Hermann Giesecke

Rezension zu:

Detlef Horster/Jürgen Oelkers (Hg.): Pädagogik und Ethik

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 344 S., 39,90 ¤

In: Die Deutsche Schule H. 3 (2005), S. 376-377

© Hermann Giesecke


 

"Einem antiken, einem mittelalterlichen und selbst einem neuzeitlichen Autor, der sich mit Fragen der Erziehung befasste, wäre es nicht in den Sinn gekommen, über das Verhältnis von Pädagogik und Ethik nachzudenken und es als problematisch darzustellen. Autoren von PLATON bis HERBART haben Erziehung selbstverständlich mit Moral oder Sittlichkeit, der Idee des Guten, den Kardinaltugenden oder einem Ethos verbunden, ohne Reflexionsbedarf für eine pädagogische Ethik zu sehen, die mehr und anderes wäre als die Ableitung ethischer Sätze für Zwecke und Aufgaben der Erziehung."

So beginnt die Einleitung zu einem interessant komponierten Sammelband, der sowohl diese Tradition aufgreift, die das pädagogische Bewusstsein bis heute - wenn auch oft unerkannt - prägt, wie auch der Frage nachgeht, welche Folgen sich nach dem Zusammenbruch dieser selbstverständlichen Zuordnung von Pädagogik und Ethik für das Nachdenken über Erziehung wie auch für pädagogisches Handeln ergeben. Die Aktualität des Themas muss nicht erst bewiesen werden, sie spiegelt sich in vielen Publikationen und öffentlichen Debatten über Moralerziehung und Werteerziehung wider und ist in der Erfahrung von Lehrern ohnehin ständig präsent.

Der Band vereinigt 16 Beiträge, gegliedert in fünf Kapitel ("Historische Perspektive"; "Pädagogik und Ethik"; "Moralentwicklung bei Kindern"; "Vermittlungsprobleme im Unterricht - Jugend heute"; "Moral und Hochbegabung"). Die knappe Einleitung der beiden Herausgeber führt nicht nur überzeugend in das komplexe Thema ein, sondern stellt auch kurz die Einzelbeiträge in seinen Zusammenhang.

Die thematische Spannbreite ist - wie bei einem Sammelband kaum anders zu erwarten - erheblich. So schreibt Rita Casale über Erziehung vor der Moralerziehung und meint damit das 16. Jahrhundert, wo es um Einübung in Formen und Strategien der Konversation ging, nicht bereits um die bis heute tonangebende individuelle Moralerziehung, die erst mit der Durchsetzung des Protestantismus benötigt wurde. Rebekka Horlacher (Innerlichkeit, Moral und Bildung) zeigt am Beispiel Klopstocks die folgenreiche Entfaltung einer auf Innerlichkeit beruhenden Bildungsidee, die der Auseinanderset-

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zung mit der gesellschaftlichen Realität nicht mehr bedurfte. Alderik Visser (Aufklärung und Selbsterlösung) erklärt am Beispiel des Freimaurertums um 1900, wie der Versuch einer nicht-religiösen Moralerziehung in eine Art von Erziehungsreligion umschlägt. Jürgen Oelkers (Glaubensbekenntnisse und Doppelmoral) kritisiert angesichts eines Vergleichs von Comenius mit Dewey die pädagogische Neigung, die moralische Doppeldeutigkeit von Situationen nicht ernstzunehmen, sondern immer wieder nach einer moralischen Ganzheit zu fahnden. Damian Miller (Was hat e-Learning mit Moral zu tun?) verweist auf moralische Implikationen des lautstark propagierten e-Learning, das etwa unter dem Leitmotiv von Effizienz und Effektivität den Lernenden zu manipulieren droht. Wer hat Angst vor Niklas Luhmann? fragt Detlef Horster und bricht eine Lanze für dessen soziologische Erziehungstheorie. Vittorio Hösle steuert seine Rede zur Fünfzigjahrfeier des Evangelischen Studentenwerkes Villigst über Chancen und Gefahren von Begabung und Begabungsförderung bei, was ihn in einen Disput mit Ursula Hoyningen-Süess verwickelt; dabei geht es vor allem um die Förderung der moralischen neben der fachlichen Kompetenz von Hochbegabten. Den aktuellen Schulproblemen am nächsten kommt wohl Thomas Ziehe mit seinem Beitrag über Die Eigenwelten der Jugendlichen und die Anerkennungskrise der Schule. Er beschreibt anschaulich den Widerspruch zwischen der durch die Populärkultur gefütterten und durch den Zwang zur Individualisierung forcierten "Eigenwelt" der Jugendlichen einerseits und der durch die Schule repräsentierten Hochkultur andererseits. "Alles, was nicht mehr oder weniger unmittelbar an das Deutungssystem der Eigenwelt angeschlossen werden kann, trifft auf immense Verstehens- und Akzeptanzprobleme. ... Das Lesen und Sinnverstehen nichtalltäglicher Texte wird für die Schüler zur Schwerstarbeit" ... . Gleichwohl schlägt Ziehe den Lehrern vor, die Erwartungen dieser Eigenwelt nicht zu verstärken, sondern gleichsam antizyklisch als "Fremdenführer" Zugänge zu anderen Welten zu eröffnen, wofür es durchaus Anknüpfungspunkte im Bewusstsein der Jugendlichen und in ihrem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung gebe. Möglicherweise - so lässt sich hinzufügen - deutet sich hier eine neue Bildungsbarriere an.

Diese und die anderen hier nicht ausdrücklich erwähnten Beiträge gruppieren sich zu einem facettenreichen Lesebuch, das zu den aktuellen pädagogischen Debatten eine argumentierende Distanz schafft, ohne sie aus dem Blick zu verlieren. Allerdings fehlen Bezüge zur gegenwärtigen Auseinandersetzung innerhalb der Gesellschaft über die etwa mit den Stichworten Globalisierung, Arbeitslosigkeit und Sozialabbau aufgeworfenen ethischen Probleme, die nicht nur ökonomischer und politischer Natur sind, sondern auch tief in die persönliche Lebensführung eingreifen und insofern das pädagogische Denken kaum unbeeindruckt lassen können und dürfen. Insofern wäre ein Beitrag aus der Perspektive der politischen Bildung möglicherweise eine sinnvolle Ergänzung gewesen.

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