Hermann Giesecke

Wozu sind eigentlich die Lehrer da?

Ein kluges Buch klagt ihre unverzichtbare „Führungsrolle“ an der Schule ein

Rezension zu:

Michael Felten: Auf die Lehrer kommt es an! Für eine Rückkehr der Pädagogik in die Schule. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010, 190 S., € 16,95

In: Das Gespräch aus der Ferne, Nr. 392/2010, S. 43-44

© Hermann Giesecke


Seit Jahrzehnten betrachten diejenigen, die nach einer Landtagswahl die Regierung bilden, das Bildungswesen als eine Art von 'Kriegsbeute', mit der sie fortan hantieren können, wie sie wollen, bis nach der nächsten Wahl dieses Spiel durch eine andere Koalitionsvariante von neuem beginnt - wie jetzt in Nordrhein-Westfalen. Herausgekommen ist dabei im Großen und Ganzen nichts Gutes, jedenfalls sind immer mehr Hauptschulabgänger unfähig, eine Berufsausbildung zu beginnen und nicht wenige Abiturienten sind den Anforderungen des Studiums nicht (mehr) gewachsen. Geradezu grotesk verläuft die Entwicklung in Hamburg, wo zunächst eine schwarz-grüne Koalition eine Bildungsreform inszenierte (Kernstück: verbindliche 6-jährige Grundschule, nun "Primarschule" genannt), gegen die wiederum eine Bürgerinitiative mit dem Motto "Wir wollen lernen!" erfolgreich eine Volksabstimmung erzwang. Der Slogan der Kritiker gibt der Befürchtung Ausdruck, dass nach der Reform in den zwei zusätzlichen Grundschuljahren, die zwangsweise dem Gymnasium genommen werden, nichts Ordentliches (mehr) gelernt werde.

Die Kritik an der 'alten' Schule, die im Hamburger Reformprojekt erneut auflebt, war ursprünglich politisch motiviert. Vor allem das traditionelle Gymnasium stehe im Dienst der herrschenden Klassen und verteidige mit elitärem Eifer das Bildungsprivileg des Bürgertums nach unten. Inzwischen gelangen aber z.B. in Bayern etwa 40% der Studienanfänger über den berufsbildenden Weg und ohne Gymnasium und Abitur an die Hochschulen. Außerdem ist längst unübersehbar, dass die Inhalte und Methoden des reformpädagogischen Zeitgeistes die Bildungsemanzipation der Unterschichtkinder keineswegs befördern, sondern eher zusätzlich behindern - was heißt: diese Schüler lernen nicht, was sie dafür wirklich brauchen, z.B. 'bürgerliche' Manieren einerseits und solides Wissen und Können andererseits. Neuerdings wird zur Rechtfertigung von 'Reformen' wie in Hamburg auch ein vermeintlicher Standortnachteil geltend gemacht: Das überlieferte Schulsystem sei unmodern, den allgemeinen gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen und daraus resultierenden Arbeitsmarktanforderungen von morgen nicht mehr gewachsen - wie man leicht an Beispielen im Ausland erkennen könne.

Nun legt Michael Felten - ein erfahrener Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst und langjähriger Publizist in Schulfragen - ein Buch vor, das solche bildungspolitischen Debatten, die uns viele Jahre in Atem gehalten haben, in der Sache für zweit- oder gar drittrangig erklärt. "Auf die Lehrer kommt es an!", lautet der Titel, der den Inhalt treffend zusammenfasst. Nicht die Struktur des Bildungswesens ist demnach von Ausschlag gebender Bedeutung, nicht der Kampf für oder gegen die Gesamtschule, nicht der Wahn, nur das Messbare auch für das Notwendige zu halten, nicht die immer perfekter organisierten "Evaluationsorgien" zur Leistungskontrolle, nicht 'eine Schule für alle' oder deren höchstmögliche "Autonomisierung", nicht die Dauer des 'gemeinsamen Lernens' - entscheidend ist vielmehr der Lehrer und sein Unterricht, also in diesem Sinne die "Rückkehr der Pädagogik in die Schule" - wie es im Untertitel heißt.

"Gegen die sich ausbreitende Neigung zu pädagogischer Deregulierung will dieses Buch zu einer dreifachen Wiederbesinnung auf die Kraft des Lehrers - und damit auf die Bedeutsamkeit des Erwachsenen in der Bildungsfrage - anregen:

Der Lehrer ist derjenige, der eine Lerngruppe selbstbewusst und zugewandt führen muss, ... der Lernprozesse sinnvoll arrangieren und steuern muss, ... der Lernschwierigkeiten auflösen kann".( S. 18 f.)

Man mag dies mit dem Verfasser eine "personale Wende" (S. 16) nennen, aber es ist auch eine Rückbesinnung auf die klassischen pädagogischen Prinzipien der Generationendifferenz - "die anthropologische Ausrichtung des Kindes auf den Erwachsenen" (S. 39) - und der Professionalität des Lehrers. Feltens Kritik richtet sich einerseits gegen die technokratische Demontage der Lehrerrolle, andererseits aber auch gegen reformpädagogische Übertreibungen.

Diese nimmt sich das erste der drei Kapitel unter dem Titel "Das Führen beleben" vor, indem es die herausgehobene, eben "führende" Rolle des Lehrers in Schule und Unterricht unterstreicht und andererseits den

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reformpädagogisch orientierten Zeitgeist in der Schulpädagogik kritisiert. Der beruhe auf einer "Gleichheitsfiktion" im Hinblick auf die Generationsunterschiede, auf einer "Selbstständigkeitsillusion" im Hinblick auf die autonomen Fähigkeiten des Kindes, auf einem konfliktscheuen "Strengetabu" in der Lehrer-Schüler-Beziehung und münde schließlich in eine "schulische Verwöhnungsfalle", weil die Schüler vor größeren Belastungen wie anstrengendes Üben oder schlechte Noten geschützt werden und deshalb möglichst spielerische Lernformen bevorzugt werden sollen. Diese Übertreibungen, so der Autor, nützen den Schülern nicht und werden auch von ihnen nicht gewünscht.

Auch bei der Unterrichtsmethodik, die im 2. Kapitel behandelt wird, haben sich solche Übertreibungen im schulpädagogischen Mainstream durchgesetzt. Dem Zeitgeist zufolge sollen sich Lehrer "als Lenker des Unterrichtsgeschehens möglichst weit zurücknehmen" zu Gunsten des "sozialen Lernens" der Schüler von einander ("Triumph der Peers"); das unterrichtsmethodische Ideal werde auf diese Weise das vom Lehrer möglichst unabhängige "eigenverantwortliche Lernen" ("Triumph des Selbst"); auf diesem Hintergrund würden Unterrichtsformen bevorzugt, "die auf Strukturierung und Ergebnisfestlegung durch den Lehrer möglichst verzichten (Triumph der Offenheit)", und dabei sollen die Schüler sich möglichst nicht übermäßig anstrengen, sondern sich stets wohlfühlen ("Triumph des Spaßes") (S, 58 f.). Felten zeigt dagegen, dass ohne die führende Rolle des Lehrers die Bemühungen der Schüler auf die Dauer orientierungslos ins Leere gehen müssen. Wer 'selbständig' lernen kann, kann deshalb später noch lange nicht erfolgreich 'selbständig' leben und handeln - zumal wenn er nichts Wichtiges, sondern nur Belangloses gelernt hat, was man als Schüler ohne Hilfe des Lehrers kaum vorweg voneinander unterscheiden kann. "Selbständigkeit braucht Führung" (S. 74).

Das 3. Kapitel ("Um Verstehen bemühen") behandelt den Unterricht als menschliches Beziehungssystem und untersucht dabei auch die Möglichkeiten, 'Störungen' durch Schüler zu diagnostizieren und Strategien der Korrektur zu entwickeln, sowie 'schlechten' Schülern geeignete Hilfen anzubieten. Dabei greift Felten auf Einsichten der Individualpsychologie zurück, wie sie insbesondere Alfred Adler entwickelt und Rudolf Dreikurs durch seine früher sehr bekannten Ratgeber bei uns populär gemacht hat. Im Unterschied zur psychologisch heute eher individualistisch eingestellten Schulpädagogik spielt für Adler die soziale Komponente der Individualisierung eine zentrale Rolle. So geht es Kindern um Anerkennung in einer für sie bedeutsamen Sozialität wie Familie oder Schulklasse. Wird sie - tatsächlich oder auch nur vermeintlich - verweigert, entsteht demzufolge ein "Minderwertigkeitskomplex", der zu einer "Überkompensation" etwa in Gestalt eines überhöhten Geltungsstrebens oder auch zu gewalttätigen Reaktionen führen kann.

Das zentrale Thema aber ist der ungeschönte Blick auf den Lehrer, auf die Anforderungen an seine Professionalität und die Schwierigkeiten einer angemessenen Realisierung, auf das, was er können sollte, aber auch auf das, was er nicht zu leisten vermag.

Die Fülle des dabei ausgebreiteten Materials und der erörterten Gesichtspunkte kann hier nur angedeutet werden. Die für das Verständnis der Schule und des Unterrichts wichtigsten Ergebnisse der empirischen Forschung, insbesondere der Unterrichtsforschung und der Hirnforschung, werden einbezogen, verbunden aber mit Beispielen und Geschichten aus langer Berufserfahrung, wie überhaupt der leserfreundliche Stil und der stark erzählend komponierte, nie langweilig wirkende Text besonders zu erwähnen sind.

Feltens Grundhaltung in der Sache ist optimistisch, seine Schrift ist kein 'Jammerbuch' über die böse Welt, die die doch so guten pädagogischen Absichten der Lehrer zunichte macht. Von bildungspolitischen Kontroversen ist nur am Rande die Rede, sie scheinen relativ bedeutungslos geworden zu sein angesichts der Kernthese, dass es auf die Lehrer ankomme. Dem ist insofern zuzustimmen, als die bildungspolitischen Strukturkontroversen im wesentlichen den Politikern und sonstigen Interessenten als - wenn auch längst zerzauste - Flaggen dienen, unter denen sie sich kampfbereit versammeln dürfen, ohne sich darüber klar werden zu müssen, wem ihr Einsatz wirklich zugute kommt. Nutzt das, was sich dabei als 'fortschrittlich' und 'links' versteht, wirklich den 'bildungsfernen Schichten'? Die Schüler jedenfalls brauchen 'nur' einen guten Unterricht, der sich um objektiv bedeutsame Themen dreht und der ihre gesellschaftlichen Teilhabechancen für sie erkennbar entwickelt und vermehrt - wie es Felten propagiert und beschreibt. Aber auch sein schulpädagogisches Konzept braucht bildungspolitische Unterstützung, weil über das, was im Klassenzimmer geschieht, nicht nur dort entschieden wird - wie sich aktuell in Düsseldorf und Hamburg wieder zeigt.

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