischen Gesamtheiten zu tun, sondern mit Einzelnen und mit Kleingruppen.
Die wenn auch undogmatisch gehandhabte psychoanalytische Perspektive kann uns allerdings nicht erklären, warum die Mehrzahl derjenigen Jugendlichen, die unter gleichartigen Bedingungen aufwachsen müssen, nicht rechtsradikal oder gar gewalttätig wird. Aber die gelten ja auch nicht als einer besonderen pädagogischen Förderung bedürftig.
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