Hermann Giesecke
Rezension zu:
Dietrich Hoffmann: Kritische Theorie der Bildung
.

Täuschungen und Selbsttäuschungen im pädagogischen Diskurs.

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2006, 252 S.

In: Die Deutsche Schule, H. 3/2006, S. 374-375

© Hermann Giesecke



"Bildung" ist wieder in aller Munde, nachdem der Begriff in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Leitvorstellung des pädagogischen Denkens und Handelns aus dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs fast verschwunden war und durch Kategorien wie "Qualifikation" und "Kompetenz" ersetzt werden sollte. In dieser Rekonstruktion mag man einen Fortschritt sehen, aber meinen auch alle dasselbe, wenn sie von Bildung sprechen? Der Göttinger Erziehungswissenschaftler Dietrich Hoffmann zeigt in seinem neuen Buch "Kritische Theorie der Bildung", wie viele "Täuschungen und Selbsttäuschungen" - so der treffende Untertitel - die gegenwärtige Bildungsdiskussion bestimmen. Nach der Lektüre drängt sich sogar der Eindruck auf, die inflationäre Wiederentdeckung des Bildungsbegriffs habe die endgültige Liquidation dessen zum Ziel, was er einmal bezeichnete.

Gemeinhin gilt es eher als ein Nachteil, zu einem bestimmten Thema eine Aufsatzsammlung zu veröffentlichen, anstatt sich ihm mit einer systematischen Monographie zu nähern. Für das hier anzuzeigende Buch trifft dieses Urteil jedoch nicht zu. Der Autor hat 12 Beiträge versammelt, die in den Jahren 1998 bis 2004 entstanden sind, und sie in drei Kapitel gegliedert (Historische Rückblicke; Politische Einblicke; Systematische Ausblicke). Die Texte sind durchweg aus Vorträgen hervorgegangen, was wegen des Verzichts auf den sonst üblichen sozialwissenschaftlichen Jargon die Lektüre erleichtert, und waren bisher unveröffentlicht oder an nicht leicht zugänglichen Stellen publiziert. Daraus ist nun eine Art Lesebuch geworden, das erstaunlich wenige Wiederholungen enthält, sich dem Thema aber entsprechend den unterschiedlichen Anlässen in jeweils neuen Anläufen nähert. Es präsentiert keine geschlossene Theorie der Bildung, wohl aber eine Fülle von Gesichtspunkten dazu und vor allem kritische Überlegungen zur Geschichte des Bildungsbegriffs und seiner aktuellen Nutzung, die nicht zuletzt auch wegen einer Reihe eher beiläufiger Hinweise vorzüglich zum Nachdenken über diesen zentralen Begriff der Pädagogik und Erziehungswissenschaft anregen.

Der Autor argumentiert engagiert und setzt sich - gelegentlich auch polemisch oder ironisch - mit aktuellen Positionen wie dem Forum Bildung und dem Konstruktivismus, aber auch mit den spezifischen Entwicklungen in der DDR auseinander. Der Hauptstoß der Kritik richtet sich jedoch gegen die Ökonomisierung des gesamten Bildungswesens. "Im Augenblick werden Schulen und Hochschulen nicht wirklich 'neu gedacht', was vielleicht zu günstigen Veränderungen führen könnte, sondern durch eine 'neue Bildungsökonomie' lediglich 'neu gerechnet'" (S.137). Die inhaltliche Konstruktion der Hochschullehre und des Schulunterrichts werde

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auf evaluierbare Wissensleistungen reduziert, selbst die für besonders modern gehaltene Individualisierung von Lernprozessen entspreche dem neoliberalen Grundsatz der privaten Eigenverantwortung für den erfolgreichen Marktzugang. Man könnte hinzufügen: Bildung im Sinne einer auf Erfahrung beruhenden Bearbeitung der Subjektivität und der kritischen Aufklärung der Umwelt ist in unseren Bildungseinrichtungen zur Privatsache geworden: sie ist nicht verboten, wird aber auch nicht mehr erwartet oder gar positiv bewertet. Sie wenigstens als Möglichkeit zu arrangieren - planbar und messbar ist sie ohnehin nicht - ist dem ökonomischen Zeitgeist zu teuer geworden.

Hoffmann plädiert dafür, das Bildungsmonopol der Schule zu verringern und die vorschulische Bildung durch eine erfahrungsträchtige "Anregungsumwelt" zu verstärken, um die sich eher noch verschärfenden Ungleichheiten des Bildungszugangs zu mildern, aber er bleibt skeptisch, ob daraus etwas wird.

Vielleicht ist jedoch die Subversion bereits im Anmarsch: Während mit Bienenfleiß aller Beteiligten 'berufsorientierte' Bachelor-Studiengänge ausgeknobelt werden - am Ende sollen es etwa 6000 werden - wird Studienanfängern längst wieder geraten, ohne Rücksicht auf den künftigen Arbeitsmarkt das zu studieren, was sie wirklich interessiert. Und Gymnasiasten finden wieder zunehmend Freude an so 'nutzlosen' Fächern wie Latein und Griechisch.

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