Hermann
Giesecke
In:
Forum für Kinder- und Jugendarbeit, H.
1/2005, S. 11-17 ©
Hermann Giesecke (
Schriftliche Fassung eines Vortrags, den ich am 27.10.04 auf der vom
"Verband Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V." veranstalteten
Fachveranstaltung "Wird die offene Kinder- und Jugendarbeit
eingeschult?" gehalten habe. H.G.) Weil sich in
Deutschland seit
über 100
Jahren
die
Vormittagsschule als Normalschule durchgesetzt hat, hat sich hier im
Unterschied zu anderen vergleichbaren Ländern eine breite
außerschulische Kultur für Kinder und Jugendliche entwickelt. Dazu
zählen nicht nur die vielfältigen Angebote der Jugendarbeit und des
Sports, sondern auch die nicht weniger breiten des Bildungsmarktes -
von den Reitschulen über die Musikschulen bis zum Balletttanz. In der
gegenwärtigen Debatte erscheint diese deutsche Variante als
rückständig, die Zukunft scheint vielmehr der Ganztagsschule zu
gehören. So jedenfalls wird es in der Öffentlichkeit diskutiert, als
sei das eine gesicherte Erkenntnis, die nur die Deutschen noch nicht
begriffen haben. Aber wieso sollte angesichts der Bedingungen einer
pluralistischen Gesellschaft und einer hochkomplexen kulturellen
Ausdifferenzierung das flächendeckende Überziehen von Kindheit und
Jugend mit Ganztagsschulen "moderner" sein als die bisherige deutsche
Lösung einer Trennung von Schule und Freizeit?
Leider ist das
keine bloß
akademische
Diskussion,
vielmehr ist die Tendenz unverkennbar, Mittel aus der Jugendarbeit,
insbesondere der offenen Jugendarbeit, abzuziehen und sie auf Projekte
der Ganztagsschule zu transferieren.
Zur
Ganztagsschule will ich mich
hier im
Einzelnen nicht äußern, dafür reicht die Zeit nicht. Deshalb nur
folgende Hinweise:
- Das Hauptmotiv dafür ist ein
sozialpädagogisches
bzw. sozialpolitisches: es geht um ein Mittagessen für diejenigen
Schüler, die es brauchen, und um für die Eltern kalkulierbare
Betreuungszeiten - möglichst bis in den Nachmittag hinein. Die
überwiegende Mehrzahl der Schüler braucht unter diesem Gesichtspunkt
keine Ganztagsschule. Sinnvoll wäre sie nach meiner Überzeugung jedoch
vor allem für Grundschulen in sozial benachteiligten Regionen.
- Die Hoffnung,
die
schlechten
PISA-Ergebnisse
könnten durch Ganztagsschulen beseitigt werden, haben nicht einmal alle
ihre Befürworter; die Gründe für die mittelmäßigen Ergebnisse liegen
nicht in der Länge der Schulzeit, sondern in der Qualität des
Unterrichts.
- Die so genannte geschlossene
Ganztagsschule, die
den Unterricht nachmittags fortsetzt, würde deutlich teurer, man
schätzt um 40 Prozent. Fazit:
Die gegenwärtige Euphorie für die
Ganztagsschule wird wie andere groß angekündigte Reformvorhaben der
letzten Jahrzehnte bald an ihre ökonomischem und auch politischen
Grenzen stoßen, und man kann nur hoffen, dass bis dahin das dafür
ausgegebene Geld nicht sinnlos verpulvert wird.
Ich möchte im
Folgenden zu
vier Punkten
einige
Überlegungen vortragen: 1.
über das Kerngeschäft der Schule,
nämlich
Unterricht; man kann über die Grenzen der Schule nur sprechen, wenn man
deren Territorium möglichst präzise bestimmt.
2. über die damit
verbundenen
pädagogischen
Grenzen der Schule, 3.
über die sich daraus ergebenden
Chancen der
Jugendarbeit, 4.
über mögliche Formen der Kooperation
zwischen Jugendarbeit und Schule. Voraussetzung für
derartige
vergleichende
Überlegungen ist, dass wir den pluralistischen Charakter der modernen
Sozialisation gebührend berücksichtigen. Nur dann können wir uns vor
pädagogischen Illusionen bewahren. Die Persönlich-
11
keitsentwicklung
von Kindern und
Jugendlichen
speist
sich nämlich aus vielen Quellen, die Pädagogen – Eltern und Lehrer -
nur zu einem eher geringen Teil beeinflussen können (Massenmedien,
Gleichaltrige, Konsumgüterwerbung). Pädagogen können also in diesen
Prozess der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen nur ergänzend
und korrigierend eingreifen, ihn nicht herstellen.
Was
immer in diesem Zusammenhang pädagogisch bewirkt werden soll, es kann
sich stets nur um Interventionen
in Abläufe handeln, die zu jedem Zeitpunkt des pädagogischen Handelns
bereits vorgegeben sind. Deshalb führt es nicht weit, eine Liste von
Wünschen aufzustellen und daraus Schlussfolgerungen für das
pädagogische Handeln abzuleiten, wie wir das in der öffentlichen
Debatte über Erziehungsfragen immer wieder erleben. Ein entsprechender
Handlungsrahmen steht faktisch an keinem pädagogischen Ort mehr zur
Verfügung. Anders gesagt: Was die Kinder für ihr gegenwärtiges und
künftiges Leben insgesamt brauchen, können sie nicht mehr an einem
Ort - Familie, Schule, Jugendarbeit - umfassend lernen, so dass es von
daher auf alle anderen sozialen Orte einfach übertragbar wäre. Moderne
Erziehung ist nichts weiter als begrenzte Intervention mit stets
unkalkulierbarem Erfolg. Es gibt also keinen Grund, pädagogischen
Omnipotenzfantasien nachzuhängen. 1.
Unterricht als Aufgabe der Schule
Das Kerngeschäft
der Schule, ihre
spezifische
Intervention, heißt Unterricht. Alles was sie sonst tut, muss sich um
diese Kernaufgabe gruppieren und von daher auch begrenzen. Nicht alles,
was an sich pädagogisch vernünftig ist, kann Aufgabe der Schule sein,
sonst wird sie zu einer Ansammlung von Personen, die nicht wissen, was
sie eigentlich miteinander tun sollen. Die schlechten PISA-Ergebnisse
haben sehr viel mit diesem Missverständnis zu tun.
Für die
Notwendigkeit des
schulischen
Unterrichts als spezifische pädagogische Aufgabe möchte ich vier Gründe
anführen: 1.
Ohne Unterricht kann es unter unseren
gesellschaftlichen Bedingungen keine erfolgreiche und befriedigende
Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten geben. Wir sehen das
bei den Migrantenkindern, solange sie der deutschen Sprache kaum kundig
sind. Dieser
Zusammenhang betrifft alle Formen
der
gesellschaftlichen Beteiligung, die politische und kulturelle, aber vor
allem auch die berufliche. Alle Wege zu einer beruflichen
Qualifizierung - gleich auf welcher Ebene der Berufshierarchie - führen
über Unterricht. Selbst das praxisorientierte "duale System" unserer
Berufsausbildung, z.B. im Handwerk, ist ohne systematische schulische
Unterrichtung nicht denkbar. Unterricht aber heißt im Kern: Da gibt es
Lehrende, die etwas wissen oder können, und die diesen Vorsprung in
didaktisch möglichst geschickter Weise an diejenigen weitergeben, die
es noch nicht wissen oder können. Lehrer unterrichten Schüler mit dem
Ziel des Beibringens. Die Fähigkeit, sich erfolgreich unterrichten zu
lassen, ist für die produktive Teilnahme am Berufsleben bis zu dessen
Ende unerlässlich geworden, und diese Tendenz nimmt zu und nicht ab,
wenn man etwa die steigenden Aufwendungen der Wirtschaft für
Fortbildungsmaßnahmen bedenkt. Deshalb kann es in der Schule nicht um
die Inszenierung irgendwelcher beliebiger Lernprozesse im Sinne etwa
des Lernen Lernens gehen - das ist eher ein Feld der Jugendarbeit - ,
vielmehr geht es um ganz besondere, nämlich um unterrichtliche: um
Sprachen, Geschichte und Politik, Mathematik, Naturwissenschaft, Kunst.
Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, muss
also heute von
möglichst allen gelernt werden - das ist historisch neu - , und diese
Fähigkeit ist durch nichts anderes zu ersetzen. Das hat folgenden
Grund: Die
komplexe Welt, mit der wir täglich zu
tun
haben
- Wirtschaft, Politik, Kultur - ist als solche weder lehrbar noch
lernbar; sie ist nicht didaktisch konstruiert. Erst die Erfindung des
Unterrichts macht es möglich, komplizierte Sachverhalte und
Zusammenhänge so zu vereinfachen und zu verdichten, dass sie Schritt
für Schritt verstanden werden können und dass dabei grundlegende,
modellhafte, exemplarische oder ähnlich strukturierte Kenntnisse
12
und Einsichten
entstehen. Daraus
folgt,
dass
Unterricht immer in Distanz zum sonstigen Leben
erfolgt, für
dessen Bewältigung er andererseits gebraucht wird. Die Schüler verlassen
ihr normales Leben, um sich unterrichten zu lassen, und kehren danach
wieder dorthin zurück. Das Leben selbst lehrt zwar vieles und
wichtiges, aber es unterrichtet nicht. So gesehen ist Unterricht eine
geniale kulturelle Erfindung, weil sie uns ermöglicht, die
Unmittelbarkeit unserer Existenz zu überschreiten und für noch
unbekannte spätere Verwendungssituationen gleichsam auf Vorrat zu
lernen; nur wenn die künftigen Handlungssituationen weitgehend
unbekannt sind, ist Unterricht nötig; sonst kann man sich auf Lernen
durch Mitmachen und Imitieren beschränken.
2. Es geht aber
nicht nur um die
subjektive
Sicht
aus der Perspektive des Schülers, damit er später sein Brot verdienen
bzw. überhaupt an den gesellschaftlichen Chancen partizipieren kann.
Vielmehr hat die Gesellschaft ein existentielles Interesse daran, dass
die jeweils nachwachsende Generation das bereits vorhandene Potential
an Kenntnissen und Fähigkeiten zumindest übernehmen, möglichst sogar
übertreffen kann. Ohne eine Garantie für diesen Stabwechsel der
Generationen würde das gesellschaftliche Leben und damit auch die
Lebensqualität eines jeden einzelnen zusammenbrechen. Die Gesellschaft,
in der wir im Gemenge der Generationen leben, muss immer wieder durch
intelligente Arbeit und Tätigkeit reproduziert und weiter entwickelt
werden, und dafür sind unterrichtliche Qualifizierungen unerlässlich.
Deshalb muss es Lehrpläne bzw. Richtlinien, Leistungsanforderungen und
deren Kontrolle geben, weil sonst die Lernarrangements in den Schulen
beliebig würden und insofern am gesellschaftlichen Zweck der
Veranstaltung Schule vorbeigehen könnten. Jede nachwachsende Generation
braucht einen gemeinsamen Bestand an Kenntnissen,
Fähigkeiten
und Weltvorstellungen, um die gesellschaftlichen Funktionen später
wenigstens mit einem Minimum an Gemeinsamkeiten
übernehmen zu
können. 3.
Ohne den Unterricht der Schule können
die
Kinder
die in ihnen schlummernden Fähigkeiten in nur sehr geringem Maße
entfalten, sich - "altmodisch" gesprochen - nicht "bilden". Die
Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, liegt so gesehen also auch im
wohlverstandenen Interesse des Kindes selbst und tritt zu diesem
keineswegs in einen prinzipiellen Widerspruch, als sei sie per se nicht
"kindgerecht". Im Gegenteil sind die Schulfächer mit ihren
unterschiedlichen Anforderungen nicht zuletzt dazu da, die Fähigkeiten
des Kindes herauszufordern, so dass es immer genauer zu erkennen
vermag, was es gut kann und was weniger gut, was ihm mehr liegt und was
weniger, damit es allmählich auf diesem Hintergrund seine
Zukunftsplanung zu entwickeln vermag. So gesehen ist die weniger gute
Zensur genau so wichtig wie die gute, aber auch unterschiedliche
Unterrichtsmethoden, die z.B. eher auf Einzelarbeit oder eher auf
Kooperation setzen, sind dafür wichtige Erfahrungen. Bildung durch
Unterricht ist eine kulturelle Erfindung, sie erwächst nicht selbstverständlich
aus den
unmittelbaren Lebenszusammenhängen.
4. Der bildende
Unterricht der
Schule
verschafft dem
Kind die Möglichkeit, seinen künftigen sozialen Status in einem hohen
Maße selbst zu bestimmen - u.U. auch durch Ablösung vom Status seines
Elternhauses. Schule ist die einzige Möglichkeit der Emanzipation des
Kindes, über die es selbst verfügen kann. Das einzige Kapital, das ein
Kind von sich aus vermehren kann, sind sein Wissen und seine Manieren.
Gerade das sozial benachteiligte Kind braucht, um sich von diesem
Status zu emanzipieren, einen direkten, gut aufgebauten und geführten,
aber auch geduldigen und ermutigenden Unterricht, wie alle
Lernforschung zeigt. Unter
demokratischem Gesichtspunkt muss
unser
Schulwesen also so strukturiert sein, dass es möglichst jedem Kind die
optimale Entfaltung seiner 13
Fähigkeiten
ermöglicht - dem
begabteren
ebenso wie dem weniger begabten. Systematischen,
fortschreitenden,
über
Jahre
sich
erstreckenden Unterricht kann man nur in eigens darauf spezialisierten
Institutionen, nämlich in Schulen oder Hochschulen, anbieten. In der
Jugendarbeit kann es keinen Unterricht geben, es gibt dort
Bildungsveranstaltungen, Seminare, Vorträge und Gesprächsrunden, also
durchaus auch Formen der veranstalteten Bildung, aber keinen
Unterricht. Andererseits: Was immer in der Jugendarbeit veranstaltet
wird, setzt gleichsam stillschweigend den Unterricht der Schule voraus.
2. Grenzen der Schule
Damit sind die
Grenzen der
Schule bereits
angedeutet:
- Inhaltlich: Die Schule kann
nicht
alle
Themen behandeln, die subjektiv oder objektiv von Bedeutung sind. Sie
muss auswählen, sich an einen begrenzten Kanon halten, der in einer
bestimmten vorgegebenen Zeit auch bearbeitet werden kann. Immer wieder
wird kritisiert, dass die Schule bestimmte Sachverhalte nicht
behandelt, obwohl die doch so wichtig seien; aber wenn sie es täte,
müsste sie etwas anderes streichen. Die inhaltliche Beschränkung der
Schule hat zur Folge, dass manche sachlichen Interessen von Schülern
nicht befriedigt werden können, aber auch, dass nur bestimmte Arten von
Leistung von ihnen gefordert werden können. Anders gesagt: Ein Schüler
kann immer mehr, als die Schule von ihm verlangen kann und ihm
bescheinigt.
- Sozial: Die Schule kann nur
diejenigen
sozialen Fähigkeiten herausfordern, die im Rahmen ihrer Aufgabe auch
gebraucht werden. Wichtige Sozialsituationen sind dort aus faktischen
oder aus rechtlichen Gründen gar nicht herstellbar. In der Schule gibt
es keine Diskothek - jedenfalls nicht unter Realbedingungen -, kein
Kaufhaus, keine Straßenclique, weder einen Markt noch eine
Fernsehberieselung.
- Methodisch: Die Schule kann
sinnvollerweise nur solche Lehr- und Lernmethoden anwenden, die mit der
Kunstfigur Unterricht in einem sachlich-logischen Zusammenhang stehen.
Andere, vor allem informelle, situationsbedingte, spontane; beiläufige
methodische Arrangements spielen deshalb hier eine eher zufällige
Rolle.
- Rechtlich: Da die Schule über
ihre
Zeugnisse Berechtigungen verteilt, nimmt sie erheblichen Einfluss auf
das künftige Leben der Schüler. Das hat eine Verrechtlichung der
Schularbeit und auch der Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern zur
Folge, die es in der Jugendarbeit nicht annähernd so gibt.
- Politisch:
Die Schule darf
weltanschaulich
und politisch nicht parteilich sein; wenn sich ein Schüler für eine
Glaubensgemeinschaft, eine Partei oder Gewerkschaft engagieren will,
kann er das nicht im Rahmen der Schule.
3.
Chancen der Jugendarbeit Damit komme ich zu den
Chancen
der
Jugendarbeit. Auch
hier muss man sich vor Illusionen
hüten.
Die
Jugendarbeit hat auf den ersten Blick schlechtere Karten als die
Schule, deren Arbeit wegen der Aussicht auf berufliche Qualifikation
als nützlicher gilt; Jugendarbeit erscheint daran gemessen nur als
Freizeitverbringung, die zur Not auch entfallen könnte. Die
gegenwärtige Debatte über die Ganztagsschule zeigt, dass die
Öffentlichkeit diese außerschulische Kultur kaum im Blick hat.
Das hängt auch
damit
zusammen, dass es
der
Jugendarbeit nicht mehr recht gelingt, ihren spezifischen Beitrag für
eine befriedigende bzw. wünschenswerte Sozialisation von Kindern und
Jugendlichen öffentlichkeitswirksam deutlich zu machen, sich also mit
einer plausiblen politischen und pädagogischen Theorie öffentlich zu
präsentieren. Eine 14
solche Theorie
müsste die
Vielzahl der
Träger,
Veranstaltungsformen und Programme im Rahmen eines gemeinsamen
gedanklichen Daches beschreiben können. Früher war einmal die Rede von
der Jugendarbeit als "dritter Erziehungsinstanz" neben Elternhaus und
Schule. Davon ist nichts mehr zu hören, und eine andere einprägsame
Formel ist auch nicht in Sicht. Was würde man einem Politiker oder
Lehrer antworten auf seine Frage, wozu die Jugendarbeit überhaupt nötig
sein soll und warum man das für sie ausgegebene Geld nicht gleich den
Schulen gibt? Ich
will darauf eine knappe Antwort
versuchen. Politisch,
also im Hinblick auf das
Gemeinwesen betrachtet, hat die Jugendarbeit nach wie vor vor allem
zwei Funktionen: Sie
dient - erstens - im Sinne eines
"vorbeugenden
Jugendschutzes" der Kriminalitätsprophylaxe, indem sie dem
Gesellungsbedürfnis der Jugendlichen geschützte und zugleich
kontrollierte Orte anbietet. Ich möchte an dieser etwas altmodisch
erscheinenden Begründung auch deshalb festhalten, weil sie das
selbstbestimmte Gesellungsbedürfnis der Jugendlichen anerkennt, auch
ohne dass dabei spezifische pädagogische Konzepte von vornherein eine
Rolle spielen. Das ist vor allem für die offene Jugendarbeit von
Bedeutung. Von Anfang an war Jugendarbeit in erster Linie eine
Gesellungsform, keine - oder erst sekundär - auch eine pädagogische
Veranstaltung. Diese Begründung rechtfertigt übrigens auch das Eingehen
auf so genannte Problemgruppen mit einem eher sozialpädagogischen
Akzent. Sie verlangt andererseits aber auch die Unterstützung und
Stabilisierung von Normalität, also des Engagements scheinbar
problemlos integrierter Jugendlicher.
Die Jugendarbeit
bietet -
zweitens -
Jugendlichen die Möglichkeit, sich parteilich für
bestimmte
Ziele und Interessen und gegen
andere öffentlich zu engagieren - was im Rahmen der Schule wie erwähnt
grundsätzlich nicht möglich ist. Insofern kann die Jugendarbeit den
weltanschaulichen und politischen Pluralismus unmittelbar übernehmen
und Jugendlichen entsprechende Handlungsoptionen anbieten. Hier kann
der Nachwuchs unter Realbedingungen lernen, öffentliche Verantwortung
mit Aussicht auf Erfolg einzuüben. Pädagogisch gesehen
bietet die
Jugendarbeit
unter
dem Dach dieser beiden politischen Begründungen eine Vielzahl von
Lernmöglichkeiten an, die so weder in der Familie noch in der Schule
und schon gar nicht im Rahmen kommerzieller Anbieter möglich sind, bei
denen finanzielle und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen.
Ihre Trumpfkarte besteht in den besonderen Bedingungen, unter denen sie
arbeiten kann: Freiwilligkeit der Teilnahme, keine Lehrpläne, keine
formellen Leistungsnachweise, großzügige rechtliche Rahmenbedingungen
im Unterschied etwa zum immer kleinlicher gewordenen Schulrecht,
spezifische Beziehungen der Jugendlichen untereinander wie zum
pädagogischen Personal, kaum einklagbare Leistungsansprüche - und auch
keine wirtschaftlichen Profitzwänge.
Diese Bedingungen
haben zur
Folge, dass
weder
die
Inhalte der Angebote noch ihre methodischen Arrangements von vornherein
festgelegt sind, sondern ein weites Spektrum ausfüllen können, sofern
sie von Jugendlichen angenommen werden; wenn niemand kommt, kann auch
nichts stattfinden.
Im Rahmen dieser Bedingungen sind
besondere
Lernchancen möglich, die so an keinem anderen pädagogischen Ort
anzutreffen sind, ich nenne nur drei davon:
1. Soziales
Lernen in
unterschiedlichen
Situationen
und Rollen (in festen Gruppen, in informellen Gruppen, bei Auftreten in
der Öffentlichkeit, bei der Lösung bestimmter Aufgaben) mit der
Möglichkeit, das soziale Handlungsrepertoire zu erweitern und zu
differenzieren. Die Fähigkeit zu differenzieren - je nach Situation und
Zweck, nach öffentlich und privat, nach Nähe und Distanz, nach binnen
und außen, nach Absicht und Folgen - muss nämlich das eigentliche Ziel
des sozialen Lernens sein. Das ist nicht verbal lehrbar, dazu braucht
man das Üben in unterschiedlichen Situationen.
2. Sachbezogene
Bildungsangebote,
15
die die
schulischen Angebote
vor allem in
methodischer Hinsicht nicht kopieren, wohl aber erweitern, vertiefen
oder ergänzen. Nicht so sehr die Schule, die ihrer eigenen Sachlogik
folgen muss, als vielmehr die Jugendarbeit ist derjenige pädagogische
Ort, der dabei von den Interessen der Jugendlichen im Prinzip ohne
Einschränkung ausgehen kann. (Dazu kann übrigens auch Hausaufgabenhilfe
oder Nachhilfe vor Ort gehören). 3. Entdeckung bisher
unerkannter
Interessen
und
Fähigkeiten, zum Beispiel solcher, die die Schule möglicherweise nicht
abruft oder gar nicht abrufen kann. Versteht man Bildung
als den
Prozess der
subjektiven
Aneignung von Erfahrungen mit der Welt, mit anderen Menschen und mit
sich selbst, dann kann die Jugendarbeit dazu einen eigenständigen
Beitrag leisten. Ich spreche hier bewusst von Möglichkeiten,
ob
und in welchem Umfang daraus Wirklichkeit wird,
steht natürlich
auf einem anderen Blatt. 4.
Zusammenarbeit von Jugendarbeit und Schule
Die Schule kann
also etwas,
was die
Jugendarbeit
nicht kann und umgekehrt. Allerdings werden diese Unterschiede
insbesondere von schulpädagogischer Seite gegenwärtig weitgehend
verwischt. Ich nenne nur einige Zauberworte: Abschaffung der Zensuren,
statt unterrichten moderieren, statt Lehrplan freiwillige Lernprozesse
der Schüler abwarten usw. Hier werden Akzente gesetzt, die traditionell
eigentlich in der außerschulischen Bildungsarbeit bestimmend waren.
Welche
Schlussfolgerungen
ergeben sich
nun
aus
dieser knappen Analyse für die Beziehungen zwischen Schule und
Jugendarbeit? In der Vergangenheit musste man wohl eher von einer
Nichtbeziehung sprechen, man ging sich aus dem Weg, hielt wohl auch
meist voneinander nicht viel. Auch ohne das Projekt der Ganztagsschule
wäre es an der Zeit, dies zu ändern.
Dem stehen
folgende
Schwierigkeiten
entgegen: 1.
Die Kooperation steht gegenwärtig -
nach
PISA -
unter dem Druck, einseitig die schulischen Leistungen zu verbessern und
in diesem Rahmen die Jugendarbeit zum Erfüllungsgehilfen für die
Beseitigung schulischer Defizite zu machen. Die Schule sagt also, was
die Jugendarbeit zu tun hat. Das ist aus den erwähnten sachlichen
Gründen wie auch aus Gründen des gegenseitigen kollegialen Respekts
nicht lange durchzuhalten und insofern zum Scheitern verurteilt.
2. Dabei drohen
insbesondere
die vorhin
erwähnten
besonderen Bedingungen der Jugendarbeit außer Kraft gesetzt zu werden.
Ich rate der Jugendarbeit zwar zu allen möglichen Kompromissen, sich
aber dieser Tendenz entschieden zu widersetzen - auch auf die Gefahr
hin, dafür kurzfristig Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
Freiwilligkeit der Teilnahme aufrechterhalten, keine Vergabe formeller
Leistungsnachweise, Bestehen auf der eigentümlichen, viel
Handlungsspielraum gewährenden Rechtsstruktur - zumindest diese drei
Prinzipien sollten aufrechterhalten werden. Die Jugendarbeit ist nicht
dazu da, die Schule zu sanieren, sie ist dazu da, den Schülern zu
helfen - mit ihren eigentümlichen Möglichkeiten und innerhalb ihrer
Rahmenbedingungen. Sie kann durchaus auch Nachhilfe anbieten, sofern
dafür vor Ort geeignetes Personal zur Verfügung steht, aber nur im
Rahmen freiwilliger Vereinbarungen.
3. Allerdings
muss die
Jugendarbeit,
insbesondere
auch die offene, im Hinblick auf eine in ihrem Sinne erfolgreiche
Kooperation mit der Schule ihre eigene pädagogische Position innerhalb
der pluralistischen Sozialisation überdenken. Sie hat sich in der
Vergangenheit sehr stark und vielfach einseitig auf sozialpädagogische
Aspekte konzentriert und Bildungsaspekte vernachlässigt. Es hilft z.B.
Kindern, die schlecht deutsch sprechen, wenig, wenn man ihnen lediglich
einen gesellungsorientierten Ort anbietet, ohne auch auf ihre
sprachliche Ausdrucksfähigkeit einzuwirken. Die Jugendarbeit muss also
ihre Programme und Angebote überdenken im Hinblick darauf, wie sie zu
einer besseren Bildung gerade für benachteiligte Kinder und Jugendliche
beitragen kann. 16
Da
eine ernsthafte Kooperation zwischen
Schule
und
Jugendarbeit weitgehend Neuland ist, sollte man damit Erfahrungen zu
machen versuchen. Ein dafür geeignetes Verfahren wäre ein informeller
"Runder Tisch" im Umfeld einer Schule, an dem sich neben Vertretern der
Schule alle treffen, die vor Ort für Kinder und Jugendliche etwas
Sinnvolles anzubieten haben. Zunächst kommt es darauf an, überhaupt
erst einmal zusammenzustellen, was es bereits gibt, das weiß man
keineswegs immer vor Ort. Auf diese Weise kann man den Schülern und
deren Eltern die vorhandenen außerschulischen pädagogischen
Möglichkeiten bekannt machen und sie ihnen zur Wahl stellen.
Freiwilligkeit heißt jedoch nicht Unverbindlichkeit, wenn also sich
jemand für ein Angebot entscheidet, muss das auch mit einer gewissen
Kontinuität angenommen und durchgeführt werden, sonst kann dass
elterliche Interesse an Verlässlichkeit nicht realisiert werden.
Denkbar wären
verschiedene
Varianten:
- ein Träger übernimmt unter der Hoheit
der
Schule in deren Räumen eine bestimmte Aufgabe;
- oder ein
Träger wird unter
eigener
Regie in
einer Schule tätig;
- oder interessierte Schüler suchen im
Anschluss an
das Mittagessen in Absprache mit Elternhaus und Schule ein bestimmtes
Angebot eines Trägers außerhalb der Schule auf;
- oder die
Schule begibt
sich selbst
unter
die
Anbieter von Jugendarbeit, so dass daran nicht nur die eigenen
Schülerinnen und Schüler, sondern auch andere interessierte
Gleichaltrige - etwa Freunde - teilnehmen können. Aus einer solchen
Konstruktion könnte sich eine "Offene Schule" entwickeln, die ihre
Ressourcen vom Schwimmbad über den Computerraum bis zur Bibliothek zur
Verfügung stellt und zudem brachliegendes pädagogisches Kapital aus
ihrem Umfeld zu mobilisieren vermag.
Bei der nötigen
Kooperation geht
es nicht
nur
um
Schule und Jugendarbeit. Ich bin der Überzeugung, dass die Ausdehnung
bezahlbarer Professionalität in allen pädagogischen Bereichen an eine
Grenze gekommen ist. Deshalb wird es nötig sein, vor Ort das
zivilgesellschaftliche Potenzial in Gestalt von ehrenamtlichen oder
nebenamtlichen Mitarbeitern zu mobilisieren. Das Ganze muss zur
Stadtteilarbeit werden, die von den Hauptamtlichen angeregt,
koordiniert, beraten und aufrechterhalten wird. Damit sollte man erst
einmal Erfahrungen machen und sie anderen zur Verfügung stellen. Das
Internet ist heute dafür eine praktisch kostenlose Publikationsform.
17 URL dieser Seite: www.hermann-giesecke.de/schuljugarbeit.htm
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