Hermann Giesecke

Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend

Jugendarbeit zwischen Politik und Pädagogik

München: Juventa-Verlag 1981
Inhaltsverzeichnis/Teil I

Zu dieser Edition:

Dieses Buch beschreibt die Entstehung und Entwicklung der Jugendbewegungen und der Jugendpflege bzw. Jugendarbeit in Deutschland im Zeitraum von 1900 bis 1945. Weggelassen wurde das Vorwort.
Die Fortsetzung des Themas findet sich in dem Buch Die Jugendarbeit, das die Entwicklung der Jugendarbeit von 1945 bis etwa 1980 in Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland behandelt.
Das  Literaturverzeichnis befindet sich  auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1981.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
© Hermann Giesecke

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Inhaltsverzeichnis


Vorwort .

I. Autonomie gegen Integration:
Jugendbewegung und Jugendpflege bis zum Ersten Weltkrieg

Politisch-kulturelle Hintergründe .
Der Wandervogel .
Wandern als kulturelle Alternative
Identität in kultureller Mehrdeutigkeit
Die proletarische Jugendbewegung
Gezähmte Rebellion
Arbeiterjugend als politisches Subjekt.
Sozialisationsprobleme der Arbeiterjugend
Die staatlich geförderte Jugendpflege
Bündnis gegen die Arbeiterjugend
Das Verhältnis von Staat und nicht-staatlichen Trägern
Das politisch-pädagogische "Jugendbild" der Jugendpflege

II. Bindung gegen Autonomie:
Jugendarbeit in der Weimarer Republik
Politisch-kulturelle Hintergründe
Die Bündische Jugend
Neubeginn aus politischer Polarisierung
"Bund" als politische Fiktion
Bündische Erziehung und Sozialisation
Die Arbeiterjugendbewegung .
Die sozialdemokratische Jugendarbeit
1. Die sozialistische Arbeiterjugend (SAJ)
2. Die Jungsozialisten .
3. Die Kinderfreundebewegung
Der Kommunistische Jugendverband Deutschlands
Bürgerliche Sozialisation und sozialistische Erziehung
Die Jugendpflege
Der Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände

III. Integration gegen Autonomie und Bindung:
Die Hitlerjugend .
Politisch-kulturelle Hintergründe
Die "Kampfzeit-HJ"
Die HJ als Staatsjugend
HJ-Erziehung

IV. Zusammenfassung und Ausblick:

Die schwierige Balance zwischen Integration, Bindung und Autonomie
Literaturverzeichnis


Vorwort

Dieses Buch soll meine Arbeit über "Die Jugendarbeit" (München: Juventa Verlag), in der lediglich die Entwick-lung der Jugendarbeit in der Bundesrepublik Deutschland behandelt wird, historisch ergänzen. Beides in einem Band zu vereinigen, erwies sich leider aus Gründen des Umfangs als nicht möglich. Nach meiner Überzeugung jedoch kann die gegenwärtige Jugendarbeit ohne Kenntnis ihres histo-rischen Entstehungszusammenhangs nicht angemessen ver-standen werden.
Darüber hinaus ist mir daran gelegen, mit diesem Band die Geschichte der Jugendbewegung und der Jugendarbeit in Deutschland für die pädagogische Ausbildung zu er-schließen. Eine entsprechende Darstellung fehlt bisher. Zwar gibt es inzwischen eine beachtliche Forschung über Teile unseres Themas, vor allem über die bürgerliche Ju-gendbewegung und die Hitlerjugend. Andere Teilgebiete dagegen wie die Arbeiterjugendbewegung und die staat-liche Jugendpflege in der Weimarer Republik sind noch weitgehend unerschlossen. Das gilt vor allem auch für den kommunistischen Jugendverband, der bisher nicht einmal das Interesse der DDR-Forschung gefunden zu haben scheint, aber fast noch mehr für die gewerkschaftliche Ju-gendarbeit. Diese unterschiedliche und im ganzen immer noch unbefriedigende Forschungslage schlägt sich auch in diesem Buch nieder. Meine Absicht war nicht, die erwähn-ten Forschungslücken zu füllen, sondern das, was vorliegt, unter einer pädagogischen Leitvorstellung darzustellen - allerdings in der Hoffnung, damit auch die pädagogische historische Forschung anzuregen.
Das pädagogische Interesse ist darauf gerichtet, den je-weiligen zeitlichen Zusammenhang aller bedeutsamer Fak-toren der Jugendarbeit in den Blick zu nehmen, also die bürgerliche und proletarische Jugendbewegung wie auch die staatliche Jugendpflege. Ich habe mich bemüht, die hi-storische Forschung aufzuarbeiten, aber mein Hauptinter-esse zielt auf die pädagogische bzw. jugendpolitische Be-deutung des historischen Materials, auf die Veränderungen zum Beispiel, die dabei in der bürgerlichen und proletari-schen Erziehung und Sozialisation sichtbar werden oder
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auf das jeweils vorliegende "Jugendbild". Ferner ist von Bedeutung die Spannung zwischen jugendlichem Selbstbe-stimmungsstreben einerseits und dessen öffentlicher Mani-pulierung andererseits, sowie die Veränderung des Gene-rationsgefühls im untersuchten Zeitraum. Im letzten Ka-pitel habe ich versucht, das pädagogische und jugendpoli-tische Fazit zusammenfassend darzustellen.
Ein Problem der Gestaltung bestand darin, daß man ein gesellschaftliches Teilphänomen wie Jugendbewegung und Jugendarbeit nicht isoliert verstehen kann, ohne den Blick auf die gesamtgesellschaftliche Kultur, der es angehört. Andererseits durfte schon aus Raumgründen diese Blicker-weiterung nicht allzu umfangreich werden und das eigent-liche Thema gefährden. Deshalb habe ich mich bemüht, die drei historischen Kapitel mit einigen Hinweisen auf die "politisch-kulturellen Hintergründe" einzuleiten, in-soweit diese für das eigentliche Thema von besonderer Be-deutung sind.
Im übrigen sind die Kapitel so gestaltet, daß jeweils die wichtigsten allgemeinen Tatsachen genannt werden, dann aber das schon erwähnte jugendpolitische und pädagogi-sche Deutungsinteresse stärker zum Zuge kommt. Auch hier war nur ein Kompromiß möglich, und wer mehr an historischen Details und Differenzierungen interessiert ist, muß auf die entsprechende Literatur verwiesen werden.
Das Kapitel über die Jugendarbeit in der Weimarer Repu-blik befaßt sich außer mit der Jugendpflege lediglich mit der Bündischen Jugend und der Arbeiterjugendbewegung. Dies ist aus Gründen des historischen Entstehungszusam-menhangs vor dem Ersten Weltkrieg nötig. Die Tätigkeit der anderen Jugendverbände erscheint lediglich vermittelt durch die Tätigkeit des "Reichsausschusses der Deutschen Jugendverbände". Dies ist eine leider nicht vermeidbare Beschränkung des Bildes, aber es hätte zu weit geführt, die Arbeit und Entwicklung einzelner Verbände zu wür-digen. Soweit es darüber Darstellungen gibt, muß darauf verwiesen werden. Besonders interessant wäre, die Ent-wicklung der kirchlichen Jugendverbände gerade auch im Hinblick auf ihre spätere Stellung zum Nationalsozialis-mus zu verfolgen. Aber gerade hier wären gründliche Un-tersuchungen nötig gewesen, die auch religiöse und theolo-gische Traditionen und Reformen hätten würdigen müs-

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sen, was jedoch den Rahmen des Bandes vollends ge-sprengt hätte.
Abgesehen von einigen Andeutungen werden auch die kulturellen Interessen, Vorstellungen und Leitbilder der Jugendverbände - z. B. die "Musische Bewegung" - nicht behandelt, obwohl gerade unter pädagogischem Aspekt wichtig wäre zu wissen, was gelesen, gespielt und gesun-gen wurde (und was nicht).
Um dem Leser trotzdem einen ersten Zugang zu derarti-gen Einzelaspekten zu verschaffen, habe ich hinter dem alphabetischen Literatur- und Quellenverzeichnis wichtige "weiterführende Literatur" zu einigen Sachgebieten auf-geführt.
Trotz der genannten Einschränkungen hoffe ich, daß diese Arbeit als eine Einführung in das Thema gelten kann, das sicherlich mehr Interesse verdient, als ihm bisher zuteil wurde.
Göttingen, Herbst 1981              Hermann Giesecke


 

 Teil I. Autonomie gegen Integration:
Jugendbewegung und Jugendpflege bis zum Ersten Weltkrieg

Inhaltsverzeichnis von Teil I:

Politisch-kulturelle Hintergründe .
Der Wandervogel .
Wandern als kulturelle Alternative
Identität in kultureller Mehrdeutigkeit
Die proletarische Jugendbewegung
Gezähmte Rebellion
Arbeiterjugend als politisches Subjekt.
Sozialisationsprobleme der Arbeiterjugend
Die staatlich geförderte Jugendpflege
Bündnis gegen die Arbeiterjugend
Das Verhältnis von Staat und nicht-staatlichen Trägern
Das politisch-pädagogische "Jugendbild" der Jugendpflege

Teil I. Autonomie gegen Integration:
Jugendbewegung und Jugendpflege bis zum Ersten Weltkrieg

Politisch-kulturelle Hintergründe

Um die Entstehung der Jugendbewegungen und die erste Entfaltung der Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg angemessen zu verstehen, sind einige allgemeine Hinweise auf die bürgerliche politische Kultur im damaligen Deutschland nötig. Wenn nämlich eine soziale oder kulturelle "Bewegung" entsteht wie die Jugendbewegung, dann zeigt dies, daß Selbstverständlichkeiten einer politischen Kultur fragwürdig geworden sind, daß entweder neue Bedürfnisse in traditionellen Institutionen nicht mehr befriedigt werden, oder daß umgekehrt gesellschaftliche Veränderungen "alte" Bedürfnisse nicht mehr befriedigen. In jedem Falle ist "Bewegung" eine Reaktion auf eine Situation, die als Krise erlebt wird. Was also war für wen kritisch geworden?

Deutschland war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ein Agrarstaat mit überwiegend ländlicher Bevölkerung. Im Jahre 1870 wohnten fast zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Gemeinden, und es gab damals nur acht Städte mit über hunderttausend Einwohnern (vgl. Szemkus). Das soziale Verhalten der meisten Menschen war durch Traditionen geprägt; man war in hohem Maße integriert in überschaubare relativ kleine Gemeinden. Eine jugendliche Altersgruppen-Kultur gab es hier nicht, sie hätte auch keinen sozialen Sinn gehabt.

"In der ländlichen Gemeinde sind die verschiedenen Altersgruppen nicht in dem Maße separiert, daß sich altersgruppenspezifische Verhaltensweisen herausbilden oder Erwartungen von den Jugendlichen entwickelt werden könnten, die nicht durch den täglichen Umgang mit älteren Menschen kontrolliert und auf ihre Übereinstimmung mit den überlieferten Lebensformen geprüft werden" (Szemkus, S. 40).
 
 

Nach 1871 - nicht zuletzt als Folge der in die deutsche Wirtschaft gepumpten französischen Reparations-Milliar-

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den - setzte eine schnelle Industrialisierung ein, bei der viele kleine Unternehmen auf der Strecke blieben und neue Technologien und Organisationsformen die Arbeitsplatzstruktur veränderten. Eine große Binnenwanderung, vor allem in die neuen Industriezentren, war die Folge. Für einen großen Teil der Bevölkerung zerbrachen damit die alten sozialen Bindungen, neue soziale Kontexte und Werte mußten gefunden werden. Lebten 1871 erst 5 Prozent der Bevölkerung in Großstädten, so waren es 1910 schon 21 Prozent; die Zahl der Großstädte hatte sich bis 1900 auf 33 vermehrt. Auch die Beschäftigungsstruktur änderte sich: Im Jahre 1870 waren 50 Prozent der Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft tätig, im Jahre 1913 nur noch 33 Prozent, der Anteil der in Industrie und Handwerk Beschäftigten stieg von 30 auf 40 Prozent.

Die Folgen dieses rapiden sozialen Wandels waren nicht nur die Zerstörung alter sozialer, nachbarschaftlicher, "gemeindlicher" Gebundenheiten, sondern auch Statusprobleme, vor allem mittelständischer Gruppen. Die vor den Arbeitern herausgehobene Position der Angestellten etwa - basierend auf einem persönlichen Dienstverhältnis zum Prinzipal - nivellierte sich als Folge unpersönlicher Verwaltungsstruktur. Die neuen, unpersönlichen, auf Rechenhaftigkeit und materielles Wachstum gegründeten Prinzipien der Industrialisierung parzellierten die menschlichen Beziehungen; ihre Vertreter und Verfechter brachten das bis dahin hohe Prestige der Beamtenschaft in eine Krise, insofern deren spezifische Arbeits- und Dienstauffassung nicht mehr für alle Arten von Arbeit vorbildlich sein konnte, ja als Ethos für die moderne Industriearbeit überhaupt nicht in Frage kam.

Auf dem Hintergrund all dieser sozialen und normativen Verunsicherungen konnte Ferdinand Tönnies Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" einen solchen Erfolg haben, in dem die verbindliche, personenbezogene, sozialgewachsene "Gemeinschaft" - eben das, was viele durch den geschilderten sozialen Wandel verloren hatten - dem Sozialgebilde "Gesellschaft" gegenübergestellt wurde, bei der es um zweckhafte, machbare, jederzeit zur Disposition stehende Sozialbeziehungen - z. B. am normalen Arbeitsplatz - ging. Damit war ein Thema des sozialen Denkens intoniert, das in mancherlei Variation nicht nur den Na-

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tionalsozialismus überdauerte, sondern auch gegenwärtig offensichtlich wieder aktuell ist: die Suche nach "heilen", umfassenden und menschlichen Sozialgebilden inmitten einer parzellierten gesellschaftlichen Zweckhaftigkeit. Auch "Gemeinschaft" und "Bund" - Erfindungen der Jugendbewegung - sind eine Variation davon.

Die massenhafte Beschädigung von Identität durch Statusunsicherheit konnte durch Aufrechterhaltung überlieferter Formen und Konventionen des privaten wie öffentlichen Lebens noch eine Weile überdeckt werden, aber nur um den Preis zunehmender innerer Aushöhlung und Erstarrung. Auf der kulturellen Ebene war der Widerspruch von neuem Wirtschaftsbürgertum und altem Bildungsbürgertum besonders deutlich erlebbar. Das Wirtschaftsbürgertum war Träger der neuen Werte; Bildung war dabei eher so etwas wie gesellschaftliches Dekor. Das Bildungsbürgertum dagegen - ein großer Teil der Beamtenschaft, der akademischen freien Berufe, vor allem natürlich die Professoren und Gymnasiallehrer - betrachteten die klassische Bildung als einen verbindlichen "Wert an sich", als ein fundamentales Stück der eigenen Identität (vgl. Aufmuth; Vondung). Die neuen Werte setzten dieses Selbstverständnis stark unter Druck.

Vor allem dieses überwiegend protestantische Bildungsbürgertum war der soziale Boden für die "Kulturkritik", die um die Jahrhundertwende einsetzte, und deren Generalthema die Rettung der alten geistigen Werte vor dem Geist des Wirtschaftens und der Technik war. Je mehr der Status dieser Gruppe gefährdet war, um so nachhaltiger bezog sie ihr Selbstbewußtsein aus dem Geist der Bildung und aus der Verachtung des schnöden Mammon und der kalten Technik. Man konnte sich dabei als Elite fühlen, die auf die Durchsetzung partikularer Interessen verzichtet zugunsten des Gemeinwohls und der Hingabe an die geistige Substanz des ganzen Volkes.

In diesem Zusammenhang entstand der "Jugendkult" (vgl. Linse 1976), der für die Jugendbewegung und Jugendpflege der folgenden Zeit so nachhaltige Bedeutung haben sollte: Die Hoffnungen auf eine Erneuerung - und das hieß: auf eine Restitution der "alten" Werte bzw. zumindest auf deren Reform - stützten sich auf die Jugend, auf ihre Spontaneität und Unverdorbenheit, auf ihre Of-

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fenheit und moralische Unbedingtheit. Nur die Jugend könne aus der Verderbnis der Gegenwart einen neuen Weg finden. So verkündete Nietzsche in der zweiten seiner "unzeitgemäßen Betrachtungen" eine "Mission der Jugend". Die bisherige historische Erziehung sei völlig unzureichend, sie beschränke in der Jugend "die Begierde, selbst etwas zu erfahren und ein zusammenhängend lebendiges System von eigenen Erfahrungen in sich wachsen zu fühlen. Sie verwirrt die stärksten Instinkte der Jugend, betrügt sie um ihr schönes Vorrecht, um ihre Kraft, sich in übervoller Gläubigkeit einen großen Gedanken einzupflanzen und einen noch größeren aus sich herauswachsen zu lassen ... hier erkenne ich die Mission der Jugend, eines ersten Geschlechtes von Kämpfern und Schlangentötern, das einer glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit voranzieht" (zit. n. Roessler, S. 180). Um die Jahrhundertwende gab es eine umfangreiche publizistische Diskussion über Jugendprobleme mit der Tendenz, Jugend nun endlich nicht mehr als Noch-nicht-Erwachsene zu behandeln, sondern als Potential eigentümlicher, noch unverbrauchter und unverfälschter Chancen.

Der Jugendkult kam dem Statusinteresse des Bildungsbürgertums insofern entgegen, als die Aufwertung der Jugend auch eine Aufwertung der Erzieher bedeuten mußte. Aus dem negativen Image des Lehrers, der die Jugend niederzuhalten und an die Normen der Erwachsenen anzupassen hatte, war nun ein Beruf geworden, der das kostbarste Gut des Volkes zu betreuen hatte. In diesem Klima gewann auch die Reformpädagogik ihre Erfolge. Allerdings scheint die Kombination von Jugendkult und Kritik der Erziehungsmächte, wie sie am schärfsten wohl von Ludwig Gurlitt ("Der Deutsche und seine Schule"; "Der Deutsche und sein Vaterland") formuliert wurde - einem Lehrer an jenem Steglitzer Gymnasium, von dem der Wandervogel seinen Ausgang nahm -- weniger Ursache für pädagogische Erneuerungen gewesen zu sein, als vielmehr bereits Reflex auf Veränderungen im Erziehungsbereich selbst. In Schule und Familie hatten Liberalisierungen nämlich längst eingesetzt. In seinem Aufsatz "Väter und Söhne" aus dem Jahre 1907 hat Friederich Paulsen (1912) deshalb den Tenor der reformpädagogischen Publizistik bissig kritisiert: "Wer Deutschland bloß aus der Li-

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teratur kennt, ... muß zu dem Glauben kommen, daß es nie ein Zeitalter gegeben habe, wo mit der Jugend so unbarmherzig umgegangen worden sei; unter dem Beifall aller menschlich Gesinnten müsse demnächst eine allgemeine Empörung gegen dieses verrottete und verruchte Erziehungssystem ausbrechen" (S. 495 f.). Tatsächlich jedoch sei noch nie so viel in Schule und Familie auf junge Menschen eingegangen worden. Sie hätten Freiheiten wie nie zuvor. "Überall ist von den Rechten und Ansprüchen des heranwachsenden Geschlechts die Rede, von seinen Pflichten darf im Jahrhundert des Kindes überhaupt nicht gesprochen werden" (S. 508). Ursache dafür sei der Autoritätsverfall in den Erziehungsmächten, herrschend geworden sei "ein individualistisch-revolutionärer, antiautoritärer Zug" (S. 501). Hinzu komme "das im letzten Menschenalter ungeheuer gesteigerte Wohlleben. Es hat in den oberen Schichten der Gesellschaft, und nicht hier allein, zu einer Verweichlichung auch der Jugenderziehung geführt, die mit Willensschwäche gebüßt wird, gebüßt von den so Erzogenen. Wer in den Knabenjahren streng gehalten oder in engen Verhältnissen aufgewachsen war, wie es für den größten Teil der Studierenden des 18. und noch der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zutraf, der biß, wenn ihn nun auch das Leben einstweilen noch karg hielt, die Zähne zusammen und schlug sich durch. Jetzt fühlt er sich gekränkt und in seinen berechtigsten Ansprüchen verkürzt. Statt den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, fängt er an zu lamentieren und der Welt mit Klagen und Weltreformplänen lästig zu fallen" (S.509 f.).

Paulsen hält das publizistische Interesse an der Jugend für eine vorübergehende Mode, die polemischen Wortführer wie Ellen Key ("Das Jahrhundert des Kindes", 1900) und Ludwig Gurlitt sind ihm zu unseriös. "Wer in der Welt, frage ich, sollte ein solches Buch zu lesen aushalten, ausgenommen die vereinigten Backfische von Berlin?" (S.507), fragte Paulsen nach der Lektüre von Ellen Keys "Jahrhundert des Kindes". Und Gurlitts Schriften würden "von allen Untersekundanern im Deutschen Reich ... verschlungen" (S. 507 f.), um daraus zu lernen, was für hoffnungslose Tölpel ihre Väter und Lehrer seien.

Nicht, daß Paulsen hier eine konservative Generationsposition vertritt, ist bemerkenswert, sondern daß er die

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"Jugendprobleme" für eine publizistisch inszenierte Krise hält, die - so könnte man von heute aus hinzufügen - berufsideologischen Interessen, also der Statusverbesserung von Erwachsenen dient, die eine dementsprechende "öffentliche Meinung" herstellen. Diese gemachte "öffentliche Meinung´" aber - und das ist sein entscheidender Einwand - definiert das Jugendproblem gleichsam ausbeuterisch im Sinne von Erwachsenen-Interessen und übergeht dabei die wirklichen Probleme, unter denen die Jungen leiden: Offenheit und "Pluralität" der normativen Horizonte, fehlende Vorbilder für eine akzeptable Identifikation. Das von dieser Publizistik Kritisierte ist gerade das, was fehlt, der scheinbare Fortschritt das eigentliche Problem. Damit ist ein Thema angeschlagen, das die Geschichte der Jugendbewegung und Jugendarbeit in immer neuen Variationen bestimmen wird: die Erwartungen Erwachsener an die junge Generation, ihre Definitionsmacht gegenüber den Problemen Jugendlicher, eine eigentümliche Mischung von Fürsorge und (politischer; emotionaler; beruflicher) Ausbeutung.

Diese und andere Probleme entstehen um die Jahrhundertwende im Rahmen eines rapiden sozialen und normativen Wandels, in dem die Mittelschichten von zwei Seiten bedroht werden: von der industriell-technologischen, schon zu Monopolisierungen neigenden Entwicklung einerseits und von der immer größer und mächtiger werdenden Arbeiterbewegung andererseits. Der Mittelstand vergrößert sich in diesem Prozeß und spaltet sich dabei zugleich, reagiert also weder politisch noch ideologisch einheitlich. Ein Teil der vor allem kaufmännischen und handwerklichen Mittelschicht identifiziert sich mit dem wirtschaftlich-technischen Fortschritt, schickt seine Söhne auf die bald überschwemmten Universitäten oder zumindest auf ein nichthumanistisches Gymnasium, hängt völkisch-imperialistischen Ideologien an und sucht Halt bei der staatlichen Macht, indem er seine Existenz als "staatstragende Mitte" rechtfertigt und deshalb staatlichen Schutz gegen die Bedrohung von oben und unten (gegen die Sozialdemokratie) verlangt. Ein anderer Teil - eben das Bildungsbürgertum - versucht, die neue Lage als Sinn- und Bildungskrise zu artikulieren und damit auch eine Art von Widerstand gegen den "Fortschritt" anzumelden. Wie uneinheitlich

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dabei die Positionen sind, zeigt die Stellungnahme Paulsens, der gewiß zu den "Bildungsbürgern" zu rechnen ist, andererseits aber gegen die in den eigenen Reihen entstandene pädagogische Reformbewegung Front macht. Das soziale Schicksal der mittleren Schichten aber und ihre Reaktion auf die als prekär empfundene Lage ist der wichtigste soziale Hintergrund für die Entwicklung der Jugendbewegungen und der Jugendpflege.
 
 

Der Wandervogel

Die eben skizzierte Verunsicherung großer Teile des mittleren Bürgertums sowie das Fragwürdigwerden überlieferter sozio-kultureller Normen und Maßstäbe brachten eine ganze Reihe von "Bewegungen" hervor: z. B. die reformpädagogische Bewegung, die Frauenbewegung, künstlerisch-literarische Bewegungen, religiöse und lebensreformerische usw. Nicht nur die Jugendbewegung suchte in dieser Situation nach neuen kulturellen Leitbildern und nach neuen Lebensstilen.

Wie schon angedeutet ist charakteristisch für eine "Bewegung", daß ihre Zielvorstellungen eher gefühlsmäßig als rational begründet sind und daß deshalb der Zusammenhalt ihrer Mitglieder eher auf einer Art von "Lebensgefühl" beruht als auf einem Programm; typisch ist ferner, daß eine Bewegung ihre Ziele nicht in den vorhandenen gesellschaftlichen Institutionen angemessen realisieren kann, sondern dafür neue Organisationsformen braucht. Die Krise, die zur Ursache für eine Bewegung wird, muß allerdings erst von genügend vielen Menschen erlebt und erfahren worden sein, bevor ein Anlaß - wie die Gründung des Wandervogels - genügt, die erlebten Defizite anzusprechen und ins Bewußtsein dringen zu lassen Aus diesem Grunde ist für eine Bewegung - etwa im Unterschied zu einer zweckrationalen politischen Partei - die relativ große emotionale Energie charakteristisch und damit auch ein relativ großer "subjektiver" Spielraum der Erlebnisdeutung. Da aber eine Bewegung derart fundamentale Ursachen hat, muß sie eine auf die Verbesserung der gesamten menschlichen Verhältnisse gerichtete Ideologie entwickeln - ie ist also in einem hohen Maße ideo-

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logiebedürftig. Das gilt auch für die bürgerliche Jugendbewegung.
 
 

Wandern als kulturelle Alternative

Als Geburtsdatum der bürgerlichen Jugendbewegung gilt allgemein der 4. November 1901. An diesem Tage gründeten zehn Personen, darunter vier Schriftsteller und ein Arzt, in Steglitz bei Berlin den Verein "Wandervogel -- Ausschuß für Schülerfahrten". Zwei Jahre später bezeichnete Gurlitt, einer der Mitbegründer, in einem Bericht an das Kulturministerium den "Zweck" der Vereinigung mit folgenden Worten:

"In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins - um von Schlimmerem ganz zu schweigen" (zit. n. Roessler, S. 183).

Der "Wandervogel" war einer zufälligen Eingebung zu verdanken: Eine der jungen Wandergruppen fand auf dem Friedhof von Dahlem eine Grabinschrift mit dem Vers: "Wer hat Euch Wandervögeln die Wissenschaft geschenkt, daß ihr auf Land und Meeren nie falsch die Flügel lenkt ... ." Die Gruppe schlug vor, den Namen "Wandervögel" für sich zu übernehmen, was dann auch geschah. Die Episode zeigt übrigens, daß die Vereinsgründung keineswegs der Anfang der Bewegung war, sondern daß es auch vorher schon wandernde Gruppen gab, so die Schülerausflüge unter Leitung des Stenographielehrers Heinrich Hoffmann. Die Gründung eines Vereins unter Leitung von Erwachsenen war aus rechtlichen Gründen nötig und außerdem den Eltern und der Öffentlichkeit gegenüber aus Gründen der Reputation zweckmäßig, denn die Schule konnte damals die Teilnahme an derartigen Vereinigungen verbieten.

Nach den zeitgenössischen Schilderungen muß das Wandern bei den daran Beteiligten tiefe Eindrücke hinterlassen haben. Man entrann auf diese Weise den alltäglichen,

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sehr engen Sozialkontrollen und genoß das Gefühl persönlicher Freiheit. Es entwickelte sich ein eigentümlicher, asketischer Lebensstil. Die Kleidung war einfach und wetterfest, gekocht wurde im Freien, übernachtet in der Scheune eines Bauern oder allenfalls in einfachen Dorfgasthöfen. Leitbild war der mittelalterliche Scholar, der durch die Lande zog. In den ersten Jahren identifizierte man sich bis zu einem gewissen Grade mit den Landstreichern und übernahm teilweise deren Idiom. Das beliebteste Musikinstrument wurde die Gitarre, zu deren Begleitung Volkslieder und Landsknechtslieder gesungen wurden. Hans Breuer, einer der Führer der ersten Stunde, sammelte alte Volkslieder aus dem 15. bis 18. Jahrhundert und gab sie im "Zupfgeigenhansl" (1909) heraus. Das Buch wurde ein Bestseller und bis 1933 über eine Million Mal verkauft. Es war nicht zuletzt aus Verdruß über die zum Teil unkultivierte Singerei der Wandervogelgruppen entstanden, die ziemlich wahllos sangen, was ihnen gerade Spaß machte (vgl. Kolland, S. 142). Breuer glaubte, daß das alte Volkslied ursprüngliche, echte, noch nicht durch die moderne Zivilisation korrumpierte Gedanken und Gefühle enthalte und somit gerade für den volkstümlichen Geist des Wandervogel geeignet sei.

Einzelheiten des Ablaufs einer Wanderfahrt hat Hans Blüher im Jahre 1908 in einem Aufsatz mit dem Titel "Wie werden die Reisen des Alt-Wandervogel ausgeführt?" anschaulich geschildert:

"Wenn die Sonne eben erst hinter den Horizontwolken emporgeklommen ist, lagert schon eine kleine Horde von 8-10 Wandervögeln am Ufer des rauschenden Gebirgsbaches und kocht sich ihren Morgen-Kakao ... der eine kommt eben aus dem Dörfchen und bringt Semmeln, Kuchen, Brot und andere Labemittel mit, die er auf 'Staatskosten' eingekauft hat; der andere bläst das Feuer an, das auszugehen scheint und ein dritter gießt Spiritus auf den neugekauften Kocher, der natürlich fortwährend versagt. In Gruppen zu je zwei sitzen sie zusammen. Der Führer, ein älterer Schüler oder Student, unterscheidet sich im wesentlichen gar nicht von den übrigen. Er ist kein Lehrer, kein Erzieher, wenigstens nicht von Beruf, sondern er ist Kamerad. Er hat den Plan zur Reise ausgearbeitet und an die Geschäftsstelle des Kreises gesandt. Diese hat, weil sie ihn gut kennt, seine Eigenschaften zu schätzen weiß und das Vertrauen in ihn setzt, die Verantwortung über eine Horde mit Bewußtsein tragen zu können, seine Reise bewilligt, sie auf den vor jeden Ferien er-

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scheinenden Fahrtenzettel gesetzt, und nun hat sich eine Horde von wanderlustigen Schülern zusammengefunden, ihm das festgesetzte Reisegeld eingezahlt und im Vertrauen auf seine Tüchtigkeit, seinen Opfermut, seine Kameradschaftlichkeit und Treue ihm das Versprechen gegeben, ohne Zögern seinen etwaigen Anordnungen zu folgen und ihm treu zu sein, bis das gute Schicksal sie wieder zu 'Muttern' zurückgeleitet hat. Der Führer ist also, trotzdem er oft nur wenig älter wie die Teilnehmer ist, Alleinherrscher und also auch allein für alles verantwortlich.— - Inzwischen ist das Abkochen beendet. Am Bache wird das Emaillegeschirr abgewaschen, das Feuer wird ausgetreten resp. der Spirituskocher zusammengelegt, je nach Geschmack. Überall zerstreut liegen die Herrlichkeiten, die der Rucksack birgt. Noch einen schnellen Blick darauf, ehe es zusammengepackt wird! Da liegt lang auseinandergezogen der warme 'Schlafsack', aus einer ehemaligen Reisedecke zusammengenäht, nebst der wasserdichten Regenpellerine. Rings herum verstreut der Kochtopf, Teller, Tasse, Löffel und Messer; dann in kleine Leinensäcke gehüllt allerhand Mund- und Kochvorrat, wie Kakao, Zucker, Mehl, Salz, 'Suppentafeln', Erbswurst, Haferflocken, Backobst, und was das Herz sonst noch bedarf, um einfach aber gediegen leben zu können; doch Tabak oder starken Alkohol wird man vergebens suchen; nur der Führer hat wohl unter seiner Reiseapotheke eine Flasche guten Cognac.

Jetzt ist alles zusammengepackt ... . Übermorgen ist ... 'Poststation' ... da wird die Post des betreffenden Städtchens, das der Führer vor der Reise festgesetzt hat, förmlich bestürmt. Postlagernde Sendungen liegen da von 'zu Hause': Briefe, Karten usw., vor allen Dingen aber ein großer schöner Korb von Muttern mit allerhand schönen Sachen und Proviant für die Wanderschaft. Die schmutzige Wäsche usw. wird dann gleich in demselben Korbe nach Hause geschickt, damit Mutter auch was hat ... alle drei Tage (ist) Poststation und alle acht Tage Paketstation ... .

Nun geht es aber endgültig weiter! Am Flüßchen entlang zwischen den Bergen durch Dörfchen und Städtchen. Es fängt an heiß zu werden. In jedem Dorfe wird haltgemacht; der kühle Brunnen spendet Erfrischung, oder ein Topf fetter Milch, die der Führer kauft, wird gierig verschlungen. Wenn die Hitze zu groß ist, wird wieder haltgemacht am Bache hinterm Dorf, und jetzt beginnt das große Mittagskochen, das im Sommer fünf, sechs Stunden dauert. Der Führer zahlt 20-30 Pf. 'Sold' aus, damit sich jeder im Dorf etwas zum Kochen kaufen kann, oder er läßt sich auf Staatskosten alles Nötige herbeiholen, wozu die Bauernkinder oft genug diensteifrig bereit sind ... und jetzt beginnt eine Abkocherei, wie sie im Manöver auch nicht besser zu finden ist. Die übrige Zeit wird mit Verdauen, Schlafen, Baden usw. zugebracht. Neigt sich die Sonne und fängt es an, wieder kühl zu werden, dann gehts weiter, bis das Ziel des Tages ungefähr erreicht ist. Im Dorfkrug wird eingekehrt. Der Führer be-

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stellt ein Nachtlager, aus einer Schütte Stroh aus der Tenne oder einem Heuboden bestehend. Dann wird noch etwas aus den mitgebrachten Vorräten gefuttert, ein oder mehr Liedlein zum leichten Biere gesungen, und wenn der eine oder der andere anfängt zu gähnen oder einzuschlafen, gehts ins Stroh. Gelingt es den Wandervögeln, durch ihr frisches und fröhliches Auftreten, durch ihren einfachen Gesang, durch ihr Spielen mit Harmonika, Gitarre oder Mandoline die Gunst des Wirtes zu erringen, so kostet ein solches Nachtlager nichts, und das ist fast immer so. Nur selten muß der Führer 10 bis 20 Pf. pro Mann bezahlen ... außer dem eingezahlten Betrage ist kein Geld nötig, außer wenn einer viel Ansichtskarten zu kaufen gedenkt und mit dem 'Solde' nicht auszukommen glaubt. Doch ist es bei uns verboten, außer dem eingezahlten Betrage größere Beträge mitzunehmen, um sich damit besonders gütlich zu tun. Jeder soll gleich viel mithaben; der Ärmere soll nicht zusehen, wie der Reichere von seinen Reichtümern schlemmt, während er bescheiden leben muß" (zit. n. Ziemer/Wulf, S. 139 ff. )
 
 

Die Mitgliedschaft im Wandervogel erforderte einen hohen Teil der Wochen- und Jahresfreizeit. Aufgenommen als Mitglied wurde nur, wer in die Gruppe zu passen schien. "Mitläufer" wurden nicht geduldet.

Aus der ursprünglich eher naiven Freude am Wandern und seinen Erlebnismöglichkeiten wurde bald eine eigentümliche jugendliche Freizeit-Subkultur; aus der Spontaneität kleiner Gruppen ohne übergeordnete Organisation wurde eine überregionale Organisation, die sich nun auch öffentlich präsentieren mußte und dabei in Konflikte geriet, wie noch zu zeigen sein wird.

Zunächst aber wuchs die Bewegung in den ersten zehn Jahren langsam an, an vielen Orten entstanden neue Gruppen. Von Anfang an war sie von Spaltungen bedroht, die aus Richtungskämpfen und persönlichen Animositäten erwuchsen. Schon 1904 spaltete sich der Wandervogel wegen des autoritären Führungsstils von Karl Fischer, seines Führers, in den "Wandervogel, eingetragener Verein zu Steglitz" und den von Fischer weiter geführten "Altwandervogel", der sich über ganz Deutschland ausbreitete, während der "e. V." nur auf Berlin beschränkt blieb. Ab 1907 bildeten sich neben dem Wandervogel andere Gruppen, vor allem unter Studenten, die die Idee des Wanderns mit neuen Formen der Lebensführung verbinden wollten.

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Ihren Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die Jugendbewegung mit dem gemeinsamen Treffen der jugendbewegten Gruppen auf dem Hohen Meißner, das am 13. Oktober 1913 stattfand, am Tage des in Deutschland mit viel Patriotismus und Nationalismus gefeierten 100jährigen Jubiläums der Völkerschlacht bei Leipzig. Ausdrücklich als eine Art von "Gegen-Fest" war der "Hohe Meißner" gedacht. Aber die Hoffnungen, eine gemeinsame Plattform und organisatorische Formen der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen zu finden, erfüllten sich nicht. Die einzelnen Gruppen wollten ihre Autonomie behalten. Die sogenannte "Meißner-Formel", auf die man sich einigte, brachte kein Programm, sondern eher ein Lebensgefühl zum Ausdruck:

"Die freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein."
 
 

Instruktiv für das Bewegende der Bewegung ist die Einladung zum Meißner-Fest, in der es hieß:

"Die deutsche Jugend steht an einem entscheidenden Wendepunkt. Die Jugend, bisher nur ein Anhängsel der älteren Generation, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und auf eine passive Rolle verwiesen, beginnt sich auf sich selbst zu besinnen. Sie versucht, unabhängig von den Geboten der Konvention sich selbst ihr Leben zu gestalten. Sie strebt nach einer Lebensführung, die jugendlichem Wesen entspricht, die es ihr aber zugleich auch ermöglicht, sich selbst und ihr Tun ernst zu nehmen und sich als einen besonderen Faktor in die allgemeine Kulturarbeit einzugliedern. Sie möchte das, was in ihr an reiner Begeisterung für höchste Menschheitsaufgaben, an ungebrochenem Glauben und Mut zu einem adligen Dasein lebt, als einen erfrischenden, verjüngenden Strom dem Geistesleben des Volkes zuführen" (zit. n. Sauer, S. 66).
 
 

Im Meißner-Jahr 1913 vereinigten sich die meisten Wandervogelgruppen zum Wandervogel e. V., der ein Jahr später bereits 40 000 Mitglieder zählte. Aus Protest gegen das Überhandnehmen von Oberlehrern und von Elternausschüssen als Beratern spaltete sich dabei der Jungwandervogel mit etwa 1500 Mitgliedern ab.

Vorbereitet wurde das Meißner-Fest von der "Deutschen Akademischen Freischar", einer 1907 in Göttingen gegründeten Organisation von Studenten, die die lebens-

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reformerischen Ideen der Jugendbewegung zur Reform des studentischen Korporationswesens bzw. als dessen Alternative praktizieren wollten. Im Zusammenhang mit dem Fest wurde dann der "Freideutsche Bund" gegründet, der den älteren Wandervögeln aller Gruppierungen offenstehen sollte. Aber der größte Verband, der Wandervogel e. V., trat dem Bund nicht bei und nahm auch offiziell nicht am Meißner-Fest teil. Er fürchtete, von politischen bzw. ideologischen Intentionen Erwachsener in Anspruch genommen zu werden.

Diese Furcht war nicht unbegründet; denn in der Tat gaben auf dem Meißner die Erwachsenen den Ton an; mit ihren Reden versuchten sie, die Jungen für ihre Ideen zu gewinnen. Die Gegensätze waren dabei so groß, daß es nur mit Mühe gelang, jene gemeinsame Formel zu finden. Sie war ein Kompromiß zwischen den beiden Hauptströmungen in der Jugendbewegung: dem konservativen, lebensreformerischen einerseits, der mit dem Wandern neue Formen der Lebensführung wie Nikotin- und Alkoho-Abstinenz, "gesundes" Essen und Kleiden usw. verband, und einem schulrevolutionären, dessen bedeutendster Repräsentant Gustav Wyneken war; dieser Flügel wollte eine "Jugendkultur" gegen Elternhaus und Schule durchsetzen.

Wyneken war Lehrer an einem Landerziehungsheim und gründete 1910 die "Schulgemeinde Wickersdorf". Volle kameradschaftliche Gleichberechtigung von Lehrern und Schülern, Autonomie der Jugend und Eigenwert des Jugendalters als einer wesentlichen Phase der Kultur überhaupt ("Jugendkultur") waren die herausragenden Punkte seines Programms. Sprachrohr dieser Gruppe war die 1913 gegründete Schülerzeitung "Der Anfang". Sie wurde redigiert von Wyneken; zu den Herausgebern gehörte S. Bernfeld; und sie hatte rund 800 Abonnenten. Durch ihre Attacken gegen die bürgerlichen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Kirche erregte sie großes Aufsehen. Die Beiträge waren meist von Jugendlichen verfaßt, Wyneken hatte dafür die presserechtliche Verantwortung übernommen.

Der öffentliche Konflikt konnte nicht ausbleiben. Er entzündete sich an einem anonymen Pamphlet über die Freideutsche Jugend, das in einem katholischen Verlag in

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Bayern erschien und in dem Zitate aus dem "Anfang" und von Wyneken zusammengestellt und polemisch kommentiert wurden. Dieses Material griff der bayerische Zentrumsabgeordnete Schlittenbauer auf, um im Bayerischen Landtag die liberale Politik des Kultusministers von Knilling zu attackieren. Die "Freideutsche Jugend" war ihm dabei nur eine willkommene Gelegenheit, auf die Folgen einer derartigen Politik hinzuweisen. Die so inszenierte Pauschal-Diskussion über "die" Freideutsche Jugend wurde über die Presse auch in andere Länder des Reiches getragen, wo sie teilweise auch zu parlamentarischen Debatten führte. Über Nacht sah sich damit die Freideutsche Jugend einer öffentlichen Polemik ausgesetzt; differenzierte Klarstellungen etwa über den pluralistischen Charakter des Bundes, in dem niemand für den anderen sprechen könne, nutzten nichts. Wyneken, dessen Ansichten in erster Linie den Konfliktstoff abgaben, stellte sich in vielen Vorträgen mutig dieser Auseinandersetzung, was die Gemüter verständlicherweise nicht beruhigen konnte. Obwohl der Auslöser dieser Kampagne rein parteitaktischer Natur war, zeigte die Auseinandersetzung doch, wie empfindlich ein großer Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit auf den Anspruch der Jugend auf "Selbstbestimmung" reagierte sowie auf ihren Versuch, auf Distanz zu den überlieferten Erziehungsmächten zu gehen. Erst recht hatten Wynekens radikale pädagogische Ideen, nach denen ja auch die Schule nach dem Muster seiner "Jugendkultur" umgestaltet werden sollte, keine öffentliche Chance. Er war vielmehr zu einer Belastung für den Bund geworden und trat mit seiner Schulgemeinde - keineswegs freiwillig - auf dem Vertretertag des Freideutschen Bundes im März 1914 in Marburg aus. Dieser Schritt wurde jedoch von der Öffentlichkeit kaum beachtet, die Identifizierung von Wyneken und Freideutscher Jugend wurde fortgesetzt.

Auf diesem Treffen wurde auch die Meißner-Formel unter maßgeblichem Einfluß von Paul Natorp in bezeichnender Weise geändert. Statt "Autonomie" der Jugend hieß es nun:

"Die Vermittlung der Werte, welche die Älteren erworben und überliefert haben, wollen wir dadurch ergänzen, daß wir mit innerer Wahrhaftigkeit unter eigener Verantwortlichkeit unsere Kräfte selber entwickeln."

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Diese Formulierung hatte jedoch keine Bedeutung für die Zukunft; auch später berief man sich auf die ursprüngliche Fassung. Die Gegensätze innerhalb des Freideutschen Bundes waren also beträchtlich, und es ging keineswegs nur um die etwas schwierige Persönlichkeit Wynekens, der die Solidarität der anderen überstrapazierte. Es ging in erster Linie um die nur schwer zu vermittelnden und einer ernsthaften öffentlichen Belastung nicht gewachsenen Differenzen zwischen dem konservativ-völkischen Flügel und dem radikalen Engagement Wynekens und seiner Sympathisanten, das der konservative Flügel als einseitige politische Parteinahme ansah, wovon der Bund sich grundsätzlich freihalten müsse. Dies war jedoch nicht die einzige öffentliche Auseinandersetzung, der sich die Jugendbewegung zu stellen hatte. Es gab weitere, so vor allem auch über die "Judenfrage" und über die Homosexualität.

Der Wandervogel war zwar ohne Beteiligung von Juden gegründet worden, aber im Laufe der Zeit traten auch Juden in die Gruppen ein. Zwar war damals nur 1 Prozent der Bevölkerung Juden, aber in den großen Städten und in den Gymnasien waren sie überrepräsentiert. Es lag nahe, daß sie sich auch den Gruppen des Wandervogels anschließen wollten. Im Jahre 1912 wurde einem jüdischen Mädchen in Zittau der Beitritt mit der Begründung verweigert, der Wandervogel sei eine deutsche Bewegung und habe deshalb für Juden keinen Platz. Der Fall gelangte in die Presse und löste im Wandervogel eine heftige Diskussion aus. Friedrich-Wilhelm Fulda, der Redakteur der "Wandervogelführerzeitung", eröffnete eine Hetzkampagne gegen die Juden, von der sich die Mehrheit der Führer allerdings distanzierte, einige gründeten sogar aus diesem Grunde ein Gegenblatt. Nun schalteten sich aber von außen radikale Antisemiten ein und versuchten, die Jugendbewegung auf ihre Seite zu ziehen. Die meisten Führer wollten sich in diese Diskussion erst gar nicht verwickeln lassen, aber die Verunsicherung war so groß, daß eine Entscheidung gefällt werden mußte. Ostern 1914 - also nach dem Meißner-Fest, auf dem "politische und religiöse Neutralität" postuliert worden war - sollte dies geschehen. Der Bundestag beschloß, daß jede einzelne Gruppe entscheiden sollte, ob und in welchem Umfang sie Juden aufnehmen wolle, grundsätzliche Erklärungen jedoch, Ju-

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den nicht aufzunehmen, seien nicht gestattet (dies wäre vom damaligen Staat als Mangel an staatstreuer Gesinnung und als Störung der nationalen Einheit angesehen worden, zumal wenn Lehrer, die oft Führer von Wandervogelgruppen waren, sich daran beteiligten). Die Gruppen bzw. Gaue reagierten darauf unterschiedlich, einige nahmen keine Juden auf, andere offenbar ohne Beschränkung.

Der aggressive Antisemitismus war zwar Sache einer kleinen Minderheit, aber das Problem des Wandervogels bestand darin, daß er sich als eine deutsche Bewegung verstand und daß die Leitbilder des Deutschtums nicht aus der Gegenwart, sondern aus der Vergangenheit - dem Germanentum - genommen wurden. Die assimilierten deutschen Juden vor dem Ersten Weltkrieg waren zwar Deutsche, aber sie stammten nicht von den Germanen ab. Interessant und problematisch genug ist in dieser Frage die Haltung Karl Fischers, des Begründers des Wandervogels, von dem Hans Blüher, ihr erster Chronist, schreibt:

"Es waren nationale Pläne, die ihn leiteten, und der Wandervogel sollte ein neuer und origineller Ausdruck für eine besondere Seite des nationalen Gedankens sein, für die er freilich nie ein rechtes Wort zu finden vermocht hat ... . Und er wußte es nicht genug zu loben, wenn junge Studenten, statt sich in Jena und Marburg vollzutrinken und vom Vaterlande zu schwärmen, lieber in Prag und Wien, oder sonst einem bedrohten Orte, etwas fürs Germanentum taten. Dabei war sein Verhältnis zu den fremden Völkern überaus maßvoll und durchdacht; niemals würde er sich in fanatische Hetzereien eingelassen haben, und was besonders die Juden im Inlande anbetraf, so verstand er ihnen gegenüber eine besonnene und gerechte Haltung einzunehmen ... . Fischer verkehrte mit Juden und wollte, daß diese sich zusammentäten, so daß Nation neben Nation stände und jeder wüßte, wo der andere sei. Fischer besaß Anerkennung und Würdigung des fremden Wesens, aber er verlangte von den Juden auch, daß sie sich zu einer semitischen Kultur verstünden, wie er zu einer germanischen; dann wollte er sie achten" (zit. n. Pross, S. 171).
 
 

Eine andere Streitfrage war das Thema Homosexualität. Anlaß für die Diskussion darüber, ob im Wandervogel die Homosexualität grassiere, war ein Prozeß in den Jahren 1908/1909, in den einer der maßgeblichen Führer des Wandervogels, Willi Jansen, verwickelt war. Wie schon in der Judenfrage, so wurde auch hier durch eine öffentliche Kampagne die Führerschaft des Wandervogels verunsi-

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chert. Es kam zu schweren inneren Auseinandersetzungen Der Homosexualität verdächtigte Führer wurden hinaus gedrängt (eine Gruppe von Führern forderte sogar, daß jeder Führer einen Revers unterschreiben solle, daß er sich derartiger Neigungen nicht bewußt sei). In dieser Auseinandersetzung behauptete Jansen, seine Verfolger innerhalb des Wandervogels seien deshalb so eifrig, weil sie sich selbst über die Motive nicht klar seien, die sie zur männlichen Jugend hinzögen. Hans Blüher griff in seiner "Geschichte des Wandervogels" Band 2 (1912) sowie ausführlicher in seinem Buch "Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen" diese Behauptung auf und erklärte den Wandervogel für ein durch und durch homosexuelles Phänomen. Diese These ist im ganzen sicher falsch und vom Temperament des Kampfes geprägt. Blüher hat die Erfahrung, daß Wandervogelführer in besonderem Maße "Schwierigkeiten beim Weibe" (Blüher) hätten, als Homosexualität mißdeutet. Aber diese Auseinandersetzung zeigt, daß zumindest für die älteren Wandervogelführer und für die Studenten die sexuelle Problematik eine große Bedeutung haben mußte in einer Gesellschaft, die von allen Tabus die sexuellen am zähesten verteidigte Die öffentlichen Auseinandersetzungen, die die Jugendbewegung bestehen mußte, zeigen, daß die bürgerliche Umgebung zwar bereit war - nicht zuletzt vorbereitet durch die öffentliche Diskussion über Erziehungsfragen - , Jugendlichen in ihrer Freizeit einen eigenen Handlungsspielraum zuzugestehen, daß sie dabei aber sehr enge Grenzen zog.

Die Jugendlichen blieben in diesen Grenzen. Abgesehen von der Minderheit um Wyneken waren die meisten Wandervögel damit zufrieden, daß der neue Freiheitsspielraum sich auf die Freizeit beschränkte, der Umgang mit den gesellschaftlichen Institutionen sich aber nicht änderte. Familie und Schule wurden im allgemeinen als "notwendiges Übel" hingenommen, aber Engagement und Phantasie verlagerten sich in die Freizeit. Je größer die Organisation wurde, um so konformistischer mußte sie den öffentlichen Erwartungen entsprechen. "Das Wachstum der Wandervogelbewegung läuft parallel mit der Anpassung der Bewegung an die Erwartungen und Vorstellungen maßgeblicher Erwachsenengruppen" (Aufmuth, S. 184).

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Das zeigte sich auch in der Frage des Mädchenwanderns. Nicht das Wandern, aber der damit verbundene Sinn und Erlebnisgehalt waren männlich, ein Angebot für die männliche Pubertät, so wie die herangezogenen romantischen Traditionen eben männlich und nicht weiblich waren. Insofern war es ein Problem, ob die Gruppen Mädchen aufnehmen sollten. So wie Karl Fischer die Juden nur insofern respektierte, als sie ihr eigenes "Wesen" im Unterschied zu seinem "deutschen" akzeptierten und kultivierten, so hatte in den Augen vieler Wandervögel das Mädchen ebenfalls ein eigenes, vom Jungen verschiedenes "Wesen"; bei gemischten Gruppen komme deshalb niemand letztlich auf seine Kosten, besser sei, wenn die Mädchen in eigenen Gruppen wanderten. Außerdem würden individuelle Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen die Gruppenstruktur sprengen. Wo meist unter Aufsicht der mitgenommenen Mütter - gemischt gewandert wurde, wie vor allem in Süddeutschland, änderte sich in der Tat der Stil: Man übernachtete möglichst in festen Häusern (Landheime) und weniger unter den primitiven und "schmutzigen" Bedingungen des Strohlagers. Dabei blieb die überlieferte Rollenverteilung von Mann und Frau weitgehend erhalten, das Ideal war die gute Hausfrau. So schrieb Hans Breuer:

"Dort in den Landheimen, da lernen die Mädchen alle die Tugenden, die gerade sie später im Leben brauchen. Sie lernen ein Haus, ein Heim gemütlich und behaglich machen, seine Mauern mit schöner Harmonie und Lebensfreude erfüllen, sie lernen Häuslichkeit, Verträglichkeit. Anstelle rauher Gewaltmärsche wird man Spiel und Reigen und Tanz, kurz alles, was die Grazie der Bewegung fördert, zu beleben suchen. Man wird ihre Sonderinteressen zu nähren haben, ihnen Einblick geben in die Haushaltungen in Stadt und Land, in deren wirtschaftliches Getriebe, Kinderpflege und Erziehung auf dem Lande, Krankenwartung und manches andere. Im Gegensatz zu den Buben, wo es auf Tatkraft:, Willens- und Charakterbildung ankommt, wird man den Aufenthalt in der freien Natur mehr der Vertiefung des Gemüts- und Gefühlslebens weihen ... . Diese seichte Gleichmacherei, welche das Mädchenwandern mit Gewalt in das Jungensschema hineinpressen will, soll keine Heimat bei uns finden" (zit. n. Jungmann, S. 683).

Die Jungen sollten nicht verweichlichen, die Mädchen nicht "verbengeln". Und außerdem ließ sich durch die Trennung der Geschlechter auch die sexuelle Problematik entschärfen,

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die damals in aller Breite öffentlich diskutiert wurde Jungmann kommt in seiner Studie über "Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung" (1936) zu dem Ergebnis, daß die Jugendbewegung die alten Verbote aufrechterhalten habe und die lebensreformerischen Gebote der Reinheit und Abstinenz auf die Keuschheit ausgedehnt und diese Gebote dann verinnerlicht und sentimentalisiert habe. "Kameradschaft" zwischen Jungen und Mädchen war das Verhaltensregulativ, das nicht nur eine sexuelle Distanz schuf, sondern offenbar auch den unkomplizierten und vorbehaltlosen Austausch von Gedanken und Gefühlen behinderte. Man wollte es den Erwachsenen schon zeigen, daß man auch ohne ihre Aufsicht "reinbleiben" würde.

Nun muß man allerdings bedenken, daß die Sozialkontrolle für die Mädchen damals viel enger war als für die Jungen. Das "Schickliche" konnte weit vor sexuellen Beziehungen verletzt werden, z. B. schon durch leichte Abweichungen in der Kleidung. Die Berichte lassen daran keinen Zweifel (z. B. Ziemer/Wulf, S. 352 ff.). Unter diesen Umständen hätten gemischte Gruppen als Prinzip zweifellos zu ständigen Belastungen geführt oder dazu, daß die Wandergruppen unter der ständigen Aufsicht von Erwachsenen gestanden hätten. Andererseits wäre auch vom Standpunkt der Mädchen aus zu fragen, ob sie in gemischten Gruppen auf die Dauer wirklich auf ihre Kosten gekommen wären oder ob sie dort den Jungen nicht untergeordnet geblieben wären. Wahrscheinlich konnten sie sich in den Mädchengruppen unbekümmerter entfalten und dort eher einen eigenen Stil finden. Auch die Vorstellung der "Emanzipation" muß historisch relativ verwendet werden. Jedenfalls war auch für die Mädchen das Wandern ein erster wichtiger Ausbruch aus der heimischen Sozialkontrolle und ihrer Normen.
 
 

Identität in kultureller Mehrdeutigkeit

Der Wandervogel war mehr als nur ein Wanderverein für Jugendliche, sonst hätten seine "Erfindungen" nicht für Jahrzehnte eine solche Wirkung gehabt. Will man seine pädagogische Bedeutung nachträglich auf einen Begriff bringen, dann kann man sagen, daß er die Möglichkeiten

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und Schwierigkeiten der Identitätsfindung bürgerlicher Jugend in Zeiten starken kulturellen Wandels zum Ausdruck gebracht hat. Diese These soll durch einige Überlegungen präzisiert werden.

1. Die Mitglieder des Wandervogels kamen durchweg aus dem mittleren Bürgertum und hier vor allem aus dem Bildungsbürgertum, von dessen prekärer gesellschaftlichen Lage eingangs schon die Rede war. Das landläufige Bild jedoch, daß diese Jugend gegen ihre damaligen Sozialisationsagenturen protestiert habe und sich dabei einen Spielraum "eigener Verantwortung" erkämpft habe, ist zumindest einseitig. Der Wandervogel entstand nämlich an einem der liberalsten Gymnasien des damaligen Deutschland, und seine Mitglieder kamen aus relativ liberalen Elternhäusern. Sie waren dort zu kritischer Sensibilität erzogen worden. Das Problem der Wandervögel war weniger die Unterdrückung durch Familie und Schule - jedenfalls nicht im Vergleich zu anderen Gleichaltrigen - , sondern umgekehrt in relativ offen gewordenen Lebenshorizonten eine Identität zu finden, die nicht mehr durch Identifikation mit einem objektiv vorgesehenen Wertkanon zustande kommen konnte, sondern nur durch verinnerlichte Aneignung der Werte aus "innerer Wahrhaftigkei". "Die Verantwortung für 'richtiges' wertadäquates Handeln ging zunehmend von einem kollektiven Normenkodex auf das einzelne Individuum über" (Aufmuth, S. 159).

Insofern war die "Innerlichkeit" der Meißner-Formel keineswegs nur Pathos. Nimmt man den Erwartungsdruck hinzu, der in der schon erwähnten "Kulturkritik" und in den Hoffnungen der "Jugendkultur" zum Ausdruck kam, dann wird verständlich, daß nun Ich-Identität gefunden werden mußte in einem ganz neuen Sinne, eben nicht durch Identifikation mit kollektiven Normen, sondern durch verinnerlichte Bearbeitung. Und andererseits war diese Subjektivierung und Individualisierung mit größeren Schwierigkeiten und erheblichen Gefahren des Scheiterns verbunden, weil plausible äußere Maßstäbe der Anerkennung dafür fehlten. In diesem Zusammenhang bekommt auch das Pathos der Idealisierung einen Sinn, weil die Maßstäbe der Verinnerlichung rigoroser sind, als wenn Identität primär auf Anerkennung durch Kollektive beruht.

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Allerdings kostet die rigorose Idealisierung der Werte den Preis der inhaltlichen Unbestimmtheit, und dies wiederum machte sie disponibel für von außen kommende Ansinnen, auch für politische Verführungen

Dieses Problem der neuen Identitätsfindung haben sich die Jugendlichen nicht ausgesucht, es ist ihnen durch den kulturellen Wandel aufgezwungen worden, und der Wandervogel war ein Reflex darauf. In dieser Sozialisationslage wurden die gleichgestimmten Gleichaltrigen eine Hilfe, weil sie dieselben Probleme hatten und ihren menschlichen "" sich gegenseitig bestätigen konnten. Um mit ihnen zusammentreffen zu können, wurde ein von den Erwachsenen möglichst nicht unmittelbar beeinflußter "Raum" benötigt, und dies war das heimische "Nest" bzw. die Wanderfahrt.

Andererseits war es nur eine kleine Minderheit aus den genannten Schichten, die den Weg zum Wandervogel fand. Jungmann hat diese Minderheit als besonders neurotisiert bezeichnet; diejenigen, die z.B. "normale" Beziehungen zum anderen Geschlecht hatten und "poussierten", seien gar nicht erst aufgenommen worden und hätten daran wohl auch kein Interesse gehabt. Richtig daran ist sicher, daß es sich um einen besonders sensibilisierten Teil der Jugend aus dem mittleren Bürgertum gehandelt hat, der für neurotische Reaktionen durchaus prädestiniert war Aber diese Minderheit entwickelte eine Lösung des Identitätsproblems, die später tendenziell für die ganze junge Generation Gültigkeit erlangen sollte. Identität in einer mehrdeutigen kulturellen Situation war nur zu haben, wenn in einem mehr oder weniger großen "Spielraum" psychische "Eigenarbeit" "vor eigener Verantwortung" geleistet wurde. Dazu wurde nicht nur die Gleichaltrigengruppe als eigentümlicher Sozialisationsraum erforderlich, sondern auch ein eigentümlicher Erlebnisgehalt, der sich von dem der Erwachsenengeneration unterschied.

2. "Wo Väter und Söhne ganz und gar einig lebten, der Vater seinen Charakter dem Sohne widerstandslos zu übertragen vermochte und dieser stolz war auf das Erbe der Väter, da gab es keinen Boden für den Wandervogel" schrieb Hans Blüher (4. Aufl. 1919, S. 88). In der Tat war der Wandervogel ein Versuch, sich wenigstens teilweise

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und zeitweise von der Familie - und hier vor allem vom patriarchalischen Vater - zu emanzipieren. Damit setzte eine Entwicklung ein, die man als eine Art von gesellschaftlicher Demontage des Vaters bezeichnen kann und die bis in die Gegenwart zur "vaterlosen Gesellschaft" (Mitscherlich) und zur Dominanz der mütterlichen Erziehung führte. Dieser Prozeß der Emanzipation vom Vater ist jedoch keineswegs nur ein "Fortschritt", er wirft vielmehr auch eine Reihe neuer Sozialisationsprobleme auf; denn in dem Maße, wie die Abarbeitung an der Autorität des Vaters im Spielraum zwischen Widerstand und Unterwerfung als Leitmotiv der Sozialisation entfiel, mußten sich auch Form und Inhalt der Sozialisation selbst verändern. Die Relativierung der väterlichen Autorität ist jedoch nicht nur eine innerfamiliäre Frage, sie deutet vielmehr allgemeine gesellschaftliche Wandlungen an. Was die Wandervögel an der Wilhelminischen Gesellschaft kritisierten - phrasenhafte Leere; Unwahrhaftigkeit von Regeln und Ritualen; in leeren Formen erstarrte menschliche Beziehungen; und vor allem: die emotionale Rigidität, die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken und auszutauschen - , galt auch für die durchschnittliche Familienbeziehung. Das historisch obsolet gewordene Patriarchat, das die Versprechungen nicht mehr halten konnte, deretwegen man sich unterwerfen sollte, mußte eine ebensolche Leere und Halbheit innerhalb der Familie hinterlassen wie in der Wilhelminischen Gesellschaft auch, deren innere Verfassung ja nicht zuletzt deshalb so widersprüchlich war, weil Formen und Träger der Herrschaft historisch längst überholt waren. So ist es vielleicht kein Zufall, daß gerade in Kreisen des mittleren Bürgertums die Jugendbewegung entstand; denn im Unterschied zur Arbeiterjugend, die schon früh wirtschaftlich selbständig und damit unabhängig vom Vater wurde, wurde gerade hier die Unsicherheit der gesellschaftlichen Position zwischen den großen Klassen empfunden. Aufstieg und Fortkommen mußten die Jugendzeit und damit die (materielle) Abhängigkeit vom Vater verlängern, ohne daß der Vater irgendwelche Garantien für die Zukunftssicherung übernehmen konnte. Gerade dies schien aber im Großbürgertum, vor allem im Wirtschaftsbürgertum, (noch) anders zu sein: Die Unterwerfung unter den Vater und damit die Anerkennung der von ihm diktier-

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ten und repräsentierten "Kultur" schien sich im Hinblick auf die eigene Zukunft zu lohnen. So ließe sich vielleicht wenigstens bis zu einem gewissen Grade erklären, wieso die Jugendbewegung zwar in einem bestimmten bürgerlichen Milieu entstand, sich dann aber allgemein durchsetzte. Die Demontage des Vaters begann dort, um sich dann generell für die ganze Jugendgeneration durchzusetzen.

Natürlich waren den damaligen Wandervögeln derartige Interpretationen ihrer selbst nicht möglich. Für sie war das, wogegen sie sich wandten, etwas, was jeden Tag sinnlich erfahrbar war. Zum Beispiel das Bild eines "normalen" Sohnes, das ein Jugendbewegter aus der Erinnerung so schildert:

"Wenn er über die süßen Wadenstrümpfchen und den Matrosenanzug hinaus war, klebte er seine Haare rechts und links des Scheitels sorgsam mit Pomade fest und bekam einen Alten-Herrn-Anzug kleineren Maßstabs mit allem notwendig empfundenen Zubehör, buntes Taschentuch in der oberen Rocktasche, Manschetten, hohen Kragen, Pantalon mit tadelloser Bügelfalte, spitze Schuhe, Glaces ... . Der höchste Ehrgeiz war, sich in Kleidung, Haltung, Gewohnheit, Geschmack nach den Erwachsenen zu richten, die mit Stolz die Feststellung 'ganz wie ein Alter' machten ... . Zigarettenrauchen und Biertrinken und üble Witze erzählen galt als das sicherste Kennzeichen der Männlichkeit" (Zit. n. Hornstein, S. 237).
 
 

Wer sich so verhielt, gewann Identität durch Identifikation. Ihn berührte (noch) nicht, was für die Wandervögel zum Problem geworden war.

3. Die Jugendbewegung wollte sich einen "Freiraum" schaffen in Distanz zu Familie und Schule. Dies ist gleichsam die positive Seite ihrer Emanzipation; denn was da "frei" wird, muß irgendwie gestaltet und ausgefüllt werden. Was dem Vater entzogen wird an Verantwortung, muß selbst übernommen werden.

Pädagogisch gesehen ist Jugendbewegung der Versuch gleichaltriger jugendlicher Gruppen, den Prozeß ihrer Sozialisation dadurch mitzubestimmen, daß sie in Distanz zu den dafür vorgesehenen Erziehungsinstitutionen die in der Gesellschaft vorgegebenen Modi des Denkens, Verhaltens und Erlebens modifizieren und dies in gleichaltrigen Gruppen organisieren. Damit entsteht überhaupt erst so etwas wie "Jugend" als soziale Gruppe, sie verlängert sich als A1tersphase - vor allem für Studenten - weit über die Phase

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der Pubertät hinaus, wird zu einem eigentümlichen Zwischenstadium zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus. Zunehmende Selbstbestimmung ist aber nicht nur ein Fortschritt an Emanzipation, es geht auch etwas verloren, z. B. Geborgenheit und gesicherte Zukunftserwartung. Selbstbestimmung kann eben ein anderer nicht übernehmen.

Pubertät als sozio-kulturelle Tatsache entsteht also hier erst und sie wird nachträglich pädagogisch gedeutet (z. B. durch Sprangers "Psychologie des Jugendalters" oder durch Eriksons Konzept des "psychosozialen Moratoriums"). Es gab vor Entstehung der Jugendbewegung praktisch keine Jugendkunde und Jugendforschung, die setzte erst danach und von ihr wesentlich beeinflußt ein.

4. Die Jugendbewegung schuf ein neues Modell für den pädagogischen Bezug. Vorher konnte man sich als pädagogischen Bezug nur Variationen des Familienmodells, genauer: des Vater-Kind-Verhältnisses vorstellen. Die Beziehungen von Lehrer-Schüler, Meister-Lehrling und Vorgesetztem-Untergebenen in der Armee waren als dem Familienverhältnis analoge konstruiert. Sogar das körperliche Züchtigungsrecht des Lehrers oder Meisters wurde in diesem Zusammenhang begründet. In den Gleichaltrigen-Gruppen der Jugendbewegung nun war dieses Modell nicht mehr zu realisieren; an seine Stelle trat die Gruppe der Gleichberechtigten, die ihre Autorität wählt. Auch wenn uns heute der charismatische Zug bei der Wahl der Führer befremden mag, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß damit ein grundsätzlich neues Prinzip in die pädagogische Diskussion eingeführt wurde. Das galt auch im Verhältnis zu den Erwachsenen, mit denen man in der Gruppe Kontakt hatte. Ihre Autorität war auf Zustimmung angewiesen. Spätere Formen des "partnerschaftlichen Verhaltens" in der Schule z. B. wurden hier bereits vorweggenommen, wenn sie auch zunächst noch durch autoritäre Führer-Gefolgschafts-Verhältnisse weitgehend überdeckt waren.

Nohls Darstellung des pädagogischen Bezugs ist offensichtlich von den Erfahrungen mit der Jugendbewegung erheblich beeinflußt. Nohl (1930) hat schon 1914 das pädagogisch "Revolutionäre" an der Jugendbewegung erkannt. Das "Verhältnis der Generationen" habe sich grundlegend verändert. Jedes Erziehungsverhältnis müsse in Zukunft

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davon ausgehen, daß der junge Mensch ein Eigenrecht auf Entwicklung seiner Persönlichkeit habe, das der Erzieher zu respektieren habe. Bei Nohl erscheint dieser Prozeß allerdings so, als habe sich seit der Aufklärung lediglich ein neues geistiges Prinzip, eben das der Individuierung, durchgesetzt, und Nohl hält dies für ein fortschrittliches, die moderne Pädagogik geradezu konstituierendes Prinzip. Aber dieses Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, das Individuum als solches freizusetzen, fordert auch Preise. Das Individuum wird nun auch losgelöst von seinen natürlichen und gewachsenen Bindungen gesehen, im Hinblick auf ganz bestimmte, einander abwechselnde Funktionen (als Arbeitskraft; als Schüler; als Konsument usw.), und in dem Maße, wie sich dieses Prinzip durchsetzt und nicht mehr "gebremst" wird durch andere, z. B. religiöse Prinzipien, entsteht das Problem der modernen Identität. Identität ergibt sich nun nicht mehr durch permanente Identifikationen (mit dem Vater; mit der Kirche; mit der sozialen Klasse usw.), sondern bedarf weit darüber hinausgehender und unermüdlicher Anstrengungen - bei immer ungewissem Ergebnis. Identität ist nur noch durch eine eigentümliche persönliche Leistung zu haben, sie ergibt sich nicht mehr einfach aus der sozialen Zugehörigkeit. Einerseits wird dadurch das Jugendalter zu einem notwendigen "Experimentierstadium", andererseits funktionalisieren sich die Aspekte des pädagogischen Bezugs; außerhalb der Familie ist der Jugendliche eine "Rolle", z. B. Schüler oder Student. Nohls Vorstellung vom pädagogischen Bezug als einer doch sehr umfassenden menschlichen Beziehung ist in den pädagogischen Institutionen der Gesellschaft immer weniger möglich. Für den Jugendlichen bedeutet dies, daß er sich in seiner Totalität in diesen Institutionen nicht erleben kann.

So wird die Faszination des Wandervogels verständlich, denn seine gerade nicht funktionalisierte Beziehungsstruktur in Verbindung mit einfachen und elementaren Leitbildern im Rahmen einer "vereinfachten" Sozialität ermöglichte die unmittelbar sinnliche Erfahrung von Identität. Von daher wird vielleicht aber auch die Irrationalität der Jugendbewegung verständlich und ihre Unfähigkeit, sich selbst zu erklären. Wie kann man das Erlebnis seiner Identität schon erklären außer in Metaphern? Schelsky

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(1957) hat als Grundproblem der Jugend seit der Jugendbewegung die Suche nach "Verhaltenssicherheit" bezeichnet; das ist sicher ein wichtiger Aspekt - er gehört zur Erfahrung der Identität dazu; aber das Problem, wie man in einer funktionalisierten Gesellschaft als Jugendlicher seine Identität erleben kann, scheint mir das allgemeinere zu sein.

5. Jugendbewegung und die Konstituierung der Jugend als sozialer Gruppe sind eine Folge des "sozialen und kulturellen Wandels", also bedeutsamer gesellschaftlicher Veränderungen. Diese zeigen sich konkret in der Veränderung des Generationsverhältnisses. M. Mead (1971) sieht diese Veränderungen in drei historischen Phasen. In traditionellen Gesellschaften mit wenig Veränderungen (in "postfigurativen" Kulturen) liegt die Erziehung ausschließlich in den Händen der Erwachsenen, sie verfügen über das für das gemeinsame Weiterleben nötige Wissen und über die normativen Regeln. In Zeiten tiefgehenden gesellschaftlichen Wandels ("kofigurative" Kultur) verlieren die Älteren diesen Vorsprung, neue Ziele und Werte müssen auch von den Jüngeren entwickelt werden, wobei die Gleichaltrigen-Gruppen die dafür nötigen Erziehungsbedingungen in Distanz zu den Erwachsenen schaffen. In der dritten Phase schließlich ("präfigurative" Kultur) müssen auch die Erwachsenen die Werte der Jungen übernehmen. Die modernen Industriegesellschaften stehen, so meint M. Mead, in der zweiten Phase im Übergang zur dritten. In diesem Modell wäre die Jugendbewegung wohl als Beginn der zweiten Phase einzuordnen.

Ferner hat Karl Mannheim (1965) schon in den zwanziger Jahren darauf hingewiesen, daß die Generationen schneller aufeinander folgen, als das traditionelle Vorstellungsmodell Kind-Eltern-Großeltern nahelegt. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer Generation sei das gemeinsame "Primärerlebnis" bzw. "Jugenderlebnis", das das spätere Erleben und Verhalten nachdrücklich mitbestimme; Gleichaltrigkeit sei nur dann von Bedeutung, wenn sie durch ein gemeinsames "Primärerlebnis" ausgezeichnet sei. Das bedeutet mit anderen Worten: Es kann sein, daß relativ viele Jahrgänge von 16jährigen das gleiche "Jugenderlebnis" in ähnlicher Weise verarbeiten und damit zu einer Generation werden; es kann aber auch sein, daß dies nur

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für sehr wenige Jahrgänge gilt. Für letzteres sind nicht nur die Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre ein gutes Beispiel, sondern auch die Generationen der Jugendbewegung: Es war von großer Bedeutung, ob jemand seine prägenden Erlebnisse im Vorkriegswandervogel, oder im Krieg, oder in den "revolutionären" Nachkriegsjahren, oder in den wenigen relativ stabilen Jahren der Republik hatte. Daß es der Jugendbewegung nach dem Kriege nicht gelang, für ihre Ideen und Erlebnisse eine Kontinuität über die Generationen hinweg zu schaffen, hat hierin sicher seinen wichtigsten Grund.

6. Die Jugendbewegung zeigte, daß das Jugendalter sich auszudehnen begann. Vorher ging man im wesentlichen davon aus, daß das Jugendalter eine biologisch bestimmte Altersphase sei, beginnend mit der Pubertät und endend mit dem Abschluß des körperlichen Wachstums. Gerade bei den Älteren, z. B. den Freideutschen, zeigte sich aber, daß im psychologischen Sinne das Jugendalter sich in die bisherige Erwachsenenzeit ausdehnte, also länger wurde. Der Erwachsenenstatus wurde damit unbestimmt und unklar, er hing nun im Einzelfalle von vielen Faktoren ab, z. B. von der Länge des Bildungsweges (Studium), aber auch davon, wie jung man sich selbst fühlte. Gerade diese verlängerte Phase war die eigentlich problematische, sowohl im Hinblick auf die gelingende gesellschaftliche Integration wie auch im Hinblick auf eine subjektiv befriedigende Sozialisation. Diese Phase ist das eigentliche gesellschaftliche Mutationspotential, von ihr können z. B. politische Veränderungen ausgehen. Mit dieser Altersphase geht die Jugendbewegung in die allgemeinen zeitgenössischen politischen Bewegungen über.

7. Der pädagogische Ertrag der Wandervogelbewegung und der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg läßt sich wie folgt zusammenfassen:

a) Der "normale" Sozialisationsprozeß, also der "normale" Prozeß des Erwachsenwerdens kann nicht mehr allein durch Schule und familiäre Erziehung gewährleistet werden, vielmehr muß ein "außerschulischer Bereich" dazukommen.

b) In diesem Bereich sind altershomogene Gesellungsformen ("jugendgemäße Gemeinschaften") das dominierende

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Sozialprinzip: Die jugendliche Gleichaltrigen-Gruppe lebt im Windschatten und in kritischer Distanz zu den Erwachsenen, ohne mit deren Normen total zu brechen. Sie übernimmt Erziehungsaufgaben ohne die Anwesenheit von Erwachsenen: "Jugend erzieht sich selbst."

c) "Jugend wird durch Jugend geführt." Die Führungsaufgaben in diesem "freien Jugendraum" sollen von Gleichaltrigen oder doch wenigstens nicht viel Älteren wahrgenommen werden. Die Erwachsenen garantieren nur die allgemeinen Regeln und Normen, bleiben aber im übrigen "vor der Tür", also außerhalb der Gruppen - es sei denn, sie werden von Fall zu Fall von den Gruppen zur Mitarbeit gebeten.

d) Jugend entwickelt eigene Kommunikationsstile, sowohl verbal ("Gruppenjargon") wie nicht-verbal (eigene Mode, eigene Tänze, Spiele usw.).

e) Das gemeinschaftsstiftende Element ist vorwiegend emotionaler Art: das Erlebnis der Gemeinsamkeit, weniger die rationale Diskussion. Wo die intellektuelle Diskussion in Gruppen eine Rolle spielt, hat auch sie ihren Grund in der starken Emotionalität der Gruppenbeziehungen und der gemeinsamen Erlebnisse.

f) Als Sozialmodell reicht die kleine, integrierte Gruppe aus; Organisationen wie z. B. überregionale Verbände sind für die Befriedigung der Bedürfnisse nicht notwendig.
 
 

Die proletarische Jugendbewegung
 
 

Der emanzipatorische Ausgangspunkt der proletarischen Jugendbewegung war ein ganz anderer als bei der bürgerlichen Jugend. Weniger von den Sozialisationsdeterminanten der eigenen Familie und deren sozio-kultureller Umwelt mußte man sich befreien, mit ihr war man vielmehr durch die Solidarität der gemeinsamen materiellen Notlage verbunden, sondern von der ökonomischen Ausbeutung durch den Arbeitgeber, der zugleich aufgrund der Gewerbeordnung von 1869 die "väterliche Erziehungsgewalt" über seine Lehrlinge hatte. Die Zahl der jugendlichen Arbeiter zwischen 14 und 18 Jahren hatte sich um die Jahrhundertwende aufgrund der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung sprunghaft gesteigert. Im Jahre 1904 gab es

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etwa 4 Millionen, darunter fast 800000 ( = 20 Prozent) jugendliche Fabrikarbeiter. So war eine jugendliche Fabrikarbeiterschicht mit eigenem Schicksal entstanden, der ein gemeinsames "Klassenbewußtsein" jedoch noch fehlte; es wurde stellvertretend von den Vätern in der SPD und den Gewerkschaften vertreten.
 
 

Gezähmte Rebellion

Der Anlaß zum Entstehen einer proletarischen Jugendbewegung war daher schon wesentlich dramatischer als bei der bürgerlichen Jugendbewegung. Im Juni 1904 erhängte sich in Berlin-Grunewald ein Schlosserlehrling namens Nähring, weil er die fortgesetzte Mißhandlung durch seinen Meister nicht mehr ertragen konnte; sein Körper war mit Striemen und Beulen bedeckt. Der sozialdemokratische Rechtsanwalt Dr. Broh schrieb daraufhin in einem Zeitungsartikel, man könne dem allgemeinen Lehrlingsjammer nur solidarisch durch Schaffung von Lehrlingsvereinen abhelfen. Das Echo auf den "Fall" des geschundenen Lehrlings bewies, daß es sich nicht um einen Einzelfall handelte, sondern daß sich viele Lehrlinge und jugendliche Arbeiter in ihm wiedererkannten. Am 10. Oktober 1904 trat der "Verein der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter Berlins" mit 24 Mitgliedern ins Leben, geführt von Dr. Broh. In den Satzungen stand, daß der Verein "die wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen Interessen der Lehrlinge, jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zu wahren und zu fördern" trachte. Politische und religiöse Ziele waren ausdrücklich ausgeschlossen - politische deshalb, weil nach Paragraph 8 des geltenden preußischen Vereinsrechtes "Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge" politischen Vereinen weder angehören noch an deren Versammlungen und Sitzungen teilnehmen durften. Die Mitgliederzahl des Vereins stieg schnell; am 1.1.1905 zählte er 500, im Juni 1908 2200 Mitglieder. Für Popularität sorgten die evangelischen Jünglingsvereine, die schon mit etwa 150 Teilnehmern zur Gründungsversammlung erschienen waren, um durch Diskussionsbeiträge die Vereinsgründung zu verhindern; in diesem Falle wie auch bei anderen Konfrontationen, die die Jünglingsvereine mit dem neuen Verein suchten, konnten sie sich nicht durchsetzen,

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im Gegenteil, sie wurden in tumultuarischen Szenen von den erregten Lehrlingen bei ihren Reden unterbrochen. Über den Verein regten sich die bürgerliche Presse, die Handwerkerinnungen und die staatlichen Organe heftig auf; er hatte offensichtlich schon durch seine bloße Existenz und durch seine öffentlich verkündeten Ziele in ein Wespennest gestochen. Bei den Versammlungen war Polizei anwesend, um bei der ersten "politischen" Diskussionsäußerung unter Berufung auf das Vereinsgesetz die Versammlung aufzulösen. Obwohl es formal damals durchaus rechtsstaatlich zuging, lag die Entscheidung darüber, was "politisch" sei, bei den einzelnen Polizeibeamten. Und diese hielten aufgrund ihrer Erziehung und ihrer ganzen politischen Einstellung sehr leicht ein Wort der "staatsfeindlichen Sozis" für "politisch" im Sinne des Vereinsgesetzes. Die Handwerkerinnungen erregten sich vor allem deshalb, weil der Lehrlingsverein in seiner seit 1905 erscheinenden Zeitschrift "Die arbeitende Jugend" regelmäßig Berichte über Lehrlingsausbeutung und Lehrlingsmißhandlung veröffentlichte.

Bereits im Jahre 1905 entstanden auch in anderen Orten Norddeutschlands Lehrlingsorganisationen, die die Berliner Satzung fast wörtlich übernahmen. Die drei größten Vereine aus Berlin, Bernau und Harburg gründeten am 25./26. Dezember 1906 in Berlin die "Vereinigung der freien Jugendorganisationen Deutschlands", die sich bis Mitte 1908 auf 36 Vereine mit 5431 Mitgliedern ausdehnte. Der politisch neutrale Vereinsname (das Beiwort "sozialistisch" fehlt) war wiederum wegen des Vereinsgesetzes notwendig. Gleichwohl konnte es an der primär politischen Intention des Vereins keinen Zweifel geben.

So sind die drei in allen damaligen Programmen und Satzungen auftauchenden Forderungen "Jugendschutz, Bildung, Erziehung" zu verstehen. Der Kampf um die damaligen Jugendarbeitsschutzbestimmungen (sie wurden kaum eingehalten und kontrolliert) galt dem Punkt, wo sich für die jungen Arbeiter und Lehrlinge ihre Klassenlage am unmittelbaren Erlebnis der Unterdrückung und Ausbeutung konkretisieren ließ. Entsprechend der damaligen, rein staatsrechtlichen Auffassung von "Politik" galt ein solcher Kampf nicht als "politisch", da er ja der Einhaltung und Ausführung staatlicher Gesetze diente; "poli-

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tisch" im Sinne des durch das Vereinsgesetz Verbotenen war es aber, diese Gesetze zu kritisieren und neue, bessere zu fordern. Ebensowenig war es ungesetzlich, "Bildung und Erziehung" für die Vereinsmitglieder zu organisieren. Den Hauptanteil nahmen Veranstaltungen ein, die wir heute als solche der politischen Bildung bezeichnen würden: Vorträge und Diskussionen über Nationalökonomie, Naturwissenschaft und materialistische Geschichtsauffassung. Damit sollte der "Hirnverkleisterung durch Religion und Patriotismus" entgegengearbeitet werden, die die preußische Volksschule den Arbeiterkindern antat. Daneben gab es "kulturelle" Veranstaltungen wie Lichtbildervorträge und Museumsbesuche, in denen gleichsam ein Hauptziel der Arbeiterbewegung vorweggenommen aufleuchtete: die Beteiligung der Arbeiter an der (unpolitisch verstandenen) "Kultur". Aber der politische Kampf, der Kampf um die wirtschaftliche und soziale Verbesserung der Lage der Arbeiter mußte auf längere Sicht im Vordergrund stehen.

In Süddeutschland, wo das Vereinsrecht weitaus großzügiger angelegt war, entstand die proletarische Jugendbewegung nicht spontan wie in Berlin. Hier war es der sozialdemokratische Rechtsanwalt Dr. Ludwig Frank, der im September 1904 in Mannheim den "Verein junger Arbeiter" gründete, dem bald viele andere Gründungen folgten. Anlaß dafür war der internationale Sozialistenkongreß von 1904 in Amsterdam, an dem Frank teilgenommen und wo er Vertreter ausländischer sozialistischer Jugendorganisationen kennengelernt hatte. Die süddeutschen Gruppen schlossen sich 1906 zum "Verband junger Arbeiter Deutschlands" zusammen, der als Verbandsorgan die Zeitschrift "Die junge Garde" herausgab. Die politische Zielsetzung war hier von Anfang an deutlicher ausgesprochen als im Norddeutschen Bund. Es ging darum, "die Jugend in die Gedankenwelt des Sozialismus einzuweihen und sie zur tüchtigen Mitkämpferin im Befreiungskampf der Arbeiter zu erziehen". Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den Lehrlingsproblemen, die die jungen Arbeiter vital eher interessierte als die abstrakte politische Theorie des Sozialismus, war in Franks Konzept zunächst nicht vorgesehen. Aber darauf kamen die jungen Arbeiter sehr bald selbst, und Frank widersetzte sich diesem Anliegen nicht.

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Die Generalversammlung empfahl im Jahre 1906 ihren Ortsvereinen, "überall Lehrlingsschutzkommissionen zu bilden, welche die Ausführung der zum Schutz der jugendlichen Arbeiter erlassenen Gesetze und Verordnungen zu überwachen haben" (zit. n. Zwerschke, S. 89). "Schutz den jungen Händen gegen die Ausbeutung, Schutz den jungen Köpfen gegen die Verdummung!" - in dieser Formel faßte Frank die Ziele des Verbandes zusammen.

Obwohl der süddeutsche Verband die legale Möglichkeit gehabt hätte, für eine gesetzliche Verbesserung der den Jugendlichen zugemuteten Arbeitsbedingungen zu kämpfen, unternahm er keine derartigen Initiativen. Dies war herkömmlicherweise eine Sache der politischen Organisation der erwachsenen Arbeiter: der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften. Hier lag jedoch ein Konflikt begraben, der bald zum Ausbruch kommen sollte und der fast zum völligen Bruch zwischen der proletarischen Jugendbewegung einerseits und den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei andererseits geführt hätte. Die erwachsenen Arbeiterfunktionäre wurden von der proletarischen Jugendbewegung, die der Initiative der Jugend selbst entsprang und zu der die Organisationsapparate keinerlei "Anweisungen" gegeben hatten, völlig überrascht. Karl Korn, der als Mitbeteiligter auch der erste Historiker der proletarischen Jugendbewegung war, schreibt:

"Erst nachdem die arbeitende Jugend in Süd- und Norddeutschland vollkommen selbständig ihre Vereinigungen ins Leben gerufen und aus eigener Kraft in die Höhe gebracht hatte, begann die Partei der Jugendfrage als einer Organisationsaufgabe ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden. In dem langen Zeitraum der Parteigeschichte, der diesem selbständigen Auftreten der Jugendlichen voranging, hat die Bewegung der erwachsenen Arbeiterschaft dieser Aufgabe weder nennenswertes theoretisches Interesse entgegengebracht, noch irgendwelche Maßnahme getroffen, sie praktisch zu fördern oder auch nur in Angriff zu nehmen" (Korn, S.5).
 
 

Vor allem in Norddeutschland wurden die Jugendorganisationen nun mit erheblichem Mißtrauen betrachtet. Sie enthielten nämlich deshalb so viel innerparteilichen Sprengstoff, weil sie deutlich machten, daß das vielberufene "Klasseninteresse", das jüngere und ältere Arbeiter angeblich verband, zwar im Rahmen der allgemeinen marxistischen Theorie zutraf, jedoch im konkreten Zusammenleben

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nicht unbedingt zu einem einheitlichen Interesse führte. Die konkreten Interessen der jugendlichen Arbeiter waren nicht immer identisch mit denen der erwachsenen Arbeiter. Das zeigte sich zunächst einmal im familiären Bereich: Daß die "Söhne" ihre Interessen selbst organisieren wollten, ohne die "Väter" zu fragen, mußte diesen unheimlich erscheinen - trotz aller Beteuerung der Söhne, daß man doch auf seine Weise und am Ausgangspunkt seiner Interessen sich am politischen Kampf der Väter beteiligen wolle. Die Arbeiterfamilie damals war im allgemeinen überaus autoritär strukturiert. Der Vater herrschte ziemlich feudalpatriarchalisch über seine Kinder und seine Frau (was ihn nicht hinderte, auf den sozialdemokratischen Parteitagen für die Emanzipation der Frau zu stimmen). So erinnerte sich Wilhelm Koenen, einer der älteren Führer der Arbeiterbewegung:

"Sie (die proletarische Jugendbewegung) war unter anderem Ausdruck des Protestes der proletarischen Jugend gegen die unerträglich gewordene alte Familienordnung. Auf den Anfängen der Jugendbewegung lastete hier das dreifache Joch eines despotischen Staates, der erbarmungslosen kapitalistischen Unterdrücker und Meister und der strengen häuslichen Unterdrückung. In keinem anderen Lande Westeuropas haben die Familientragödien, der Prozeß des Zerfalls der Familie und der Kampf zwischen der alten und jungen Generation so scharfe und stürmische Formen angenommen wie in Deutschland" (zit. n. Roger, S.35).
 
 

Und Tschitscherin, der erste sowjetische Außenkommissar, faßte seine Erfahrungen so zusammen:

"Der Schreiber dieser Zeilen hatte selbst Gelegenheit, in den strengen Familien sozialdemokratischer Veteranen mit deren puritanischer Tugend dem feindseligsten Verhalten dieser Veteranen zur Jugendbewegung zu begegnen, welche die Jugendlichen angeblich zu allen möglichen Lastern verleite, sie angeblich zu Trinkern und Billardspielern erziehe, sie gewöhne, die Älteren zu verachten, überhaupt allem gegenüber Verachtung zu hegen ... ."

"Es war den breiten Massen des deutschen Volkes derart in Fleisch und Blut übergegangen, den Jugendlichen als ein niederes Wesen zu betrachten, daß die Jugend in der sozialdemokratischen Partei ständig auf ein verächtliches Benehmen der älteren Genossen zu ihr stieß. Eine häufige Erscheinung in sozialdemokratischen Organisationen waren grobe Zurechtweisungen jugendlicher Mitglieder, wenn diese den Mund auftun und sich an

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den Debatten beteiligen wollten. Ein solches Verhalten ließ sich sogar bei den leitenden Spitzen der Arbeiterbewegung beobachten. Liebknecht erzählte mir mit großem Unwillen, daß er während eines Gesprächs mit dem Generalsekretär der Gewerkschaften, Legien, bezüglich der in der deutschen Armee üblichen Mißhandlungen von letzterem folgende Antwort erhalten hat: 'Wenn ein junger Mann mal eine Ohrfeige bekommt, so ist das nicht so schlimm'" (zit. n. Roger, S. 35).
 
 

Aber auch am Arbeitsplatz selbst standen sich die Interessen gegenüber, insbesondere dort, wo beide Gruppen im Akkord arbeiteten. In solchen Fällen wurden Jugendliche durch erwachsene Arbeiter ausgebeutet, und umgekehrt gefährdeten die Jungen durch ihre Konkurrenz die Alten, die für eine Familie zu sorgen hatten. Außerdem waren die erwachsenen Arbeiter die Vorgesetzten der Lehrlinge. "Noch lange nicht überall ist das brutale Vorgesetztenverhältnis des Gesellen zum Lehrling in ein Vertrauensverhältnis umgewandelt, und schon deshalb ist die Selbständigkeit der Jugendorganisation begründet", schrieb M. Peters, einer ihrer Führer, in der "Jungen Garde" (Zwerschke, S. 93). Je mehr die Jugendbewegung den Pressionen der Erwachsenenverbände ausgesetzt war, um so mehr verstärkte sich in den jungen Arbeitern das Bewußtsein, nur in einer selbständigen Organisation könnten die Interessen der Jugendlichen angemessen vertreten werden. "Die Befreiung der Jugend kann nur das Werk der Jugend selbst sein", schrieb M. Peters. In den Jahren 1907/1908 spitzte sich der Konflikt zu. Während die Sozialdemokratische Partei auf ihren Parteitagen von 1906 und 1907 - vor allem dank des Einsatzes des "linken" Flügels um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht - die organisatorische Selbständigkeit der Jugendbewegung grundsätzlich anerkannt hatte, blies die "Generalkommission der Gewerkschaften" zum Angriff. Schon 1906 hatte deren Vorsitzender Karl Legien eine besondere Jugendorganisation als "unzweckmäßig und schädlich" bezeichnet. Die Vorständekonferenz der Generalkommission brachte am 16./17. Dezember 1907 "einmütig zum Ausdruck", "daß die in den letzten Jahren geschaffenen Jugendorganisationen ein verfehltes Unternehmen seien" (Zwerschke, S.97).

Mitten in diesen Auseinandersetzungen kam den Gewerkschaften ein zweifelhafter Verbündeter zu Hilfe: der deutsche Reichstag. Er verabschiedete am 8.April 1908 mit

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Wirkung vom 15. Mai 1908 ein Reichsvereinsgesetz, dessen Paragraph 17 lautete: "Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, dürfen nicht Mitglieder von politischen Vereinen sein und weder in den Versammlungen solcher Vereine, sofern es sich nicht um Veranstaltungen zu geselligen Zwecken handelt, noch in öffentlichen politischen Versammlungen anwesend sein."

Diese Bestimmung übertrug nun die alte reaktionäre Tendenz des Preußischen Vereinsgesetzes auch auf die süddeutschen Gebiete. Nach einer Entscheidung des Reichsgerichtes waren alle Gegenstände politisch, die "die Verfassung, Verwaltung und Gesetzgebung des Staates, die staatsbürgerlichen Rechte der Untertanen und die internationalen Beziehungen der Staaten untereinander in sich begreifen" (nach Zwerschke, S. 96).

Die Diskussion dieses Gesetzes innerhalb und außerhalb des Parlamentes zeigt, daß die Jugendprobleme dabei eine große Rolle gespielt haben (vgl. Wedekind, S.149 ff.). Der Regierungsentwurf enthielt zunächst keine Beschränkung für Jugendliche. Der damalige Staatssekretär und spätere Reichskanzler von Bethmann-Hollweg griff als Vertreter des Regierungsentwurfes zwar die Sozialdemokraten an, weil sie "der Jugend von Kindesbeinen an den Haß gegen die bestehende Gesellschaftsordnung einimpfen" wolle (S.150); hielt aber die "Handhabung der väterlichen Gewalt und der Lehr- und Schuldisziplin" als Gegenmittel für ausreichend.

Eine Mehrheit aus Konservativen, Nationalliberalen und Freisinnigen setzte jedoch die Bestimmung zum Ausschluß Jugendlicher aus politischen Vereinen und Veranstaltungen durch:

"Die unreife, schulentlassene Jugend solle nicht für eine bestimmte Partei, für eine Fraktion mit Beschlag belegt werden. Sie solle erst ruhig, harmonisch ausreifen, an Körper und Geist gestählt werden."

Kritisiert wurde der Regierungsentwurf auch in einer Petition des deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages, der demgegenüber "das Interesse des Handwerks an einer Beschränkung der Vereins- und Versammlungsfreiheit der jugendlichen Personen" geltend machte:

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"Er erwartet von einer schrankenlosen Vereins- und Versammlungsfreiheit der jugendlichen Personen eine schwere Schädigung der beruflichen und sittlichen Ausbildung der gewerblichen Jugend, die im weiteren Verlauf unbedingt eine bedenkliche Erschütterung jeglicher Autorität und damit große Gefahren für die Entwicklung des Handwerks in Zukunft im Gefolge haben wird" (S. 151).

Die Opposition (Zentrum und Sozialdemokraten) lehnte eine solche Beschränkung ab. Der Abgeordnete Giesberts (Zentrum) kritisierte

"die Tendenz, gegenüber den jungen Leuten bis zu 18 Jahren das Prinzip der Bewahrung durchzuführen. Man möchte die Leute gewissermaßen mit einem Stacheldrahtzaun umgeben, daß ja kein Hauch des frischen sozialen politischen Lebens an sie herankommt. Ich muß Ihnen aufgrund meiner Erfahrung erklären, daß eine derartige Bemutterungs- und Bewahrungspolitik im praktischen Leben vollständig erfolglos ist" (S. 151 f.).

"Wir brauchen sie (die jugendlichen Leute), um für das politische Leben und für die Weltanschauungskämpfe Nachwuchs heranzuziehen. Eine politische bürgerliche Partei, die sich selbst den Nachwuchs an der Jugend abschneidet, muß ganz naturgemäß auf die Dauer absterben" (S. 153).

Für die Sozialdemokraten erklärte Dr. Frank:

"Meine Herren, es ist doch eine Selbsttäuschung und eine offenbare Unwahrheit, wenn Sie den Eindruck: erwecken, daß durch die Annahme dieses Paragraphen alle - meinetwegen schmutzigen - Wellen der Politik von der Jugend ferngehalten würden. Sie wissen doch, daß acht Jahre lang in der Volksschule und dann noch ein paar Jahre in der Fortbildungsschule Politik getrieben wird, allerdings sogenannte staatserhaltende, bürgerliche Politik. Es wird ein Zerrbild des sogenannten Umsturzes gezeichnet, und es wird vielfach in die Herzen der Kinder Haß eingepflanzt gegen diejenige Partei, der ihre Eltern angehören ... . Sie sehen, es ist nicht die Politik schlechthin, die Sie von der Jugend fernhalten wollen, sondern fernhalten wollen Sie nur die proletarische und die demokratische Politik" (S. 152).

Der Grundtenor der Diskussion war, ob man die Jugend vor zu frühem politischem Engagement bewahren müsse - wie die Konservativen meinten, wobei sie allerdings ihre eigene politische Beeinflussung in den Schulen übersahen - oder ob die "Bewahrung" allenfalls im Hinblick auf sittliche Gefährdungen angebracht sei, also in diesem Gesetz gar nicht geregelt werden könne, wie die Opposition meinte.

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Dieses Gesetz war eigens dazu gemacht, das zeigten die wechselnden Verhandlungen im Parlament, die Arbeiterjugendorganisationen zu zerschlagen. Nun mußten sich die bisher politisch orientierten Jugendvereine des Südens entweder auflösen oder sich in "unpolitische" wie in Norddeutschland umwandeln. Im letzteren Falle hätte sich eine Vereinigung beider Verbände angeboten. Sie kam auch am 6./7. September 1908 in Berlin zustande. Der norddeutsche Verband erweiterte sich zum "Allgemeinen Verband der arbeitenden Jugend Deutschlands" mit Sitz in Berlin. Diese Gründung war mit großer Eile vollzogen worden, um vor dem Parteitag vom 13. bis 19. September 1908 in Nürnberg Fakten zu schaffen.

Aber die Eile nutzte nichts. Der Ton, in dem die Generalkommission der Gewerkschaften die Einladung nach Berlin ablehnte, war deutlich genug: "Sie betrachte die Jugendorganisation nicht als einen selbständigen Teil der auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Organisationen. Die Entscheidung über die Form ihrer Organisation könne nicht Sache der Jugend sein, sondern sie müsse den Faktoren der organisierten Arbeiterschaft überlassen bleiben. Der Gewerkschaftskongreß in Hamburg habe selbständige Vereine abgelehnt, und dem kommenden Parteitag liege die gleiche Resolution zum Beschluß vor" (zit. n. Zwerschke, S. 98).

Noch deutlicher hatte vorher Robert Schmidt, ein Experte für Jugendfragen in den Gewerkschaften, auf dem Hamburger Gewerkschaftskongreß argumentiert, um eine selbständige Jugendorganisation unter allen Umständen zu zerschlagen:

"Unsere gegenwärtigen Jugendorganisationen sind, wie ich glaube, auf falscher Grundlage aufgebaut. Die norddeutsche Organisation ist zu Dingen übergegangen, die gar nicht als ihre Aufgabe betrachtet werden können. Laut ihrem Statut will sie Arbeitsnachweise errichten, den Lehrlingsschutz pflegen, in den wirtschaftlichen Kämpfen den Mitgliedern Schutz bieten und in die wirtschaftlichen Kämpfe eingreifen. Ich muß sagen, wir müssen uns diese Teilnahme ganz entschieden verbitten. Es handelt sich hier um Aufgaben der Gewerkschaften, die Jugendorganisationen haben mit diesen Dingen gar nichts zu tun, sie sollen sich die Bildung ihrer Mitglieder angelegen sein lassen, sich aber nicht mit unklaren Eingriffen in politische und gewerkschaftliche Dinge abgeben. Sie haben auch nicht den Lehrlingsschutz zu betreiben

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in der Form, wie sie es getan haben. Das ist wirkungslos und aussichtslos. Die Schwätzereien in der Zeitung, wo man irgendeinen Meister heruntermacht, sind kindisch-naiv und vollkommen zwecklos. Wir müssen uns die Eingriffe in die gewerkschaftliche Tätigkeit seitens der Jugendorganisation verbitten, denn die kann bei dem weiteren Anwachsen solcher Organisationen zu sehr unangenehmen Differenzen führen. Jugendbildung wollen wir haben, aber für die Regelung politischer Fragen und der internationalen Beziehungen ist die Partei da. Alle Vereinsspielereien und Vereinsmeiereien haben da zu schweigen. Der Träger des politischen Kampfes ist die Partei, der Träger des wirtschaftlichen Kampfes sind die Gewerkschaften, so wollen wir es auch für die Zukunft halten und uns die Durchquerung und die Quergeleien vollständig verbitten. Dann werden wir die Jugendorganisationen und Jugendbildung auf fruchtbarere Gebiete hinüberleiten. Die Jugendbildung und Erziehung bleibt für uns die Hauptsache, nicht die Jugendorganisation" (zit. n. Zwerschke, S.100).
 
 

So war das Ergebnis des Nürnberger Parteitages bereits vorweggenommen, denn der Sozialdemokratischen Partei lag nicht daran, wegen dieser Frage in einen Konflikt mit den Gewerkschaften zu geraten. Selbständige Jugendvereine durften, wenn sie unbedingt wollten, weiter bestehen, aber der Berliner Zentralverband mußte aufgelöst werden - ein taktisch sehr geschickter Kompromiß, der die Existenz selbständiger Gruppen prinzipiell garantierte, ihnen aber die organisatorische Basis nahm. Der eigentlich wichtige Beschluß aber war, daß die Jugendarbeit in Zukunft von lokalen "Jugendausschüssen" getragen wurde; sie setzten sich zusammen aus Vertretern der örtlichen Parteiorganisation und der Gewerkschaftskartelle unter Hinzuziehung von über 18 Jahre alten Vertrauenspersonen der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen.

Spitzenorganisation mit Sitz in Berlin wurde die "Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands"; sie war "drittelparitätisch" (Partei, Gewerkschaften, Arbeiterjugend) unter Vorsitz von Friedrich Ebert zusammengesetzt und gab als Organ die "Arbeiter-Jugend" heraus. Dem Monopolanspruch der Gewerkschaften auf die wirtschaftliche Interessenvertretung wurde dadurch Rechnung getragen, daß die "Jugendausschüsse" bei Fragen der Lehrlingsausbeutung nicht mehr selbständig tätig werden durften, sondern das Material an die Gewerkschaften weiterzuleiten hatten.

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Allerdings versuchte das preußische Kultusministerium durch Schikanen die ihm ungenehme Bildungsarbeit zu behindern. Rechtliche Grundlage dafür war eine Kabinettsorder von 1834 und eine Ministerialinstruktion von 1839. Sie betrafen die Aufsicht des Staates über Privatanstalten und Privatpersonen, die sich mit der Unterrichtung von Jugendlichen beschäftigten. "Ohne das Zeugnis der örtlichen Aufsichtsbehörde" dürfe "niemand zur Erteilung von Lehrstunden als ein Gewerbe zugelassen werden". "Diese Zeugnisse sollen sich nicht auf die Tüchtigkeit zur Unterrichtserteilung in Bezug auf Kenntnisse beschränken, sondern sich auf Sittlichkeit und Lauterkeit der Gesinnung in religiöser und politischer Hinsicht erstrecken" (zit. n. Herre, S. 198; vgl. auch Wedekind, S.148 ff.). Diese Bestimmung wurde zunächst vor allem gegen die Jugendarbeit des im Jahre 1893 gegründeten Arbeiter-Turnerbundes (ATB) angewendet. Dieser verstand sich als sozialistische Gegengründung gegen die wilhelminische "Deutsche Turnerschaft" und zählte auch viele Jugendliche zu seinen Mitgliedern, die bereits mit 14 Jahren Stimmrecht hatten und in wichtige Vereinspositionen gewählt werden konnten. Die Jugendarbeit des ATB war "rein numerisch der der Arbeiterjugendbewegung und auch der der Gewerkschaften weit überlegen". Deren Turnwarte fielen nun als "Unterrichtende" unter die erwähnten Bestimmungen, und die notwendige Zulassung konnte mit dem Hinweis auf die falsche "politische Gesinnung" leicht verwehrt werden (vgl. Herre, S.198). In einem Urteil des Reichsgerichts vom 7.12. 1912 wird dem Staat - hier der Schulaufsichtsbehörde - das Recht zuerkannt, auch die Lehr- und Bildungsveranstaltungen für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche - also auch im Rahmen der Jugendpflege - zu überwachen. Gleichwohl blieben die darauf basierenden Maßnahmen gegen die Arbeiterjugendbewegung ziemlich wirkungslos.

Zumindest der äußere Erfolg der neuen Regelung, wie sie auf dem Parteitag in Nürnberg beschlossen worden war, war imponierend. Unter Ausnutzung der gut funktionierenden Parteiorganisation stieg bis zum Kriegsausbruch die Zahl der Jugendausschüsse auf 850 und die Abonnentenzahl der "Arbeiter-Jugend" auf über 100 000.

Dennoch rief diese neue Regelung nicht nur unter den be-

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troffenen Jugendgruppen, sondern auch in den linken Gruppen der Partei Empörung hervor. Vielleicht wäre es zum Bruch gekommen, wenn nicht der Staat auf seltsame Weise den Apparaten erneut geholfen hätte, nämlich durch seine rücksichtslose Schikanierung der Veranstaltungen der Jugendausschüsse mit polizeilichen Mitteln - getreu dem eigentlichen politischen Sinn des Vereinsgesetzes, die Arbeiterjugendorganisation zu zerschlagen. Im Kampf gegen diese Maßnahmen wurden die verfeindeten Generationen wieder Verbündete. Vor allem zeigte sich nun die taktische Raffinesse der neuen Konstruktion: Es gab keinen "Verein", den die Polizei hätte "verbieten" können. Die "Jugendausschüsse" waren - modern gesprochen – "informelle Gruppen", aber keine Rechtsadressaten im Sinne des Vereinsgesetzes. So konnte die Polizei immer nur einzelne Veranstaltungen verbieten, nicht jedoch eine zentrale Organisation auflösen und damit die gesamte Jugendarbeit vernichten. Zweifellos wäre dies beim ersten möglichen Anlaß geschehen, wenn der Plan der Jungen realisiert worden wäre, die Unabhängigkeit der proletarischen Jugendbewegung in einer eigenen Zentralorganisation zu erhalten. So erbrachten die "Väter" den Beweis ihrer politisch-taktischen Überlegenheit über die "Söhne".

Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch ohne das Reichsvereinsgesetz zumindest die Gewerkschaften fest entschlossen waren, selbständige proletarische Jugendverbände zu zerschlagen.
 
 

Arbeiterjugend als politisches Subjekt

Die gleichzeitige Auseinandersetzung der Arbeiterjugendbewegung mit dem Staat einerseits und mit den Organisationen der Arbeiterbewegung andererseits könnte ihre tatsächliche politische Bedeutung verdunkeln. Diese bestand vor allem darin, daß die Arbeiterjugend als Generationsgruppe eigene politische Interessen zu formulieren begann, die nicht unbedingt mehr identisch waren mit den Interessen der erwachsenen Arbeiter. Unter diesem Aspekt soll im folgenden die Stellung der Arbeiterjugendbewegung zur bürgerlichen Jugendbewegung einerseits und innerhalb der Arbeiterbewegung andererseits noch einmal verdeutlicht werden.

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1. Im Unterschied zur bürgerlichen Jugendbewegung tendierte die proletarische Jugendbewegung nicht zur romantischen Flucht aus den Städten, dazu fehlten sowohl die Zeit wie auch die ökonomische Entlastung. Urlaub gab es für junge Arbeiter und Lehrlinge praktisch nicht. Zur bürgerlichen Gesellschaft und ihren Ritualen, von denen sich die bürgerliche Jugendbewegung emanzipieren wollte, hatten junge Arbeiter ohnehin kaum einen Bezug. Man kann nicht einmal sagen, daß die proletarische Jugendbewegung eigene Ideen entwickelte bzw. irgendwelche Ideen der gleichzeitigen Reformbewegungen aufnahm. Ihre Vorstellungen verblieben vielmehr im Rahmen der marxistisch-sozialistischen Überlieferungen der Arbeiterbewegung; sie wollte den Klassenkampf wie die Väter, aber unter "autonomer", gleichberechtigter Beteiligung und so, daß die eigenen ökonomischen Interessen dabei berücksichtigt wurden. Abgesehen davon hatte sie keine Probleme mit Minderheiten, sie war nicht antisemitisch und benötigte auch keinen "Jungenkult", bei dem die Mädchen nur lästig waren.

Während der Wandervogel sich in der Freizeit einen Spielraum suchte für seine sozialen und emotionalen Experimente und dafür aus den immerhin noch "besseren Vierteln" der Städte auszog, blieb die Arbeiterjugendbewegung in den immerhin "schlechteren Vierteln" der Städte und wollte diese durch politischen Kampf menschlicher machen. Im Unterschied zum Wandervogel war die Arbeiterjugendbewegung aufs Unmittelbare, Konkrete konzentriert, unromantisch-rationalistisch nahm sie die technischen und kapitalistischen Tendenzen an, die der Wandervogel gerade ablehnte, und suchte deren "fortschrittliche Momente" zu unterstützen. Ein größerer Gegensatz als der zwischen den beiden Jugendbewegungen läßt sich auf den ersten Blick kaum denken.

2. Die Emanzipationsbestrebungen entsprangen einer spezifischen Erfahrung, die die bürgerliche Jugendbewegung gar nicht nachvollziehen konnte: der Erfahrung von Ausbeutung und würdeloser Behandlung am Arbeitsplatz. Und diese Erfahrung deckte sich mit allen anderen, die man mit den pädagogischen und administrativen Agenturen des bürgerlichen Staates machen konnte: in der

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Volksschule und Fortbildungsschule, im Umgang mit Behörden, im Militärdienst. Die Theorie der "Väter" von der Klassengesellschaft entsprach somit der Alltagserfahrung, und da gab es keine romantische Distanz als Lösung. Emanzipation von diesen Determinanten der bürgerlichen Gesellschaft, die einen Spielraum an Autonomie bringen konnte, schien in erster Linie auf Kampf angewiesen zu sein. Was man dafür brauchte, lernte man nicht in der Schule.

Trotzdem scheint die Wandervogelbewegung eine gewisse Faszination auch für die Arbeiterjugend gehabt zu haben, sonst wären frühe Abgrenzungsversuche (Korn 1910) überflüssig gewesen, in denen die bürgerliche Jugendbewegung als bürgerliche Ideologie zur Entfremdung der jungen Arbeiter von ihrem Klasseninteresse gedeutet wurde.

Die aus solcher Abgrenzung sprechende Befürchtung war nicht unbegründet; denn für viele junge Arbeiter war das bürgerliche Leben - auch das des Wandervogels - dasjenige Leben, das als die eigene Zukunft erstrebenswert erschien. Durch sozialen Aufstieg daran zu partizipieren erschien plausibler, als auf die Utopie der sozialistischen Gesellschaft zu warten.

3. Ein signifikanter Unterschied zur bürgerlichen Jugendbewegung bestand darin, daß der überörtlichen Organisation eine ganz andere Bedeutung beigemessen wurde. Damit unterschieden sich aber auch die Sozialvorstellungen der agierenden Jugendlichen. War in der bürgerlichen Jugendbewegung die Gruppe lediglich die soziale Verlängerung der individualistischen Selbst-Darstellung mit der Implikation, daß eine die face-to-face-Situation überschreitende regelmäßige Kommunikation als verhältnismäßig entbehrlich erscheinen mußte, so verwies die primär politische Motivation die proletarische Jugendbewegung von vornherein auf eine nur durch straffe und umfangreiche Organisation zu vermittelnde Solidarität möglichst aller Betroffenen. Die Modelle und die politisch-theoretische Begründung dafür lieferte die deutsche Arbeiterbewegung. Folgerichtig hatten daher die Binnenbeziehungen in den einzelnen Gruppen nicht jenen introvertiert-emotionalen Charakter wie in den Wandervogel-Gruppen.

Der Begriff "Solidarität" wäre vom Wandervogel vermutlich kaum verstanden worden. Solidarisch war man näm-

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lich im Prinzip mit jedem Mitglied der eigenen Klasse, nicht nur mit denen, die man persönlich kannte, und diese Beziehung vertrug durchaus emotionale Distanz auf der individuellen Ebene.

4. Der Konflikt der Arbeiterjugendbewegung mit den Organisationen und Apparaten der Arbeiterbewegung, vor allem der Gewerkschaften, hatte strukturelle Gründe. Die rebellische Unruhe der Jungen störte die rationale, langfristigere Strategie der Apparate: die großen Organisationen, die für den politischen und wirtschaftlichen Kampf unentbehrlich waren, wurden durch Spontaneität gestört; in ihnen war schon damals die Vertretung der Arbeiterinteressen zu ihrer Verwaltung geworden. Erst auf diesem Hintergrund wird der geschilderte Konflikt überhaupt verständlich, der im Kern gar kein Generationskonflikt war, sondern ein solcher zwischen Spontaneität der Basis auf der einen Seite und der Organisation auf der anderen Seite. Mit diesem seit langem schwelenden Streit zwischen "linkem" und "rechtem" Flügel vermischte sich nur der Gegensatz der Generationen. Hier kam ein fast tragischer Widerspruch zum Ausdruck: Die proletarische Jugendbewegung wollte selbst - im Unterschied zur kleingruppenhaften Sozialität der bürgerlichen Jugendbewegung - eine starke, wenn auch autonome Organisation, weil sie nur so ihre Interessen mit kollektiver Macht ausstatten konnte, aber genau damit mußte sie den Konflikt mit der etablierten Arbeiterbewegung auslösen, weil diese von ihrem eigenen Selbstverständnis her "Sonderorganisationen" in ihren Reihen aus Gründen der Stärke und Einheit prinzipiell nicht dulden konnte. Andererseits aber war die Frage, wie denn diese Organisationen noch verändert werden konnten, wenn nicht durch den Widerspruch und Widerstand neuer Generationen.

5. Dabei war generell fraglich geworden, ob die Organisationen der Arbeiterbewegung die Interessen der verschiedenen Arbeiter-Generationen wirklich übereinstimmend vertreten konnten. Die wichtige Entdeckung der proletarischen Jugendbewegung bestand nämlich darin, daß ihre Interessen von den herrschenden Apparaten gar nicht vertreten wurden, ja, daß bestimmte Erfolge des Klassen-

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kampfes zu ihren Lasten gingen (z. B. konnten die Unternehmer mit der Ausbeutung der Arbeitskraft des Lehrlings höhere Löhne an die erwachsenen Arbeiter teilweise kompensieren). Sie entdeckte weiter - und hierin wurde sie von den Linken in der Partei, vor allem von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Clara Zetkin nachhaltig unterstützt - , daß in der konkreten gesellschaftlichen Praxis das "Klasseninteresse" neu definiert werden mußte und daß es nicht mehr ihr Interesse sein könne, wenn sie an solchen Definitionen nicht beteiligt wurde. Wie bei der bürgerlichen Jugend die Emanzipation von den offiziellen Sozialisationsagenten, so stand bei der proletarischen Jugend die Emanzipation von den Agenten des "Klasseninteresses" zur Debatte.

Diese Erkenntnis, daß das Klasseninteresse des Proletariats erst dann aufhörte, ein Interesse der im Apparat oder Beruf arrivierten Erwachsenen zu sein, wenn die nachwachsende Generation ihre spezifischen Interessen und Probleme in die Definition des Klasseninteresses einbringen konnte, brachte verständlicherweise die Apparate in Aufregung. So wird verständlich, daß die Organisationen der Arbeiterbewegung die proletarische Jugendbewegung "umfunktionieren" wollten zu einer Nachwuchsorganisation, die durch "Bildungsarbeit" für ihre künftigen Aufgaben entsprechend vorbereitet werden sollte. Mit dem Anspruch der Jungen jedoch, ihre Interessen und Bedürfnisse selbst zu vertreten, war das grundsätzliche Problem entstanden, das in Zukunft immer wieder auftauchen sollte, ob das "Klasseninteresse", das die Organisationen der Erwachsenen vertraten, etwas ein für allemal Feststehendes war, so wie es aus den theoretischen Prämissen des Marxismus abgeleitet worden war, oder ob es nicht von Zeit zu Zeit neu definiert werden mußte, und wer die Definitionsmacht eigentlich haben sollte. In diesem politischen Sinne kann man von einem Generationskonflikt sprechen, der damals entstand und der im Prinzip auch noch in der Gegenwart gilt.
 
 

Sozialisationsprobleme der Arbeiterjugend

Will man prüfen, welche Sozialisationsprobleme sich in der Arbeiterjugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg zeigten, so muß man zuvor zwei Einschränkungen machen.

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Einmal ist darauf hinzuweisen, daß der Widerstand gegen die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der Jungen zu einem Zeitpunkt erfolgte, wo der Lebensstandard der Arbeiter ständig gestiegen war. Gewiß waren damals, gemessen an heutigen Verhältnissen, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse immer noch katastrophal genug (vgl. Rühle 1911; Siercks), aber das Gefühl, daß es immer besser wurde, war in der Generation der Väter weit verbreitet, und sie fühlten sich in ihrer Politik der machtvollen Organisation und stetiger Reformvorstöße bestätigt - eine Politik, die vom linken Flügel "opportunistisch" genannt wurde. Die Jungen dagegen konnten solche Vergleiche nicht aus eigener Erfahrung ziehen, sie fanden ihre Gegenwart unerträglich genug. Deshalb waren sie auch offen für den Beifall der Parteilinken, z. B. für Liebknechts antimilitaristische Propaganda. Dies aber trug ihnen den Vorwurf der konservativen "Väter" ein, daß es ihnen zu gut gehe. - Zum anderen muß man beachten, daß die jungen Arbeiter nur zu einem relativ geringen Teil in der sozialistischen Arbeiterjugend organisiert waren; die meisten dürften überhaupt nicht organisiert gewesen sein, sondern ihre Freizeit im Wirtshaus oder auf dem Sportplatz oder in der Familie mit Freunden usw. verbracht haben. In katholischen Gegenden - wie z. B. im Ruhrgebiet - hatten katholische Jugendvereine durchaus Erfolg, und dort taten sich die sozialistischen Vereine schwer. Wir können also im folgenden nur von der Minderheit der in der Arbeiterjugendbewegung mitarbeitenden Jugendlichen sprechen. Allerdings signalisierten wie beim Wandervogel auch hier die Minderheiten eine allgemeine Problemlage einer ganzen Generation.

1. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Arbeiterbewegung keine Vorstellung von der Eigenart kindlichen und jugendlichen Daseins. Die herrschende Überzeugung war, "das kindliche Bewußtsein charakterisiere sich gegenüber dem des Erwachsenen lediglich durch seinen geringeren Verstandesinhalt; auch geistig sei das Kind nichts anderes als ein kleiner Mensch, der durch sukzessive Darbietung von Wissensstoff zum vollwertigen Zeitgenossen aufgepäppelt werden müsse". Man wollte "aus kleinen Jungen kleine Sozialisten ... machen und aus diesen ausgewachsene, in-

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dem man ihnen ein Stück Sozialismus nach dem anderen beibrachte, bis sie den ganzen intus hatten", schrieb Karl Korn (zit. n. Schneider, S. 55). Ziel war also, verhältnismäßig rationalistisch in notwendig vereinfachter Form die Prinzipien des Sozialismus in die jungen Köpfe zu transportieren. "Die proletarische Jugend muß durchglüht werden von Klassenkampfbewußtsein und Haß gegen ihre Unterdrücker; die Arbeiterjugend der Sozialdemokratie zuzuführen, muß das erste Bestreben jedes Genossen, jeder Genossin sein", schrieb die Brandenburger Zeitung am 2. 9.1909 (Schneider, S. 55).

Aber es gab auch Gegenstimmen gegen diese Form der vereinfachten Agitation. So schrieb Ludwig Radlof, ein Mitarbeiter des Verbandsorgans, in einem Artikel in den "Sozialistischen Monatsheften" über "Alte und neue Jugendideale" (Heft 6/1910), das neue Ideal der Jugend müsse es sein, das Bestehende sozialistisch umzugestalten, dabei aber solle Haß gegen die Träger der Gesellschaftsordnung vermieden werden. Dem Sozialismus sei mit Arbeitsfreude und Begeisterung besser gedient. In diesem Zusammenhang kritisierte er auch die Arbeit der Jugendorganisationen:

"Ohne Beschönigung aber muß ausgesprochen werden, daß in den Jugendorganisationen erheblich über das Ziel hinausgeschossen wird. Ich selbst habe als Propagandist der Bewegung in Hamburg, Breslau und Schleswig-Holstein Erfahrungen gesammelt, die mitzuteilen ich für meine Pflicht halte. Da muß zunächst gesagt werden, daß man in den Versammlungen der jungen Arbeiter sehr häufig die Beobachtung machen kann, daß die wirtschaftlichen Zustände, unter denen sie leiden, allzu grau in grau geschildert werden. Das trübe Bild, das vom Leiter oder Referenten entrollt wird, kann keinen anderen Effekt haben, als die Jugendlichen mutlos zu machen, so daß sie an eine Gesundung aus eigener Kraft nicht glauben ... " (zit. n. Schneider, S.55f.).
 
 

Die Entstehung der Arbeiterjugendbewegung zeigt also, daß zumindest für eine Minderheit das traditionelle Identifikationsangebot der Arbeiterbewegung brüchig geworden war. Es hatte darin bestanden, sich als junger Mensch mit den großen Organisationen der Arbeiterbewegung sozial wie ideologisch zu identifizieren, um dann später - als Erwachsener - dort politisch mitarbeiten zu können, indem man nämlich "in die Fußstapfen der Väter trat".

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Diese einseitige Identifikation war offensichtlich nicht mehr so einfach möglich. Einer der Gründe dafür dürfte gewesen sein, daß die auf Gegenwart und Zukunft gerichteten Bedürfnisse der Jungen nicht mehr voll in das ideologische und organisatorische Angebot der "Alten" eingebracht werden konnten bzw. daß sie, wenn sie eingebracht werden konnten, disfunktional wirken mußten. Die Berichte zeigen, daß Mitgliedschaft in der Arbeiterjugendbewegung ganz unterschiedliche Motive haben konnte. Es ging keineswegs nur um das politische Engagement, sondern auch um selbständiges Handeln oder um Statusaufwertung, oder um Aufsteigerhoffnungen und öffentliche Aufmerksamkeit oder Selbstdarstellung - also um allgemeine menschliche Bedürfnisse, die gerade wegen der Aussicht auf wirtschaftliche Besserung sich entfalten und Geltung beanspruchen konnten. All dies war mit dem traditionellen Identitätsangebot nicht mehr ohne weiteres zur Deckung zu bringen.

2. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte dabei die beginnende Freizeit. Für Freizeitbedürfnisse jedoch - immerhin gab es freie Sonntage und oft auch halbe Samstage, soweit diese nicht durch politisches Engagement für die Organisation belegt waren - fehlten innerhalb der Arbeiterbewegung angemessene Angebote, zumindest für junge Leute. Freizeit war aber von Anfang an mit der Vorstellung persönlicher Entscheidungsfreiheit verbunden. Insofern mußte es einen Widerspruch geben zwischen der skizzierten konservativen Vorstellung von der Rolle des Jugendalters und dem Wunsch der Jungen nach "Autonomie" und persönlicher Selbständigkeit. Daran gemessen begann das Identifikationsangebot der Arbeiterbewegung für ihren Nachwuchs obsolet zu werden.

3. Aber das war für die Masse der Arbeiterjugendlichen eher noch Zukunft. Die Gegenwart war, wie der Sozialreport über "Das proletarische Kind" von Otto Rühle (1911) zeigt, bestimmt von wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Die Verbesserung dieser Verhältnisse hatte sich die Arbeiterbewegung zum Ziel gesetzt, aber dahinter steckte kein neues Konzept für die Sozialisation des eigenen Nachwuchses. Der Kampf ging darum, die Bedingungen der (traditionellen) Sozialisation zu ändern, in der

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Hoffnung, daß dann auch Erziehung und Sozialisation sich verbessern würden. Auf diesem Hintergrund mußte das "Bildungsinteresse" verstanden werden, das die Arbeiterbewegung zu einer Hauptaufgabe für die Jugendarbeit gemacht hatte. In dieser Vorstellung war kein Platz für einen "jugendeigenen Raum" in Distanz zum Elternhaus und zur Schule.

Aber auch dieses Konzept begann brüchig zu werden "Gegenbildung" gegen Schule und Fortbildungsschule in der immer attraktiver werdenden Freizeit war nicht jedermanns Sache, denn es bedeutete, die Anstrengung der Arbeit auf der Ebene der Freizeit zu wiederholen.

4. Gerade in diesem Zusammenhang war die Emanzipation von der überlieferten Familienordnung, deren autoritäre Struktur auch die Beziehungen der Generationen in den Arbeiterorganisationen bestimmte, ein entscheidendes Motiv für die proletarische Jugendbewegung. Deshalb hielten die Jungen so hartnäckig an der selbständigen Organisation fest: sie wollten als Partner ernstgenommen werden. Aber es war eine Emanzipation innerhalb der eigenen Klasse und Lebenswelt. Die "Drittelparität" in den Jugendausschüssen und in der Berliner "Zentralstelle" war zweifellos ein erster Erfolg in dieser Richtung.

5. Es ging also noch nicht um die Etablierung von Jugend als eigene soziale Gruppe. Dies war zunächst noch eine Sache der bürgerlichen Jugend, und auch die Jugendforschung ist bis heute überwiegend an der bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Jugend interessiert gewesen. "Pubertät", wie Spranger sie beschrieben hat, als "psychosoziales Moratorium" (Erikson) gab es für die proletarische Jugend nicht, die schon früh, nach dem Ende der Kindheit, in den Arbeitsprozeß eingespannt wurde, wirtschaftlich für sich selbst sorgen mußte, wenig Freizeit und kaum Urlaub hatte. Vielleicht zeigt dies, daß es eine solche Pubertät als normative und verhaltensmäßige Orientierungs- und Experimentierphase nur dann gibt bzw. geben muß, wenn die Zukunftsperspektive offen ist und subjektive Entscheidungsspielräume für die eigene Perspektive vorhanden sind und deshalb trainiert werden müssen. Für jemanden, dessen Lebensweg weitgehend determiniert ist wie für die

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damaligen Arbeiterjugendlichen, ist diese Phase der Pubertät unnötig und würde nur überflüssige Konflikte bescheren - überflüssig für die Gesellschaft wie auch für den einzelnen Jugendlichen. Umgekehrt aber heißt das auch, daß Pubertät und damit soziale Ausgliederung des Jugendalters für die Arbeiterjugend erst in dem Maße eintritt, wie sie "verbürgerlicht", also ihren historisch gewordenen proletarischen Charakter verliert, wie sie ebenfalls von ökonomischen und sozialen Zwängen entlastet wird. Genau diese Tendenz zur "Verbürgerlichung" der Arbeiterschaft war der Nährboden für die Arbeiter-Jugendbewegung. Sie forderte Selbständigkeit und Autonomie, die einem immer größeren Teil von ihr nach dem Ersten Weltkrieg auch zugemutet werden mußte, insofern sie Chancen zum sozialen Aufstieg erhielt, und insofern sie sich dann auch - wie die bürgerlich-kleinbürgerliche Jugend - im Jugendalter innerhalb eines gewissen Spielraums eine Perspektive suchen mußte, die durch bloße Identifikation mit einem Kollektiv allein nicht mehr zu bekommen war.
 
 

Die staatlich geförderte Jugendpflege

Bisher war von den bürgerlichen und proletarischen Selbstorganisationsformen der Jugend die Rede. Aber als sie entstanden, gab es durchaus bereits so etwas wie Jugendarbeit, die von Erwachsenen für Jugendliche veranstaltet wurde.
 
 

Bündnis gegen die Arbeiterjugend

Am weitesten zurück reicht die Tradition der kirchlichen Jugendarbeit, besonders der evangelischen. Die ältesten evangelischen Jünglingsvereine stammen aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie entstanden in Barmen, Basel und Berlin, waren reine Erbauungsvereine und sollten den Eifer für die Heidenmission wachhalten. Im Jahre 1834 entstand nach Schweizer Vorbild in Bremen der erste deutsche Jünglingsverein als "Zufluchtsstätte, wo man in den Freistunden zum gesellschaftlichen Leben zusammenkommen kann" (Dehn, S. 98). Vereine mit ähnlichen Zielen entstehen dann in ganz Deutschland; sie

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schließen sich bald zu größeren Verbänden zusammen (1856 "Ostdeutscher Jünglingsbund", 1848 "Rheinisch-Westfälischer Bund"), die sich 1900 in der "Nationalvereinigung evangelischer Jünglingsbündnisse" zusammenschließen. Die weibliche Jugend trat erst später ins Blickfeld (1893 "Evangelischer Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands").

Auf dem 11. Evangelisch-sozialen Kongreß 1900 wurde Kritik an der traditionellen Arbeit der Jünglingsvereine laut. Die Hamburger Pastoren Clemens Schultz und Walter Classen propagierten die von ihnen praktizierte "offene Jugendarbeit", die sich - auch den weltlichen Bedürfnissen der Jugendlichen zuwandte. Die Reformer gründeten in diesem Zusammenhang den "Bund deutscher Jugendvereine".

Die Jugendarbeit der katholischen Kirche hat ebenfalls eine längere Tradition (Gründung der Gesellenvereine durch Kolping 1846 in Elberfeld). Sie wurde aber erst nach dem Ende des Kulturkampfes intensiviert. Im Jahre 1895 wurde der "Verband der katholischen Jünglingsvereinigungen Deutschlands" gegründet. Auch hier folgte die weibliche Jugend mit erheblicher Verspätung (1915 "Zentralverband katholischer Jungfrauenvereinigungen Deutschlands").

Um 1900 betrug die Mitgliedszahl in den evangelischen Jünglingsbünden 125 000 (davon 50 000 unter 17 Jahren). Im Verband zur Pflege der weiblichen Jugend waren etwa 40 000 junge Mädchen vereinigt. Für die katholische Jugendarbeit waren die Zahlen wesentlich höher, nämlich 300 000 junge Männer (davon 140 000 unter 17 Jahren) und 400 000 bis 500 000 junge Mädchen (Dehn, S. 99). Es fehlen leider Angaben über die soziologische Zusammensetzung. Aus den zeitgenössischen Klagen, die sich in mannigfachen Stellungnahmen zur Jugendpflege finden, kann man jedoch schließen, daß insbesondere in der evangelischen Kirche die Arbeiterjugend deutlich unterrepräsentiert war.

Das "Jugendpflegemonopol" der beiden Kirchen wurde bald durch andere bürgerliche Organisationen durchbrochen. An erster Stelle ist die 1868 gegründete "Deutsche Turnerschaft" zu nennen, die ihren Erfolg dem damals aufkommenden Interesse für Turnen verdankte und der

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um 1900 etwa 140 000 Mitglieder zwischen 14 und 18 und 180 000 zwischen 18 und 21 Jahren angehörten. Daneben gab es auch für andere Sportarten (z. B. Schwimmen und Fußball) schon Jugendabteilungen. Außerdem sind die Pfadfinder zu nennen (1913 rund 45 000 Mitglieder) sowie die vorwiegend von Offizieren geleiteten "Jugendwehren" und schließlich die berufsständischen Vereinigungen. Die drei kaufmännischen Verbände z. B. umfaßten in ihren Jugendabteilungen 1913 rund 38 000 Lehrlinge.

Die militärische Jugendpflege wurde durch den 1911 von Feldmarschall Freiherr von der Goltz gegründeten Jungdeutschland-Bund in großem Umfang und mit deutlichem Wohlwollen der staatlichen Behörden organisiert. Die Organisation war generalstabsmäßig angelegt auf der Grundlage der politischen Verwaltungsgebiete und der militärischen Befehlsbereiche. Der Jungdeutschland-Bund war ein Dachverband, der anderen Jugendpflegevereinen für die schulentlassene Jugend militärische Möglichkeiten der Jugendpflege zur Verfügung stellte. Das Programm bestand aus Sport, Wehrertüchtigung und vaterländischer Erziehung; militärischer Geist sollte gepflegt werden, aber keine vormilitärische Ausbildung. Ferner wurden die Charakterbildungs-Ideale der Pfadfinder aufgegriffen: Idealimus, Kameradschaft, Pflichtbewußtsein, Disziplin, Abhärtung, Abenteuer, Opferbereitschaft, Gemeingeist. Im Jahre 1914 waren dem Bund rund 750 000 Jugendliche angeschlossen. Zu erwähnen ist schließlich noch die im Anschluß an die Fortbildungsschule veranstaltete Jugendarbeit. Sie war den Veranstaltern deshalb so wichtig, weil man in der Fortbildungsschule am ehesten an die arbeitenden Jugendlichen herankam. Schon im Jahre 1897 hatte die Preußische Staatsregierung in einem Erlaß den Geistlichen Gelegenheit gegeben, "im Anschluß an den Unterricht in der Fortbildungsschule in religiösem Sinne auf die Jugend einzuwirken" (Siercks, S. 113). Den Religionsunterricht für diese Schulform obligatorisch zu machen, hatte sich aus innenpolitischen Gründen als nicht möglich erwiesen. Den auf Freiwilligkeit basierenden, dem normalen Unterricht angeschlossenen Religionsstunden war offenbar kein Erfolg beschieden; zudem erwiesen sich die meisten Geistlichen als ungeeignet, in dieser auf Freiwilligkeit beruhenden Situation für ihre Angebote zu werben. So richtete sich die

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Aufmerksamkeit der Behörden immer mehr auf die Lehrer, an die sie in einem Erlaß des Handelsministers vom 25. Juli 1908 ausdrücklich appellierten, "auch außerhalb der Schulstunden Einfluß auf die ihr anvertraute Jugend zu gewinnen ... . Die Aufgabe ist ... keine andere als die, auf die gewerblich tätige Jugend innerhalb ihrer freien Zeit einen bestimmenden Einfluß zu gewinnen" (Siercks, S. 115). Dieser Appell schien einigen Erfolg zu haben, denn im Jahre 1909/10 hatten von rund 373 000 Schülern etwa 196000 an den jugendpflegerischen Veranstaltungen teilgenommen (Siercks, S. 117). Sehr bald lag die Hauptlast der Jugendpflegearbeit ohnehin auf den Lehrern, so daß der preußische Kultusminister in einem Erlaß vom 18. Januar 1912 die Lehrerbildungsanstalten anwies, die Jugendpflege in den Lehrplan für die Studenten mit aufzunehmen.

Die verschiedenen bürgerlich-nationalen sozialpolitischen Bestrebungen außerhalb der Kirchen schufen sich eine Reihe von Zentralorganisationen, deren bedeutendste die "Zentralstelle für Volkswohlfahrt" war, die 1891 als "Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen" gegründet wurde und 1906 ihren umfassenderen Namen annahm; sie richtete eine eigene Fachkommission für "Jugendpflege" ein und trug durch ihre vielbeachteten Fachtagungen von 1900,1901 und 1909 viel zur Popularisierung der Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg bei.

In enger Zusammenarbeit mit dieser "Zentrale" entstanden auch die Jugendpflegeerlasse der preußischen Staatsregierung vor dem Ersten Weltkrieg, die dann zum Vorbild für die anderen deutschen Länder wurden. Für alle diese Erlasse ist charakteristisch, daß sie die Jugendpflege nicht "erfanden", sondern die bereits vorhandenen Bestrebungen der bürgerlichen Vereine unterstützen und koordinieren wollten. Der erste Erlaß vom 24. November 1901 war von drei Ministerien unterzeichnet (Minister der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten; Minister für Handel und Gewerbe; Minister des Innern) und an die Regierungspräsidenten mit der Aufforderung gerichtet, die Bestrebungen der Jugendpflege nach Kräften zu unterstützen. Diese Bestrebungen werden als wichtig bezeichnet, weil "die neueren Bestimmungen über die Sonntagsruhe und über den zeitigen Ladenschluß die Muße-

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zeit erheblich erweitert haben, weil ihr verhältnismäßig hoher Verdienst es den jungen Leuten ermöglicht, unbeeinflußt von der elterlichen Autorität unzweckmäßigen Zerstreuungen nachzugehen, und weil die jungen Leute, denen eine genügende Pflege und Fürsorge nicht von anderer Seite zuteil wird, nur zu leicht unter Einflüsse geraten, die geeignet sind, ihre geistige und sittliche Entwicklung in falsche Bahnen zu leiten". In diesem Erlaß geht es - und das ist für den Ansatz einer staatlich geförderten Jugendpflege bedeutsam gewesen - erstens nur um die Jugend einer bestimmten sozialen Schicht (arbeitende Jugend), zweitens nur um die männliche arbeitende Jugend (ein Erlaß für die weibliche Jugend folgte erst 1913) und drittens um die Freizeit- und Konsumkontrolle dieser Jugend, wobei alarmierende Zahlen über die steigende Jugendkriminalität und deren Ableitung aus falschem Freizeit- und Konsumverhalten im Hintergrund standen. Gegen diesen ersten, vorsichtigen Erlaß erhoben sich nachdrückliche Widerstände seitens der Kirchen, die eine durch die staatliche Initiative hervorgerufene Beeinträchtigung ihrer Jugendarbeit befürchteten; so sahen sich die drei Ministerien in einem Erlaß vom Jahre 1905 genötigt, ausdrücklich zu erklären, daß nicht beabsichtigt sei, "die vorhandenen konfessionellen Vereine durch Veranstaltungen zu ersetzen, die keinen konfessionellen Charakter besitzen".

Nach zwei weiteren Erlassen von 1905 und 1908 folgte der grundlegende und umfassende Erlaß vom 18. Januar 1911, der erstmalig den Begriff "Jugendpflege" enthält und diese als eine "nationale Aufgabe ersten Ranges" und als "»unabweisbare Pflicht" erklärte. Er stand im unmittelbaren Zusammenhang mit dem schon erwähnten Reichsvereinsgesetz. Sollte dieses die bestehenden Arbeiterjugendorganisationen zerschlagen, so kam jenem die Aufgabe zu, die jungen Arbeiter in die bürgerlichen und patriotischen Organisationen zu leiten.

Der Erlaß von 1911 war mit einem für damalige Verhältnisse beachtlichen Fonds von 1 Million Mark ausgestattet. Mit diesem Geld sollte allerdings keine staatliche Jugendpflege begründet werden - was allein schon am Widerstand der Kirchen gescheitert wäre - , vielmehr handelte es sich um einen Subventionsfonds, der an Verbände und Organisationen vergeben wurde, die sich mit den Auf-

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gaben der Jugendpflege befaßten. Um die Zersplitterung in zahlreiche, am Ort oft hartnäckig miteinander konkurrierende Organisationen und Veranstalter einzudämmen, sollten zur Koordination "Stadt- bzw. Ortsausschüsse für Jugendpflege" eingerichtet werden.

Nicht ausdrücklich, aber praktisch waren die sozialistischen Arbeiterjugendvereine von der Partizipation an diesem Fonds ausgeschlossen. Dies war möglich aufgrund der diesem Erlaß beigefügten ausführlichen "Grundsätze und Ratschläge für Jugendpflege", in denen es unter Punkt 2 hieß: "Zur Mitwirkung bei der Jugendpflege sind alle berufen, welche ein Herz für die Jugend haben und deren Erziehung im vaterländischen Geist zu fördern bereit und in der Lage sind." In den Augen des Bürgertums und des Staates waren die sozialistischen Vereine nun keineswegs in der Lage, die Jugend "im vaterländischen Geiste" zu erziehen. Deutlicher noch kommt der Ausschluß der sozialistischen Arbeiterjugendvereine von der Förderung in den Grundsätzen über die Verwendung der Mittel des Jugendpflegefonds vom 22. April 1913 zum Ausdruck: "Für die Entscheidung darüber, ob und wieweit Privatvereinigungen usw. bei ihren Jugendpflegebestrebungen zu unterstützen sind, kommt weder die Religion (Konfession), noch die politische Stellung ihrer Mitglieder in Betracht. Selbstverständliche Voraussetzung ist aber, daß diese Vereinigungen auf staatserhaltendem Boden stehen" (Keil, S. 25 f.). Konnten vorher Liberale die Sozialdemokratie immerhin noch als Partei "von vaterländischer Gesinnung" ansehen - die Sozialdemokraten selbst nahmen dies für sich in Anspruch - , so war mit dieser neuen Formulierung die Entscheidung gefallen: "Auf staatserhaltendem Boden" standen die Sozialdemokraten eingestandenermaßen nicht. Und auch die scheinbare konfessionelle Neutralität wandte sich in Wahrheit gegen die Sozialdemokratie; denn "Vereinigungen, die die Jugend zu einer vaterländischen Gesinnung ohne Gottesfurcht erziehen wollten, konnten keine Förderung erwarten" (Keil, S. 26).

Die Ziele und Begründungen dieses Erlasses sind in der ihm beigefügten Anlage ("Grundsätze und Ratschläge für Jugendpflege") ausführlich formuliert. Dieses Dokument ist so aufschlußreich, daß es hier im vollen Wortlaut wiedergegeben sei.

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"1. Aufgabe der Jugendpflege ist die Mitarbeit an der Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend. Sie will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Dienst- und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen.

2 Zur Mitwirkung bei der Jugendpflege sind alle berufen, welche ein Herz für die Jugend haben und deren Erziehung im vaterländischen Geiste zu fördern bereit und in der Lage sind.

3. Die erforderlichen Mittel werden von Freunden und Gönnern der Jugend, von den Gemeinden, Kreisen usw. und ergänzungsweise vom Staate gewährt. Im Hinblick auf die große Bedeutung der Sache für die Zukunft unseres Volkes ist zu erwarten, daß die Zahl hochherziger Stiftungen für diesen Zweck mehr und mehr wächst. Die Arbeit an der Jugendpflege ist in der Regel ehrenamtlich.

4. Die Pflege der schulentlassenen Jugend umfaßt das Alter vom 14. Lebensjahr bis zum Eintritt ins Heer bzw. bis zum 20. Lebensjahr. Dabei werden die jüngeren 3 Jahrgänge von den 3 älteren, wo es notwendig und möglich ist, getrennt; doch ist dann die Mitarbeit von geeigneten Mitgliedern der älteren Abteilung in der jüngeren anzustreben.

5. Die Besonderheit der Pflege für die schulentlassene Jugend wird einerseits durch das zu erreichende Ziel, anderseits durch sorgsame Berücksichtigung der Eigenart, der Bedürfnisse und der jeweiligen besonderen Verhältnisse der heranwachsenden Jugend bestimmt. Von wesentlichem Einfluß auf die Wahl der Mittel ist der Umstand, daß Zwang für die Teilnahme an den Veranstaltungen nicht möglich ist.

6. Junge Leute, die Tag für Tag in anstrengender Arbeit stehen, haben für ihre Freizeit das naturgemäße Verlangen nach Unterhaltung und Freude. Der der heranwachsenden Jugend ohnehin eigentümliche Freiheitsdrang läßt den Wunsch nach Selbstbestimmung in der Freizeit besonders stark hervortreten. Vielfach zeigt sich als Rückwirkung des Zwanges, den ihnen die Berufsarbeit auferlegt hat, am Feierabend die Neigung, sich in ungebundener Weise zu ergehen. Die Art der Arbeit, bei der viele oft nur ein ganz kurzes Stück des Weges vom Rohmaterial zum fertigen Erzeugnis überschauen, erschwert häufig das Aufkommen der rechten Freudigkeit an der Arbeit. Dadurch trägt sie neben anderen Umständen, insonderheit der häufig vorhandenen Abgeschlossenheit von der freien Gottesnatur, nicht selten dazu bei, daß das Gemüt der jungen Leute verarmt. Es kommt hinzu, daß die Entfremdung weiter Kreise von der Kirche vielen Jugendlichen auch die im Gottesdienst dargebotene Quelle zur Erhebung des Gemütes und zur sittlichen Stärkung verschließt.

Zur Befriedigung des bei der großen Mehrzahl vorhandenen Hungers nach geistiger Anregung fehlt es oft an gesunder Nah-

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rung, zur Pflege besonderer Neigungen und Anlagen meist an Ort und Gelegenheit. Wahllos greift der gar nicht oder schlecht beratene Jugendliche nach jedem Lesestoff und erleidet an Geist und Herz durch schlechte Lektüre oft schweren Schaden.

Die Entwicklung anderer wird nachteilig beeinflußt durch den Mangel eines auch nur einigermaßen freundlichen Heimes, die Gefahren des Straßenlebens, durch Langweile, durch Verführung des Alkohols, durch Entbehrung zweckmäßiger Leibesübungen in freier Luft usw.

7. Demnach kommen als Mittel der Jugendpflege in Frage und haben sich als solche zumeist schon bewährt:

Bereitstellung von Räumen zur Einrichtung von Jugendheimen zur Sammlung der Jugend in der arbeitsfreien Zeit und Darbietung von Schreib-, Lese-, Spiel- und anderen Erholungsgelegenheiten.

Gründung von Jugendbüchereien. Einrichtung von Musik-, Gesangs-, Lese- und Vortragsabenden, von Aufführungen mit verteilten Rollen, überhaupt Gewährung von Gelegenheiten zu edlerer Geselligkeit und Unterhaltung.

Ausnutzung der volkstümlichen Bildungsgelegenheiten eines Ortes, wie Museen u. dergl., unter sachverständiger Führung, Besuch von Denkmälern, geschichtlich, erdkundlich, naturkundlich, landschaftlich usw. sehenswerten Örtlichkeiten.

Bereitstellung von Werkstätten für Handfertigkeitsunterricht u. dgl. Bereitstellung von Spielplätzen und bedeckten Räumen für Leibesübungen. Bei etwa erforderlicher Neuanlage solcher einfach zu haltenden Räume ist darauf Bedacht zu nehmen, sie so einzurichten, daß sie mangels sonst geeigneter Unterkunft zugleich als Jugendheime, als Räume zu Vorträgen, Volksunterhaltungsabenden, Aufführungen und dergl. benutzt werden können.

Schaffung möglichst unentgeltlicher Gelegenheiten zum Baden, Schwimmen, Schlittschuhlaufen.

Verbreitung gesunder Leibesübungen aller Art je nach Jahreszeit, Ort und Gelegenheit. Neben Turnen, volkstümlichen Übungen, Bewegungsspielen und Wanderungen ist gegebenenfalls Schwimmen, Eislauf, Rodeln, Schneeschuhlaufen u. a. zu empfehlen. Besondere Pflege ist den einer Landschaft etwa eigentümlichen Spielen und Leibesübungen zu widmen, wie überhaupt jede Gelegenheit zur Pflege der Heimatliebe zu verwerten ist.

8 Die Aufzählung der vorstehend genannten Mittel und als wünschenswert bezeichneten Einrichtungen soll nicht bedeuten, daß dies alles erst beschafft oder bereit gestellt werden müsse, ehe mit der Pflege der schulentlassenen Jugend begonnen werden könne. Wo Leiter oder Leiterinnen mit einigem Geschicke und mit Liebe zur Sache und zur Jugend vorhanden sind und von einem tatkräftigen und umsichtigen Ortsausschuß unterstützt werden, wird in der Regel sofort mit irgend einem Zweige der Jugendpflege begonnen werden können. Es erhöht für die beteiligte Jugend den Reiz der Sache und ist von großem er-

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ziehlichen Werte, wenn sie selbst nach Möglichkeit zu dem Ausbau der Einrichtungen beitragen und an ihrer Verwaltung selbständig mitwirken kann.

9. Die Ausführung der Jugendpflege darf nicht in einer Weise erfolgen, daß sie lediglich oder doch in der Hauptsache auf bloße Vergnügung der Jugend hinauskommt. Zwar ist auch damit schon viel gewonnen, wenn die Jugend an edleren Freuden Geschmack gewinnt. Zugleich aber ist überall mit Sorgfalt, wenn auch ohne nach außen irgend welches Aufheben davon zu machen, die Pflege so zu gestalten, daß der Jugend bei aller Rücksicht auf ihr berechtigtes Verlangen nach Freude ein dauernder Gewinn für Leib und Seele zuteil wird.

10. Wie dies beispielsweise beim Betriebe von Leibesübungen zu geschehen hat, darüber werden in der Anleitung für das Knabenturnen zahlreiche Winke gegeben, die auch für die schulentlassene Jugend Beachtung verdienen. Bezüglich der Wanderungen heißt es z. B.:

"Diese sollen vor allem zum bewußten Sehen erziehen, einen frischen, fröhlichen Sinn wecken, Freude an der Natur, an der Heimat und an der Kameradschaft gewähren und Ausdauer verleihen.

Daneben ist z. B. auf der Rast zum Fernsehen, zum Schätzen von Entfernungen und der auf die Wanderung verwendeten Zeit, zum Zurechtfinden im Gelände und zur Beurteilung des letzteren anzuleiten.

Gelegentlicher frischer Gesang von Turn-, Wander- und Vaterlandsliedern erhöht die Freude und Ausdauer der Teilnehmer." An derselben Stelle sind zugleich größere Bewegungsspiele angegeben und beschrieben, die auf Wanderungen in Betracht kommen können. - Wichtig ist es, wie im Schulleben, so besonders auch hier, daß die Ausführung von Wanderfahrten einfach und billig geschieht. -

Im übrigen empfiehlt es sich dringend, die Fortbildungskurse fortzusetzen, durch welche bisher schon Tausende von Personen, darunter auch nicht dem Lehrerstande angehörige, mit dem Ziel ausgebildet worden sind, daß sie gesunde Leibesübungen anregend und in einer die Gesundheit, Kraft und Gewandtheit entwickelnden Weise zu leiten und sie zugleich zu einer wirksamen Schule des Willens und Charakters sowie vaterländischer Gesinnung zu machen verstehen.

11. Vor eine schwierige, aber auch dankbare pädagogische Aufgabe werden Lehrer, Ärzte, Geistliche, Richter und Anwälte, Landwirte, Gewerbetreibende, Ingenieure, Offiziere sowie überhaupt alle diejenigen gestellt, welche an der Jugendpflege durch Halten von Vorträgen, Leitung von freien Aussprachen u. dergl. mitarbeiten wollen.

Es kommt darauf an, die Stoffe so auszuwählen, daß sie den Bedürfnissen der Jugend entsprechen, sie anziehen und zugleich geistig und sittlich fördern. In Frage kommen bürgerkundliche Stoffe, ferner solche aus der Religion, der Natur-, der Erd- und

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Menschenkunde, der Geschichte usw. Namentlich sind auch solche vorzuführen, welche geeignet sind, der Jugend den Sinn ihrer eigenen Arbeit und die Bedeutung und Notwendigkeit der mannigfachen Berufe für das große Ganze zu erschließen.

Anziehend bei richtiger Behandlung und von großer erziehlicher Wirkung sind Darstellungen des Heldentums auf den verschiedenen Gebieten, des schlichten Heldentums einer in ihrem Berufe sich aufopfernden Krankenpflegerin nicht minder als des Heldentums des einfachen Soldaten oder des Generals, die ihre Treue mit ihrem Blute besiegeln.

Kriegsgeschichte verfehle namentlich dann ihre die Jugend begeisternde Wirkung niemals, wenn von dem mit wenigen Strichen in großen Zügen gezeichneten Hintergrund der großen Ereignisse sich ein Einzelschicksal, ein einzelnes Ereignis, ein Einzelunternehmen abhebe, das der Jugend schliche aber anschaulich und lebenswahr vor die Seele gestellt wird. Beispiele: Verteidigung des Kirchhofs von Beaune la Rolande (nach der Darstellung von Hönig), die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika (bearbeitet durch die kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen Generalstabs), Bilder aus dem kleinen Kriege (Teil II des Buches von Kardinal von Widdern) und viele andere. Auch aus guten Regimentsgeschichten werden wirksame Stoffe zu entnehmen sein; dabei werden den Brandenburger mehr die Taten von Angehörigen des III. Armeekorps, den Ostpreußen die des I Korps anziehen und so fort.

Aus der Kulturgeschichte sind solche Einzelbilder von besonderem Werte, aus denen ungesucht der Segen in die Augen springe, der von der Arbeit Einzelner für die Gesamtheit ausgegangen ist.

Es verstehe sich von selbst, daß die Zubereitung der Stoffe dem geistigen Stande der Hörer tunlichst anzupassen ist. Nicht immer wird es möglich sein, über einen Gegenstand gleichzeitig vor jüngeren und älteren, vor männlichen und weiblichen Hörern zu reden. Letzteres gilt namentlich für die Besprechung mancher Fragen aus der Gesundheitslehre.

12. Zu einer aufbauenden Einwirkung auf die schulentlassene Jugend bedarf es neben der zielbewußten Gewöhnung und Übung vor allem auch der Erweckung eines selbsttätigen Interesses der Jugend für die Zwecke der zu ihren Gunsten getroffenen Veranstaltungen, bedarf es mannigfacher Gelegenheit zu eigener, tunlichst selbständiger Betätigung innerhalb und zum Besten der Jugendvereinigung.

13. Demgemäß empfiehlt es sich, der Jugend möglichst weitgehenden Anteil an der Leitung der Vereine zu geben und ihr allerlei Ämter im Vereinsleben zu übertragen.

14. Zum Selbstanfertigen von Spielgeräten und anderen Gebrauchsgegenständen für die Zwecke der Vereinigung ist anzuleiten und durch Anerkennung des Geleisteten weitere Anregung zu geben.

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15. Das Interesse an der Vereinigung wird erhöht, wenn ihre Mitglieder einen wenn auch noch so geringen Beitrag zu zahlen haben.

16. Nach den örtlichen Verhältnissen richtet es sich, ob und wieweit die Veranstaltungen zur Jugendpflege an schon bestehende Vereine anzugliedern, oder ob neue Vereinigungen zu schaffen sind. Jedenfalls ist eine Zersplitterung der Kräfte und Mittel zu vermeiden.

17. Wo die Einrichtung neuer Jugendvereinigungen erforderlich erscheint, kommen neben anderen bewährten Formen auch Vereine in Frage, welche sich in Anlehnung an Fortbildungsschulen oder Volks- und Mittelschulen bilden. Geeignete Lehrer, welche sich an der Arbeit beteiligen und sich des besonderen Vertrauens der Jugend erfreuen, sind, wenn irgend möglich, an der betreffenden Schule zu beschäftigen. An Volks- und Mittelschulen empfiehlt es sich, diesen Lehrern wenigstens einige Stunden auf der Oberstufe der Schule zu übertragen, weil dadurch der freiwillige Anschluß der abgehenden Schüler und Schülerinnen an den Verein (Klub) der betreffenden Schule sich am leichtesten und sichersten vollziehe.

Die erforderlichen Räume werden gegebenen Falles im Schulgebäude für die nötige Zeit zur Verfügung gestellt, namentlich auch Spielplatz, Turnhalle, Badeanstalt usw.

Die Leitung erfolgt nach den zu 12 bis 15 aufgezählten Grundsätzen. Innerhalb des Vereines (Klubs) wird die Bildung kleinerer Gruppen zur Pflege besonderer Neigungen, z. B. zur Pflege der Musik, der Kurzschrift, der Lektüre usw. gern gestattet.

Zur Unterhaltung dienen u. a. Tischspiele; auch Gelegenheit zum Schreiben ist zu geben. Eine gute Jugendbücherei versorgt die Mitglieder mit Lesestoff.

18. Es wird anzustreben sein, namentlich für Sonnabend abend sowie Sonntag nachmittag und abend die jungen Leute zu geeigneten Veranstaltungen heranzuziehen.

19. Um das Interesse der Eltern, Lehrherren und weiterer Kreise für die Jugendpflege wach zu halten, empfiehlt sich die Abhaltung von Familienabenden, an denen sich die Jugend durch Darbietungen beteiligt, Veranstaltung von Turn- und Spielvorführungen anläßlich nationaler Feste u. dergl. mehr.

20. Die vorstehende Aufzählung macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Welche Formen im einzelnen anzuwenden sein werden, hängt von den jedesmal gegebenen besonderen Umständen und von den vorhandenen Mitteln ab. Die Erfahrung wird ergeben, welche Formen besonders erfolgreich und welche weniger wirksam sind. Aber überall wird es sich bestätigen, daß das Geheimnis des Erfolges in den an der Lösung der Aufgabe arbeitenden Persönlichkeiten liege, in ihrer umsichtigen und opferwilligen Tätigkeit, in ihrer Geduld und Treue, in ihrer Liebe zur Jugend und zum Vaterland."

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Das Verhältnis von Staat und nicht-staatlichen Trägern

Mit seinen Erlassen zur Jugendpflege griff der Staat vor dem Ersten Weltkrieg in die bis dahin finanziell wie inhaltlich den gesellschaftlichen Verbänden vorbehaltene Jugendarbeit ein. Damit veränderte sich das jugendpolitische "System" prinzipiell, und zwar so, daß eine Reihe von strukturellen Problemen entstand, die bis heute Gültigkeit haben und immer wieder neu ausbalanciert werden müssen.

1. Die staatlich subventionierte Jugendpflege war vor dem Ersten Weltkrieg ein Subventionssystem, das solchen bürgerlichen Organisationen zugute kam, die die herrschenden Normen von Staat und Gesellschaft zu erhalten garantieren. Der Staat betrieb also keine eigene Jugendpflege und mischte sich - im Rahmen der einmal gesetzten inhaltlichen Grenzen - auch nicht in die pädagogische Arbeit ein. Damit jedoch tauchte ein gesellschaftspolitisches Problem auf, das bis heute für die Jugendarbeit charakteristisch ist: das Ineinander, Miteinander oder auch Gegeneinander von staatlicher Förderung einerseits, die notwendig mit bestimmten Zielen verbunden ist, und nicht-staatlichen Trägern andererseits (Wohlfahrtsverbände, Jugendverbände), deren Tätigkeit von der staatlichen Subvention abhängig ist, die aber ihre Eigenständigkeit gleichwohl behaupten wollen. Drei Formen der Abhängigkeit wären denkbar.

a) Die subventionierten Träger identifizieren sich völlig mit den Intentionen der subventionierenden staatlichen Exekutive; in diesem Fall wären sie eine Art nachgeordneter Behörde, die im Grunde den Charakter der totalen staatlichen Jugendpflege nur verschleiert. Dies traf vor 1918 weitgehend für die "vaterländischen" Organisationen zu und später für die Jugendorganisationen im Nationalsozialismus und in der DDR.

b) Die subventionierten Träger identifizieren sich nur teilweise mit den Intentionen der subventionierenden Exekutive und versuchen so weit wie möglich ihre eigenen Intentionen durchzusetzen. So handelte vor dem Ersten Weltkrieg etwa die katholische Kirche, die an den politischen Intentionen des Jugendpflegeerlasses kaum interessiert war,

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diese lediglich verbal akzeptierte und im übrigen mit den Subventionen die heranwachsende Jugend "kirchentreu" halten wollte. So forderte sie z.B. oft Geld für regelmäßige Zusammenkünfte ihrer Meßdiener (Muth).

c) Die subventionierten Träger identifizieren sich überhaupt nicht mit den Intentionen der subventionierenden Exekutive; dann schließen sie sich praktisch von der Förderung aus, wie z. B. - nolens volens - die sozialistischen Jugendvereine vor 1918 oder die Gruppen des Wandervogels, die ihre Selbständigkeit damit unter Beweis stellen wollten, daß sie sich weigerten, für ihre Tätigkeit staatliche Gelder zu nehmen.

2. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, daß die Intentionen des subventionierenden Staates permanent interpretationsbedürftig waren (und sind). Zielvorstellungen in Erlassen müssen notwendig so allgemein bleiben, daß man sie mühelos mit sehr verschiedenen Inhalten füllen kann. "Vaterländische Gesinnung" z. B. beanspruchten damals die Sozialdemokraten ebenso für sich wie die Deutschnationalen. Und mit dem Hinweis auf dieses allgemeine Ziel konnte auch der Klerus Subventionen für seine Meßdienerzusammenkünfte beanspruchen, indem er nicht ohne Logik erklärte, auf diese Weise würden die Jungen am ehesten von dem "vaterlandslosen Treiben" der Sozialdemokratie abgehalten. Wenn aber derartige Erlasse interpretationsbedürftig sind, so ergibt sich daraus die Frage, wer letzten Endes über eine solche Interpretation entscheidet. Denkbar wäre, daß der Staat das Recht zur Interpretation sich selbst vorbehält oder daß er es den Trägern überläßt oder daß er einen Mittelweg sucht, z. B. durch ein Beratergremium oder einen Beirat. Die politische Seite dieses Problems verschärft sich noch dadurch, daß ein Fonds wie der damalige Jugendpflegefonds von der Exekutive verwaltet wird, die ihrerseits keinerlei direkten parlamentarischen Kontrollen unterliegt; von daher ist dann die Versuchung groß, Öffentlichkeit auszuschalten und sich bei Konflikten "unter der Hand" zu einigen (vgl. Keil). In dieser Situation liegen öffentliche Diskussionen weder im Interesse der Exekutive noch der Träger.

Eine weitere notwendige Folge dieser Konstruktion ist, daß die Zielformeln solcher Erlasse zu einer verheeren-

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den sprachlichen Inflation pädagogischer Begriffe führen. Schließlich kommt es immer darauf an, die eigenen Intentionen in die Sprache der maßgeblichen Richtlinien zu übersetzen. Man muß z. B. versuchen, Schlüsselwörter wie "vaterländische Gesinnung" so weit zu dehnen, daß die eigenen Absichten noch hineinpassen. Das macht die pädagogischen Zielformeln noch inhaltsleerer, als sie ohnehin schon sind. Beim späteren Bundesjugendplan hat sich dieser Prozeß wiederholt: Da die Mittel für den Zweck "politische Bildung" z. B. verhältnismäßig hoch und leicht erreichbar waren, gab es in der Jugendarbeit bald keine Maßnahme mehr, die nicht als politische Bildung ausgegeben wurde. So konnte man etwa sagen, daß Mannschaftssport ein Beitrag zur politischen Bildung sei, weil ja dadurch gemeinsames "partnerschaftliches Handeln" gefördert werde. Diese sprachliche Inflation hatte und hat aber auch einen Vorteil, denn auf diese Weise können die Träger an der inhaltlichen Mitbestimmung der staatlichen Erlasse mitwirken, diese möglicherweise sogar umfunktionieren. Auf diese Weise gehen inhaltliche pädagogische Entscheidungen dann doch zu einem Teil auf die pädagogische "Basis" über.

3. Gleichwohl war von Anfang an die Gefahr groß, daß die nötigen Interpretationen so ausfielen, daß bestimmte Gruppen der Gesellschaft grundsätzlich von der Förderung ausgeschlossen wurden wie seinerzeit die Sozialdemokraten. Mit einer uns heute kaum noch verständlichen Selbstverständlichkeit wurde damals die staatliche Jugendpolitik zu einem Mittel des innenpolitischen Kampfes um die Arbeiterjugend. Die Frage ist, ob es sich dabei nur um ein zum Scheitern verurteiltes Versagen der damaligen Staatsregierung handelte oder ob ein derartig politisch "reaktionäres" Moment grundsätzlich in dem Charakter des Systems von staatlicher Förderung und gesellschaftlicher Trägerschaft beschlossen liegt. Wie gegenwärtige Konflikte in der Jugendarbeit zeigen, versucht selbst ein demokratischer Staat, bestimmten Gruppen in dem Augenblick seine Unterstützung zu entziehen, wo sie sich allzu weit von den Grundlagen des staatlich-gesellschaftlichen Systems entfernen; die Denunzierung von Gruppen mit abweichenden politisch-pädagogischen Intentionen gehört zu den not-

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wendigen Implikationen eines solchen staatlichen Förderungsplanes.

4. Damit die staatlichen Mittel möglichst effektiv eingesetzt werden konnten, mußten die Träger veranlaßt werden, die Konkurrenz untereinander auf der örtlichen Ebene zu mindern; denn dem Staat konnte es gleichgültig bleiben, welche der als "vaterländisch" anerkannten Verbände am Ort die meisten Mitglieder oder Teilnehmer hatten, ihm kam es darauf an, daß möglichst viele Arbeiterjugendliche dem Einfluß der Sozialdemokraten entzogen wurden. Die Interessen der Verbände - vor allem der Kirchen - lagen aber anders. Ihnen mußte es darauf ankommen, möglichst viele zumindest der "eigenen Schäfchen" in ihre Reihen zu bekommen. Die Aufforderung des Staates, örtliche Jugendpflegeausschüsse zu gründen, damit die örtlichen Träger die vorhandenen Mittel möglichst effektiv verwenden, mußte also zu Konflikten führen - ein Problem, das ebenfalls bis heute besteht, insofern es keinen objektiven, sondern nur einen politischen Maßstab für die Verteilung der Mittel geben kann.

Damals, vor dem Ersten Weltkrieg, gab es teilweise erbitterte Rivalitäten der "staatstragenden Gruppen" um die Anteile an den Subventionen - was den Sozialdemokraten immer wieder Gelegenheit zu höhnischen Kommentaren gab, und gewiß kann man Muth zustimmen:

"Es ist kaum anzunehmen, daß ohne den Ausbruch des Krieges sich diese Jugendpflege noch lange in der Form erhalten hätte, die ihr der Erlaß vom 18. Januar 1911 gegeben hatte, ohne daß es zu grundsätzlichen innenpolitischen Auseinandersetzungen und Kämpfen gekommen wäre. Dafür hätte vieles gesorgt, vor allem zunächst der Versuch, die Jugend als solche zum Objekt politischer Kämpfe zu machen, sodann aber auch die Einseitigkeit und rein negative Zielsetzung der Jugendpflege, die immer fragwürdiger werden mußten, nachdem durch die Reichstagswahlen von 1912 die Sozialdemokratie zur stärksten Fraktion des Reichstags geworden war. Schließlich bargen die mehr oder weniger offen eingestandenen Nebenziele der uneinigen Partner, von denen die einen in der Jugendpflege bloß ein Hilfsinstrument des Heeres sahen, die anderen die günstige Gelegenheit benutzen wollten, um ihr konfessionelles Organisationswesen auszubauen und zu festigen, soviel Sprengstoff, daß das Ende dieser 'vaterländischen' und 'nationalen' Jugendpflege eigentlich bereits im Sommer 1914 abzusehen war" (Muth, S. 619).

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Das politisch-pädagagische "Jugendbild" der Jugendpflege

Bei den beiden Jugendbewegungen hatten wir gefragt, welche Signale sie setzten für neue Sozialisationsprobleme und -lösungen. Diese Frage läßt sich sinngemäß auch stellen für die erste Phase der staatlichen Jugendpflege: Welche "Jugendtheorie" steckte - abgesehen von den eben erörterten innenpolitischen Intentionen - hinter den Maßnahmen der staatlichen Jugendpflege? Wie wurden Jugendprobleme gesehen und wie sind daran gemessen die staatlichen Reaktionen zu beurteilen?

1. Ohne Frage haben die Initiatoren der staatlich subventionierten Jugendpflege das Problem der jugendlichen Emanzipationsbedürfnisse nicht erkannt. Diese Haltung teilte die Jugendpflege mit der damaligen bürgerlichen Sozialpolitik im ganzen. Die leitende Vorstellung war: Die arbeitende Jugend droht wegen der technischen, wirtschaftlichen Freizeitentwicklung aus den bürgerlichen Ordnungen herauszufallen - in denen sie, wie die marxistische Kritik deutlich gezeigt hatte, nie gestanden hatte (vgl. Rühle 1911; Kanitz) - , also muß man sie mit geeigneten Maßnahmen, zu denen auch pädagogische gehören, wieder in diese Ordnungen zurückholen: in die Normen der bürgerlichen Familie, der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und der bürgerlichen Kirchen. Ganz fern lag der Gedanke, daß die angestrebten Reformen möglicherweise sich auf die sozio-ökonomischen Bedingungen hätten richten müssen, die das Schicksal der Arbeiterjugend bestimmten. Aber aufgrund des herrschenden liberalistischen Selbstverständnisses hätte der Staat solche Maßnahmen gar nicht treffen können; denn die Wirtschaft war nicht Sache des Staates, sondern des gesellschaftlichen Wettbewerbs, der nur funktionieren konnte, wenn der Staat möglichst gar nicht eingriff; Fürsorge dagegen für diejenigen, die bei diesem Wettbewerb auf der Strecke blieben, war eine Aufgabe, die der Staat - schon aus Gründen der Staatsraison - seit etwa der Jahrhundertwende mehr und mehr zu übernehmen gewillt war. In diesem Zusammenhang stand auch die staatlich geförderte Jugendpflege, die zunächst überhaupt nur der arbeitenden männlichen, später auch der weiblichen Jugend und eigentlich erst nach dem Ersten Welt-

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krieg auch der (bürgerlichen) Gymnasialjugend galt. Zwar wurde durch Erlaß vom 7. 2. 1913 auch Schülern die Teilnahme an der Jugendpflege ermöglicht, aber sie blieben vor dem Ersten Weltkrieg bedeutungslos. Der Erlaß war nötig, weil Schülern die Mitgliedschaft in Vereinen jeglicher Art verboten war durch einen Erlaß vom 14. 2. 1876. Ausschlaggebend wurde jetzt "ob der Schule die Möglichkeit der Aufsicht gewahrt bleibt" (Wedekind, S. 179).

Es leuchtet jedoch ohne weiteres ein, daß eine so verstandene Fürsorge, die an den ökonomischen Entstehungsbedingungen der Hilfe nichts zu ändern vermochte, die sozialen Härten dieser Lage zwar mildern, die grundsätzliche Unterprivilegierung der Betroffenen jedoch im übrigen nur verstärken konnte. Aus diesem Grunde konnte von einer Hilfe zur Emanzipation der Arbeiterjugend keine Rede sein.

"Nicht der Gedanke der Wahrnehmung der Interessen der Jugend noch der Wille, mögliche Veränderungen durchzusetzen war für die Anfänge der sich im Rahmen der Sozialpolitik konstituierenden Jugendpolitik maßgebend, sondern der Wunsch, die Unruhe der Jugend um der eigenen politischen und sozialen Sicherheit willen unter Kontrolle zu bekommen" (Keil, S. 29).
 
 

2. Dem entsprach, daß z. B. an den Verhältnissen der Lehrlingsausbildung, die ja die Ursache für das Entstehen der Arbeiterjugendbewegung waren, nichts geändert wurde, daß vielmehr die Ursachen der "Jugendnot" in erster Linie in der Freizeit gesehen wurden. Von hier aus nahm die "Jugendpflege als Freizeiterziehung" ihren Anfang. "Freizeit" war der Lebensbereich, der von den gesellschaftlichen Institutionen (Schule, Familie, Betrieb, Armee) weitgehend unkontrolliert blieb. Hier galt es anzusetzen mit Programmen und Maßnahmen, deren Ziel die Eingliederung in jene bürgerlichen Sozialisationsinstitutionen war. "Aufgabe der Jugendpflege ist die Mitarbeit an der Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend. Sie will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Dienst- und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen", heißt es in den "Grundsätzen und Ratschlägen" des Erlasses vom 18. Januar 1911. Man muß eine solche, an sich plausible Formulierung auf dem Hinter-

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grund des damaligen bürgerlichen Selbstverständnisses sehen. Ungebrochen galt die Vorstellung, daß eine richtige Erziehung der Jugend nur im Rahmen der nach wie vor als intakt geltenden bürgerlichen Institutionen erfolgen könne und auf diese hin zu erfolgen habe. Die unkontrollierte, nicht gleich schon von derartigen bürgerlichen Normen her gestaltete Freizeit, die sich nach den liberalistischen Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage, nicht jedoch nach den bürgerlichen Vorstellungen von "sinnvoller Freizeitbeschäftigung" konstituierte, sowie die unkontrollierte Verfügung über Taschengeld und Arbeitslohn durchbrachen diesen Grundsatz. Schon damals war "Freizeit" die einzige Möglichkeit, aus dem Rahmen bürgerlicher Sozialisationszwänge wenigstens zeitweise auszubrechen, und Gegenmaßnahmen der öffentlichen Jugendpflege richteten sich folgerichtig darauf, diesen Ausbruch in Grenzen zu halten. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ist die Jugendpflege nicht nur Freizeiterziehung geblieben, die Konflikte zwischen den Generationen entzündeten sich auch immer an der Frage, was für Jugendliche nun eine "sinnvolle" Freizeitverbringung sei und was nicht. Dabei wurden Konzessionen an die "Jugendgemäßheit" durchaus gemacht. Schon der Erlaß von 1911 plädierte nachhaltig für eine "Mitbestimmung" der Jugendlichen in der Jugendpflege und für die Berücksichtigung der "jugendgemäßen" Gesellungsformen.

3. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Konzept das Muster einer "negativen Pädagogik" annehmen mußte, deren Intention eher das Bewahren vor etwas war als das Eröffnen neuer Lebensmöglichkeiten. Von Anfang an hatte die öffentliche Jugendpflege keine "Perspektive" anzubieten, d. h. keine Aussicht auf ein besseres, glücklicheres Leben, für das zeitweise Verzichte und persönlicher Einsatz lohnend hätten erscheinen können; vielmehr eröffnete sie, befangen in traditionellen und gerade damals fragwürdig gewordenen bürgerlichen Sozialisations-Leitbildern, lediglich reduzierte Daseinsmöglichkeiten, die schon durch das kommerzialisierte Freizeit- und Konsumangebot mühelos übertroffen werden konnten.

In der durchaus schon beachtlichen Literatur über Theorie und Praxis der Jugendpflege vor dem Ersten Weltkrieg

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sind die Klagen über den Zerfall der überlieferten Ordnungen - vor allem des Familienlebens - immer wieder Ausgangspunkt der pädagogischen Überlegungen: Die brüchig gewordenen Werte sollten wieder anerzogen werden. Schon damals war es eine Fehleinschätzung des konservativen Denkens, man könne durch Erziehung Werte zurückrufen, die in der gesellschaftlichen Realität ihren Sinn und ihre Überzeugungskraft zu verlieren beginnen. Derartige Hoffnungen leben davon, daß sie die je individuelle Sittlichkeit, den Willen und Charakter des einzelnen anpeilen müssen, weil allgemeine gesellschaftliche Ursachen der Veränderung nicht erkannt werden oder - wo sie doch durchschaut sind - nicht beseitigt werden können oder sollen. Problematisch an solchen pädagogischen Bemühungen, die Sensibilität für Normen und Werte zu schärfen, war eben, daß man die alten Normen wieder einsetzen wollte, anstatt sie zu modifizieren oder sich auf neue einzustellen, die dem sozialen Wandel Rechnung getragen hätten. Aber dies gelang der Jugendpflege durchweg nicht. Oberhaupt scheint zumindest in den Großstädten die Jugendpflege eher die "Braven" angesprochen zu haben, also diejenigen, die noch in relativ intakten Nahbeziehungen lebten. Was auf einer zeitgenössischen Tagung über die Mädchen gesagt wurde, gilt sicher auch im allgemeinen für die Jungen:

"Tatsache ist, daß in den meisten Jugendpflegevereinen sich hauptsächlich die Mädchen finden, die unserer Fürsorge am wenigsten bedürfen, bei denen das Elternhaus seine Pflicht getan, ja bei denen sogar die Gefahr nahe liegt, daß wir sie durch unsere Vereine dem Elternhaus in ihrer Freizeit entziehen. Dagegen halten sich die wirklich gefährdeten meistens allen Veranstaltungen fern" (Hauptausschuß ... 1913, S. 21).
 
 

Die sogenannten "Halbstarken" jedenfalls - Clemens Schultz (1912) hatte sie so genannt - erreichte die Jugendpflege nicht. Insbesondere für kirchliche Autoren, z. B. für die Protestanten Schultz und Classen (1914) und den Katholiken Könn (1914), waren diese jungen Männer die Inkarnation dessen, was Jugendpflege verhindern müsse:

"In der Schule ist es der Junge, der sich am liebsten herumtreibt, eine eigenartige Hast und Unruhe in sich trägt. Alle Kindersünden begeht er mit Freuden. Er ist immer ungehorsam. Bitten, Vorstellungen, Strafen prallen an ihm ab. Er macht sich aus

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nichts etwas, hat nie Freude an etwas Höherem, nur Hang und Neigung zu allem, was unschön und unedel ist. Kommt er in die Lehre, so wird er gewöhnlich wegen völliger Unzuverlässigkeit, absoluter Trägheit und fortgesetzten Unfuges entlassen, falls er nicht schon vorher weggelaufen ist. Er arbeitet, wenn es ihm paßt, und nur solange er Lust hat. Sonst kann er tagelang, wochenlang auf der Straße herumbummeln; er ist der regelmäßige und aufmerksamste Beobachter bei Menschenaufläufen" (Könn, S. 115).

Und das Freizeitverhalten schildert Schultz so:

"Gewöhnlich steht er an der Ecke, auf dem Kopfe möglichst keck und frech eine verbogene Mütze, manchmal darunter hervorlugend eine widerlich kokette Haarlocke, um den Hals ein schlechtes Tuch, Rock und Hose zerrissen, mit vielen Dreckspritzern und sonstigen Flecken. Er ist selten allein und hat meistens von seinesgleichen bei sich, mit denen er sich oft in albernster, kindischer Weise herumbalgt. Die Unterhaltung, die sie führen, ist durchsetzt mit den greulichsten Schimpfwörtern. Er hat eine bewundernswerte Kunstfertigkeit im Spucken. Seine Freude ist es, die Vorübergehenden zu belästigen, auch älteren Herren und Damen Gemeinheiten nachzurufen, ein Bein zu stellen oder ihnen etwas nachzuwerfen; geht ein junges Mädchen vorbei, so werden ihr die unflätigsten und gemeinsten Worte gesagt" (zit. n. Könn, S. 115 f.).

Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als ob hier Jugendliche gemeint seien, die sich am Rande der Kriminalität befinden. In Einzelfällen mag dies auch so gewesen sein, aber im allgemeinen dürfte es sich um ein relativ normales Verhalten gehandelt haben; jedenfalls verdient die Fassungslosigkeit der Autoren zumindest dieselbe Aufmerksamkeit wie das Verhalten der Jugendlichen.

4. Besonders deutlich zeigt sich die "bewahrende", auf "alte" Werte zurückgehende Zielvorstellung der Jugendpflege in den Intentionen zur weiblichen Jugendpflege. Im Erlaß vom 30. 4. 1913, der die weibliche Jugendpflege gleichberechtigt neben die männliche stellt, heißt es, daß die "Grundsätze und Ratschläge", die für die männliche Jugendpflege dem Erlaß von 1911 angefügt waren, im wesentlichen auch für die weibliche Jugend gelten sollten, allerdings unter besonderer Berücksichtigung der "Eigenschaften und Fertigkeiten", die "eine bessere Würdigung des Berufes einer Hausfrau und Mutter herbeiführen" können. Geeignete Räume sollten zur Verfügung stehen,

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die "mannigfache Gelegenheit bieten zur Sammlung, Erbauung, religiösen und sittlichen Einwirkung, Belehrung, wirtschaftlichen Förderung, Pflege des Gesanges, zu guter Lektüre, zu Elternabenden mit musikalischen, deklamatorischen u. dgl. Vorführungen usw.". Die Räume sollten zudem "die Möglichkeit ... bieten, Näh-, Strick-, Flick-, Bügel- und Handarbeiten aller Art tunlichst unter sachverständiger Leitung vorzunehmen«, und in ihnen sollen "Vorträge und Übungen in Kranken- und Kinderpflege" stattfinden können.

Dies alles ist als eine Konkretisierung und Verstärkung der traditionellen Rolle der Frau und Mutter gedacht:

"Wer ein körperlich und sittlich starkes, gottesfürchtiges, königs- und vaterlandstreues Geschlecht heranbilden will, muß auch dafür sorgen helfen, daß die weibliche Jugend an Leib und Seele gesund, innerlich gefestigt und mit dem Wissen und Können ausgerüstet wird, das für ihren zukünftigen Beruf als Gehilfinnen des Mannes, als Erzieherinnen der Kinder, als Pflegerinnen des Familienglücks, als Trägerinnen und Hüterinnen guter Sitte unentbehrlich ist."

Auffallend ist, daß die Berufsarbeit der jungen Mädchen - es handelte sich ja ganz überwiegend um Dienstmädchen oder ungelernte Arbeiterinnen - in diesem Erlaß keine Rolle spielt, daß vielmehr die Berufsarbeit nur als Zwischenstadium bis zur Heirat gesehen wird. Nun dürfte diese Erwartung des Erlasses mit der Vorstellung der meisten Mädchen damals über ihren "eigentlichen" Beruf, nämlich den der Hausfrau und Mutter, übereingestimmt haben. Gleichwohl war dies keine in die Zukunft weisende Konzeption. Es gab aber auch andere Stimmen. Noch vor Inkrafttreten des Erlasses veranstaltete der "Hauptausschuß für Jugendpflege in Charlottenburg" eine Tagung über die "Pflege der weiblichen Jugend". In dem Eröffnungsreferat von Alwine Reinald, das die einseitige Förderung der männlichen Jugend kritisiert, heißt es:

"Wir wollen körperlich gesunde, sittlich hochstehende, sozialempfindende, in der Religion feststehende, im Beruf tüchtige Frauen erziehen, die als Persönlichkeiten in Familie, Gemeinde und Staat ihre Pflichten erkennen und ausüben, und denen zum Wohle des ganzen Vaterlandes aus den erfüllten Pflichten auch Rechte erwachsen ... " (Hauptausschuß ... 1913, S. 21).
 

Alles in allem aber dürfte die Feststellung zutreffen, daß

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das "Jugendbild" der Jugendpflege konservativ in dem Sinne war, daß es die veränderten Sozialisationsbedingungen und Sozialisationsprobleme der Arbeiterjugend und auch die neuen Impulse der Arbeiterjugendbewegung - die Tendenz zur beruflichen und politischen Emanzipation - nicht zu würdigen verstand, sondern auf veränderte Bedingungen mit dem Angebot der überlieferten Erziehungsleitbilder reagierte. Weder politisch noch pädagogisch bot dies eine aussichtsreiche Perspektive.

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