Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 24 (1998)

© Hermann Giesecke
 

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Inhaltsverzeichnis

186. Mehr Autorität für den Lehrer? (1998)

187. Kritik des Lernnihilismus - Zur Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft"
         (1998)

188. Zum Verhältnis von Allgemeiner und Fachdidaktik - Das Beispiel Politikunterricht (1998)

189. Offenheit für die Zukunft (1998)

190. Zur Wissensvermittlung zurückkehren! (1998)

191. Wozu Schule? (1998)

192. Interview (1998)

193. Auf der Suche nach einer Theorie der Jugendarbeit - Zur Erinnerung an Klaus     Mollenhauer   (1998)

194. Gespräch mit Thomas  Rex im Alpha-Forum des Bayerischen Rundfunks (1998)



Zu dieser Edition

Dieser 24. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1997. In diesem Jahr wurde ich emeritiert.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte. Allerdings wurden Texte, die nach Vorträgen mehrmals an unterschiedlichen Orten - z.B. in Verbandszeitscchriften - wiedergegeben wurden, nur einmal berücksichtigt.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.

 
 

186. Mehr Autorität für den Lehrer? (1998)

In: Eichholz Brief H. 1/1998, S. 69-75

(Die Überschriften wurden von der Redaktion eingefügt, H.G.)
 

Unser allgemeinbildendes Schulwesen ist gegenwärtig im wesentlichen durch zwei Probleme gekennzeichnet:

- Ihm fehlt eine pädagogische Leitidee, wie sie früher durch das Konzept der "Bildung" bzw. "Allgemeinbildung" gegeben war, die anzugeben vermag, wie die Fülle dessen, was man an und für sich lernen könnte, sinnvoll zu konzentrieren und zu begrenzen ist. Schulunterricht besteht heute über weite Strecken in der Addition von Stoffinseln, zwischen denen es kaum einen inneren geistigen Zusammenhang gibt; Eltern können das mühelos an den Schulbüchern ihrer Kinder feststellen, die vielfach einem thematischen Warenhauskatalog gleichen, aber kaum noch den Schulstoff Schritt für Schritt aufbauen und präsentieren.

- Der Schule fehlt eine Lehrerschaft, die noch mit hinreichender Gewißheit weiß, wozu sie eigentlich da ist, worin also ihre Professionalität besteht. Sind die Lehrer Unterrichter, Erzieher, Moderatoren und Animateure von Lernprozessen ihrer Schüler oder gar zur Not auch deren Therapeuten?

Beide Probleme hängen natürlich eng miteinander zusammen und haben Folgen für die Rolle des Lehrers in der Schule. Je undeutlicher die Aufgaben eines Berufes bestimmt sind, um so geringer ist sein öffentliches Ansehen und um so weniger erwächst ihm aus seiner Tätigkeit Autori-

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tät. Alle modernen Berufe, gerade auch die, die auf den Menschen bezogen sind, sind positiv wie negativ definiert: durch ihre Kompetenz ebenso wie durch die Grenzen ihrer Zuständigkeit. Deshalb kann man Ansehen und Autorität eines Berufes am besten dadurch ruinieren, daß man seine Aufgaben möglichst weit und damit diffus bestimmt. Das ist in den letzten Jahrzehnten mit dem Lehrberuf geschehen wie mit kaum einem anderen. Vor dreißig Jahren war in den Augen der Öffentlichkeit wie in den Köpfen der Lehrer selbst die berufliche Kernaufgabe noch klar: Lehrer sollen die Schüler mit möglichst großem didaktisch-methodischem Geschick unterrichten und ihnen zu diesem Zweck und gleichsam nebenbei auch die allgemeinen Regeln des öffentlichen Verhaltens beibringen - Höflichkeit, Toleranz, Einfühlungsvermögen, Sachorientierung. Das war ein jedermann einleuchtendes Berufskonzept.

Der reformpädagogische Zeitgeist hat es jedoch Zug um Zug verwirrt, wie sich an vielen Beispielen belegen läßt. Die Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" etwa, verfaßt im Auftrag des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und inzwischen zu einer weit verbreiteten Bibel "fortschrittlicher" Schulpolitik geworden, nennt die Schule ebenso umfassend wie diffus "Haus des Lernens". Darin geht es nicht mehr nur um Unterricht, sondern darüber hinaus und vor allem um die Inszenierung aller möglichen "Lernprozesse" von Kindern. Der Blick wendet sich vom lehrenden Lehrer ab und zum lernenden Schüler hin. Die Funktion des Lehrers müsse sich ändern; er könne nicht mehr vorrangig Wissensvermittler sein. Vielmehr müsse er nun die selbstgesteuerten Lernprozesse der Schüler gleichsam begleiten, als "Lernberater" deren "Coaching" übernehmen. Gegenüber den Schülern sei er nur noch der "Lernerfahrenere", ein "Experte", der den Schülern "bei der Entfaltung ihrer Lernkompetenz" helfe. Alle sind demnach Lerner, keiner ist mehr richtig Lehrer.

Lehrer als Weltverbesserer

Begründet wird dieser Kurswechsel im schulreformerischen Schrifttum durch den nachgerade stereotypen Hinweis auf die veränderten Bedingungen der Kindheit, die mehr oder weniger pessimistisch beschrieben werden. Galten zu Beginn der Bildungsreform, also Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre, die Mittelschichtkinder noch als privilegiert im Vergleich zu denen aus unteren sozialen Schichten, jedenfalls nicht einer besonderen schulischen Fürsorge bedürftig, so erscheinen nun alle Kinder gleichermaßen bedroht. Die leitenden Stichworte sind: Verschärfung der sozialen Gegensätze, Arbeitslosigkeit und neue Armut, gravierende familiäre Unterschiede, Berufstätigkeit beider Elternteile, viele Alleinerziehende, zahlreiche Einzelkinder, der kulturelle Pluralismus, Integrationsprobleme von Aussiedler- und Ausländerfa-

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milien. Dazu kommen Umweltbelastungen, multimediale Berieselung, belastete Atemluft, ungesunde Ernährung, verbauter Lebensraum, Straßenlärm, Bewegungsmangel, Hektik sowie Ängste, die durch Gewalt, Kriege und ökologische Katastrophen ausgelöst werden.

Nun wird niemand leugnen, daß es diese Probleme tatsächlich gibt und daß es nützlich wäre, sie im Unterricht in einer dem Alter der Kinder angemessenen Weise auch zur Sprache zu bringen. Aber um dafür geeignete Unterrichtsstoffe geht es gar nicht, sondern um den Nachweis, daß angesichts dieser Gefahren der traditionelle Unterricht geradezu unwichtig geworden ist; vielmehr müsse die Schule zu einem Refugium werden, in dem alternatives Denken, Verhalten und vor allem Fühlen eingeübt werden können. Der Lehrer wird hier von Berufswegen zum Weltverbesserer stilisiert, jedenfalls soll er die so dramatisch beschworene "veränderte Kindheit" entsprechend einseitig interpretieren, anstatt mit seinem Unterricht die Erfahrungen der Schüler aufzugreifen, zu systematisieren, sie so in eine für sie neue Perspektive zu bringen und den Kindern die Welt und ihre Stellung in ihr mit einem pädagogisch gebotenen Mindestmaß an Zuversicht zu erklären. Der pädagogische Zeitgeist legt dem Lehrer unerbittlich nahe, daß das, was einmal seine wesentliche Funktion war, nämlich zu unterrichten, immer bedeutungsloser werde. Vielmehr komme es darauf an, in der Schule die Option eines besseren Lebens zu arrangieren, das alle Kulturen, politischen Meinungen und geistige Begabungen harmonisch integriert. Da kann Sachbezogenheit nur stören, weil dabei ja gerade die Unterschiede zwischen Begabungen und Leistungsfähigkeiten hervortreten würden. "Soziales Lernen" ist statt dessen angesagt, "Teamarbeit" zum Beispiel, die angeblich auch die Wirtschaft wünscht. Aber die Reformpädagogen verstehen darunter, daß drei gute Schüler zwei weniger gute in Gruppenarbeiten mitschleppen, was die Wirtschaft im Ernst so nicht meinen kann.

Je bedeutungsloser der Unterricht als Kern der Profession des Lehrers wird, um so geringer wird auch das geschätzt, was er den Schülern vor allem voraus haben sollte: seine fachliche Kompetenz, die er durch seine Studien erworben hat. Propagiert werden statt dessen "fächerübergreifende" Unterrichtsstrategien, deren begrenzter Sinn niemand bestreiten wird, der aber nur auf der Grundlage einer fachlichen Basis solide und ohne weltanschauliche Füllsel betrieben werden kann. Lehrer aller Fächer sollen sich sogenannten

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"Schlüsselproblemen" (Friedensfrage, Umweltfrage usw.) zuwenden, was jedoch ihre speziellen fachlichen Kompetenzen egalisiert und somit entwertet.

Die Demontage der unterrichtlichen Kompetenz des Lehrers wird ergänzt durch die Demontage der Institution Schule, als deren Repräsentant er tätig ist. Für die Aufgabe, möglichst jedem Kind eine optimale Bildung zu ermöglichen, stellen aber die Steuerzahler, verfaßt in den zuständigen staatlichen Organen, zu Recht erhebliche Mittel zur Verfügung. Deshalb müßten sie eigentlich davon ausgehen dürfen, daß dieses Geld auch zweckentsprechend, nämlich zur Bildung der Schüler, verwendet wird. Aus der Sicht der tonangebenden Reformpädagogik ist die Schule jedoch eher eine Zumutung an die Kinder, deren Psyche möglichst nicht durch Leistungs- und Verhaltensanforderungen beschädigt werden dürfe. Ein Lehrer aber, der keine Anforderungen mehr stellen darf, sondern nur das jeweils aktuelle Wohlbefinden des Schülers im Auge haben soll, wird zu dessen Dienstbote.

Nicht nur im Hinblick auf den Unterricht sind Leistungserwartungen verpönt, sondern auch im Hinblick auf das Sozialverhalten. Schließlich - so der Zeitgeist - haben Schüler, die sich daneben benehmen, irgendeinen Grund dafür, und den gelte es zunächst immer herauszufinden. Inzwischen haben Lehrer kaum noch Möglichkeiten, Schüler nachhaltig zur Ordnung zu rufen, und diejenigen Maßnahmen, die ihnen noch verblieben sind, sind weitgehend tabuisiert.

Dabei gehört es doch zu den Aufgaben der Schule, neben dem Unterricht und durch ihn auch die in der Öffentlichkeit üblichen Verhaltensweisen einzuüben und einzufordern - zumindest insoweit dies für einen geordneten Unterricht nötig ist: Toleranz, Empathie, Selbstdisziplin, Argumentationsbereitschaft, Gewaltfreiheit in Auseinandersetzungen, friedliche Konfliktregelungen. Dafür muß die Schule aber in Gestalt der Lehrer ihre Macht zur Geltung bringen, die sie als Institution zur Verfügung hat. Der Begriff "Macht" in diesem Zusammenhang ist dem pädagogischen Zeitgeist höchst verdächtig, als verkörpere er per se etwas Böses. Es gibt aber keine machtfreien sozialen Gebilde, die Frage ist immer nur, wessen Macht sich mit welcher Legitimation Geltung verschafft - ob z.B. die des Lehrers als Repräsentant seiner Institution oder die von störenden Schülern. Die Macht der Institution ist eine politische Größe, keine pädagogische, sie taugt also nicht zur Lernhilfe im Unterricht; aber sie ermöglicht überhaupt erst einen vernünftigen Unterricht, indem sie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen durchsetzt. Die dafür zur Verfügung stehende Macht erwächst also auch nicht aus der unmittelbaren menschlichen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, ist keine Sache der mehr oder weniger gelungenen "Beziehungskiste" zwischen ihnen, wie vielfach angenommen wird, sondern ist dieser Beziehung vorgegeben.

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Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens

Als Institution ist die Schule im Unterschied zur Familie Teil des öffentlichen Lebens, und das Kind tritt mit dem Schulbeginn in dieses öffentliche Leben ein. Daraus folgt unter anderem, daß der Schulunterricht nicht einfach die Fortsetzung des elterlichen Erziehungswillens mit anderen Mitteln sein kann. Weder Eltern noch "die Wirtschaft" sind Auftraggeber der Schule, sondern alle Steuerzahler. Im privaten Rahmen der Familie dürfen z.B. Vorurteile aller möglichen Art vertreten werden, jedenfalls kann das niemand verhindern; die Schule dagegen ist universellen Maßstäben wie Toleranz und Wahrheit verpflichtet - Normen also, die für das Zusammenleben in der außerfamiliären gesamten Gesellschaft gebraucht werden. Als Institution muß die Schule also in ihren Mauern die Regeln des öffentlichen Umgangs geltend machen und dazu gehört auch die zivile Art und Weise, in der dort miteinander gesprochen wird. In diesem Sinne können und müssen die Lehrer immer noch "erziehen", indem sie nämlich die für die Abhaltung des Unterrichts wie für den öffentlichen Umgang der Menschen gültigen Regeln zur Geltung bringen und nicht illusionär darauf warten, daß diese Regeln irgendwann aus der kindlichen Innerlichkeit von selbst entstehen; diese Hoffnung beruht auf einem politischen Mißverständnis der Sache, denn soziale Verhaltensweisen lernen wir Menschen in erster Linie dadurch, daß wir in vorgegebene Ordnungen hineinwachsen, und nicht dadurch, daß wir sie immer wieder neu erfinden.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder der Einwand erhoben, der Wertpluralismus lasse nicht mehr zu, daß die Lehrer in der Schule allgemeingültigen Regeln Geltung verschafften - abgesehen von den immer noch tiefsitzenden Ressentiments gegen "Sekundärtugenden". Aber darum handelt es sich gar nicht. Es geht nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern um die Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von Erwachsenen, noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht überprüfbar anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten Frauen- bzw. Männertyp mögen, aber verhalten muß sich jeder ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze.

Allerdings tangiert der Wertpluralismus die Schule und damit auch die Rolle des Lehrers in anderer Weise, und das trägt nicht wenig zur Verwirrung bei. Die Regeln, die die Schule geltend machen muß, sind in unserer pluralistischen Gesellschaft nur noch von begrenztem Wert. Sie ist nur noch ein Sozialisationsfaktor unter mehreren anderen, und wie das, was dort als Verhalten eingefordert wird, in den übrigen Lebensbereichen der Schü-

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ler zur Geltung kommt, steht zunächst einmal dahin und hängt davon ab, was in diesen anderen Bereichen als erfolgreiches Sozialverhalten erwartet und honoriert wird. Im Rahmen ihrer pluralistischen Sozialisation müssen die Schüler lernen, sich an unterschiedlichen sozialen Orten unterschiedlich je nach den dort geltenden Regeln zu verhalten,- anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. An manchen dieser Orte - z.B. in der Gleichaltrigen-Gruppe - verwenden sie einen eigentümlichen "Jugendjargon" - was im übrigen nicht neu ist. Wenn die Schule nun in falsch verstandener Anbiederung diesen Jargon generell - in Ausnahmen kann dies durchaus anschaulich sein - als Unterrichtssprache zuläßt, oder Schimpfkanonaden und andere Verbalaggressionen in Gegenwart von Lehrern oder gar während des Unterrichts hinnimmt, verhält sie sich nicht etwa "kindgerecht", sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um eine wichtige Sozialerfahrung. Schule ist eben Schule, keine Diskothek und kein Fußballplatz, und was als Schimpfkanonade während eines Konfliktes in der großen Pause vielleicht noch toleriert werden kann, ist während des Unterrichts fehl am Platze.

Autorität wieder zur Geltung bringen

Der gesellschaftliche Pluralismus, der in den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen an unterschiedlichen sozialen Orten zum Ausdruck kommt, führt dazu, daß das, was die Kinder für ihr gegenwärtiges und künftiges Leben insgesamt brauchen, nicht mehr an einem Ort - auch nicht in der Schule - umfassend gelernt werden kann, so daß es von daher auf alle anderen sozialen Orte einfach übertragbar wäre. In der Schule kann man z.B. nicht lernen, wie man sich erfolgreich in einer Diskothek verhält. Die unterschiedlichen Einflüsse, denen die Kinder ausgesetzt sind, gehorchen verschiedenen Maximen, die miteinander in Konkurrenz treten und die jeweils eigentümliche Maßstäbe zur Geltung bringen. Die Maßstäbe der schulischen Aufklärung sind nicht die des Journalismus, des Freizeitmarktes oder der Fernsehunterhaltung und umgekehrt. Die besondere Schwierigkeit des heutigen Aufwachsens besteht im wesentlichen darin, daß die Kinder diese widersprüchlichen Erwartungen, die ja nicht zuletzt auch Wertwidersprüche zum Ausdruck bringen, produktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren und für ihre Lebensplanung zu nutzen lernen. Daraus folgt aber auch, daß die pädagogischen Felder in diesem Kontext ihre eigenen Wertmaßstäbe zur Geltung bringen müssen, ohne Rücksicht auf das, was anderswo gilt: die Familie ebenso wie in anderer Weise die Schule. Beide erziehen zunächst einmal für sich selbst, für ihren eigenen Sinn und Zweck: Welche Einstellungen und Verhaltensweisen sind erforderlich, damit das Zusammenleben in der Familie bzw. die schuli-

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sche Unterrichtung vernünftigerweise möglich sind? Das läßt sich im konkreten Alltag ohne abgehobene Wertphilosophie durch pragmatische Einsichten ermitteln, und um die entsprechenden schulischen Ansprüche durchsetzen zu können, muß der Lehrer mit entsprechender Autorität ausgestattet sein.

Wenn von der Autorität des Lehrers die Rede ist, assoziiert der Zeitgeist Bilder einer autoritären Schule. Darum geht es natürlich nicht. Wohl aber geht es darum, die von der Sache her gebotene notwendige Autorität wieder zur Geltung zu bringen, deren Berechtigung unmittelbar evident ist und ohne die das teure Unternehmen Schule zum Scheitern verurteilt wäre. Sie beruht im wesentlichen auf zwei Komponenten:

1. Der Lehrer ist Fachmann nicht für alle möglichen Lernaufgaben, sondern für die Erteilung eines sachlich fundierten und didaktisch-methodisch geschickten Unterrichts.

2. Er ist Repräsentant der Institution Schule und vertritt deren Verhaltensansprüche, die für einen gelingenden Unterricht unentbehrlich sind, gegenüber den Schüler und mittelbar auch gegenüber deren Eltern. Indem er dies tut, vermittelt er den Schülern zugleich den Kernbestand öffentlich akzeptabler Manieren.

Wenn dieses Mindestmaß an Lehrerautorität nicht gewährleistet ist, wird alles an der Schule ruiniert: die pädagogische Profession, die Institution und nicht zuletzt auch die Leistungsfähigkeit der Schüler.

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187. Kritik des Lernnihilismus

Zur Denkschrift "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft"

In: Neue Sammlung H. 1/1998, S.85-102
 

Die von einer Expertenkommission im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung vorgelegte Denkschrift Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft (1) ist nach dem "Rahmenplan" des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen und dem "Strukturplan" des Deutschen Bildungsrates der dritte Anlauf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eine Reform des Bildungswesens in einem umfassenden Argumentationszusammenhang zu begründen und praktisch auf den Weg zu bringen. Sie verdeutlicht die künftigen Aufgaben der Schule im Bild vom "Haus der Lernens", in dem zwar auch noch Unterricht stattfinden soll, aber nur noch als Teil vielfältiger und im einzelnen offener allgemeiner Lernprozesse. Der Begriff des Lernens hat hier den des Unterrichts weitgehend abgelöst. Die Denkschrift ist von erheblicher politischer Bedeutung; denn sie fungiert als - wenn auch nur inoffizielle - Grundlage für schulpolitische und schulpädagogische Entscheidungen in Nordrhein-Westfalen und auch in anderen sozialdemokratisch regierten Bundesländern. Sie führt den Leser auf einen weiten Rundweg durch die zeitkritische, pädagogische und bildungspolitische Landschaft, geht aus von einer Diagnose der Zeit und benennt die grundlegenden Veränderungen, die nach ihrer Auffassung eine neue Konzeption der Schule unausweichlich machen: die Pluralisierung der Lebensformen, die neuen Medien und Technologien, die Internationalisierung der Lebensverhältnisse, der Wertewandel, die Ökologieproblematik und die globalen Migrationsprozesse. Daraus ergäben sich zwangsläufig neue Positions- und Aufgabenbestimmungen für das Schulwesen, aber auch für dessen organisatorische und personelle Aspekte bis hin zu seiner Autonomisierung und Regionalisierung; Schulreform müsse als ein sich selbst steuernder Prozeß verstanden werden, dessen inhaltliche Substanz nicht mehr wie früher von den politischen Instanzen vorgegeben wird, sondern aus eben diesem Prozeß durch auf Dauer gestellte Kommunikation zwischen den unmittelbar Beteiligten - Lehrern, Eltern, Schülern - und der Administration hervorzugehen habe. Eine Auseinandersetzung mit der Denkschrift kann an dieser Stelle jedoch nur unter bestimmten Aspekten erfolgen (2), die folgenden Überlegungen beschränken sich auf ihre Aussagen über Lernen, Lehren und Unterricht; sie lassen sich wie folgt zusammenfassen:

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1. Schule als Lern- und Lebensraum

Die Denkschrift ist geprägt von einer allgemeinen und prinzipiellen Kritik der gegenwärtigen Schule, die sich an vielen Einzelheiten festmacht. So sei der in ihr vorherrschende Lernbegriff auf bloße Reproduktion angelegt, unterscheide nicht zwischen dem Lernergebnis und dem Lernprozeß, so daß die individuelle Lernanstrengung oft nicht gewürdigt werde; er favorisiere das individuelle Lernen und mißachte gruppenbezogenes, lege zuviel Wert auf abfragbares Wissen und zu wenig auf Methoden des Recherchierens.

Solche Einwände sind durchaus ernstzunehmen, und wenn sie der Verbesserung des Unterrichts dienen, sind sie auch nützlich. Aber sie gelten hier wie an anderen Stellen einer pauschalen Schulkritik, die so nicht mehr zu halten ist; nie zuvor ist die Schule derart auf Bedürfnisse und Interessen der Schüler eingegangen wie heute. Aber das negative Gegenbild wird gebraucht, um die eigene Vision als Lösung zu präsentieren, die im wesentlichen darin besteht, die Aufgabe der Schule über den Unterricht hinaus mit erzieherischen Begründungen auszudehnen.

Die überlieferte Schule war trotz aller erzieherischer Absichten, die mit ihr verbunden wurden, in erster Linie Stätte des Unterrichts. Dem stellt die Denkschrift eine neue Sicht gegenüber, die sie im Bild vom "Lern- und Lebensraum" zusammenfaßt. Mit dieser Perspektive erfährt die nun "Haus des Lernens" genannte Schule eine Erweiterung ihrer Erziehungsfunktion, die weit über das hinausgeht, was bisher darunter verstanden wurde. Demnach hat die künftige Schule folgende "Teilaufgaben":

- "Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung sollen zusammengesehen und wieder stärker zueinander in Beziehung gesetzt werden,

- fachliches und überfachliches Lernen müssen ins Gleichgewicht gebracht werden,

- soziales Lernen von Kindern und Jugendlichen untereinander und mit Erwachsenen muß möglich werden,

- anwendungsorientiertes Lernen mit Bezug zu biographischen, historischen und umfeldbezogenen Erfahrungen wird unverzichtbar,

- das Finden der eigenen Identität

und die Achtung der Integrität anderer, der Respekt vor dem Andersartigen müssen in der Schule gelebt werden können" (S. XIV).

Nun liegen diese Aufgabenbeschreibungen erkennbar auf verschiedenen Ebenen. Das Gleichgewicht von fachlichem und überfachlichem Lernen ist ein Mittel, um die erzieherischen Ziele wie "Persönlichkeitsbildung" und "Identität"

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zu erreichen, und macht nur Sinn im Hinblick auf diese; sonst könnte es ja dabei bleiben, daß ein Mathematiklehrer Mathematik lehrt und ein Musiklehrer Musik. "Anwendungsorientiert" ist zudem jedes Lernen, anders wäre es gar nicht überprüfbar durch die Lernenden. Auch das Abfragen durch den Lehrer ist eine Form der Anwendung, ebenso sind es alle Hausaufgaben, die aus mehr als bloßem Memorieren bestehen. Aber gemeint sind offensichtlich bestimmte Anwendungen, nämlich solche, die möglichst das Alltagsleben der Schüler betreffen oder von ihm ausgehen. Auch das ist primär eine erzieherische Intention, die allerdings mit dem überlieferten Begriff der Bildung kollidiert; denn bisher bedeutete "Allgemeinbildung" auch so etwas wie eine Emanzipation von den drängenden Alltagsproblemen der Schüler, damit sie sich in der Schule gerade mit solchen Stoffen beschäftigen können, die sich nicht aus der Beschränktheit ihres Alltags begrenzen. Schließlich mußte die Schulpflicht einmal gegen die alltägliche Inanspruchnahme der Kinder, vor allem zur Kinderarbeit, durchgesetzt werden. Die allgemeinbildende Schule sollte sie gerade von Zumutungen entlasten, wie sie von Erwachsenen unausweichlich verlangt werden müssen. Abgesehen davon haben die Schulkinder immer schon das, was sie in der Schule lernten, mit ihrem sonstigen Leben in Beziehung gesetzt, aber das war ihre eigene Leistung, über die sie selbst verfügen konnten; nun soll das offensichtlich für alle in der Schule planmäßig mit erzieherischen Absichten veranstaltet werden. Wir haben es hier also mit einer deutlichen Zweck-Mittel-Relation zu tun: Die oben erwähnten Teilziele der Schule sind dem Zweck unterworfen, die in ihnen enthaltenen erzieherischen Ziele erfolgreich anzusteuern, sonst ergeben sie keinen Sinn. Was hier scheinbar gleichrangig nebeneinander aufgeführt wird, ist tatsächlich als logische Deduktion anzusehen - wenn man nicht davon ausgehen will, daß hier nur vordergründig plausible Wunschziele aneinandergereiht wurden.

Sieht man sich nun diese Erziehungsziele im einzelnen an – "Persönlichkeitsbildung", "soziales Lernen", "Finden der eigenen Identität", "Achtung der Integrität anderer", "Respekt vor dem Andersartigen" - dann fragt man sich, warum man ihretwegen die Schule ändern müsse. Habe ich das auf meinem altmodischen Gymnasium nicht auch gelernt, als ich mich mit den Stoffen meiner damaligen Fächer auseinandersetzen und dabei die Fähigkeit erwerben mußte, den Lehrern ebenso wie den Mitschülern aufmerksam zuzuhören, ihre Ansichten zu respektieren, sie etwa wegen ihres anderen Glaubens nicht zu verachten? Abgesehen davon stellt sich bei derart komplexen pädagogischen Intentionen immer die Frage, inwieweit sie mit den Mitteln der Schule überhaupt zu erreichen sind. Bleiben das nicht letzten Endes Leerformeln, die allenfalls eine strategische Richtung des schulpädagogischen Handelns angeben, dessen Gelingen jedoch letztlich bei den Schülern selbst liegt? Kann man - die Vernünftigkeit solcher Ziele vorausgesetzt - den Unterricht in einer Weise organisieren, daß solche erzieherischen Wirkungen wahrscheinlicher werden? Gewiß lassen sich einige Bedingungen dafür nennen. So spielen etwa Ton und Stil des Umgangs zwischen Lehrern und Schülern dabei eine bedeutsame Rolle; es ist schon ein Unterschied, ob diese Beziehungen autoritär geprägt sind oder ob sie die Schüler als Subjekte ihres Handelns und Lernens ernst nehmen. Aber ist das

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heute noch ein Reformthema? Die Expansion des Erziehungsgedankens, wie sie in dieser Denkschrift stellvertretend für eine weit verbreitete schulpädagogische Gestimmtheit zum Ausdruck kommt, kann zwar auf medienwirksame Resonanz rechnen, darf gleichwohl nicht ohne weiteres hingenommen werden.

Zunächst ist daran zu erinnern, daß der Begriff Erziehung immer einen Bezug zu einem Kollektiv voraussetzt, zur Individualität kann man nicht erziehen; das Individuum findet seine Form vielmehr in tätiger Auseinandersetzung mit äußeren Ansprüchen, auch mit erzieherischen. Erzieherische Vorgaben, Ziele und Arrangements können Individualisierung als persönliche Leistung des Kindes fördern oder hemmen, aber nicht zum Programm erheben. Erziehung hat herkömmlicherweise gerade nicht die Individualität des Zöglings im Blick, sondern etwas, was er mit anderen gemeinsam haben soll: Überzeugungen, Verhaltensweisen, Einstellungen. Erziehung zur Individualität wird zwar immer wieder von Reformpädagogen (und anderen) ins Feld geführt, aber gemeint ist, wenn man genauer hinsieht, eher, daß das Individuum sich anderen Gemeinsamkeiten anschließen soll, als sie vordem gültig waren. Man kann dies gerade an der ersten reformpädagogischen Bewegung um die Jahrhundertwende studieren; deren Repräsentanten verbanden mit dem Hinweis auf die individuellen persönlichen Rechte ihrer Schüler bzw. Zöglinge immer auch den Appell, sich den Vorstellungen und Verhaltensweisen anzuschließen, die sie selbst als Pädagogen anboten. Niemand hat das schon damals deutlicher gesehen als der radikale Erziehungskritiker Alexander S. Neill (3), und wir sollten aufmerksam verfolgen, welche kollektiven Ansprüche sich unter den Ideen der Denkschrift verbergen, die angeblich der Subjektivität des Schülers und des Kindes überhaupt zu ihrem Recht verhelfen wollen.

Die öffentlichkeitswirksame Propaganda für mehr oder andere oder bessere Erziehung in der Schule wird zu einem historischen Zeitpunkt laut, wo die objektiven historischen und kulturellen Voraussetzungen dafür weitgehend entschwunden sind. Woher sollen die dafür benötigten kollektiven Selbstverständlichkeiten eigentlich kommen? Im Hinblick auf die Schule kämen dafür die Lehrer, die Eltern und der Staat in Frage.

Die Lehrer als Kollegium könnten ein solches Kollektiv darstellen. Der gesellschaftliche und normative Pluralismus hat aber längst auch die Kollegien ergriffen, deren Mitglieder in vielen pädagogischen Fragen nicht mehr einer Meinung sind und auch nicht mehr sein können. Selbst in den Punkten, die eigentlich ein gemeinsames Berufsinteresse zum Ausdruck bringen - Umgang mit Forderungen der Eltern; disziplinarische Regelungen für die Schüler - ist in vielen Kollegien keine Einigkeit mehr zu erzielen; dabei zeigen alle Beobachtungen und Erfahrungen, daß die vielbeschworenen Disziplinprobleme sich auf ein Minimum reduzieren, wenn ein Kollegium nach einheitlichen Grundsätzen darauf reagiert. Aber auch das kann nur ein wenn auch wichtiger Minimalkonsens sein. Im übrigen vertreten die Lehrer Jeweils einzeln ihre persönlichen Auffassungen

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in pädagogisch relevanten Fragen. Das muß übrigens für die Schüler keineswegs verwirrend sein, weil sie auf diese Weise ja auch erfahren können, wie ein und derselbe Beruf individuell variiert werden kann. Hinzu kommt, daß im Unterschied zu früheren Zeiten die Schule sich von ihren jeweiligen Milieus emanzipieren mußte. Ich denke dabei insbesondere an das katholische, evangelische, bildungsbürgerliche und sozialistische Milieu. "Erziehung" durch die Schule war früher im wesentlichen Erziehung zu dem Milieu, in dessen Rahmen sie sich verstand. Im Pluralismus ist jedoch dieser kollektive Bezug weitgehend verschwunden, die Schularbeit befindet sich nicht mehr in Übereinstimmung zur übrigen Sozialisation, sie wird vielmehr zu einem spezifischen Instrument im Konzert der gesamten Sozialisation (4).

Die Elternschaft repräsentiert ebenfalls kein kollektives Milieu mehr, auf das sich ein schulischer Erziehungswille generell stützen könnte. Vielleicht ist ein Rest davon noch im kulturellen Umkreis privater konfessioneller Schulen zu finden. Aber sonst stehen die Eltern der Schule im allgemeinen einzeln gegenüber. Wenn sie etwas Kollektives repräsentieren, dann handelt es sich meist um von den Massenmedien transportierte pädagogische Moden, denen aber keine soziale Wirklichkeit und vor allem keine soziokulturelle Verbindlichkeit mehr im Sinne der alten Milieus entspricht. Das gilt auch für die sogenannten "neuen Milieus", die die Soziologen ausgemacht haben. Im Vergleich zu den alten handelt es sich hier eher um "Szenen" - alternative, autonome - von denen jedoch bisher keine kulturell prägend werden konnte.

Der Staat schließlich kann in seinen Schulen nicht erziehen, weil er diesseits der Legalität alle wesentlichen normativen Entscheidungen freigegeben hat und deswegen den Schülern nicht mehr vorschreiben kann, wie sie sich in Alltagsfragen zu verhalten haben. In der Öffentlichkeit ist inzwischen alles erlaubt, was nicht per Gesetz verboten ist. Zu meiner Schulzeit konnte die Schule noch Rechenschaft über mein außerschulisches Freizeitverhalten verlangen, das war in der Schulordnung so vorgesehen und wurde im Konfliktfall auch geltend gemacht, und dies weit vor einem Gesetzesbruch; von einem Schüler wurde damals ein bestimmtes Verhalten in der Öffentlichkeit "selbstverständlich" erwartet, da mußte er nicht erst ein Gesetz übertreten. Das Entschwinden der tonangebenden Milieus hat den Staat erzieherisch in die Bredouille gebracht; denn auch früher wurde die Erziehung der Kinder in ihrem Alltag nicht von ihm, sondern eben von diesen Milieus und in ihrem Rahmen vollzogen, wobei das der Arbeiterklasse bekanntlich zeitweise als staats- und somit auch erziehungsfeindlich angesehen wurde.

Dem Ruf nach "mehr Erziehung" in der Schule sind also die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür weitgehend abhanden gekommen, so daß es keinen Sinn mehr ergibt, wie die Denkschrift einfach eine Liste des erzieherisch Wünschbaren aufzustellen und der Schule zu sagen, sie solle das alles nun auch verwirklichen. Und wie immer, wenn einer Idee die Wirklichkeit davongelau-

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fen ist, für die sie einmal tragfähig war, droht daraus die Gefahr der Ideologisierung; sie zeigt sich u. a. darin, daß die eigentliche unterrichtliche Aufgabe der Schule zugunsten anderer, für erzieherisch wichtig gehaltener, immer mehr zurückgedrängt wird. Solche erzieherischen Vorgaben werden dann auf den Unterricht übertragen, so daß nur noch das gelehrt wird, was diesem Ziel dient; die objektive Wirklichkeit, die der Unterricht ja eigentlich aufklären soll, wird sortiert und instrumentalisiert. Derartige erzieherische Ansprüche erweisen sich darüber hinaus als bodenlos, weil der Unterricht von immer neuen so verstandenen Absichten geradezu überschwemmt wird; über die Schiene "Erziehung" werden Ansinnen an die Schule herangetragen, die im Prinzip grenzenlos und auch allen möglichen Moden des Zeitgeistes ausgeliefert sind: Was immer an Kindern und Jugendlichen zu bemängeln ist, wird der Schule überantwortet.

Weil aber diese Tendenz nicht mehr durch ein entsprechendes kollektives Ambiente gedeckt ist, wird sie zu einer schulpädagogischen Subideologie, die mit den realen gesellschaftlichen Bezügen wenig mehr zu tun hat. Vertrat die Schule früher im wesentlichen die Ideologie des ihr zugehörigen Milieus, so produziert sie nun eine eigene, und die ist gekennzeichnet durch einen anti-intellektuellen, anti-kognitiven und insofern auch anti-aufklärerischen Affekt, ferner durch Emotionalisierung und durch Überbetonen menschlicher Nähebeziehungen - alles Momente, die den Unterricht immer mehr entwerten. Eine Variante davon ist die vorgängige Moralisierung von Sachverhalten, die schon bis in manche Richtlinien vorgedrungen ist. Die Moralisierung der Welt tritt an die Stelle ihrer Aufklärung.

Was die Denkschrift mit großem erzieherischen Gestus als "Teilaufgaben" der Schule definiert, sind nicht nur pädagogische Wunschbilder, denen vordergründig jedermann zustimmen kann; abgesehen jedoch von der Möglichkeit ihrer schulischen Verwirklichung dienen sie auch als Legitimation, die traditionelle Funktion der Schule, die Welt durch Aufklärung verständlich und zugänglich zu machen, aus den Angeln zu heben.

Genau genommen kann die Schule nur noch auf dreierlei Weise erziehen: Durch die erzieherischen Implikationen der Unterrichtsstoffe selbst, durch die Vorbildwirkungen ihrer Lehrer und indem sie als Institution die Verhaltensweisen durchsetzt, die für ihren Zweck, Unterricht zu erteilen, nötig sind. Die ersten beiden Aspekte sind dabei ergebnisoffen, weil den Schülern freisteht, ob und wie sie die davon ausgehenden Wirkungen akzeptieren und verwenden; der dritte Aspekt - die institutionelle Dimension - kann - und muß - zwar auf der Verhaltensebene eingefordert werden, aber der Grad der Verinnerlichung und damit die Folgen für das außerschulische Verhalten müssen ebenfalls offen bleiben. Die Denkschrift operiert jedoch mit vorgängigen Erziehungszielen und versucht auf diese Weise, den Prozeß der gesellschaftlichen und normativen Pluralisierung zu konterkarieren.

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2. Expansion der schulischen Aufgaben

Die primär erzieherische Begründung und Rechtfertigung der Zukunftsschule führt geradezu zwangsläufig zur Expansion ihrer Aufgaben nicht nur nach innen, sondern auch nach außen, obwohl die Denkschrift Besinnung darüber fordert, "was Schule leisten kann und womit sie sich nicht überlasten darf" (S. XII). "Die veränderten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen machen ... eine Erweiterung der Aufgaben der Schule in Bereiche hinein notwendig, die bisher als 'außerschulisch' galten ... Kennzeichen des Ausbaus sollte ein Angebot von Betreuungs- und Aktivitätsmöglichkeiten mit einer Angebotsvielfalt sein, die von der 'klassischen' Ganztagsschule bis zu außerunterrichtlichen Ergänzungsangeboten der Halbtagsschule reicht" (S. XIV). Das "Haus des Lernens" hat offensichtlich die immanente Tendenz, möglichst viele Lebenssituationen an sich zu reißen, um sie in Lernsituationen verwandeln zu können.

Nun ist gewiß nichts dagegen einzuwenden, daß eine Schule über den Unterricht hinaus auch zu einem Mittelpunkt des kulturellen Lebens in einer Gemeinde wird, von der Impulse etwa auch für die außerschulische Jugendarbeit ausgehen. In den neuen Bundesländern füllten viele Schulen nach der Wende auf diese Weise die Lücken aus, die der Zusammenbruch der FDJ-Angebote hinterlassen hatte. Gegen eine zu bestimmten Zeiten für die Eltern kalkulierbare Betreuung aufsichtsbedürftiger Kinder in den Räumen der Schule ist natürlich ebenfalls nichts einzuwenden, solange das Betreuungsangebot freiwillig in Anspruch genommen werden kann, von den eigentlichen schulischen Aufgaben auch im Bewußtsein der Schüler deutlich getrennt wird und aus der Betreuung nicht eine heimliche Erweiterung der Schulpflicht mit schulfremden Aufgaben gemacht wird. Je mehr die Schule den Eltern abnimmt, um so mehr unterhöhlt sie auf Dauer auch deren pädagogische Verantwortung. Daß Schule und Jugendhilfe rechtlich unterschiedlich geregelt sind, ist bedeutsam für unsere demokratische Verfassung, nämlich ein wesentliches Moment der Gewaltenteilung. Daß der Bereich der Jugendhilfe in Deutschland nicht verstaatlicht wurde, hat gute und wichtige Gründe. Wenn man das übersieht, droht die Schule zu einem pädagogischen Monopolisten zu werden, zu einem pädagogischen Leviathan (5).

3. Überwindung des fachlichen Lernens

Als eine bedeutsame Konsequenz der Expansion der schulischen Aufgaben nach innen wie außen präsentiert die Denkschrift die Überwindung des fachorientierten Lernens. Sie betont zwar mehrmals, daß "fachliches Lernen und fachliche Kompetenz ... auch in der Schule der Zukunft ihren herausragenden Platz haben" (S. XV). Aber diese Beteuerungen wirken eher beruhigend, als resi-

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gniere die Kommission angesichts der nicht abzuschaffenden Fachorientierung des traditionellen Unterrichts; jedenfalls gönnt sie seiner Verbesserung kaum ein Wort, ihre Liebe gilt offensichtlich dem, was jenseits der Fachlichkeit angesiedelt ist. "Fachliches Lernen" werde sich nämlich "anders vollziehen, als es heute in der Regel noch der Fall ist: es wird stärker auf überfachliche Zusammenhänge bezogen werden ... Alltagsfragen, Alltagserfahrungen und Lebensprobleme ... sollen die Lernsituationen in stärkerem Maße mitbestimmen ..."(S. 82 f.).

Das fachlich parzellierte Lernen widerspreche "dem Bedürfnis nach ganzheitlicher Wahrnehmung und Erkenntnis" (S. 102). Seine "Nachteile sind: isolierte Wissensbestände, die weder horizontal noch innerhalb eines Bildungsganges zusammengeführt werden, ein Übergewicht abstrakt-kognitiver gegenüber handlungsbezogen-praxisgerechten Zielen, die Ausblendung zentraler Gegenstandsbereiche unter Hinweis auf die Überlastung mit fachlicher Obligatorik" (S. 103). "Erkenntnisse über die Struktur von Lernprozessen" zeigten hingegen, "daß menschliche Erkenntnis konstruierend und handelnd-deutend sowie gekoppelt an Emotionen und Kommunikationsprozesse erfolgt, nicht durch die Übermittlung von systematisierten Inhaltselementen und Ergebnissen fachwissenschaftlicher Strukturierung" (S. 103). Entgegen dieser Einsicht werde immer noch von den Schülern verlangt, daß sie lernen, sich im Rahmen des Fachunterrichts Gegenstände anzueignen, die weitgehend unabhängig sind von ihrem Lebenszusammenhang, von ihrem Nutzen zur Klärung bedeutsamer Fragestellungen, unabhängig auch vom Nutzen für das eigene Handeln, Urteilen und Entscheiden" (S. 103 f.).

Wäre die hier geäußerte Kritik des herkömmlichen Schullernens auch nur annähernd zutreffend, dann müßte es lauter Weltfremdlinge produziert haben, unfähig zu jedem vernünftigen Handeln und Urteilen. Wieso waren dann aber vergangene Generationen vom Hochofenarbeiter bis zum Industriemanager imstande, ein zerstörtes Land wieder aufzubauen und zu einer führenden Industrienation zu machen? Das Gutachten arbeitet mit Klischees über Schule und Unterricht, als befänden wir uns noch am Beginn unseres Jahrhunderts.

Zudem wird hier ein bestimmter Lerntypus verallgemeinert. Es war auch früher so, daß nicht jedes Kind auf den sofortigen Nutzen seines Lernens verzichten konnte, sondern dazu nur motiviert werden konnte in konkreter Aussicht auf baldige Verwertbarkeit des Gelernten, z. B. im Rahmen eines angestrebten Berufes. Für diesen Typus waren insbesondere die Volks- bzw. Hauptschulen vorgesehen. Deren Schülern wurde nicht zugemutet, was immer schon der Kern zumindest der gymnasialen Bildung war, nämlich gerade in Distanz zu aktuellen Verwertbarkeiten und spekulativen Nutzenrechnungen sich mit dem geistigen Gehalt der Schulfächer zu befassen und die unmittelbaren Bedürfnisse zurückzustellen oder ihnen im Leben nach dem Unterricht zu frönen. Jedenfalls sind gerade die intelligenteren Schüler nach wie vor nicht darauf angewiesen, den Nutzen von Kenntnissen und Einsichten in jeder Unterrichtsstunde mitgeliefert zu bekommen. Dies nicht zu benötigen ist charakteristisch für die Abstraktionsfähigkeit eines Menschen, auf die jede höhere geistige Leistung angewiesen ist. Deshalb muß man sich hüten, die Schüler, die damit ihre Schwierigkeiten

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haben, zum Maßstab für alle anderen zu machen. Wer von seinen unmittelbaren Bedürfnissen und Horizonten nicht abstrahieren kann, ist gewiß ebenso förderungswürdig wie die anderen, aber er ist diesen gegenüber auch auf Dauer benachteiligt, und es ergibt weder gesellschaftlichen noch pädagogischen Sinn, diesen Mangel zur allgemeinen Norm zu erheben. Zudem verlangt nicht nur die in Fächern aufgeteilte Schule, sondern auch das übrige gesellschaftliche Leben, Disparates zu integrieren - aber als je subjektive Leistung der Einzelnen, nicht als veranstaltbare Lösung für alle; jedes abendliche Fernsehprogramm belegt diese Einsicht. Ob zudem die hier ins Feld geführte Lerntheorie zwingend ist, steht noch auf einem anderen Blatt. Übereinstimmendes Ergebnis aller bisherigen Forschung ist jedenfalls, daß gerade lernschwache Schüler neben besonderer persönlicher Zuwendung vor allem einen klar strukturierten Lehrerunterricht benötigen.

Der hier propagierte fachübergreifende Unterricht meint nicht nur - was heute durchaus verbreitet ist - die Stoffe der Fächer möglichst mit Alltagsproblemen wechselseitig zu verbinden, vielmehr ist damit faktisch eine Absage an die Wissenschaftsorientierung des Unterrichts verbunden. Der Sinn des schulischen Lernens liegt nicht mehr darin, sachliche Zusammenhänge zu erkennen, sondern "den Handlungsspielraum von Schülerinnen und Schülern zu erweitern" (S. 93); Wissen wird nur noch im Rahmen vorgegebener Zwecke akzeptiert. Wenn aber Wissenschaftsorientierung als regulative Idee aufgegeben wird, dringen in diese Lücke andere Maßstäbe ein, etwa solche der wirtschaftlichen Brauchbarkeit oder der politischen Inanspruchnahme. Die vielgepriesene Lebensweltorientierung konterkariert die gesellschaftlichen Emanzipationsprozesse und knüpft im Grunde wieder an die "volkstümliche Bildung" an; deren soziale Voraussetzung war jedoch, daß die Schüler bleiben würden, was ihre Eltern waren: Arbeiter und Bauern.

4. "Lernen" als Selbstzweck

Im Mittelpunkt des Gutachtens steht ein ebenso inhaltsleerer wie grenzenlos gebrauchter Lernbegriff. Er löst den Bildungsbegriff faktisch ab, obwohl von Bildung noch die Rede ist; diese gilt aber als nicht weiter inhaltlich zu bestimmendes subjektives Resultat von Lernprozessen. Konsequent wird ein Wechsel von den objektiven, jedenfalls außersubjektiven Ansprüchen der Sachverhalte hin zum lernenden Subjekt vollzogen, den die Denkschrift geradezu euphorisch unter immer wieder neuen Gesichtspunkten beschreibt. "Schule als Lebens- und Erfahrungsraum braucht einen Konzentrationspunkt für Arbeit und Zusammenleben: Dieser ist das Lernen" (S. 81). Die Rede ist von einer neuen "Lernkultur", in der die Schüler "Lernkompetenz" erwerben, aber auch die Lehrer sind Lernende. Beim Lernen geht es um den "Zuerwerb von Wissen und Können in der Gemeinschaft von 'Experten' und 'Novizen', das heißt von Erfahrenen und Neueintretenden, die gemeinsam in den Räumen des Fragens, Wissens und Könnens tätig sind" (S. 82), selbstverständlich in Abgrenzung vom "tradi-

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tionellen Lernbegriff". Dieser "geht von einem festen, geschlossenen Wissenskanon und einem auf seine Vermittlung hin organisierten Unterrichtsplan aus. Er ist auf Lernergebnisse im Sinne von Reproduktion überprüfbaren Wissens orientiert und vernachlässigt den Lernprozeß selbst, die Entwicklung von Interessen, den Hinzugewinn von anwendungsbezogenem Wissen, die Zunahme von Handlungskompetenz und die Möglichkeit sozialer Erfahrungen" (S. 82 f.).

Hier wird ein negatives Kontrastbild von Schule gemalt, das die gegenwärtigen Schulprobleme eher verzerrt. Diese bestehen längst nicht mehr darin, daß sinnlos ein Kanon von Wissen gepaukt würde, der keinen Bezug zu den Erfahrungen der Schüler hätte. Die Denkschrift unterstellt, daß die Fragen, die sich die Schüler angesichts eines Unterrichtsstoffes aus ihren außerschulischen Erfahrungen heraus stellen, von den Lehrern gleich mit eingeplant werden müßten. Dabei könnte es doch auch sein, daß sich wirklich ernsthafte Fragen aus ihrem außerschulischen Leben um so eher ergeben, je größer die Spannung des Unterrichtsstoffes zum Alltag ist und je weiter er davon entfernt ist. Schließlich ist die lebensweltliche Erfahrung der Schüler im wesentlichen Konsumerfahrung, Erfahrungen aus der Erwerbsarbeit bleiben ihnen jedenfalls rigoros verschlossen.

An die Stelle der Fachorientierung sollen sieben "Lerndimensionen" treten:

"1. Identität und soziale Beziehungen, eigene Körperlichkeit und Psyche"

"2. Kulturelle Tradition: Weltbilder, Wissenschaften, weltanschauliche Gemeinschaften, Kulturen"(S. 108)

"3. Natur, Kunst und Medien: Gestaltender Umgang mit Materialien, Konstruktion und Rekonstruktion, Informieren, Manipulieren, Inszenieren und Schaffen, Erleben von Natur und Kunst" (S. 109)

"4. Sprache, Kommunikation: Sprache als Medium des Ausdrucks und der Verständigung, Wege und Medien der Kommunikation, Internationalisierung der Lebensverhältnisse" (S. 110)

"5. Arbeit, Wirtschaft, Beruflichkeit: Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt, ökonomische Sachzwänge und Gestaltbarkeit wirtschaftlicher Verhältnisse, Beruflichkeit als Lebens- und Bildungsform" (S. 110)

"6. Demokratie und Partizipation: verantwortete Entscheidungen, Beteiligung an der Gestaltung der Wirklichkeit" (S. 111)

"7. Ökologie: Umgang mit der Welt der heute lebenden und der folgenden Generationen" (S. 112)

Diese "Lerndimensionen" sind inhaltlich ebenso vage gehalten wie ihre begriffliche Bezeichnung, offensichtlich im Stile eines Katalogs additiv aneinander gereiht und verraten keine innere Systematik, wie sie die traditionellen Schulfächer immerhin noch aufwiesen. Sie bieten weder einen Kanon im traditionellen Sinne noch einen stofflichen Kernbestand. Die inhaltliche Konfusion wird noch dadurch vergrößert, daß damit die sogenannten "Schlüsselprobleme" (6) (S. 112 f.) lose verbunden werden, ohne daß daraus eine didaktische Grundkonstruktion erkennbar würde, die wenigstens Hinweise auf die aus diesen Vorgaben zu erwartende Lehrplangestaltung enthielten. "Schlüsselprobleme" sei-

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en "Fragen, die sich aus der Lebensaktualität von Schülerinnen und Schülern ergeben", aber: "Diese aktuellen Problemlagen und Konflikte, die in der Regel mit den großen Problemen gegenwärtiger und zukünftiger Gesellschaft zusammenhängen ... bilden kein in sich abgeschlossenes System und stellen keinen Stoffkatalog dar" (S. 112f.). Weshalb werden sie dann hier überhaupt erwähnt, wenn nicht wenigstens im Sinne eines die "Lerndimensionen" didaktisch reduzierenden Konstrukts? Außerdem mutet die unmittelbare Verknüpfung von Alltagsproblemen der Schüler mit den epochalen Schlüsselproblemen der Menschheit einigermaßen weltfremd an und erinnert an die volkstümliche Heimatkunde der früheren Volksschule. Im Umgang mit den "Schlüsselproblemen" und/oder den "Lerndimensionen" sollen die Schüler "Schlüsselqualifikationen" erwerben. "Zu ihnen gehören Erkenntnisinteresse und eigenständiges Lernen, die Reflexion und Optimierung der eigenen Lernprozesse und damit die Fähigkeit dazuzulernen, das Zutrauen in die eigene Selbstwirksamkeit als Grundeinstellung, Flexibilität, Fähigkeit zur Kommunikation und zur Teamarbeit, kreatives Denken" (S. 113). Diese Aufzählung enthält nun fast alles, was der Mensch sich so wünschen kann, ohne daß präzisiert wird, wie, durch welche Unterrichtsorganisation und durch welche didaktischen Arrangements dies alles gelernt werden könnte. Die Denkschrift vermeidet jede inhaltliche Festlegung auf das, was die Lehrer in den Schulen eigentlich tun sollen, und schiebt die inhaltlichen Entscheidungen - und damit auch die Verantwortung dafür! - dem Lernwillen der Schüler zu. Auf diese Weise verrät sie eine geradezu nihilistische Lerneuphorie: Die Schüler sollen ihr Lernen selbst gestalten, was dabei herauskommt, ist offenbar gleichgültig, Hauptsache, sie tun es unentwegt. Dabei wird unterstellt, daß Schüler gleichsam von sich aus, vielleicht genetisch oder instinktmäßig fundiert, zum Lernen motiviert sind, wenn man sie nicht daran hindert - etwa durch lebensfremde Stoffe, durch Zersplitterung der Stoffe in Fächer, durch Einzwängen in die 45-Minuten-Schulstunde, durch Leistungsdruck und anderes mehr. Diese Annahme widerspricht nun aller Lebenserfahrung. Zum einen ist Lernen immer mit einer gewissen Anstrengung verbunden, die sich in irgendeiner Form lohnen muß. Der Lohn kann darin bestehen, daß die Neugier befriedigt wird, einer Sache auf den Grund zu gehen, oder daß Freude dabei entsteht, seine Fähigkeiten zu erweitern, also etwas zu können, was man vorher nicht konnte. Diese "intrinsische" Motivation ist aber nur begrenzt zu beobachten und spielt für nicht wenige Schüler kaum eine Rolle. Sehr viel verbreiteter ist die "extrinsische" Motivation, die der sozialen Resonanz bedarf. Deshalb ist die Forderung der Denkschrift richtig, in der Schule selbst ein entsprechendes soziales Klima gegenseitiger Anerkennung von Lernerfolgen zu stiften. Aber auch dieses Verfahren hat seine Grenzen; es funktioniert nämlich nur insoweit, als die Schüler ihre sozialen Bezüge in der Schule für hinreichend bedeutsam und nicht

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bloß für ein notwendiges Übel halten. Davon kann man im allgemeinen vielleicht bei leistungsfähigen Schülern ausgehen, aber kaum bei denen, die sich schwertun mit den schulischen Ansprüchen und deshalb verständlicherweise lieber dem Ende des Schultags als seinem Anfang entgegensehen.

Natürlich würde ein derart idealisiertes Lernen verunreinigt, wenn es in erster Linie auf Abschlüsse, Prüfungen und Berechtigungen orientiert wäre; vielmehr soll "das Lernen als eine das Leben insgesamt tragende individuelle und sozial orientierte Befähigung eingeübt und verstanden werden" (S. 85).

Dem muß nun entgegengehalten werden, daß Lernen zwar zu den großartigen Möglichkeiten des Menschen gehört, daß es aber auch, wenn es übertrieben wird, zu seiner Verunsicherung beiträgt. Lernen bedeutet schließlich nicht nur Mühe und Anstrengung, sondern auch Änderung des bisherigen Soseins und Verhaltens. So richtig es ist, daß die Pädagogik den (jungen) Menschen unter dem Gesichtspunkt betrachtet, daß er - teils freiwillig, teils gezwungenermaßen - ein lernendes Wesen ist, so bleibt dieser Aspekt doch auch partikular; der Mensch ist auch mehr und anderes als ein lernendes Wesen. Würde er pausenlos lernen, würde er seine Identität und im Extremfall sogar seine Würde verlieren. Deshalb hat die Begrenzung der täglichen Lernzeit in der Schule auch ihren guten Sinn; danach beginnt zu Recht ein anderer Teil des Schülerlebens.

5. Änderung der Lehrerrolle

Das lerneuphorische Konzept ist natürlich nicht mit dem bisherigen beruflichen Selbstverständnis des Lehrers zu realisieren. "Selbstgesteuerte Formen des Lernens verändern die Rolle von Lehrerinnen und Lehrern im 'Haus des Lernens'. Sie können nicht mehr vorrangig Wissensvermittler sein.

Ihr professionelles Selbstverständnis muß sich in der neuen Rolle des 'Coaching', der Kompetenz von Lernberatern und 'Lernhelfern' (learn-facilitators) ausdrücken, die gegenüber den Lernenden als Lernerfahrenere, als Experten einen gewissen Vorsprung haben. So kann Schule für Lehrende und Lernende zum gemeinsamen sozialen Erfahrungsraum werden" (S. 85). Alle sind Lerner, keiner ist mehr richtig Lehrer. "'Lehren' heißt ... daß die kompetenteren Lerner anderen beim Aufbau und bei der Entfaltung ihrer Lernkompetenz beistehen" (S. 99). Der Lehrer kann offenbar nur das Lernen besser als seine Schüler, sonst nichts. "Der Unterschied zwischen kompetenteren und weniger kompetenten Lernenden betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern. Kinder und Jugendliche lernen auch voneinander. Das könnte durchaus in der organisierten Form eines tutoriellen Systems geschehen, in dem die Lernenden zugleich Lehrende sein können. Dies hätte große Lerneffekte, denn erwiesenermaßen lernen die Schülerinnen und Schüler, die anderen etwas vermitteln, selbst besonders gut. Das Bedürfnis, es denen gleichzutun, die schon etwas wissen oder können, kann zusätzliche Lernmotivation bei den anderen fördern" (S. 99 f.).

Der Hinweis darauf, daß auch Schüler einander beim Lernen helfen können und

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daß ihnen dies nur nützen kann, ist gewiß zutreffend. In der DDR-Schule war das sogar mit offenbar passablem Erfolg entsprechend organisiert. Aber dort war die Schule eingebettet in eine sie tragende sozialisatorische Umgebung, in der wegen der Abwesenheit pluralistischer Variationen Solidarität eine besondere Bedeutung hatte und deshalb auch konsensfähig veranstaltet werden konnte. Dies trifft so für unsere Gesellschaft nicht zu, und die Schule kann das innerhalb ihrer Mauern nur begrenzt ändern. Aber dafür müßte sie auch nicht umgekrempelt werden, das ließe sich auch im traditionellen Fachunterricht verwirklichen. Allerdings lernen die schwächeren Schüler allenfalls dann bereitwillig von den leistungsfähigeren, wenn sie nicht ständig, also in jedem Fach, die schwächeren sind. Im übrigen haben Schüler immer schon einander bei den Schularbeiten geholfen, und die Frage ist, welche Erfolgsaussichten bestehen, wenn die Schule dies nun innerhalb ihrer Mauern generell organisieren will.

6. Schule als "Haus des Lernens"

So fügen sich die einzelnen Bausteine zu einer Vision der neuen Schule zusammen. Sie "ist ein Ort, an dem alle willkommen sind, die Lehrenden wie die Lernenden in ihrer Individualität angenommen werden, die persönliche Eigenart in der Gestaltung von Schule ihren Platz findet,

- ist ein Ort, an dem Zeit gegeben wird zum Wachsen, gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt voreinander gepflegt werden,

- ist ein Ort, dessen Räume einladen zum Verweilen, dessen Angebote und Herausforderungen zum Lernen, zur selbständigen Auseinandersetzung locken,

- ist ein Ort, an dem Umwege und Fehler erlaubt sind und Bewertungen als Feedback hilfreiche Orientierung geben,

- ist ein Ort, wo intensiv gearbeitet wird und die Freude am eigenen Lernen wachsen kann,

- ist ein Ort, an dem Lernen ansteckend wirkt" (S. 86).

Unschwer ist erkennbar, daß sich in dieser Vision traditionelle schulische mit familialen Tendenzen mischen; die Schule wird familisiert: Die Lehrenden und Lernenden werden "in ihrer Individualität angenommen", die "persönliche Eigenart" soll in der Schule ihren Platz finden, es soll "Zeit zum Wachsen" gegeben werden (7).

"Das zentrale Ziel" dieser neuen Schule ist "Lernkompetenz aufzubauen" (S. 89). Das sei selbstverständlich nur durch "Erwerb inhaltlichen Wissens" möglich, "im Erarbeiten konkreter Lerninhalte und in der Bewältigung anspruchs-

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voller Aufgaben. Aufgaben sind um so anspruchsvoller, je weniger eine einzige vorher definierte Lösung feststeht und je weniger der Lösungsweg bekannt ist" (S. 90). Aber zu der Frage, welches Wissen denn welche Lernkompetenz hervorrufen könnte, schweigt sich die Denkschrift aus. Außerdem bleibt unbeantwortet, welche Lernaufgaben denn wie angegangen werden sollen, wenn niemand - offenbar auch der Lehrer nicht - wenigstens einen Lösungsweg kennt - es muß ja nicht der einzig mögliche sein. Vieles muß schließlich einfach gelernt werden, ohne daß es vordergründig um die Lösung eines Problems geht. Der Denkschrift geht es aber darum, "Selbststeuerung zu optimieren, das heißt, die Notwendigkeit einer Hilfe der Lehrenden für die Lernenden schrittweise zu vermindern" (S. 92). Auch das ist eine höchst einseitige Sicht, als sei der Vorsprung der Lehrenden das von den Schülern zu lösende Problem. Welches Lernniveau die Schüler immer erreicht haben mögen: der Abstand zum Lehrer wird nicht geringer, weil er nun nämlich weitere, höhere und kompliziertere Aufgaben zu stellen hat.

Statt des üblichen Wissens, unter dem sich jedermann etwas vorstellen kann, soll "intelligentes Wissen" "erzeugt" werden, nämlich "Kenntnis der Sachverhalte, Begriffe, Regeln und der Prinzipien eines Gegenstandsbereiches"; dies sei "verfügbares 'Vorwissen' für weitere Lernprozesse ... Nach jeder größeren Lerneinheit sollte eine Unterrichtsphase stehen, die sich mit der Bewußtmachung der erworbenen Methoden und Strategien beschäftigt" (S. 96).

Das würde jeder altmodische Gymnasiallehrer sofort unterschreiben und fragen, was daran denn Neues sei. Unklarheit verursacht jedoch der Begriff "Gegenstandsbereich". Wäre damit ein traditionelles Schulfach gemeint, das sich auf eine Bezugswissenschaft stützen kann, wäre die Sache einleuchtend. Aber die Fächer sollen ja in fächerübergreifende "Lerndimensionen" aufgehen; diese jedoch kennen weder klare Sachverhalte, noch Begriffe, Regeln und Prinzipien, weil sie entweder gar keine oder gleich mehrere Bezugswissenschaften haben, deren Beziehung zueinander das Gutachten nicht einmal anspricht, geschweige denn klärt. Will man auf diese Bezugswissenschaften ganz verzichten, fragt sich erst recht, woher die Begriffe, Regeln usw. eigentlich kommen sollen.

7. Änderung des Leistungsbegriffs

Der Friede im "Haus des Lernens", wo alle freudig Lernende sind und die Lehrer sich von den Schülern allenfalls noch durch das Lebensalter unterscheiden, wird natürlich durch die traditionellen Leistungsanforderungen nachhaltig gestört. Schulische "Leistung ... wird überwiegend individualistisch, wettbewerbs- bzw. konkurrenzorientiert aufgefaßt. Von mehreren gemeinsam erbrachte Leistungen, die sich vielleicht nicht ohne weiteres nach geläufigen Maßstäben messen lassen, werden häufig gering erachtet oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Dieses eingeschränkte Leistungsverständnis begünstigt allenfalls diejenigen, die bereits mit guten, meistens soziokulturell bedingt guten Ausgangsbedingungen ausgestattet sind, es stiftet jedoch kaum eine sachorientierte Leistungsmotivation" (S. 87).

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Wäre die Schule ein Produktionsbetrieb, wäre diese Kritik vielleicht berechtigt. Dann müßte man sich jedenfalls fragen, ob eine "individualistische" Leistung ohne Berücksichtigung der Leistung anderer Mitarbeiter dem Betriebserfolg zugute kommen kann. Aber Lernen kann nun einmal letzten Endes nur der Einzelne, die anderen gehören zum sozialen Arrangement dafür. Ob unter den Schülern wirklich Wettbewerbs- und Konkurrenzbewußtsein vorherrscht wie vielfach in einem Betrieb, darf bezweifelt werden; daß einer bessere Noten hat als ein anderer, bleibt für die Beziehung der Schüler zueinander relativ gleichgültig, solange niemand wegen Nichtversetzung aus dem Sozialverband seiner Klasse ausscheiden muß. Die Denkschrift unterstellt einfach, daß eine in Politik und Wirtschaft geläufige Verhaltenserwartung und -struktur auf die ganz anderen Zwecken dienende Schule selbstverständlich durchschlage. Die Begründung für diese Kritik am angeblich in der Schule herrschenden Leistungsbegriff kommt denn auch aus einem anderen, nämlich sozialpolitischen Zusammenhang: Er begünstige von vornherein die Kinder aus bildungsprivilegierten Familien. Vielleicht traf das vor 30 Jahren noch weitgehend zu, als die neue Reformpädagogik sich formierte. Inzwischen stammen die "schwierigen" Schüler keineswegs mehr überwiegend aus diesem Milieu, sondern mindestens ebenso sehr aus der gebildeten Mittelschicht. Abgesehen davon dehnt die Denkschrift die begrenzte schulische Leistung erheblich aus. Jedermann und erst recht jeder Schüler weiß, daß die Schule aus der Fülle aller möglichen und glücklich und zufrieden machenden Leistungen nur sehr wenige herausfordern kann und daß Schulleistungen über den Wert eines Menschen so gut wie nichts aussagen. Anstatt sich nun darauf zu beschränken, diese speziellen Leistungen zu präzisieren und andere dem außerschulischen Erfahrungsbereich zu überlassen, versucht die Denkschrift auf dem Vehikel eines nahezu grenzenlos gewordenen Lernbegriffs möglichst alle überhaupt wünschenswerten Leistungen in der Schule zu realisieren. Gewiß ist zu begrüßen, wenn die Schüler außer den im engeren Sinne unterrichtlichen Leistungen, die eben in einer geeigneten Weise auch gemessen werden müssen, im Rahmen der Schule - z. B. bei künstlerischen Aufführungen oder Festen und Feiern - Leistungen präsentieren können, die sie sonst vielleicht gar nicht oder nur in ihrer Familie oder auf dem Sportplatz erbringen würden. Aber diese können eben außer durch Lob und soziale Resonanz nicht weiter bewertet werden.

Zusammenfassung

1. Vergleicht man die Denkschrift mit früheren Projekten dieser Art, etwa mit denen des "Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bidungswesen" oder des "Deutschen Bildungsrates", dann fällt auf, daß sie nicht von den Lerninhalten ausgeht, um die es in der Schule gehen soll, die vielleicht zu revidieren sind, aus denen sich aber in jedem Fall dann entsprechende Folgerungen für die Lehrpläne und die Bildungsorganisation ergeben. Vielmehr ist die Absicht aufgegeben worden, der jungen Generation zu sagen, was sie warum in der Schule lernen soll, zugunsten eines "Selbstmanagements" der Lernenden selbst; die sol-

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len es im wesentlichen selbst herausfinden. Die objektivierbaren, letzten Endes nur in fachlichen Zusammenhängen begründbaren Lernaufgaben verblassen zugunsten vager "Lerndimensionen" und "Schlüsselprobleme", die nur noch einen stofflichen Auslöser für die Mobilisierung des "Selbstmanagements" bieten. Ein Kanon von Fächern und Stoffen ist nicht mehr vorgesehen, ebenso entfällt im Grunde die klassische Aufgabe der Didaktik, die Lehrbarkeit der Welt zu erforschen und dabei unter anderem Grundlegendes zu finden, mit dem das Lernen beginnen und von dem aus es folgerichtig fortschreiten kann. Statt dessen ist, wie in den "Schlüsselproblemen" und den "Lerndimensionen" erkennbar, die Welt immer gleich in ihrer unreduzierten Komplexität gegeben, die nur noch durch die subjektive Auswahl der Beteiligten sowie ihre jeweiligen Abstraktionsfähigkeiten und insofern nur noch willkürlich begrenzt werden kann. In dieser Hinsicht markiert die Denkschrift nicht nur das Ende der "alten" Schule, sondern das Ende eines sinnvollen Begriffs von Schule überhaupt. Deren spezifische Aufgabe kann auf diesem Hintergrund nicht mehr bestimmt werden, denn schließlich lassen sich auch eine moderne psychotherapeutische Klinik oder ein Jugendfreizeitheim als "Haus des Lernens" bezeichnen.

2. Seine Legitimation bezieht dieses Konzept einerseits aus einer Analyse gesellschaftlicher Veränderungen und einer daraus angeblich resultierenden veränderten Kindheit, andererseits aus einer sehr einseitigen Kritik des gegenwärtigen Schulehaltens. Die bisherige Schule ist den veränderten Herausforderungen nicht mehr gewachsen, so lautet die Botschaft. Dabei wird unterstellt, daß es Aufgabe der Schule sei, solchen Veränderungen gleichsam hinterherzulaufen, sich ihnen jedenfalls ständig anzupassen. Ein gewisses Beharrungsvermögen der Schule in einer sich - nicht zuletzt auch in wechselnden Moden - ändernden Welt kann aber für Heranwachsende auch ein Stabilitätsfaktor sein (8).

Zudem muß sich die Kommission fragen lassen, für welche der von ihr ins Feld geführten Veränderungen die herkömmliche Schule per se ungeeignet ist, wenn sie denn fachlich zuverlässig unterrichtet und auf dem Klavier des inzwischen vorhandenen methodischen Repertoires zu spielen versteht. Die Behauptung, die Schule müsse sich wegen der gesellschaftlichen Veränderungen ihrerseits gründlich wandeln, wird durch die Denkschrift nicht belegt. Wieso soll der von der Kommission so kritisierte "herkömmliche" Unterricht nicht auch weiterhin ein wichtiger Beitrag zur Aufklärung des Wertewandels, der ökologischen Problematik, der Migrationsproblematik usw. sein können, der von keinem Sozialisationsfaktor sonst zu erbringen ist? Ist die klassische Schule nicht immer schon einer der wichtigsten Faktoren zur Integration von Immigranten gewesen - wenn auch unter dem begrenzten Gesichtspunkt der jeweils zu erbringenden geistigen Leistungen? Den Beweis, daß die traditionelle Schule ungeeignet sei für die kulturelle Einübung in die moderne Gesellschaft wie auch für deren Aufklärung, bleibt die Kommission schuldig.

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3. Pädagogisch gesehen huldigt sie einer übertriebenen Subjektorientierung; leitendes Motiv ist eine psychologisierte Vorstellung vom lernenden Kind, das durch Lernen seine Welt selbst konstituiert. Die Welt als außersubjektiver Wirklichkeitszusammenhang tritt demgegenüber zurück. Diese Sichtweise hält das Kind aber in seiner unmittelbaren Lernerfahrung weitgehend gefangen, eröffnet ihm kaum darüber hinausgehende Horizonte. Insofern wird auch der subjektive Sinn der traditionellen Bildung aufgegeben, der ja gerade darin bestand, von den unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten zu emanzipieren, in Distanz zu diesen angemessene Weltvorstellungen zu entfalten und die Techniken selbständiger Einsicht und der Strategien des erfolgreichen Umgangs mit der Wirklichkeit zu lernen.

4. Statt dessen wird das Lernen insofern politisiert, als die pädagogische Vorstellung der Bildung durch den politischen Begriff des Konsenses ersetzt wird: Die Lernenden und Lehrenden, die Lehrer und Eltern, die an der konkreten Schule interessierte lokale und regionale Öffentlichkeit, - sie alle sollen gemeinsam herausfinden, was für sie von gemeinsamer Bedeutung ist. Aber von welchem Standpunkt aus können sie dann das Ergebnis einer kritischen Prüfung unterziehen, um zu verhindern, daß es sich lediglich einer bornierten Alltagsmentalität oder durch Massenmedien transportierten kurzfristigen Moden verdankt? Einen Konsens im politischen Sinne kann man zudem jederzeit wieder aufkündigen, wenn sich Interessenlagen ändern. Woher soll auf diese Weise also die Stetigkeit kommen, die für langfristig angelegte Bildungsprozesse benötigt wird? Wird sie nicht einem blinden, interaktionistischen Dynamismus geopfert? Hier wird für einen Fortschritt an Reform gehalten, was sich weitgehend nur dem Selbstlauf von Gremien verdankt, und die Schüler haben nichts in der Hand, woran sie sich orientierten könnten.

5. Wissenschaftsorientierung als Prinzip für die Analyse der Lerninhalte, also für deren didaktische Grundlegung, wird aufgegeben; wissenschaftlich fundiert wird allenfalls noch die Berufstechnik der Lehrer als Lernhelfer. Damit wird eine wichtige Legitimation des Unterrichts aufgegeben, ohne daß erkennbar würde, welche andere Grundlegung an deren Stelle treten soll. Nach aller Erfahrung werden sich dabei ideologische Weltsichten durchsetzen, was nur insofern weitgehend verschleiert werden kann, als es sich dabei nicht mehr so einfach um öffentlich erkennbare, von Parlamenten und politischen Organisationen vertretene Weltanschauungen handelt, sondern um solche, die jeweils allenfalls noch lokal dingfest zu machen sind und deshalb jegliche so zu deutende Absicht leugnen können: Die Beteiligten meinen es eben nur so, und das ist schließlich ihr demokratisches Recht. Die Rahmenvorgaben der an sich zuständigen politischen Organe werden andererseits so vage im Jargon der pädagogischen Gutwilligkeit gehalten sein, daß sie keinerlei politische Aufregung mehr verursachen können. Die ungeordnete Fülle des Wirklichen wird, gefiltert durch die Köpfe der zufällig Beteiligten, ein geistiges Chaos verursachen. Mit dieser Wende vollzieht die Denkschrift eine Abkehr von allem, was seit den fünfziger Jahren, nicht zuletzt durch die Tätigkeit des Deutschen Bildungsrates, als pädagogischer Fortschritt gegolten hat.

Zudem vergrößert sie die ohnehin verbreitete professionelle Verunsicherung der

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Lehrer. Liest man die Denkschrift unter der Frage, was die Lehrer nun eigentlich tun sollen, dann stößt man auf eine Fülle von Antworten, die einerseits in ihrer Summe überfordern müssen, andererseits aber auch voller Widersprüche sind. Das erinnert an jenen Typ des Neurotikers, der sich grundsätzlich mehr Aufgaben auflädt, als er zu erledigen vermag, damit er ein Versagen gegenüber der einen mit dem Hinweis auf die anderen entschuldigen kann.

6. Das "Haus des Lernens" wird einen nihilistischen Lernaktivismus entfalten, der den Erscheinungen der objektiven Welt gleichgültig gegenübersteht wie etwa den abendlichen Fernsehprogrammen. Alles wird honoriert, was die Schüler von sich aus als Lerntätigkeit ausgeben. Das Lernen kreist in sich selbst, kommt nicht vom Fleck, jeden Tag geschieht dasselbe, nur mit neuen Themen, die schon wieder vergessen sind, sobald das nächste auf dem Programm steht.

7. Die Schulpädagogik reduziert sich vollends auf Methodik und gibt dabei den logischen Zusammenhang von Sachstruktur und methodischem Arrangement auf. Die Frage ist nicht mehr, welche Sache mit welcher methodischen Inszenierung am besten zu unterrichten ist; vielmehr werden die Methoden bevorzugt, die den erzieherisch vorgegebenen Zielen des Selbstmanagements und des gemeinsamen Lernens am ehesten entsprechen.

8. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß die Denkschrift ihren Ausgang nimmt von den didaktischen, methodischen, bildungspolitischen und schulorganisatorischen Lieblingsideen der (neuen) Reformpädagogik. Zu deren Rechtfertigung wird ein theoretischer Gesamtrahmen erdacht, der für sich genommen gar nicht wichtig scheint, sondern diesen Reformideen eine neue Legitimation verschaffen soll. Nur eine derartige Hypothese könnte die unsystematische Wirrnis des Textes und seine logische Unzulänglichkeit erklären. Hinzukommen mag, daß nach aller Erfahrung ein Gremium dazu neigt, Kompromisse in der Weise zu finden, daß jedes Mitglied das, was ihm wichtig ist, auch in den Text einzubringen wünscht. Aber selbst wenn man solche eher äußerlichen Aspekte außer acht läßt, ist es kein zukunftsorientiertes Konzept, sondern eines, das eine zu Ende gehende Epoche noch einmal in eine scheinbar überzeugende Fassung zu bringen versucht und dabei zugleich die Ursachen dieses Endes selbst zum Ausdruck bringt. Das schließt einen möglicherweise noch Jahre dauernden Erfolg keineswegs aus, weil es alle in diesem Zusammenhang positiv besetzten Worthülsen mobilisiert. Wer will schon ein Mensch sein, der den Kindern nicht das Beste gewährt? "Das Bild Schule als 'Haus des Lernens' ist ... ambivalent. So wie es in der Denkschrift ausgestaltet wurde, liegt der 'Schlüssel' dazu weniger beim pädagogischen Interesse der 'Bewohner' als vielmehr bei den gesellschaftlichen und politischen Interessen der 'Architekten"' (9).
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Anmerkungen:
(1) Bildungskommission Nordrhein-Westfalen: Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" beim Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Neuwied 1995

(2) Zur kritischen Auseinandersetzung vgl. auch: Kurt Aurin/Horst Wollenweber (Hg.): Schulpolitik im Widerstreit. Brauchen wir eine "andere Schule"?, Bad Heilbrunn 1997; Lothar Beinke u.a. : Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft? Zur Diskussion um die Denkschrift der Bildungskommission NRW, Sankt Augustin 1996; Winfried Schlaffke/Klaus Westphalen (Hg.): Denkschrift NRW - Hat Bildung in Schule Zukunft?, Köln 1996

(3) Vgl. Axel D. Kühn: Alexander S. Neill, Reinbek 1995; Hermann Giesecke: Die pädagogische Beziehung, Weinheim-München 1997, S. 189 ff.

(4) Dazu ausführlicher: Hermann Giesecke: Wozu ist die Schule da? Stuttgart 1996

(5) Vgl. Kurt Edler: Die multifunktionale Schule - ein pädagogischer Leviathan? in: Neue Sammlung, H. 1/1996, S. 107-113

(6) .Vgl. dazu Hermann Giesecke: Was ist ein "Schlüsselproblem"? Anmerkungen zu Wolfgang Klafkis "neuem Allgemeinbildungskonzept", in: Neue Sammlung H 4/1997, S. 563-583, und Wolfgang Klafkis Antwort darauf in diesem Heft.

(7) Die Familisierung der Schule zeigt sich noch deutlicher in den tonangebenden Grundschulkonzepten; Vgl. Gabriele Faust-Siehl u. a. : Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarstufe, Reinbek 1996

(8) Vgl. Jürgen Gidion: Von der Widerstandsfähigkeit der alten Schule, in: Neue Sammlung, H. 3/1997, S.407-418

(9) Jürgen Rekus: Schule als "Haus des Lernens" – und wer soll über die "Schlüssel" verfügen? In: Lothar Beinke u.a., a.a.O. , S. 35-52, hier S. 52


 
 

188. Zum Verhältnis von Allgemeiner und Fachdidaktik - Das Beispiel Politikunterricht (1998)

In: Dietrich Hoffmann/ Karl Neumann (Hg): Die gegenwärtige Struktur der Erziehungswissenschaft. Zum Selbstverständnis einer undisziplinierten Disziplin, Weinheim 1998, S. 119 – 127
 
 

Das Problem der Didaktik taucht überall dort auf, wo planmäßig gelehrt und natürlich auch gelernt werden soll. Der Begriff "Didaktik" bezeichnet also ein praktisches, ein Handlungsproblem, das seit Bestehen der menschlichen Gesellschaft besteht und zumindest mit dem Aufwachsen von Kindern, inzwischen auch im Umgang mit Erwachsenen, unlösbar verbunden ist, auch wenn es nicht immer bewußt und reflektiert war und ist. Es entsteht aus der Aufgabe, Wissen (einschl. Fähigkeiten und Fertigkeiten) an die Nachwachsenden - auf die ich mich hier beschränke - zu vermitteln, das eine Gemeinschaft oder Gesellschaft für notwendig hält. Insofern dies planmäßig und bewußt geschieht, gleich in welcher institutionellen Form, tauchen mindestens drei Probleme auf:

1. Was soll vermittelt werden?

2. Warum gerade dieses und nicht etwas anderes?

3. In welcher Weise kann es erfolgreich vermittelt werden, also so, daß es auch verstanden wird?

Die Fähigkeiten zu lehren und zu lernen sind also keineswegs identisch, aber aufeinander angewiesen; Lehren ohne Lernen ergibt keinen Sinn, wohl aber kann Lernen auch ohne Lehren erfolgen.

Diese drei Fragen sind bekanntlich einfach zu stellen, aber schwer zu beantworten.

Lehren kann im Prinzip jeder, der etwas weiß oder kann, falls er es auf sprachlichem Wege mitzuteilen vermag. Das ganze gesellschaftliche Leben ist ein Ort des Lernens, teilweise auch des Lehrens. Aber im wesentlichen ist das Lehren in eigentümlichen Orten und Institutionen ausgegliedert. Darum soll es im folgenden gehen, also um die institutionalisierte Lehre in Schulen.

Vereinfacht gesagt gibt es zwei unterschiedliche Verfahren, mitteilbares Wissen zu erwerben, die ich Handlungswissen und Bildungswissen nennen möchte.

Ausgangspunkt allen didaktischen Denkens ist das Problem, daß die natürliche und kulturelle Wirklichkeit uns von sich aus nicht verrät, wie sie lehr- und lernbar sein könnte; die Welt hat von sich aus keine didaktische Struktur. Sowohl um sie wissenschaftlich erforschbar zu machen wie auch um die Ergebnisse nachher zu lehren, müssen wir sie erst in geeigneter Weise definieren. Forschen und Lehren bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern konstruieren sie zu diesem Zweck. Die Spannung zwischen diesen Konstruktionen und der Wirklichkeit ist ein fundamentales Problem der Didaktik, das ich allerdings hier nicht weiter erörtern kann. Wer lehrt, popularisiert.

Ursprünglich ist uns die Welt gegeben als ein Sammelsurium von Eindrücken, Forderungen, Widerständen, - ähnlich der zunächst sinnlos erscheinenden Addition eines abendlichen Fernsehprogramms, wo nichts zusammen zu passen scheint. Unsere unmittelbare, an und für sich diffuse Alltagswelt ordnen wir durch Handeln; indem wir handeln, strukturieren wir die Welt in unserem Bewußtsein zwar nicht objektiv, aber zweckmäßig für unsere Absichten. Wir machen von Kindheit an Erfahrungen mit ihr durch Versuch und Irrtum, und wenn wir klug genug sind, versuchen wir diese Erfahrungen im Interesse unseres künftigen Handlungserfolges zu systematisieren, um Fehler nicht zu wiederholen. Den größten Teil dessen, was wir überhaupt lernen, lernen wir wohl auf diese Weise, nämlich "erfahrungsorientiert", immer gebunden an bestimmte Situationen und verwertbar für vergleichbare in der Zukunft. Dieses Lernen ist parteilich, von Interessen geleitet und fragt nicht nach der Objektivität der Dinge bzw. geht davon aus, daß die Dinge so sind, wie sie erscheinen. So lernen Kinder spontan und ohne weitere pädagogische Anleitung mit dem Ziel, sich in ihrer unmittelbaren Umwelt physisch (z.B. zum Schutze ihrer körperlichen Unversehrtheit) und sozial zu behaupten.

Abgesichert werden solche je individuellen Erfahrungen - wie man ebenfalls bei Kindern beobachten kann - durch soziale Übereinkunft: sie werden mit denen anderer Individuen ausgetauscht. Auf diese Weise entsteht ein gemeinschaftlicher, kollektiver Erfahrungsschatz, der als solcher auch gelehrt und somit tradiert werden kann.

Die Frage danach, wie die Dinge sich objektiv darstellen, also jenseits der subjektiven Wahrnehmung und Interessen, wird dann im Zusammenhang des Handelns interessant, wenn die Einsicht entsteht, daß es zweckmäßiger für künftiges erfolgreiches Handeln ist, wenn die Welt in ihrem Sosein verstanden wird, damit sie besser für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden kann. Das Handeln selbst wirkt ja wie ein Scheinwerfer, der nur diejenigen Ausschnitte beleuchtet, die für das jeweilige Agieren von Bedeutung sind oder wenigstens scheinen. Was da beleuchtet wird, stellt sich dem Handelnden als ein Komplex von Tatsachen und Wirkungen dar, der gleichzeitig gegeben scheint und deshalb nur mühsam in ein Nacheinander aufgeteilt werden kann. Maßstab für dieses Nacheinander ist dabei die Handlungssequenz selbst, die ja in eine zeitliche Sequenz umgesetzt werden muß. Daraufhin wird die komplexe Wirklichkeit sortiert, aber immer noch so, daß sie nicht in ihrer ganzen Komplexität zu Tage tritt, sondern im Sinne der Handlungsabsicht parteilich und insoweit einseitig wahrgenommen wird.

Der Sprung, von diesem jeweils aktuellen Zugang abzusehen und die Welt so verstehen zu wollen, wie sie von sich aus ist, also ohne Verblendung durch das pure Interesse an ihren augenblicklich nützlichen Teilen und Aspekten, ist ein erheblicher, ein qualitativer. Er ist nicht möglich durch bloße Fortsetzung des eben beschriebenen Erfahrungslernens. Selbst wenn es noch so gut didaktisiert wäre, führte es doch immer wieder nur zu einer wenn auch sich möglicherweise steigernden Einsicht in die gleiche Perspektive, den Kegel des Scheinwerfers zwar erweiternd, aber das Dunkel außerhalb des Strahles doch nicht durchdringend. Die Überwindung der mittelalterlichen Beschränktheit war nicht durch deren Fortschreibung zu erreichen, sondern nur durch jenen qualitativen Sprung, den die modernen Wissenschaften ermöglicht haben. Der Sprung vom reinen Handlungsinteresse hin zur Objektivität der Dinge, also zu ihrer eigentümlichen, nicht subjektiv immer schon präformierten Existenz ist der Übergang zur Bildung. Zu unterscheiden ist also die ursprüngliche Aneignung der Welt, wie wir sie bei Kindern beobachten können, von der Aneignung durch Bildung.

Dieser Sprung erwächst also nicht aus dem ursprünglichen, gleichsam natürlichen menschlichen Lebenszusammenhang, der ja ein solcher von Handlungssequenzen ist; er ist vielmehr eine kulturelleErfindung und Leistung. Allerdings wäre es weltfremd anzunehmen, diese neue Ebene des menschlichen Denkens und Erkennens sei von reiner Zweckfreiheit bestimmt, sozusagen lediglich der Betrachtung des Wahren, Schönen und Guten gewidmet, wie es zeitweise im klassischen deutschen Bildungsideal ausgedrückt schien. Eine solche Idealisierung verkennt, daß es auch hier letztlich um Handlungsorientierung geht, allerdings nicht um jeweils aktuelle. Bildungslernen ist Handlungslernen auf Vorrat, für noch unbekannte spätere Verwendungssituationen, was nicht ausschließt, daß dabei auch für den aktuellen Lebensbezug etwas abfällt. Auch das Bildungsbürgertum, das jene Idealisierung verkündete, wollte mit seinem Bildungswissen zumindest kommunikativ handeln, also etwa "gebildete" Gespräche darüber führen.

Von der ursprünglichen Handlungsorientierung des menschlichen Denkens und Lernens führt also kein gerader Weg zum Bildungslernen, wohl aber umgekehrt: das Bildungslernen macht disponibel für alle möglichen Handlungsorientierungen und Verwendungszwecke. Auf dieser Einsicht beruht ja auch der Kern des Humboldtschen Konzeptes der Allgemeinbildung, und es ist nach wie vor gültig - gerade auch im Bereich der Berufsausbildung im engeren Sinne, wo die Einsatzfähigkeit des Ausgebildeten um so höher eingeschätzt wird, je allgemeiner und grundlegender seine Ausbildung angelegt ist.

Naturwüchsiges Erfahrungslernen und Bildungslernen folgen also nicht auseinander, sondern beruhen auf einer zunächst einmal nicht vermittelten Konfrontation, dessen Widerspruch nicht ohne weiteres aufgelöst werden kann. Das Kind ist von sich aus im allgemeinen offen für Erfahrungslernen, weil es ihm zur Bewältigung seines Alltagsleben unmittelbar nützlich erscheint und ihm bei seiner sozialen Reputation hilft; gegen Bildungslernen jedoch entwickelt es aus demselben Grunde leicht Widerstände, und darin dürfte eine wichtige Ursache für die verbreitete Schul- und Unterrichtsverweigerung beschlossen liegen. Diese erscheint ihm um so gerechtfertigter, je weniger - wie offensichtlich gegenwärtig - seine soziale Umwelt oder sogar seine Lehrer davon etwas halten. Wenn aber Bildungslernen des Kindes nicht ebenso wie das Handlungslernen sozial akzeptiert und insofern ermutigt wird, wird der Durchhaltewillen des Kindes gelähmt. Das Kind merkt nicht, wenn es sich bildet, aber es merkt, wenn es sich in seinem Alltag durch Lernen erfolgreicher bewegen kann.

Was ein einzelner Lehrender vermitteln kann, ist begrenzt - einmal durch seine Handlungserfahrungen, sprich: Lebenserfahrungen, zum anderen durch das, was er sich daran anschließend oder darüber hinaus systematisch angeeignet, was er etwa studiert hat. Daraus ergibt sich im Grunde das Fachprinzip. Unabhängig von der wissenschaftlichen Aufteilung in Fächer, wie wir sie heute haben, müssen fachähnliche Begrenzungen gemäß der Kompetenz des Lehrenden sozusagen der Sache nach grundsätzlich vorgenommen werden. So gesehen kann fächerübergreifend nicht kompetent gelehrt werden.

In der Moderne sind die Wissenschaften zur Grundlage des zu vermittelnden Wissens geworden, was nicht heißt, daß die Schulfächer mit den wissenschaftlichen Disziplinen übereinstimmen oder aus ihnen abgeleitet wären oder daß für ein Schulfach nicht mehrere Bezugswissenschaften zuständig sein könnten. Wichtig ist nur, daß jede Lehrkompetenz an den Grenzen einer anderen aufhört, daß sie also ebenso positiv wie negativ zu bestimmen ist.

Nun ist unmittelbar einleuchtend, daß die oben erwähnte didaktische Grundproblematik (was soll warum und in welchem effektiven Arrangement gelehrt werden) sich für ein einzelnes Fach entwickeln lassen müßte, insofern es einen bestimmten Wirklichkeitsbereich und die über ihn vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse betrifft. Der Schreiner lehrt die Regeln der Holzbearbeitung, der Mathematiker die Grundlagen der Geometrie, der Politiklehrer die Grundlagen des politischen Systems usw. Aber was wäre die Aufgabe einer über allen diesen Fächern thronenden allgemeinen Didaktik? Ist es denkbar, daß sie allen Fächern gleichlautende Maßstäbe für ihre didaktischen Analysen vorgibt, die ihnen z.B. helfen könnten, das Problem der Stoffauswahl, der Reihenfolge der Darbietung und der langfristigen lehrplanorientierten Strukturierung zu lösen?

In sachlicher Hinsicht ist dies offensichtlich nicht möglich, denn über die Fächer hinaus gibt es keine Sache im Sinne eines Wirklichkeitsaspektes; sonst wäre die allgemeine Didaktik nur eine weitere Fachdidaktik. Welche Sache haben der Schreinerlehrer, der Mathematik- und der Politiklehrer gemeinsam?

Gemeinsam haben sie aber das Problem, überhaupt zu unterrichten und die dabei grundsätzlich anfallenden Probleme zu lösen. Insofern könnte allgemeine Didaktik verstanden werden als eine Art von Unterrichtswissenschaft, als eine solche des Lehrens und Lernens. Wenn ich es jedoch richtig sehe, ist dieser Versuch in Ansätzen stecken geblieben. Man kann das Lehren nicht lernen ohne etwas zu lehren, sowenig wie das Lernen ohne etwas zu lernen; "Lernen lernen" ist so gesehen nicht mehr als eine Metapher.

Die Gemeinsamkeit der Fächer könnte aber auch eine normative sein, vor allem dann, wenn wie im Begriff der Allgemeinbildung den einzelnen Fächern gemeinsame Ziele zugrunde gelegt werden sollen wie die der Mündigkeit oder der Emanzipation oder der Partizipationsfähigkeit. In diesem Falle könnte die allgemeine Didaktik der jeweiligen fachdidaktischen Analyse Zwecke und Ziele vorschreiben, die nicht in den zu vermittelnden Sachverhalten selbst begründet sind, sondern von außen an sie herangetragen werden. Diese Vorstellung ist aber von Anfang an problematisch geblieben.

In der Pädagogik ist dafür das Kriterium der "Bildungswirksamkeit" der Stoffe ins Feld geführt worden. Aber diese Antwort blieb von Weniger bis Robinsohn schon deshalb unbefriedigend, weil sie für die Praxis nicht zu präzisieren war. Welches Fach und welche seiner Stoffe sind "bildend" und wieso welche seiner anderen Stoffe nicht? Klafkis Bild von der "wechselseitigen Erschließung" von Kind und Welt ist eine hübsche Metapher, mehr aber auch nicht.

Die praktische Bedeutung dieses Problems verschärfte sich in dem Maße, wie die staatliche Lehrplanhoheit aus politischen Gründen - Pluralisierung und Individualisierung der Gesellschaft - zurückgenommen werden mußte und in diese Lücke die didaktische Kompetenz und Entscheidungsfreiheit der Lehrer selbst trat; sie hatten jetzt in einem erheblichen Maße über Bildungs- und Lernziele zu entscheiden, das gehörte nun zu ihrer professionellen Kompetenz. Klafkis Erfolg beruhte vor allem darauf, daß er in dieser Lage ein professionelles Selbstverständnis anbot. Diese Entwicklung war aber weder den Achtundsechzigern noch der Administration geheuer, deshalb verbündeten sich beide in den siebziger Jahren im Lernzielfetischismus der verschiedenen Curriculum-Theorien; die Lehre des Lehrers sollte wieder unter Kontrolle gebracht werden. In der DDR gab es dieses Problem so nicht, weil die didaktischen Probleme des Warum und Wozu dort zentral diskutiert und entschieden, nicht nach unten delegiert wurden.

Diese Hinweise zeigen, daß die allgemeine Didaktik in ihrer normativen Version geradezu notwendigerweise in ein politisch-ideologisches Fahrwasser gerät. Hinzu kommt, daß die modernen Fachdidaktiken, die es ja erst seit etwa den sechziger Jahren gibt, sich ursprünglich nicht als Ableitung aus den Prämissen der allgemeinen Didaktik verstanden haben. Das vage Postulat der Bildungswirksamkeit eines Faches und seiner Stoffe hat allenfalls als Legitimation gedient für innerfachliche didaktische Analysen. Inzwischen hat sich das geändert; über die Schiene allgemeindidaktischer Postulate werden die Schulen und ihre Fächer mit Erziehungszielen und methodischem Dogmatismus geradezu überschwemmt, die u.a. den fachorientierten Unterricht zu paralysieren drohen.

Ich will die Problematik einer normativ orientierten allgemeinen Didaktik am Beispiel der sogenannten "Schlüsselprobleme" zeigen, die Wolfgang Klafki in seiner neuen Theorie der Allgemeinbildung zur Debatte gestellt hat (1), indem ich sie in einen Bezug zur Fachdidaktik Politik setze.

Klafki präsentiert einen Katalog von "Schlüsselproblemen" als Kern des "bedeutsam Allgemeinen", an denen die Schulfächer - unbeschadet ihrer sonstigen fachspezifischen Aufgaben - gemeinsam zu arbeiten haben. "Allgemeinbildung bedeutet..., ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und - soweit voraussehbar - der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken. Abkürzend kann man von der Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft sprechen" (S. 56). Er nennt - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die Friedensfrage, die Umweltfrage, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, "die Gefahren und die Möglichkeiten der neuen technischen Steuerungs- Informations- und Kommunikationsmedien" und schließlich "die Subjektivität des einzelnen und das Phänomen der Ich-Du-Beziehung", nämlich "die Spannung zwischen individuellem Glücksanspruch, zwischenmenschlicher Verantwortung und der Anerkennung des bzw. der Anderen" (S. 60).

Hier werden den einzelnen Schulfächern also unter dem Anspruch der allgemeinen Didaktik eine Reihe von thematischen Aufgaben zugewiesen, die nicht aus ihrer jeweiligen fachdidaktischen Analyse selbst erwachsen, sondern ihnen vorgegeben werden. Dazu ist nun aus der Perspektive der Fachdidaktik Politik kritisch folgendes zu bemerken (2):

1. Offensichtlich liegen die "Schlüsselprobleme" auf unterschiedlichen sachlichen Ebenen. Während die ersten drei (Friedensfrage, Umweltfrage, soziale Ungleichheit) globale politische Probleme bezeichnen, stellt sich die Medienfrage als ein merkwürdiger Zwitter dar: einerseits als politisches Phänomen, insofern etwa Meinungsmacht und ihre öffentliche Kontrolle angesprochen sind; andererseits geht es um die kulturtechnische Dimension der optimalen Nutzung. Eine gänzlich andere Saite klingt beim letzten "Schlüsselproblem" an. Hier steht die unmittelbare menschliche Beziehungsebene zur Debatte, also ein primär normatives Problem, das gewiß auch politisch bedingt ist, aber doch im Kern die Alltagsmoral der Menschen zum Inhalt hat. Schon immer war diese vor allem in den geisteswissenschaftlichen Fächern ein bevorzugtes Thema des allgemeinbildenden Unterrichts, vermittelt über einschlägige Stoffe und Texte. Damit verband sich die Hoffnung, daß die Beschäftigung etwa mit bedeutender Literatur oder mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens mittelbar auch die persönlichen Einstellungen und Handlungsmaximen der Schüler beeinflussen würden. Insofern war die menschliche Beziehungsdimension immer auch ein fächerübergreifendes Thema der Allgemeinbildung, eingebettet jedoch in die übergeordneten Aufgaben und Gesichtspunkte des jeweiligen Fachunterrichts. In welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man die Moralität unmittelbar zum Gegenstand des Unterrichts machen will, zeigt die Diskussion um das neue Fach LER in Brandenburg. Für eine direkte moralische Intervention hat nämlich die Schule keinerlei Legitimation mehr, da ihr dafür weder ein kollektives Milieu mehr als Umfeld zur Verfügung steht, noch der Staat als Bezugsgröße gewählt werden kann, weil dieser diesseits der Legalität alle normativen Entscheidungen, auch für minderjährige Schüler, freigegeben hat. Deshalb wäre die Beziehungsebene nur in weltanschaulicher Einseitigkeit im Unterricht zu behandeln, wenn die disziplinierende Sachbezogenheit der Fächer unterlaufen würde.

2. Im Grunde wird zumindest bei den ersten drei "Schlüsselproblemen" eine didaktische Konstruktion, die für ein bestimmtes Fach, nämlich die politische Bildung, entwickelt wurde, auf den gesamten Fächerzusammenhang übertragen und somit verallgemeinert. Für die politische Bildung in der Schule war es aber von Anfang an ein Problem, wie man die aktuellen politischen Kontroversen, in denen sich ja in der Regel darüber hinausgehende strukturelle politische Konflikte verbergen, für den Schulunterricht didaktisch derart rekonstruieren könne, daß einerseits diese Aktualität selbst zum Thema würde, andererseits aber auch allgemeine, also auf neue Konfliktfälle zu übertragende Einsichten dabei gewonnen werden könnten; das waren die Ansätze der sogenannten "Konfliktdidaktik". Im Zusammenhang solcher Überlegungen entstand die Idee, umgekehrt nach grundlegenden Problemen und Konflikten zu suchen - vergleichbar den "Schlüsselproblemen" - die nun unabhängig von der politischen Aktualität, auf die der Unterricht ja nicht immer warten kann, systematisch behandelt werden könnten, wobei die jeweilige Aktualität allenfalls als Einstieg oder Aufhänger zu benutzen wäre. Die Lösung dieses Problems erwies sich jedoch als ungemein schwierig, wenn man parteiliche Einseitigkeiten oder bloß moralisierende Kurzschlüsse vermeiden will. Die sachlichen Schwierigkeiten ergeben sich vor allem daraus, daß das, was ein scheinbar klares "Schlüsselproblem" zu sein scheint - wie etwa das Problem des Friedens - in Wahrheit sich als ungemein komplexer und sich ständig verändernder Sachverhalt darstellt, und zwar um so mehr, je präziser die didaktische Analyse wird und je mehr z.B. wegen der Verständnisfähigkeit der Schüler verdichtet und somit eben auch aus der Komplexität gestrichen werden muß. Zudem setzt ein derart strukturierter Unterricht eine besonders hohe fachliche Kompetenz des Lehrers voraus, der ja diese Komplexität selbst erst einmal begriffen haben muß, um sie dann vernünftig didaktisch reduzieren zu können. In der Praxis hat sich schnell gezeigt, daß von diesem Ansatz oft nur moralisierende Vereinfachungen übrig blieben.

3. Wegen dieser Schwierigkeiten schon für dasjenige Fach, das der Sache nach dafür am ehesten zuständig wäre, muß als ausgeschlossen erscheinen, die von Klafki skizzierten "Schlüsselprobleme" - oder auch andere dieser Art - als Grundlage einer neuen Allgemeinbildung im Sinne einer Vorgabe der allgemeinen Didaktik zu definieren, deren Aufklärung alle Fächer zu ihrer Aufgabe machen sollen. Dafür sind diese Probleme ihrer Natur nach zu unscharf gegeben, und jeder Versuch, sie für den Unterricht didaktisch zu präzisieren, wäre willkürlich und allenfalls nur assoziativ möglich. Die von einem solchen Verfahren erhoffte Integration der Vorstellungen - die Schüler wissen jederzeit, an welchem Problem sie arbeiten, gleichgültig, in welchem Fach sie gerade unterrichtet werden - ist eine Illusion; herauskommen könnten vielmehr nur additiv aneinander gereihte Stoffinseln. Die Lehrer andererseits müßten nicht nur ihr Fach beherrschen, sondern zugleich auch noch genügend Sachverstand für die politische Komplexität der fraglichen "Schlüsselprobleme" aufbringen - normalerweise eine glatte Überforderung. Diese Probleme lassen sich ohne erheblichen Wirklichkeitsverlust didaktisch nicht komprimieren. Wendet man sich jedoch lediglich daraus abgeleiteten Teilthemen zu, die vielleicht fachspezifisch zu bearbeiten wären, dann wird der Kontext zum übergeordneten Problem wiederum zufällig und willkürlich.

4. Die "Schlüsselprobleme" sind in ihrem Kern ein politisches Phänomen, d.h. sie sind nicht einfach gegeben, sondern beruhen auf einer interessenbedingten Definition. Es gibt kein soziales oder politisches Problem, es sei denn, jemand definiert es entsprechend mit Aussicht auf öffentliche Aufmerksamkeit. Solange z.B. niemand die Benachteiligung von Frauen im öffentlichen Leben problematisierte, war sie zwar eine Tatsache, aber für niemanden im politischen Sinne ein Problem. Weil das so ist, ist die Bestimmung von "Schlüsselproblemen", also solchen, die als gleichsam exemplarische Kernprobleme weiterer Detailprobleme angesehen werden können, jedenfalls nicht so zuverlässig möglich, wie es für einen über Jahre verlaufenden schulischen Bildungsgang notwendig wäre. Das lehren uns schon die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks entstandenen neuen Problemlandschaften, von denen wir vor dem Fall der Mauer kaum etwas geahnt haben. Die "Schlüsselprobleme" sind kein Stoff, der sich didaktisch zweckmäßig reduzieren ließe. Entsprechend ihrem Definitionscharakter erwachsen sie vielmehr aus dem politischen Handeln und seinen Begründungen selbst. Ein erheblicher Teil des politischen Argumentierens besteht bekanntlich darin, die jeweils eigene Problemdefinition ins politische Spiel und in die öffentliche Meinung zu bringen; jeder Wahlkampf beruht darauf.

5. Weil das so ist, gibt es für die Formulierung solcher Schlüsselprobleme in jener Erweiterung, die Klafki über den politischen Unterricht hinaus vornimmt, keine besondere fachwissenschaftliche und somit auch keine fachdidaktische Kompetenz mehr, welche die notwendigen und komplizierten Sachdefinitionen geistig disziplinieren, sachlich fundieren und somit auch öffentlich vertreten könnte. Deshalb wäre einer willkürlichen oder sogar weltanschaulich aufdringlichen didaktischen Konstruktion der daraus abgeleiteten Themen und ihrer Interpretation Tür und Tor geöffnet.

Das eben erläuterte Beispiel zeigt, wie leicht eine allgemeindidaktische Analyse in die Irre führen kann, wenn sie die Kompetenz der einzelnen Fächer in eine thematische Vorgabe einbinden will; auf diese Weise werden fachdidaktische Kompetenzen unterlaufen, verhindert und unterbunden. In diesem Sinne kann "allgemeine Didaktik" offenbar kein vernünftig zu verwendender Begriff sein; plausibel bleibt er wohl nur im Hinblick auf die Erforschung und Theorie des Lehrens und Lernens generell.

Gleichwohl bleibt aber das Problem bestehen, daß unter dem Anspruch der Allgemeinbildung die einzelnen Schulfächer ja schlecht ohne ein gemeinsames Bewußtsein ihrer Aufgaben verstanden werden können. Worin könnte es also bestehen?

1. Allgemeinbildung muß strukturiert sein im Hinblick auf die gegenwärtigen und künftigen Partizipationsmöglichkeiten des Kindes. Bildung ist so gesehen Teilhabehilfe. Dabei geht es vor allem um die berufliche, kulturelle und politische Beteiligung, und charakteristisch für Allgemeinbildung ist eben, daß keine von ihnen einen Vorzug erhält - im Unterschied zur späteren beruflichen Ausbildung. Deshalb sind alle Fähigkeiten des Kindes zu fördern, sofern dies mit den Mitteln der Schule, also denen des Unterrichts, möglich ist. Der partizipatorische Denkansatz ist besser zu konkretisieren als der bildungstheoretische, und er wäre auch konsensfähig. Niemand wird bestreiten, daß die Kinder die tatsächlichen Chancen, die unsere Gesellschaft ihnen bietet, auch nutzen lernen sollen. Dafür brauchen sie aber grundlegende Kenntnisse über die jeweiligen Wirklichkeitsaspekte, die durch die Fächer repräsentiert werden. Welche Fächer und welche ihrer Stoffe sind dafür unentbehrlich?

2. Die Chance zur Partizipation muß allen Kindern vom Eintritt in die Schule an als eine grundsätzlich gleiche gewährt werden. Das folgt nicht nur aus dem Demokratiegebot, sondern auch aus gesellschaftlicher Notwendigkeit; Individualisierung ist keine Gnade, die uns von Politikern gewährt wird, sondern eher eine Art von gesellschaftlichem Zwang. Jedes Kind muß dann allerdings in seinem weiteren Bildungs- und Lebensweg - möglichst mit Hilfe seiner "Bezugspersonen" - selbst entscheiden, wieweit es dieses Angebot nutzen, also bis zu welcher Stufe es vordringen will. Allgemeinbildung kann mit ihren Mitteln - denen des aufklärenden Unterrichts - nur Partizipationsschancen ermöglichen, realisieren müssen sie die Schüler selbst. Daraus ergibt sich aber eine weitere Schwierigkeit. Früher, als die Chancen des Kindes jeweils schichten- und klassenspezifisch weitgehend vorweg, also ohne Zutun des Kindes selbst, festgelegt waren, konnte man von verschiedenen "Bildungsaufträgen" der - von der Grundschule abgesehen - nebeneinander existierenden Schulformen ausgehen. Das aber ist politisch nicht mehr vertretbar. Heute können wir allenfalls noch im Hinblick auf die unterschiedlichen Leistungsstufen (Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium) von verschiedenen Bildungsaufträgen, genauer gesagt: von verschiedenen Stufungen des Allgemeinbildungskonzepts sprechen. Ohne eine solche Rangfolge, die subjektiv auch erfahrbar wird, ergäbe es für die Schüler kaum einen Sinn, sich jahrelang Tag für Tag in Schulen aufzuhalten. Solche Graduierungen können aber nicht aus der je subjektiven Innerlichkeit abgleitet werden ("Lernen lernen"), sondern nur aus entsprechend auseinander hervorgehenden Aufgaben, die wiederum nur von der sachlichen Seite, also von den Unterrichtsstoffen her, definiert werden können. Gerade weil wir aber die Partizipationsperspektive nicht mehr klassen- oder schichtspezifisch vorgeben können, ist die Festsetzung der Bildungsinhalte, die zunächst für alle Kinder (etwa in der Grundschule) gelten sollen, um sich dann in Schulstufen bzw. Schulformen zu differenzieren, schwierig geworden. Wir müssen heute für alle Kinder eine Allgemeinbildung formulieren, obwohl wir nicht wissen, in welchem sozialen Rahmen, mit welchem Status und unter welchen Handlungskonstellationen sie später davon Gebrauch machen werden. Diese Unklarkeit zwingt zu relativ abstrakten Überlegungen, - so ähnlich, als wollte man eine Berufsausbildung planen ohne zu wissen, welchen Berufen sie eigentlich dienen soll.

3. Aus dem Stufenmodell der Allgemeinbildung - aus dem sich übrigens nicht unbedingt eine Stufenschule ergibt - folgt, daß Allgemeinbildung nicht in einer dogmatisch abgeschlossenen Weise erfolgen kann, wie sie der alten Kanonvorstellung noch anhaftet, sondern nur als Grundlage dienen kann für weitere schulische und außerschulische Lernprozesse. Bildung ist Grundlage für Weiterbildung, auch dieser Grundsatz ergibt sich aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen. Dieser Gesichtspunkt ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er ein Ansatz für die Reduzierung der Stoffe sein kann. Wenn man fragt, was wichtig an einem Fach oder einem Stoff ist, damit man damit weiterlernen kann, dann ergeben sich ganz andere Reduktionsmöglichkeiten, als dies mit der Vorstellung ihrer "Bildungswirksamkeit" möglich ist.

Anmerkungen:

(1) Wolfgang Klafki: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 5. Aufl. 1996

(2) Vgl. Hermann Giesecke: Was ist ein "Schlüsselproblem"? Anmerkungen zu Wolfgang Klafkis "neuem Allgemeinbildungskonzept", in: Neue Sammlung, H. 4/1997


 
 

189. Offenheit für die Zukunft (1998)

In: Das Parlament Nr. 36, 28.8.98, S. 3
 

Politische Bildung ist ein Kind der Demokratie. In vordemokratischen Verhältnissen wird sie nicht benötigt - jedenfalls nicht für alle Bürger. Erst die demokratische Verfassung von Staat und Gesellschaft, die auf der mündigen Teilhabe aller ihrer Bürger beruht, macht spezifische Bildungsangebote für eine verständige Mitwirkung an der politischen Willensbildung nötig. So gab es schon in der Weimarer Republik "Staatsbürgerkunde" an den Schulen, die sich allerdings auf die Erklärung der Verfassung und der aus ihr resultierenden Rechte und Pflichten beschränkte.

Die gegenwärtige politische Bildung hat damit allerdings nur noch wenig zu tun. Sie wurde vielmehr aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus und dem politisch-moralischen Desaster, das er hinterlassen hatte, geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die westlichen alliierten Sieger, insbesondere die Jugend im Rahmen ihrer Bemühungen um "re-education" - gemeint war nicht "Umerziehung", sondern die Wiederherstellung einer menschenwürdigen Erziehung, die die Nationalsozialisten korrumpiert hatten - für demokratische Überzeugungen und Handlungsweisen zu gewinnen. Dabei ging es um mehr als lediglich um Verfassungskenntnisse. Die meisten Deutschen hatten z.B. verlernt bzw. noch nicht erfahren, wie man eine Diskussion leitet oder sich mit Argumenten und Gründen in einer solchen behauptet. Neue Formen des öffentlichen Umgangs waren nötig geworden - zwischen Lehrern und Schülern, Vorgesetzten und Untergebenen, Politikern und Bürgern.

Große Widersprüche

Es gab also viel zu lernen, aber das galt nicht nur für die Jungen. Normalerweise findet Erziehung dadurch statt, daß die Älteren - die Erwachsenen - auf die Jüngeren - die Heranwachsenden - einwirken, damit diese die Regeln und Normen des Lebens von ihnen lernen. Aber in Sachen Demokratie war dieser Vorsprung verschwunden. Die Jüngeren lernten demokratische Vorstellungen und Verhaltensweisen schnell und ließen die Erwachsenen in Rückstand geraten. Ende der sechziger Jahre wurde dieser Widerspruch so groß, daß er sich in den bekannten Schüler- und Studentenprotesten entlud.

Zudem waren die Möglichkeiten der Schule, im Unterricht eine zuverlässige historisch-politische Aufklärung zu leisten, die angesichts der Verbrechen der Nationalsozialisten nötig geworden war, zunächst begrenzt. Die Lehrer waren während der NS-Zeit in erster Linie ideologisch indoktriniert worden und verfügten deshalb nur über unzureichende historische und sozialwissenschaftliche Kenntnisse. Außerdem waren sie - ob eher als Opfer oder Täter - in die NS-Zeit persönlich derart verwickelt gewesen, daß sie davon kaum absehen konnten, wenn der Unterricht entsprechende Themen vorsah. Deshalb zogen sich die meisten lieber in ihre Bildungswelt zurück, in die klassische Literatur etwa oder in einen Geschichtsunterricht, der über den Ersten Weltkrieg nicht hinauskam.

Im Jahre 1950 hatten die Kultusminister zwar vereinbart, politischen Unterricht in den Schulen einzuführen, aber den einzelnen Bundesländern überlassen, ob daraus ein eigenes Fach entstehen oder ob Politisches als "Unterrichtsprinzip" gelehrt werden sollte - nämlich dann, wenn es sich von den Themen anderer Fächer her anbot. Aber was hätte man in einem Fach Politik auch lehren sollen?

Fachlehrer fehlten

Erst allmählich entstanden an den Hochschulen dafür geeignete Ausbildungsfächer wie Soziologie und Politikwissenschaft, und dann dauerte es immer noch etliche Jahre, bis genügend Fachlehrer zur Verfügung standen. So schliefen die Bestrebungen zur politischen Bildung wieder ein, zumal der wirtschaftliche Aufbau und Aufschwung die Öffentlichkeit weit mehr interessierte. Im Zuge der allgemeinen "Restauration" etablierte sich das überlieferte Bildungswesen mit seinen klassischen Schulfächern wieder, wie es vor 1933 bestanden hatte. Eine besondere politische Bildung erschien vielen Politikern und Pädagogen überflüssig, wenn nur die jungen Menschen wieder allgemein gebildet würden.

Dann aber wurde die Öffentlichkeit durch zwei Ereignisse Ende der fünfziger Jahre plötzlich aufgerüttelt: In einigen Städten wurden jüdische Gräber durch Hakenkreuzschmierereien geschändet, was die Reputation der jungen Bundesrepublik im Ausland erheblich schädigte. Zum anderen lud die DDR junge Deutsche zu Begegnungen und - sehr preisgünstig - zu Ferienaufenthalten ein, wo sie den politischen Diskussionen aus Unkenntnis nicht gewachsen waren - jedenfalls fürchteten das die politisch Verantwortlichen. Nun sollten die Schulen dem Übel abhelfen, aber die waren im ganzen dazu aus den genannten Gründen kaum in der Lage.

Aktuelle Projektarbeit

So kam die Stunde der außerschulischen Jugendarbeit, vor allem ihrer Jugendbildungsstätten. Einige evangelische Akademien und die Jugendhöfe Vlotho und Steinkimmen bei Bremen waren Vorreiter einer neu verstandenen politischen Bildungsarbeit, die vor allem vom Bundesjugendplan finanziert wurde und die sich aus dem starren Schema des Schulunterrichts löste. Junge Dozenten - teilweise auch Studenten - , die nicht mehr persönlich in die NS-Zeit verwickelt waren, erprobten Formen des politischen Lernens, die inzwischen auch die Schulen erreicht haben, damals aber didaktisches Neuland waren: Arbeit an Projekten und in offenen Gesprächsformen - problemorientiert unter Verwendung aktuellen politischen Materials.

Nun erst wurde deutlich, was Politik von allen anderen Schulfächern unterscheidet: ihre Offenheit in die Zukunft hinein. Wer politisch handelt, weiß im voraus nicht, wie es ausgeht, und wer sich im Unterricht damit beschäftigt, kann es auch nicht wissen. Beim Geschichtsunterricht ist das anders, da sind die Folgen politischer Handlungen bekannt und müssen im Unterricht nur nachträglich verstanden werden. Um der Offenheit des politischen Geschehens möglichst nahe zu kommen, stellten die Didaktiker die innen- und außenpolitischen Konflikte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Politische Bildung sollte dazu dienen, in der geistigen Bearbeitung solcher Konflikte ein politisches Bewußtsein zu entwickeln, das einerseits das Wohl des demokratischen Gemeinwesens im Blick hat, andererseits aber auch die persönlichen Interessen im Vergleich zu denen anderer Bürger aufklärt. In diesem Zusammenhang wurde entdeckt, was heute als "Schlüsselprobleme" in aller Pädagogen Munde ist.

Eine Aufforderung zur unmittelbaren politischen Aktion war mit diesen Vorstellungen allerdings nicht verbunden. Sie wurde erst von der Generation der Studentenbewegung seit 1968 propagiert. Auf Einsichten sollten auch Taten folgen. Auf diese Weise wurde nun die politische Bildung selbst in die innenpolitischen Auseinandersetzungen verwickelt, was vor allem die Schule in Schwierigkeiten brachte, die ja um des politischen Konsenses willen in innenpolitischen Streitfragen nicht Partei ergreifen darf. Der Streit entlud sich insbesondere in erbitterten Auseinandersetzungen um Lehrpläne (Richtlinien) vor allem in Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Bezugspunkte finden

Die deutsche Einheit stellte neue Probleme. Menschen, die über Jahrzehnte unter einander widersprechenden politisch-gesellschaftlichen Verfassungen gelebt hatten, müssen nun lernen, gemeinsame Bezugspunkte für ihr politisches Bewußtsein zu finden. Dabei kann die politische Bildung nur helfen, wenn sie sich einerseits auf die grundlegenden demokratischen Werte besinnt, andererseits aber auch die unterschiedlichen Erfahrungen ernst nimmt. Leider wird die Bedeutung des politischen Unterrichts im Rahmen der Schulfächer heute eher geringer eingeschätzt als in den Jahrzehnten nach dem Krieg, woran seine frühere Inanspruchnahme für parteiliche Zwecke im Westen wie im Osten wohl nicht unschuldig ist. Angesichts der absehbaren gesellschaftlichen Probleme und Krisen bleibt aber eine möglichst sachkundige politische Bildung für möglichst alle Heranwachsenden eine wichtige Voraussetzung des innenpolitischen Friedens.


 

190.  Zur Wissensvermittlung zurückkehren! (1998)

In. Schüler 98: Zukunft. Velber 1998, S. 61-63

Eine Unterscheidung zwischen den Stärken und Schwächen der gegenwärtigen Schule zu treffen, ist deshalb nicht einfach, weil sie in mancher Hinsicht miteinander verbunden sind und einander bedingen. Zudem ist die Frage, woran sie gemessen werden sollen. Da die Zukunft offen ist und niemand sie mittelfristig hinreichend voraussehen kann, ist es kaum möglich, genauer zu sagen, welche Art von Schule auf diese unbekannte Zukunft vorbereitet. Darüber zu spekulieren hat jedoch wenig Sinn, vielmehr kommt es wohl

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darauf an, möglichst vielen Schülern eine möglichst hohe Allgemeinbildung zu verschaffen, damit sie mit diesem Potential ausgestattet die auf sie zukommenden Aufgaben bewältigen können. Allgemeinbildung ist so gesehen immer auch eine Ausbildung ins Blaue hinein, gleichsam auf Vorrat für noch unbekannte Verwendungssituationen und auf die Fähigkeit zur Weiterbildung angelegt. Wenn ich von dieser Voraussetzung ausgehe, erscheinen mir folgende Stärken bzw. Schwächen der gegenwärtigen Schule bemerkenswert:

Stärken:

- Im Vergleich zu früher ist die Schule erheblich weniger autoritär organisiert; Ton und Stil im Umgang zwischen Lehrern und Schülern sind moderater geworden. Die Schule hat gelernt, Schüler als Grundrechtsträger ernst zu nehmen und sie als selbstverantwortliche Menschen zu behandeln. Damit trägt sie der Tatsache Rechnung, daß die Fähigkeit zur Individualisierung des persönlichen Lebens nicht nur von privater Bedeutung ist, sondern auch eine gesellschaftliche Erwartung zum Ausdruck bringt. Wer nicht auf je individuelle Weise in den pluralistischen Widersprüchen der Zeit eine persönliche Balance finden kann, verliert nicht nur an persönlicher Freiheit, sondern wird auch lebensuntüchtig.

- Der Unterricht trägt den Bedürfnissen und Interessen der Schüler Rechnung wie nie zuvor. Er versucht mit erheblichem methodischen Aufwand, Schüler zu motivieren und auf ihre persönliche Verfassung Rücksicht zu nehmen. Vor allem denjenigen Schülern, die sozial benachteiligt sind und besondere Lernschwierigkeiten haben, hat sich die Schule in erheblichem Maße zugewandt.

- Die Schule hat enorme Anstrengungen unternommen, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen eine möglichst hohe Allgemeinbildung zu ermöglichen und damit die früheren Bildungsschranken im Sinne eines "Bürgerrechts auf Bildung" zu beseitigen.

Schwächen

- Die Schule hat sich von ihrer eigentlichen Aufgabe, durch Unterricht die Welt und die Rolle des Menschen in ihr verständlich zu machen, immer mehr entfernt. Sie weiß vielfach nicht mehr, wozu sie eigentlich da ist, was die Schüler dort warum lernen, wieso deshalb Heranwachsende solange die Schulbank drücken sollen. Was aber unterscheidet den schulischen Unterricht eigentlich von dem, was das Leben sowieso beibringt? Nur die Schule kann auf dem Wege des Unterrichts grundlegende und systematische Kenntnisse über die Welt vermitteln. Das Leben selbst bringt zwar vieles bei, aber Unterricht ist ein im Vergleich dazu künstliches Arrangement, eine kulturelle Erfindung. Er kann nur getrennt nach Fächern erfolgen, weil einmal jede menschliche Kompetenz begrenzt ist und zum anderen Wissenschaftsorientierung nur getrennt nach Fächern möglich ist. Lehrer verstehen sich jedoch immer mehr als Moderatoren und Animateure in Lernprozessen, die die Schüler möglichst selbst bestimmen und gestalten sollen. Die Folge sind Stoffinseln, die keinen inneren Zusammenhang mehr erkennen lassen; Schulbücher sind kaum noch Lehrbücher, aus denen man Schritt für Schritt lernen kann, sondern eher Angebotskataloge wie aus einem Warenhaus. Dabei ist es keineswegs ehrenrührig, sich von Personen, die in bestimmter Hinsicht (Mathematik, Physik, Geschichte usw. ) mehr wissen und können als man selbst, unterrichten zu lassen; auch Erwachsene sind heute oft bis zu ihrem Berufsende darauf angewiesen. Je mehr und je schneller sich eine Gesellschaft verändert, um so mehr muß dieser Wandel durch Unterricht ins Bewußtsein genommen und wieder in eine geistige Ordnung gebracht werden können.

- Die Bedürfnisse und Interessen der Schüler werden überbetont. Zwar kann niemand lernen, ohne an seine bisherigen - schulischen oder außerschulischen - Erfahrungen anzuknüpfen, aber es geht zu weit, die Schüler über Gebühr selbst entscheiden zu lassen, was sie lernen wollen. Unterricht, der die Schüler zur Herausbildung ihrer geistigen Fähigkeiten animieren will, muß die Schüler auch zu ihren bisherigen Erfahrungen in eine Distanz bringen und sie mit Welterkenntnissen konfrontieren, auf die sie gerade nicht von selbst kommen können. Rücksichtnahme auf die Subjektivität der Schüler darf nicht dazu führen, daß die Schule "Beziehungskisten" zwischen Lehrern und Schülern und der Schüler untereinander anstrebt, ohne die eigentliche Aufgabe der Schule dabei im Blick zu behalten. Der Lehrer ist nicht per se ein besserer Mensch als seine Schüler, auch sein politisches

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und kulturelles Handeln ist nicht unbedingt vernünftiger, aber er weiß im begrenzten Rahmen seines Faches mehr als seine Schüler - und das ist entscheidend. Vor allem kennt er die Methoden seines Faches und damit auch die Grenzen dessen, was man überhaupt wissen kann.

- Die Schule hat sich zu sehr auf Erziehungsforderungen von außen eingelassen. Denn was immer an der Gesellschaft oder an den Kindern und Jugendlichen beklagt wird, wird zur Aufgabe der Schule erklärt. Die Schule kann aber unter den Bedingungen der pluralistischen Gesellschaft nur noch sehr begrenzt erziehen, nämlich durch die Auseinandersetzung mit den Schulstoffen und dem, was sie an Werten enthalten, und durch die Durchsetzung eines geordneten Unterrichts. Die sozialen Regeln, die dafür nötig sind - Höflichkeit, Toleranz, Einfühlungsvermögen - entsprechen weitgehend denjenigen Regeln, die für einen produktiven Umgang der Menschen in der außerschulischen Öffentlichkeit ebenfalls nötig sind. Die Schule kann keine "bessere Welt" in ihren Mauern errichten, als sie "draußen" vorhanden ist; das wäre eine Illusion.

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191. Wozu Schule? (1998)

In: Wenger-Hadwig, Angelika (Hrsg.): Der Lehrer - Hoffnungsträger oder Prügelknabe der Gesellschaft, Innsbruck/Wien 1998, S. 9 - 32

Die tonangebende schulpädagogische Diskussion in Deutschland ist charakterisiert durch zwei einander ergänzende Tendenzen: Durch den Versuch, alle wichtigen gesellschaftlichen Probleme der Schule als pädagogische Aufgaben zu übertragen einerseits und durch die schulpädagogische und schulpolitische Bereitschaft andererseits, diese Ausdehnung unter dem Begriff der "Erziehung" auch zu akzeptieren.

Im Bremer Schulgesetz heißt es z.B.:

"Die Schule ist Lebensraum ihrer Schülerinnen und Schüler, soll ihren Alltag einbeziehen und eine an den Lebensbedingungen der Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien orientierte Betreuung, Erziehung und Bildung gewährleisten". Man beachte die Reihenfolge: Betreuung, Erziehung und Bildung; das, was nur die Schule im Kontext der gesamten Sozialisation leisten kann, nämlich Unterricht zum Zweck der allgemeinen, also nicht nur berufsrelevanten Bildung, rückt an die letzte Stelle.

Ich will im folgenden zeigen, daß beide Tendenzen problematisch sind: das Abladen aller möglicher gesellschaftlicher Probleme auf die Schule einerseits und der Versuch, die Schule entsprechend umzufunktionieren, andererseits. Beide Tendenzen untergraben nämlich den Sinn der Schule und sie nützen den Schülern, gerade auch den leistungsschwächeren unter ihnen, letzten Endes nicht.

Wozu also ist die Schule da? Was kann nur sie im Rahmen des Aufwachsens in der pluralistischen Gesellschaft leisten? Die Kinder werden ja nicht nur von ihr erzogen bzw. sozialisiert, sondern auch von der Familie bzw. von den Massenmedien, der Konsumgesellschaft (dem Kaufhaus) und nicht zuletzt von den Gleichaltrigen. Wir können uns das Aufwachsen der Kinder insgesamt als eine Art von Kräftefeld vorstellen, dessen einzelne Faktoren nach unterschiedlichen Maßstäben auf das Kind einwirken und mit denen es sich auseinandersetzen muß.

Ich möchte in diesem Vortrag darlegen und begründen,

- daß der eigentliche Auftrag der Schule das Unterrichten ist,

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- daß sie dabei die grundlegenden öffentlichen Verhaltensweisen einzuüben hat,

- daß ein darüber hinausgehender Erziehungsauftrag historisch überholt ist.

Schule als Ort des Unterrichts

Stellen wir uns für einen Augenblick vor, es gäbe die Schule gar nicht. Auch ohne die Schule würden die Kinder in der Familie, vom Fernsehen, vom Konsummarkt, vom Fußballverein, von den Gleichaltrigen vermutlich so sozialisiert, daß sie irgendwie sozialverträglich leben würden. Eine bloß funktionelle Sozialisation, nämlich die soziale Integration der Kinder in das gesellschaftliche Leben ist offensichtlich nicht die primäre Aufgabe der Schule, die würde sowieso stattfinden und hat immer stattgefunden, bevor es eine Schule für alle Kinder gab. Aber folgende vier Defizite würden mit Sicherheit entstehen:

1. Unsere Kinder würden später nicht in der Lage sein, unter unseren gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen einen Beruf zu finden, von dem sie sich ernähren könnten. Alle Wege zu einer solchen beruflichen Qualifizierung - gleich auf welcher Ebene der Berufshierarchie - führen über die Schule oder jedenfalls über das, wofür sie im Kern zuständig ist: über Unterricht. Selbst das praxisorientierte "duale System" unserer Berufsausbildung, z.B. im Handwerk, ist ohne systematische schulische Unterrichtung nicht denkbar. Unterricht aber heißt von der Grundschule bis zur Weiterbildung im oberen Industriemanagement im Kern immer dasselbe: Da gibt es Lehrende, die etwas wissen oder können, und die diesen Vorsprung in didaktisch möglichst geschickter Weise an diejenigen weitergeben, die es noch nicht wissen oder können. Daran ist weder für Kinder noch für Erwachsene etwas Despektierliches und da greift auch nicht eine feindliche Besatzungsmacht in das Leben Unschuldiger ein, wie manche Schultheoretiker zu glauben scheinen. Die Fähigkeit, sich erfolgreich unterrichten zu lassen, ist vielmehr für die produktive Teilnahme am Berufsleben bis zu dessen Ende unerläßlich geworden, und diese Tendenz nimmt zu und

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nicht ab, wenn man etwa die steigenden Aufwendungen der Wirtschaft für Fortbildungsmaßnahmen bedenkt. Deshalb kann es in der Schule nicht um die Inszenierung irgendwelcher beliebiger Lernprozesse gehen, vielmehr geht es um ganz besondere, nämlich um unterrichtliche. Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, muß also heute von allen gelernt werden, und diese Fähigkeit ist durch nichts anderes ersetzbar. Das hat folgenden Grund:

Die Welt, mit der wir täglich zu tun haben - Wirtschaft, Politik, Kultur - ist als solche weder lehrbar noch lernbar. Als solche besteht sie nur aus einem Sammelsurium von Eindrücken, Einwirkungen, Forderungen und Signalen, so wie wir es etwa an einem abendlichen Fernsehprogramm ablesen können, das uns eine Folge zusammenhangloser Programmteile bietet. Erst die Erfindung des Unterrichts macht es möglich, komplizierte Sachverhalte und Zusammenhänge so zu vereinfachen und zu verdichten, daß sie Schritt für Schritt verstanden werden können und daß dabei grundlegende, modellhafte, exemplarische oder ähnlich strukturierte Kenntnisse und Einsichten entstehen, die wiederum nichts Endgültiges haben dürfen, sondern dem Weiterlernen dienen sollen. Unterrichten markiert einen Weg mit immer nur vorübergehenden Zielen. Das Nachdenken über Schule muß also primär bei der Lehrbarkeit der Sachen beginnen und nicht bei der Lernbereitschaft der Lernenden, bei deren Motiven und Interessen z.B.; die können sich ändern wie das Wetter. Von sich aus kann der Schüler im allgemeinen auf diese grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit nicht kommen, eben dafür braucht er seine Lehrer. Von sich aus kommt er zB. nicht auf den Kreislauf der Natur, daß es nämlich zwischen dem Regen, der vom Himmel fällt, und dem Leitungswasser, das er trinkt, einen Zusammenhang gibt. Er braucht seine Lehrer, um sich zutreffende Vorstellungen über die ihn umgebende Wirklichkeit machen zu können, denn die verrät ihm das von sich aus nicht.

Damit ist ein weiteres Moment der Sache angesprochen. Unterricht geschieht immer in Distanz zum sonstigen Leben, für dessen Bewältigung er andererseits gebraucht wird. Der Grundschüler wie der Manager verlassen ihr normales Leben, um sich unterrichten zu lassen, und kehren danach wieder in dieses zurück. Das Leben selbst lehrt zwar vieles und wichtiges, aber es unterrichtet nicht. So gesehen ist Unterricht eine geniale kulturelle Erfindung, weil sie uns ermöglicht, die Unmittelbarkeit unserer Existenz zu überschrei-

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ten und für noch unbekannte spätere Verwendungssituationen gleichsam auf Vorrat zu lernen. Was dagegen das Leben lehrt, bleibt von sich aus fixiert an die Unmittelbarkeit der jeweiligen Situation. Das merken wir nur deshalb in unserem Alltag nicht, weil wir durch Unterricht die Fähigkeit erworben haben, die an und für sich der Unmittelbarkeit verhafteten Erfahrungen zu systematisieren und zu verallgemeinern und sie uns so für weitere Verwendungen nutzbar zu machen. Diese grundlegende Polarität von Unterricht und Leben darf nicht eingeebnet werden, wie gelegentlich mit Parolen einer "lebensnahen Schule " gefordert wird; würde man schulische Lernprozesse ähnlich organisieren wie das Leben es selbst tut, wäre die Schule überflüssig. Unter diesem Gesichtspunkt müßten eine ganze Reihe von didaktisch-methodischen Moden wie "Schülerorientierung", "Erfahrungsorientierung" einer genauen Prüfung unterworfen werden, ob sie nämlich nicht zumindest von einem bestimmten Ausmaß an den Sinn des schulischen Lernens verfehlen, der ja nicht darin bestehen kann, bloß zu verdoppeln oder zu verstärken, was das Leben sowieso beibringt.

2. Es geht aber nicht nur um die subjektive Sicht aus der Perspektive des Schülers, damit er später sein Brot verdienen kann. Vielmehr hat die Gesellschaft ein existentielles Interesse daran, daß die jeweils nachwachsende Generation das bereits vorhandene Potential an Kenntnissen und Fähigkeiten zumindest übernehmen, möglichst sogar übertreffen kann. Ohne eine Garantie für diesen Stabwechsel der Generationen würde das gesellschaftliche Leben und damit auch die Lebensqualität eines jeden einzelnen zusammenbrechen. Die Gesellschaft, in der wir im Gemenge der Generationen leben, muß immer wieder durch intelligente Arbeit und Tätigkeit reproduziert und weiter entwickelt werden, und dafür sind unterrichtliche Qualifizierungen unerläßlich. Deshalb muß es Lehrpläne bzw. Richtlinien, Leistungsanforderungen und deren Kontrolle geben, weil sonst die Lernarrangements in den Schulen beliebig würden und insofern am gesellschaftlichen Zweck der Veranstaltung Schule vorbeigehen könnten. Politisch gesehen würde dies zu einer bedrohlichen gesellschaftlichen Destabilisierung führen. Jede nachwachsende Generation braucht - wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen der Leistungsfähigkeit - einen gemeinsamen Bestand von Kenntnissen, Fähigkeiten und Weltvorstellungen, um die gesell-

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schaftlichen Funktionen später wenigstens mit einem Minimum an Gemeinsamkeiten übernehmen zu können. Diese Gemeinsamkeiten in Lehrplänen und Richtlinien heute festzulegen, ist nicht einfach und wohl nur im Rahmen eines größeren gesellschaftlichen Konsenses vernünftig. Wie Schule zu verstehen sei, ist jedenfalls auch politisch keineswegs gleichgültig.

3. Ohne Schule könnten die Menschen im allgemeinen und die Kinder im besonderen die in ihnen schlummernden Fähigkeiten in nur sehr geringem Maße entfalten; sie könnten sich - "altmodisch" gesprochen - nicht "bilden". Die Fähigkeit, sich unterrichten zu lassen, liegt so gesehen also auch im wohlverstandenen Interesse des Kindes selbst und tritt zu diesem keineswegs in einen prinzipiellen Widerspruch, als sei sie per se nicht "kindgerecht". Im Gegenteil sind die Schulfächer mit ihren unterschiedlichen Anforderungen nicht zuletzt dazu da, die Fähigkeiten des Kindes, die niemand vorher genau genug kennt, herauszufordern, so daß es immer besser zu erkennen vermag, was es gut kann und was weniger gut, was ihm mehr liegt und was weniger, damit es allmählich auf diesem Hintergrund seine Zukunftsplanung zu entwickeln vermag. So gesehen ist die weniger gute Zensur genau so wichtig wie die gute, aber auch unterschiedliche Unterrichtsmethoden, die z.B. eher auf Einzelarbeit oder eher auf Kooperation setzen, sind dafür wichtige Erfahrungen. Da das Kind solche Zusammenhänge von sich aus nicht ohne weiteres zu erkennen vermag, weil es meist lieber in seiner begrenzten, naturwüchsigen Lebensaktualität verbleibt, falls es sich dabei einigermaßen wohl fühlt, muß die Schule vom ersten Schultag an die Schüler entsprechend fordern. Das Kind hat im allgemeinen von sich aus keinen Bildungswillen, der über seinen unmittelbaren Lebenshorizont hinausreicht. Sein natürlicher Lernwille ist zunächst einmal darauf beschränkt, d.h. es will sich in seiner unmittelbaren sozialen Umgebung erfolgreich bewegen und dafür dann auch etwas lernen; das ist wichtig, aber etwas ganz anderes. Das Kind merkt nicht, wenn es sich bildet, aber es merkt, wenn es sich durch Lernen in seiner Umgebung erfolgreicher als vorher bewegen kann. Schüler neigen oft bis zur Oberstufe des Gymnasiums zu der Ansicht, was die Schule ihnen beibringe, habe mit ihrem wirklichen Leben wenig oder nichts zu tun. Daß dies ein Irrtum ist, stellt sich aber spätestens beim Berufseintritt bzw. bei der Aufnah-

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me eines Studiums heraus.

So manche pädagogischen Konzepte, die sich vordergründig auf die aktuelle Befindlichkeit des Kindes einlassen und diese überschätzen, betrügen es in Wahrheit um seine noch unentdeckten Möglichkeiten. Die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit, ihre Individualisierung, ist kein inneres Programm, dem man nur seinen Lauf lassen und das man allenfalls noch ermutigen müsse; vielmehr bedarf sie der Herausforderung durch objektive, gerade nicht aus der subjektiven Innerlichkeit sprießende Ansprüche und der tätigen und auch mühsamen Auseinandersetzung damit. Durch keinen pädagogischen Trick sind die Mühen und die Anstrengungen, die der Unterricht abverlangt, zu umgehen.

4. Ohne Schule würde sich ein wichtiges Prinzip unserer demokratischen Gesellschaft nicht realisieren lassen, daß nämlich der gesellschaftliche Status der Bürger nicht mehr wie früher durch Herkunft, sondern durch Leistung geregelt werden soll. Wie soll dies geschehen, wenn das Kind nicht die Möglichkeit erhält bzw. ergreift, durch Schulleistungen (durch welche sonst?) sich seinen Status, u.U. auch durch Ablösung von dem seines Elternhauses, selbst zu verschaffen? Schule ist die einzige Möglichkeit der Emanzipation des Kindes, über die es selbst verfügen kann. Das einzige Kapital, das ein Kind von sich aus vermehren kann, sind sein Wissen und seine Manieren. Ohne Schule würden die Reichen ihren Nachwuchs wieder wie früher privilegieren können. Ohne Schule bliebe das Kind also den gleichsam naturwüchsigen Mechanismen seiner Sozialisation ausgeliefert, die ihrerseits von den Zufälligkeiten seiner Geburt und seines Lebensmilieus abhängen.

Unter demokratischem Gesichtspunkt muß unser Schulwesen also so strukturiert sein, daß es möglichst jedem Kind die optimale Entfaltung seiner Fähigkeiten ermöglicht, - dem begabteren ebenso wie dem weniger begabten.

Zusammenfassend läßt sich also sagen:

Die Schule vermag etwas, was sich im sonstigen Leben keineswegs von selbst ergibt, und das läßt sich im Begriff des Unterrichts zusammenfassen. Damit keine Mißverständnisse aufkommen füge ich hinzu, daß Unterricht auf unterschiedliche Weise betrieben werden kann, mit einer Fülle von didaktisch-methodischen Variationen. Der Lehrervortrag, den die Schüler möglichst konzentriert zur

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Kenntnis nehmen, ist keineswegs die einzig mögliche Form. Die Erarbeitung einer künstlerischen Aufführung, die Herstellung einer Wandzeitung über ein Thema, die Durchführung von Projekten, - dies alles und manches andere ist in meinem Verständnis auch Unterricht, solange nicht eine dieser methodischen Variationen dogmatisiert, also für die einzig vernünftige ausgegeben wird. Das geschieht meist dann, wenn der Unterricht für äußere Zwecke, die für erzieherisch wünschenswert gehalten werden, instrumentalisiert wird.

Begründet werden derlei schulpädagogische Forderungen vor allem aus der Erfahrung vieler Lehrer, daß die überlieferten Vorstellungen von Unterricht bzw. die damit verbundenen Erwartungen für eine zunehmende Zahl von Schülern nicht mehr anwendbar seien, weil sie zu große intellektuelle bzw. soziale Schwierigkeiten damit hätten. Um ihnen gerecht werden zu können, müßten andere Formen des Lernarrangements gesucht werden, und der Begriff des Unterrichts müsse von daher neu gefaßt werden. Aber nichts, was bei solchen Reformbemühungen herauskommt, scheint zu helfen; im Gegenteil werden die Schüler nachgerade methodenresistent. Was immer die Lehrer sich einfallen lassen, sie kurieren damit nicht, woran es hapert: den Mangel an Disziplin, an Konzentration, an Leistungsbereitschaft. Offensichtlich ist dieser Mangel nicht einfach nur durch bestimmte Verfahrensweisen zu beseitigen, die sich etwa das Unterhaltungsprogramm des Fernsehens zum Vorbild nehmen. Die Fähigkeit sich unterrichten zu lassen kann nicht durch andere Lernarrangements ersetzt werden, bloß weil sie angenehmer erscheinen. Natürlich muß man schwächere Kinder besonders fördern, aber das ergibt nur Sinn, wenn dafür der Normalfall im Visier bleibt, daß nämlich auch diese Schüler irgendwann in die Lage versetzt werden, am üblichen Unterricht erfolgreich teilzunehmen. Dessen Maßstäbe selbst können nicht zur Disposition stehen.

Schule als Ort gesellschaftlichen Umgangs

Mit dem Unterricht verbunden ist jedoch noch eine weitere wichtige Aufgabe der Schule, nämlich die in der Öffentlichkeit üblichen Verhaltensweisen einzuüben und einzufordern. Die Schule als Insti-

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tution muß darauf achten, daß sie ihren von der Gesellschaft vorgegebenen und von den Steuerzahlern ermöglichten Zweck auch verwirklichen kann. Dafür muß die Schule ihre Macht zur Geltung bringen, die sie als Institution zur Verfügung hat. Der Begriff "Macht" in diesem Zusammenhang ist dem pädagogischen Zeitgeist höchst verdächtig, als sei das per se etwas Böses. Es gibt aber keine machtfreien sozialen Gebilde, die Frage ist immer nur, wessen Macht sich mit welcher Legitimation Geltung verschafft - ob z.B. die des Lehrers als Repräsentant seiner Institution oder die der störenden Schüler. Die Macht der Institution ist eine politische Größe, keine pädagogische, sie taugt also nicht zur Lernhilfe im Unterricht; aber sie ermöglicht überhaupt erst einen vernünftigen Unterricht, indem sie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen durchsetzt. Die dafür zur Verfügung stehende Macht erwächst also auch nicht aus der unmittelbaren menschlichen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, ist keine Sache der mehr oder weniger gelungenen "Beziehungskiste" zwischen ihnen, wie vielfach angenommen wird, sondern ist dieser Beziehung vorgegeben.

Als Institution ist die Schule im Unterschied zur Familie Teil des öffentlichen Lebens, und das Kind tritt mit dem Schulbeginn in dieses öffentliche Leben ein. Daraus folgt unter anderem, daß der Schulunterricht nicht einfach die Fortsetzung des elterlichen Erziehungswillens mit anderen Mitteln sein kann. Im privaten Rahmen der Familie dürfen z.B. Vorurteile aller möglichen Art, etwa rassistische oder sexistische, vertreten werden, jedenfalls kann das niemand verhindern; die Schule dagegen ist universellen Maßstäben wie Toleranz und Wahrheit verpflichtet, jedenfalls solchen Normen und Regeln, die das Zusammenleben aller Gesellschaftsmitglieder zu ordnen in der Lage sind und die nicht nur an einer gesellschaftlichen Teilgruppe wie der Familie orientiert sind. Als Institution muß die Schule also in ihren Mauern die Regeln des öffentlichen Umgangs geltend machen, und dazu gehört auch die zivile Art und Weise, in der dort miteinander gesprochen wird. In diesem Sinne kann und muß die Schule immer noch "erziehen", indem sie nämlich die für die Abhaltung des Unterrichts wie für den öffentlichen Umgang der Menschen gültigen Regeln zur Geltung bringt und nicht illusionär darauf wartet, daß diese Regeln irgendwann aus der kindlichen Innerlichkeit von selbst entstehen; diese Hoffnung beruht auf einem politischen Mißverständnis der Sache, denn soziale

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Verhaltensweisen lernen wir Menschen in erster Linie dadurch, daß wir in vorgegebene Ordnungen hineinwachsen, und nicht dadurch, daß wir sie immer wieder neu erfinden.

Allerdings sind die Regeln, die die Schule geltend machen muß, in unserer pluralistischen Gesellschaft nur noch von begrenztem Wert. Die Schule ist nur noch ein Sozialisationsfaktor unter mehreren anderen, und wie das, was dort als Verhalten eingefordert wird, in den übrigen Lebensbereichen der Schüler zur Geltung kommt, steht zunächst einmal dahin und hängt davon ab, was in diesen anderen Bereichen als erfolgreiches Sozialverhalten erwartet und honoriert wird. Im Rahmen ihrer pluralistischen Sozialisation müssen die Schüler lernen, sich an unterschiedlichen sozialen Orten unterschiedlich je nach den dort geltenden Regeln zu verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter Gleichaltrigen. An manchen dieser Orte - z.B. in der Gleichaltrigen-Gruppe - verwenden sie einen eigentümlichen "Jugendjargon" - was im übrigen nicht neu ist. Wenn die Schule nun in falsch verstandener Anbiederung diesen Jargon generell - in Ausnahmen kann dies durchaus anschaulich sein - als Unterrichtssprache zuläßt, oder Schimpfkanonaden und andere Verbalaggressionen in Gegenwart von Lehrern oder gar während des Unterrichts hinnimmt, verhält sie sich nicht etwa "kindgerecht", sondern verwahrlosend und betrügt die Schüler um eine wichtige Sozialerfahrung. Schule ist eben Schule, keine Diskothek und kein Fußballplatz, und was als Schimpfkanonade während eines Konfliktes in der großen Pause vielleicht noch toleriert werden kann, ist während des Unterrichts fehl am Platz.

Bei den in solchen Fällen gebotenen pädagogischen Interventionen handelt es sich nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs, sondern um die Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens. Die Öffentlichkeit kann weder von uns Erwachsenen, noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine bestimmte Charakterstruktur erwarten, und beides kann man auch in Schulen nicht überprüfbar anerziehen. Niemand muß z.B. Ausländer oder einen bestimmten Frauen- bzw. Männertyp mögen, aber verhalten muß sich jeder ihnen gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze.

Der gesellschaftliche Pluralismus, der in den unterschiedlichen Verhaltenserwartungen an unterschiedlichen sozialen Orten zum Aus-

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druck kommt, macht nun dem überlieferten Verständnis von Schule nicht wenig zu schaffen. Er führt nämlich dazu, daß das, was die Kinder für ihr gegenwärtiges und künftiges Leben insgesamt brauchen, nicht mehr an einem Ort - auch nicht in der Schule - umfassend gelernt werden kann, so daß es von daher auf alle anderen sozialen Orte einfach übertragbar wäre. Die unterschiedlichen Einflüsse, denen die Kinder ausgesetzt sind, gehorchen nämlich verschiedenen Maximen, die miteinander in Konkurrenz treten und die jeweils eigentümliche Maßstäbe zur Geltung bringen. Die Maßstäbe der schulischen Aufklärung sind nicht die des Journalismus, des Freizeitmarktes oder der Fernsehunterhaltung und umgekehrt. Die besondere Schwierigkeit des heutigen Aufwachsens besteht im wesentlichen darin, daß die Kinder diese widersprüchlichen Erwartungen, die ja nicht zuletzt auch Wertwidersprüche zum Ausdruck bringen, produktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren und für ihre Lebensplanung zu nutzen lernen. Daraus folgt aber auch, daß jede dieser Instanzen auch ihre eigenen Wertmaßstäbe zur Geltung bringt: die Familie z.B. ebenso wie in anderer Weise die Schule. Beide erziehen zunächst einmal für sich selbst, für ihren eigenen Sinn und Zweck.

Kritik an der Ausdehnung des Erziehungsbegriffs

Damit sind wir bei der Frage, was denn die Schule an Erziehung überhaupt noch leisten kann; denn allenthalben ist zu hören, die Schule müsse wieder mehr erziehen.

Der Begriff Erziehung, mit dem heute alle möglichen Aufgaben der Schule zugemutet werden, setzt immer einen Bezug zu einem Kollektiv voraus, zur Individualität kann man nicht erziehen; das Individuum findet seine Form in tätiger Auseinandersetzung mit äußeren Ansprüchen, auch mit erzieherischen. Woher soll aber heute eine solche kollektive Selbstverständlichkeit kommen? Gehen wir die Möglichkeiten doch einfach einmal durch!

Das Lehrerkollegium einer Schule könnte einen solchen kollektiven Bezugspunkt abgeben. Der Pluralismus hat aber längst auch die Lehrerkollegien ergriffen, die in vielen pädagogischen Fragen nicht mehr einer Meinung sind und angesichts des gesellschaftlichen Plu-

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ralismus auch nicht mehr sein können. Wenn es hoch kommt, einigt sich ein Kollegium über Grundsätze des gemeinsamen Umgangs mit Schülern und deren Eltern. Aber das kann nur ein wenn auch wichtiger Minimalkonsens sein. Im übrigen vertreten die Lehrer jeweils einzeln ihre persönlichen Auffassungen in pädagogisch relevanten Fragen. Das muß übrigens für die Schüler keineswegs verwirrend sein, weil sie auf diese Weise ja auch erfahren können, wie ein und derselbe Beruf individuell gestaltet werden kann.

Hinzu kommt, daß im Unterschied zu früheren Zeiten die Schule sich von ihren jeweiligen Milieus emanzipieren mußte. Ich denke dabei insbesondere an das katholische, evangelische, bildungsbürgerliche und sozialistische Milieu. "Erziehung" durch die Schule war früher im wesentlichen Erziehung zu demjenigen Milieu, in dessen Rahmen sie sich verstand. Im Pluralismus ist jedoch dieser kollektive Bezug weitgehend verschwunden, die Schularbeit befindet sich nicht mehr in Übereinstimmung zur übrigen Sozialisation, sie wird vielmehr zu einem spezifischen Instrument im Konzert der gesamten Sozialisation. Das Entschwinden der Milieus und die radikale Durchsetzung nicht nur des politischen, sondern auch des kulturellen Pluralismus hat die Pädagogik insgesamt vor historisch neuartige Probleme gestellt, die ich in dem Buch Wozu ist die Schule da? (Stuttgart 1996) ausführlicher dargestellt habe.

Die Elternschaft repräsentiert ebenfalls kein kollektives Milieu mehr, auf das sich ein schulischer Erziehungswille generell stützen könnte. Vielleicht ist ein Rest davon noch im Umkreis privater konfessioneller Schulen zu finden. Aber sonst stehen die Eltern der Schule im allgemeinen einzeln gegenüber. Wenn es hier etwas Kollektives gibt, dann handelt es sich meist um von den Massenmedien transportierte pädagogische Moden, denen aber keine soziale Wirklichkeit und vor allem auch keine Verbindlichkeit im Sinne der alten Milieus mehr entspricht.

Und der Staat? Er kann in seinen Schulen nicht erziehen, wenn er andererseits diesseits der Legalität alle wesentlichen normativen Entscheidungen freigegeben hat und deswegen den Schülern nicht mehr vorschreiben kann, wie sie sich in Alltagsfragen zu verhalten haben. In der Öffentlichkeit ist auch Minderjährigen inzwischen alles erlaubt, was nicht per Gesetz generell verboten ist. Zu meiner Schulzeit konnte die Schule noch Rechenschaft über mein außerschulisches Freizeitverhalten verlangen, das war in der Schulord-

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nung so vorgesehen und wurde im Konfliktfalle auch geltend gemacht, und dies weit vor einem Gesetzesverstoß; von einem Schüler wurde damals ein bestimmtes Verhalten in der Öffentlichkeit "selbstverständlich" erwartet, da wartete man nicht erst darauf, daß ein Gesetz übertreten wurde.

Merkwürdigerweise wird der Ruf nach "mehr Erziehung" in der Schule zu einem historischen Zeitpunkt laut, an dem die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür weitgehend entschwunden sind. Es ergibt also keinen Sinn mehr, einfach eine Liste des erzieherisch Wünschbaren aufzustellen und deren Realisierung von der Schule zu erwarten. Und wie immer, wenn einer Idee die Wirklichkeit davongelaufen ist, für die sie einmal tragfähig war, entsteht daraus fast folgerichtig eine Ideologie. Ein großer Teil dessen, was sich heute schulpädagogisch fortschrittlich gibt, ist in diesem Sinne tatsächlich ideologisch geworden. Ich will das kurz an einigen Gefahren erläutern, die sich daraus ergeben, um zum Abschluß kurz zu skizzieren, worin die erzieherischen Möglichkeiten der Schule auch heute noch liegen.

1. Unter dem Postulat eines unreflektierten Erziehungsanspruchs droht die eigentliche unterrichtliche Aufgabe zugunsten anderer, für erzieherisch wichtig gehaltener, immer mehr zurückgedrängt zu werden. Ein großer Teil dessen, was schulpädagogisch "in" ist, erklärt sich von daher: Schülerorientierung, soziale Integration, soziales Lernen u.a. mehr. Solche erzieherischen Vorgaben werden dann auf den Unterricht übertragen, so daß nur noch das gelehrt wird, was diesem Ziel dient; die objektive Wirklichkeit, die der Unterricht ja aufklären soll, wird von daher sortiert und instrumentalisiert. Das wird erkennbar in den sogenannten "Lernzielen", die der Unterricht erreichen soll. Derartige erzieherische Ansprüche erweisen sich darüber hinaus als bodenlos, weil der Unterricht von immer neuen erzieherisch gemeinten Absichten geradezu überschwemmt wird; über die Schiene "Erziehung" werden Ansinnen an die Schule herangetragen, die im Prinzip grenzenlos und auch allen möglichen Moden des Zeitgeistes ausgeliefert sind. Was immer an Kindern und Jugendlichen zu bemängeln ist, wird der Schule als Aufgabe übertragen. Dabei werden die Probleme von Minderheiten auf die Mehrheit der Schüler einfach hochgerechnet; denn die Mehrheit der Schüler hat nach wie vor keine unüblichen Probleme

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mit dem schulischen Unterricht. Aus dieser Tendenz kann sich auf Dauer eine neue Spaltung des Schulwesens ergeben, weil viele Eltern die damit verbundenen unterrichtlichen Leistungsrückgänge nicht hinnehmen werden. Vielleicht führt dies zu einer zunehmenden Privatisierung des Schulwesens, irgendwann sogar einschließlich der bisher gesetzlich vorgeschriebenen gemeinsamen Grundschule. Dann steht uns eine neue "Klassenschule" ins Haus, die aus Gründen der demokratischen Partizipation aller Bürger niemand ernstlich wollen kann.

2. Über den Begriff der "Erziehung" werden, wenn man genauer hinsieht, im wesentlichen pädagogisch kaschierte ideologische Weltsichten transportiert, die sich gegenüber den realen gesellschaftlichen Bezügen verselbständigen. Deren wesentliche Stichworte sind "Ganzheitlichkeit" und "Integration". Vertrat die Schule früher im wesentlichen die Ideologie des ihr zugehörigen Milieus, so produziert sie nun eine eigene, und die ist gekennzeichnet durch einen anti-intellektuellen, anti-kognitiven und insofern auch gegenaufklärerischen Affekt, ferner durch Emotionalisierung und durch Überbetonen menschlicher Nähebeziehungen - alles Momente, die den Unterricht immer mehr entwerten. Eine Variante davon ist die vorgängige Moralisierung von Sachverhalten, die schon bis in manche Richtlinien vorgedrungen ist. Die Moralisierung der Welt tritt an die Stelle ihrer Aufklärung.

3. Unter dem Stichwort der "Sozialpädagogisierung" soll die Schule pädagogische Aufgaben der Kompensation oder gar der Nachsozialisierung übernehmen. Schwierige, lernschwache, geistig behinderte Kinder sollen in den Mittelpunkt der erzieherischen Arbeit rücken. Die Schule soll so zur umfassenden "Lebensschule" werden. Aber für derartige, an sich ungemein wichtige pädagogische Aufgaben ist die Schule nicht qualifiziert, rechtlich nicht verfaßt und auch nicht ausgestattet. Auf diese Weise wird die pädagogische Arbeitsteilung zwischen Familie, Schule und Jugendhilfe unterlaufen, anstatt zu einer produktiven, dem Wohl gerade des schwierigen und lernschwachen Kindes dienenden Zusammenarbeit zu führen. Daß Schule und Jugendhilfe rechtlich unterschiedlich geregelt sind, ist bedeutsam für unsere demokratische Verfassung. nämlich ein wesentliches Moment der Gewaltenteilung. Wenn man das ignoriert,

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droht die Schule zu einem pädagogischen Monopolisten zu werden, zu einem pädagogischen Leviathan.

Wegen derartiger Fehlentwicklungen ist es nützlich, sich die tatsächlichen erzieherischen Möglichkeiten der Schule unter unseren Bedingungen der pluralistischen Sozialisation einmal knapp vor Augen zu führen. Ich sehe sie vor allem unter vier Aspekten.

1. Der Unterricht selbst hat eine erzieherische Implikation, die allerdings im Einzelfalle schwer zu kalkulieren und schon gar nicht planbar ist; denn er beschäftigt die Vorstellungskraft der Schüler und stattet sie mit formalen geistigen Fähigkeiten aus. Indem die Schüler sich in der Schule gerade nicht mit sich selbst bzw. ihrer aktuellen Befindlichkeit befassen, sondern mit geistigen Ansprüchen, die die Stoffe und damit auch die natürliche und kulturelle Wirklichkeit an sie stellen, werden sie z.B. auch mit Werten konfrontiert, an denen sie sich abarbeiten können.

Zudem fordert der Unterricht wichtige soziale Verhaltensweisen heraus: Einfühlungsvermögen, Toleranz, Zuhören können u.a. mehr.

2. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung, die immer noch von der Persönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer ausgeht: wie sie mit Schülern kommunizieren und sich Konflikten stellen, wie sie sich fachlich und didaktisch präsentieren, wie sie mit dem geistigen Gehalt ihrer Stoffe umgehen, wie sie zwischen persönlicher Meinung und sachlicher Information trennen usw. Nach wie vor können von Lehrerinnen und Lehrern bedeutsame Vorbildwirkungen ausgehen, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist.

3. Von der erzieherischen Wirkung der institutionellen Regeln der Schule war schon die Rede. Sie sind im Grunde die einzige kollektive Vorgabe, die noch an den traditionellen Begriff von Erziehung erinnert. Die Schule erzieht für sich selbst, damit ihr Zweck, das Unterrichten, durchgeführt werden kann. Indem sie dies tut, lehrt sie zugleich die Regeln des vernünftigen und erfolgreichen öffentlichen Verhaltens. Ein gelingender Unterricht allein impliziert bereits wichtige Momente einer Sozialerziehung.

4. Erzieherische Wirkung kann nicht zuletzt auch von der Art und Weise ausgehen, in der das soziale Miteinander in der Schule gestaltet wird. Dabei ist nicht nur an Stil und Ton des täglichen Umgangs und an die Möglichkeiten der formellen Mitbestimmung der

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Schüler zu denken, sondern auch an das, was man gemeinhin "Schulleben" nennt, also z.B. künstlerische Aufführungen, Feste und Feiern usw. Es widerspricht der Aufgabe der Schule ja nicht, wenn die Schüler sich dort wohl und sozial akzeptiert fühlen. Aber auch hier darf man die begrenzten Möglichkeiten nicht überziehen, die im Zweck der Schule beschlossen liegen.

Alle diese erzieherischen Einwirkungen gruppieren sich um die eigentliche Aufgabe der Schule: das Unterrichten. Wenn diese Kernaufgabe aus dem Blick gerät, wird alles andere konfus, willkürlich, zufällig und letzten Endes orientierungslos.

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192. Interview (1998)

In: Politik unterrichten, H. 2/1998, S. 4 - 15

Wir führen dieses Interview anläßlich Ihres 65. Geburtstages. Sie sind 1932 geboren. Welche Bedeutung für die Entwicklung Ihrer fachdidaktischen Konzeption besaßen das 3. Reich, der 2. Weltkrieg und das Weltkriegsende?

Eigentlich eine geringe. Natürlich bin ich durch den Krieg geprägt, darüber ließe sich viel erzählen, aber mit der fachdidaktischen Konzeption hat das weniger zu tun. Ich erinnere mich, daß ich nach dem Kriege aufmerksam am Rundfunk saß und die Nürnberger Prozesse verfolgte und damals den Eindruck hatte, daß da eine Bande von Kriminellen die Deutschen ins Unglück geführt habe, und damit war das Thema eigentlich für lange Zeit für mich erledigt. Das änderte sich, als ich während meiner Studienzeit mit dem Jugendhof Vlotho in Kontakt kam - Mitte der fünfziger Jahre - und dort - nicht an der Universität - in Diskussionen mit Vertretern meiner Vatergeneration auf eine Reihe von Problemen gestoßen bin, die mir zeigten, daß das Thema keineswegs erledigt war. An der Universität war davon nicht viel zu spüren. Diese Diskussionen haben dann meine weiteren Überlegungen nachhaltig bestimmt.

Theodor Wilhelm, in der Fachdidaktik besser unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger bekannt, entwarf die Konzeption der Partnerschaftspädagogik. Er ist in der Fachdidaktik umstritten, in den letzten Jahren hat man sich aber seiner zumindest in der Zunft wieder erinnert.

Wie sehen Sie Theodor Wilhelm, welche Bedeutung besitzt er für Ihren wissenschaftlichen Werdegang?

Einen ganz erheblichen. Ich habe ihn durch Zufall kennengelernt, als ich im Jugendhof Steinkimmen tätig war, und er bot mir dann eine Assistentenstelle in Kiel an, die gerade frei geworden war, dadurch bin ich überhaupt in die akademische Laufbahn hineingekommen. Ich habe dann bei ihm meine Dissertation über die politische Bildungsarbeit im Jugendhof Steinkimmen geschrieben. Theodor Wilhelm hat mir als Assistent sehr viel Freiraum gelassen, was damals ganz ungewöhnlich im akademischen Betrieb war, und mich sehr unterstützt und animiert. Seine Arbeiten zur politischen Bildung und seine Veröffentlichungen nach dem Kriege überhaupt dienten mir auch als Vorbild für Stil und Ton, in dem über pädagogische Probleme zu sprechen und zu schreiben ist.

Sie haben die erste Didaktik im Bereich der politischen Bildung vorgelegt. Das Werk erreichte zwölf Auflagen. Diese Didaktik dürfte wohl die bekannteste fachdidaktische Konzeption im Bereich der politischen Bildung sein. Worauf führen Sie diesen Erfolg zurück?

Ich glaube, da spielten auch schlichte Zufälle eine Rolle. Wir waren damals eine junge Generation von Praktikern - Engelhardt, Fischer, Mahrenholtz, um nur einige zu nennen - und arbeiteten an denselben praktischen Problemen - jeder an seinem Ort, ich nicht in der Schule, sondern in einer außerschulischen Jugendbildungsstätte. Das Thema lag einfach in der Luft. Ein Grund für den Erfolg ist auch gewesen, daß ich wohl der erste war, der die Zeit gefunden hatte - als Doktorand - es systematisch zu

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bearbeiten. Die anderen Kollegen wären irgendwann in ähnlicher Weise wohl auch darauf gekommen. Wir waren ja alle unzufrieden mit der rein institutionellen politischen Bildung, die von der Nachkriegslehrer-Generation ganz vorsichtig und eher betulich betrieben wurde. Es gab unter uns Jungen so etwas wie ein Generationen-Selbstverständnis.

Theodor Eschenburg hat einmal das Ziel des Politikunterrichts an den Schulen den "kritischen Zeitungsleser" bezeichnet. Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Politikunterricht an den Schulen?

Das halte ich auch heute noch für eine hervorragende Formulierung, weil sie nämlich pragmatisch sagt, wo eine wesentliche Beteiligungsmöglichkeit des politischen Bürgers liegt, nämlich in der Teilnahme an der öffentlichen Diskussion, die im wesentlichen in den Medien stattfindet. Vielleicht hätte er heute noch das Fernsehen hinzugefügt.

Im Darmstädter Appell heißt es: "Zielpolitischer Bildungsarbeit muß deshalb die Befähigung von Schülerinnen und Schülern zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle in der Demokratie sein". Leider fehlen Ausführungen, worin die Bürgerrolle in der Demokratie besteht. Können Sie Aktivitäten nennen, die die Bürgerrolle in der Demokratie ausmachen?

Nach meiner Meinung hat Bildung überhaupt ihren letzten Sinn darin, die Partizipationschancen der Menschen in der Gesellschaft zu optimieren. Die politische, kulturelle und berufliche Beteiligung wären da vielleicht zu unterscheiden. Im Hinblick auf die politische Beteiligung ist der Normalfall, daß wir alle wahlberechtigt sind. Ferner haben wir im Beruf - für Schüler gilt das zum Teil in der Schule - Mitbestimmungsrechte, und dann gibt es natürlich die Fülle der vorparlamentarischen Möglichkeiten, die Jugendarbeit, die Bürgerinitiativen; sie werden im Augenblick wieder propagiert, vom Bundespräsidenten angefangen, was ich auch für richtig halte, weil ich denke, daß viele Probleme dieser Gesellschaft ohne Bürgerbeteiligung von unten einfach nicht mehr zu lösen sind von den großen Apparaten.

Dann paßt die nächste Frage nicht so recht, aber ich möchte sie trotzdem stellen. Liegt nicht ein Problem des Politikunterrichts darin, daß den geforderten Dienstleistungen nur geringe Aktivitäten des Normalbürgers gegenüberstehen?

Da fragen sich Lehrer und Schüler: "Wozu die ganze Anstrengung? Wir werden ja doch nicht Politiker!" Braucht der Bürger angesichts der faktisch doch recht geringen politischen Beteiligungsmöglichkeiten wirklich den politischen Unterricht?"

Ich halte die politischen Beteiligungsmöglichkeiten gar nicht für so gering. Außerdem ist es kein Fehler, wenn das Denkpotential und das Phantasiepotential größer ist, als die Menschen jeweils realisieren können und wollen; denn nur wenn das so ist, verfügen sie auch über ein Potential dafür, unter Umständen wichtige Veränderungen zu erzwingen. Im übrigen müssen die Bürger nicht unentwegt politisch aktiv sein, sie haben auch noch andere Aufgaben, ihre ständige urteilsfähige politische Kontrolle ist wichtig. Die Schule bildet keine Politiker aus, sondern Bürger, die diese kontrollieren sollen.

Nun zum Inhalt des Politikunterrichts: Der politische Konflikt steht bei Ihnen im Mittelpunkt des Politikunterrichts. Heute wird nach unserem Eindruck im Schulalltag entweder wie zu allen Zeiten Instruktionskunde betrieben, oder es werden Probleme analysiert. Stimmen Sie dieser

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Diagnose zu? Worauf führen Sie es zurück, daß Konflikte bzw. die Dimension ‘Prozeß des Politischen’ heute eher vernachlässigt werden?

Ich glaube, das hängt mit der bedenklichen schulpädagogischen Tendenz zusammen, die Objektivität der Welt nicht mehr besonders ernst zu nehmen und stärker auf die subjektive Seite zu setzen. Konflikte und die ihnen zugrunde liegenden politischen Prozesse bedürfen einer genauen Analyse und deshalb besonderer geistiger Fähigkeiten, während die von Ihnen genannten Tendenzen eher im Bereich des Meinens und des Austausches von Meinungen anzusiedeln wären. Ich halte das für eine bedenkliche Fehlentwicklung.
 
 

In den Niedersächsischen Rahmenrichtlinien, die jetzt veröffentlicht wurden, wurde anstelle eines Politikbegriffes die Dreidimension des Politischen - Inhalt, Prozeß und Form - aufgeführt, um den Lehrerinnen und Lehrern bei der Unterrichtsplanung die Inhaltsauswahl zu erleichtern. Halten Sie die Verwendung dieser drei Dimensionen bei der Unterrichtsplanung für hilfreich?

Formal kann man natürlich schon etwas damit machen, ich selbst kann damit allerdings wenig anfangen. Ich bin nur skeptisch im Hinblick auf den subjektivistischen Trend. Mir wäre es lieber, wir würden uns wieder über Kanon-Probleme unterhalten: Was soll warum gelernt werden dabei?

Eine große Bedeutung bekommen heute globale Probleme oder Schlüsselprobleme in den Rahmenrichtlinien eingeräumt. Besteht nicht die Gefahr, daß sich das Fach zu einer Welt-Problemkunde entwickelt?

"Schlüsselproblem" gehört zu den modischen Zauberworten der gegenwärtigen Schulpädagogik, die nichts erklären und zu nichts Vernünftigem brauchbar sind. Die Gefahr besteht vor allem in einer fatalen Moralisierung der politischen Stoffe, denn anders geht es ja gar nicht. Wie wollen Sie denn Weltproblem-Kunde mit Schülern machen, die nicht einmal das Wahlrecht haben, außer Sie tun es auf moralisierende Weise, und dieser Trend läßt sich heute bis in die Schulbücher hinein verfolgen. Noch schlimmer wird es, wenn die "Schlüsselprobleme" von möglichst allen Fächern aus bearbeitet werden sollen, woher soll dann die fachliche Kompetenz kommen?

Ihr größter, auf jeden Fall einer Ihrer bleibenden Verdienste für den Politikunterricht besteht unseres Erachtens darin, daß Sie die politische Analyse und Urteilsbildung mit Hilfe von Kategorien in den Politikunterricht eingeführt haben. Die meisten Lehramtsanwärter und Referendare der 60er und 70er Jahre haben diese Kategorien gelernt. Sehen auch Sie in der Anbahnung des selbständigen Fragens mit Hilfe von politischen Kategorien den Schwerpunkt Ihrer fachdidaktischen Konzeption?

Ja. Das war der Ausgangspunkt meiner ersten Dissertationsfassung: Ich habe mich angesichts eines politischen Konfliktes - das war damals beispielhaft die Spiegel-Affäre - gefragt, was ich eigentlich selbst tue, wenn ich darüber nachdenke, was da abläuft. Ich bin darauf gekommen, daß ich Fragen stelle an die Sachverhalte, und dann habe ich aus der Selbsterfahrung versucht, die Sache zu systematisieren: Welche Fragen sind eher zufällig, welche sind kategorial in dem Sinne, daß sie für das Politische grundsätzlich, also immer gelten? Dazu mußte ich natürlich auch die politische Philosophie und die Politikwissenschaft befragen - mit welchen Fragen arbeiten die eigentlich? Auf diese

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Weise ist das Kategorien-Ensemble dann entstanden - nie als perfekt gedachtes System, sondern als pragmatisches Instrumentarium, nach dem Motto: Je mehr solcher Fragen man stellt, um so differenzierter können die Antworten sein - aber es geht auch mit weniger.

Welchen Einfluß auf die Zusammenstellung Ihrer Kategorien besitzen die Pluralismustheorie, z. B. von Ernst Fränkel, und Dahrendorfs Theorie des sozialen Konflikts?

Wie ich eben schon angedeutet habe, haben sie auf die Entstehung des Kategorienmodells keinen direkten Einfluß gehabt. Das Modell wurde in ganz anderen Zusammenhängen entwickelt und diskutiert, nämlich in den studentischen Teams, in denen wir die politische Bildungsarbeit in den Jugendhöfen Vlotho und Steinkimmen gemacht haben. Erst später habe ich dann vor allem Dahrendorf gelesen und fand dabei eine interessante Bestätigung dessen, was wir schon im Rahmen unserer pädagogischen Praxis herausgefunden hatten. Die pädagogischen Konsequenzen des Pluralismus sind mir erst in den letzten Jahren wirklich aufgegangen, daß man nämlich nicht mehr wie früher einfach von Erziehung reden kann, sondern daß sich das Aufwachsen der Kinder und die damit verbundenen pädagogischen Interventionen ebenfalls pluralisieren - das habe ich zum Thema meines Buches "Wozu ist die Schule da?" gemacht.

In Ihrer "Kleinen Didaktik des politischen Unterrichts" aus dem Jahre 1997 im Wochenschauverlag zeigen Sie ein vereinfachtes Verfahren für die Analyse von politischen Konflikten auf, das im wesentlichen auf fünf Kategorien bzw. Leitfragen beruht. Welche verschiedenen Problemdefinitionen sind erkennbar, welche verschiedenen Interessen sind erkennbar, welche Ursachen für den Konflikt werden genannt, welche Folgen hat diese oder jene Handlungsstrategie, wenn sie sich durchsetzt? Wie ist die Rechtslage? Sollen die Lehrerinnen und Lehrer versuchen, die Anwendung dieser Kategorien bei der Konfliktanalyse ihren Schülern zu vermitteln?

Ja, natürlich. Deshalb habe ich sie ja formuliert. Es ist ein etwas vereinfachtes Modell gegenüber der Dissertationsfassung, die natürlich auch davon leben mußte - als Dissertation - daß sie die Dinge relativ kompliziert und gründlich analysierte. In der vereinfachten Fassung habe ich noch einmal versucht, den Kern des Modells zur Debatte zu stellen, daß es dabei eben um Fragen geht, um grundsätzliche Fragen, und ich habe diese fünf vorgeschlagen, aber ebenfalls nicht als endgültiges System, sondern als Grundriß für eine didaktische Pragmatik. Die Schüler müssen lernen, richtige, d.h. der Sache Politik angemessene Fragen zu stellen.

Betrachten Sie im Vergleich dazu die Vermittlung von Grund- bzw. Orientierungswissen als nachgeordnet?

Nein, das habe ich früher vielleicht getan, inzwischen halte ich das doch für sehr bedeutsam, weil nämlich sonst die kategorialen Fragen weitgehend im leeren Raum stehen. Man kann nicht darauf setzen, daß Lehrer in der Schule diese Fragen dazu nutzen - wofür sie gemeint sind - um zu ihrer Beantwortung genügend Orientierungswissen anzubieten, so daß die Gefahr besteht, daß lediglich Meinungen ausgetauscht werden - was an sich nicht verkehrt ist, aber doch für den Bildungssinn der Sache nicht genügen kann.

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Heute ist allgemein zu beobachten, daß der Einfluß von fachdidaktischen Konzeptionen - auch der Ihren - auf die Planung und Durchführung des Politikunterrichts zurückgegangen ist. Worauf führen Sie den Bedeutungsrückgang zurück?

Ich glaube, das hat damit zu tun, daß wir Didaktiker der ersten Generation - wenn ich das so sagen darf - das Politische als einen außersubjektiven, objektiven Tatbestandszusammenhang verstanden haben, in den es einzuführen gilt, relativ ohne Rücksicht auf die Stimmungen und Bedürfnisse der jeweils Lernenden, weil die Welt sich darum nicht kümmert. Die Subjektivierung der modernen Didaktik hat das erheblich geändert, wenn man etwa an die nordrhein-westfälische Denkschrift denkt, die ja ein ganz anderes Konzept - nicht speziell für den politischen Unterricht, sondern generell - vertritt: Auf diese subjektivierenden Tendenzen führe ich zurück, daß die ursprüngliche Idee, das Politische als etwas Objektives zu begreifen, zurückgedrängt worden ist.

Sie meinen die Schrift von Nordrhein-Westfalen zur Reform der Schule?

"Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" heißt sie wohl.

Ja, ja.

Die Konzeption Schule als "Haus des Lernens" ist eine grundsätzlich andere Vorstellung, als sie etwa meiner Didaktik zugrunde liegt.

Lediglich das Konzept der Handlungsorientierung hat die Schulen erreicht und bei vielen Lehrerinnen und Lehrern großen Anklang gefunden. Können Sie Vermutungen für die allgemeine Beliebtheit der Handlungsorientierung anstellen, bzw. Gründe dafür nennen?

Schon in den sechziger Jahren ist die Handlungsorientierung - auch von mir - kritisiert worden, weil wenn alle Bürger unentwegt politisch handeln würden, Chaos entstehen müßte. Wir haben aus guten Gründen ein repräsentatives politisches System. Damals stand hinter der Aufforderung, nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln, die Sorge um die Etablierung wirklich demokratischer Verhältnisse. Inzwischen ist daraus eher "action" im Rahmen des Unterrichts geworden. Die Gründe sind die, die ich eben im wesentlichen genannt habe: die Subjektivierung des Unterrichts. Dazu gehört auch die Idee der Lebensweltorientierung, die mich merkwürdig an die alte Heimatkunde und die volkstümliche Bildung erinnert, gegen die wir damals Stellung bezogen haben, weil uns das gerade nach dem Dritten Reich als sehr begrenzt und borniert erschienen ist. Handlungsorientierung, die sich jedenfalls aufs wirkliche Leben der Schüler bezieht, kann kein Leitmotiv des schulischen Unterrichts sein, weil die faktischen Handlungsmöglichkeiten zu beschränkt sind, als daß sich daran ein vernünftiger Unterricht orientieren könnte. Was soll Handlungsorientierung denn heißen bei Kindern, deren Erfahrungen sich zwischen Fernseher und Fußballplatz bewegen, also im wesentlichen Konsumerfahrungen sind?

Sie haben in Göttingen eine Professur für Pädagogik und Sozialpädagogik inne. Fühlen Sie sich mehr der Pädagogik oder mehr der Didaktik der politischen Bildung zugehörig?

Für mich gehört das zusammen. Didaktik der politischen Bildung ist für mich ein Teil der allgemeinen Pädagogik, anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Das heißt

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nicht, daß ein Pädagoge alle Fachdidaktiken vertreten könnte, wohl aber, daß ich mir keinen Erziehungswissenschaftler vorstellen kann, der sich nicht in wenigstens einem sachbezogenen Fach hinreichend auskennt. Gelehrt habe ich dann die Didaktik der politischen Bildung in Göttingen nicht mehr, nur noch eine Weile in Zusammenarbeit mit Arno Klönne, als er noch bei uns war. Grundsätzlich gehörte das nicht zu meinem Lehrauftrag, dafür hatten wir andere Kollegen.

Es reizt mich die Frage, das hier zu ergänzen: Sie haben sich aber dennoch weiterhin damit sehr stark auseinandergesetzt. Wenn man Ihre letzten Veröffentlichungen sieht: Sie haben das zwar vom Lehrauftrag hier nicht mehr zu Ihrer Sache machen können, aber von Ihrem Lebensweg her auf jeden Fall!

Ja, die politische Bildung war für mich immer auch das Exempel, an dem ich meine allgemeinen pädagogischen Überlegungen überprüfen konnte. Bei jedem schulpädagogischen Problem frage ich mich, was es für mein Exempel der politischen Bildung bedeuten könnte. Das kommt mir auch in Vorträgen zugute, weil die Menschen von Politik auf Anhieb mehr wissen als etwa von Physik oder Biologie und deshalb entsprechende Beispiele relativ gut nachvollziehen können.

Herr Professor Giesecke, darf ich mich anschließen als eine, die aus der Praxis kommt und tagtäglich mit vielen Dingen, die auch den Unterricht Politik bewegen, der ja nun tatsächlich auch in Niedersachsen Politikunterricht heißt und nicht mehr Gemeinschaftskunde oder Sozialkunde, die sich daraus ergeben. Bezug zur Schule: Sie sprachen von der Gefahr - Sie haben es auch in Ihrer letzten Veröffentlichung geschrieben, daß das Fach Politik möglicherweise sich selbst auflöst, substituiert wird durch andere Fächer. Können Sie sich vorstellen, daß das eine Grundlage dafür sein könnte, daß der Politikbegriff als Wissenschaftsbegriff schwerer zu fassen ist, als andere Wissenschaftsbegriffe, wie z. B. die Naturwissenschaften wie Biologie? Eine typische Schülerfrage, die ich hier gleich anschließen möchte. Was macht man eigentlich, wenn man Politik studiert, oder was ist Politik?

Ja, was ist Politik? Was ist Literatur? Was ist Geschichte? Eigentlich sind die Fragen alle ähnlich schwierig, weil ihre didaktische Beantwortung letztlich auf einer Definition beruhen muß. Wenn ich etwas lehren will, muß ich es zu diesem Zweck definieren, die Sache selbst enthält die Regeln ihrer Lehrbarkeit nicht einfach in sich. Eine solche didaktische Bearbeitung setzt aber voraus, daß der Gegenstand - Politik - abgrenzbar von denen anderer Wissenschaften ist. Aber in die politische Praxis, in das politische Handeln spielen andere Wissenschaften hinein, das ist vielleicht eine für dieses Fach besondere Schwierigkeit, weshalb Politiklehrer nicht nur Politikwissenschaft studieren können. Für das Schulfach ist wichtig, Politik als eigenen Gegenstand zu finden, der sich von Gegenständen anderer Fächer abgrenzen läßt. Politik ist ein Systemzusammenhang, von dem wir betroffen sind, da gibt es z.B. Entscheidungsgremien und Verwaltungsstrukturen. Vielleicht hat die Politikwissenschaft selbst ihren Gegenstand ein wenig aus den Augen verloren und überläßt es der politischen Psychologie oder Soziologen wie Ulrich Beck, eine Zusammenschau der Fakten und Strukturen zu präsentieren, die für den Unterricht unentbehrlich sind.

Könnte es sein, daß für viele es einfach eine Überforderung ist, wenn ich mir Schüler vorstelle, die vor mir sitzen, zu trennen zwischen dem politischen Alltag, d. h. also zwischen dem, was Tagesgeschäft im Staat ist, politisches Tagesgeschäft, und einem objektiven Begriff des

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Politischen?

Man muß versuchen, es aufeinander zu beziehen durch didaktische Verdichtung. Ich habe das in einem inzwischen vergriffenen Schulbuch versucht, nämlich einige wichtige Systeme der politischen Außenwelt, die also nicht aus der Subjektivität der Schüler erwachsen, zu beschreiben: Das politische System, das ökonomische System und das Kommunikationssystem. Das läßt sich relativ mühelos lernen, wenn sich jemand dafür interessiert. Dadurch kann der Schüler Zusammenhänge erkennen, die er benutzen kann, wenn er etwa die Berichterstattung in den Medien verfolgt. Im übrigen gibt es zwischen dem Alltag der Schüler und dem Schulunterricht immer eine Spannung, auch in anderen Fächern, und das ist ja auch der Sinn des Unterrichts, sonst wäre er entbehrlich.

Sie sind vorhin an einer anderen Stelle schon auf die Notwendigkeit eingegangen, daß Demokratie voraussetzt, daß politische Fähigkeiten in der Bevölkerung da sind. Wir sprechen ja in der Schule vielfach vom Begriff des mündigen Bürgers - von unserer Zielsetzung des mündigen Bürgers -. Im Münchner Manifest vom Mai 1997 zum Auftrag der Bundes- und Landeszentralen steht ein in dieser Hinsicht vielleicht auch bemerkenswerter Satz: ‘Jede Generation muß Demokratie neu lernen’. Können Sie sich dieser Aussage anschließen?

Jede Generation muß alles neu lernen, nicht nur die Demokratie. Aber sie kann es nur lernen, wenn sie auch in Traditionen eingeführt wird, die zeigen, wie es warum zu bestimmten Prozessen und zu bestimmten Fakten gekommen ist.

Also hier auch ganz stark die historische Dimension!

Ja, die halte ich für ganz wichtig!

In diesem Zusammenhang: Wie sehen Sie den Stellenwert von politischer Theorie? Die politischen Theorien haben auch ein bißchen - oder sehr stark - an Gewicht im Unterricht - auch in den Rahmenrichtlinien - verloren.

Politische Theorie kann man allenfalls in der Oberstufe des Gymnasiums unterrichten, und dort sollte man es auch tun. Sonst wird daraus leicht eine verdünnte Weltanschauungslehre, wie wir es in den siebziger Jahren erlebt haben. Wissenschaftlich fundierte Theorien werden ja für Professoren gemacht, nicht für Schüler. Eine politische Didaktik kann sich nicht auf solche Theorien stützen, sonst gerät sie in unlösbare Schwierigkeiten wie in den siebziger Jahren, wo jede Didaktik sofort politisch-ideologisch verdächtigt wurde. Es geht darum, durch die Didaktik Lernmöglichkeiten zu eröffnen, die nicht beliebig, sondern schon durch wissenschaftliche Kategorien geprägt sind. Wir unterrichten ja Kinder und Jugendliche im Hinblick darauf, daß sie später als Erwachsene die Gesellschaft produktiv weiter gestalten können. Und was dann noch an Gesellschaftstheorie vernünftig und plausibel ist, wissen wir heute nicht; wir wissen auch nicht, welche Probleme es geben wird und welche Lösungen die neuen Generationen dafür finden werden. Darauf haben wir keinen Einfluß, aber wir können Grundlagen schaffen für ein Bewußtsein, das diesen Generationen vernünftige Lösungen ermöglicht. Mehr können wir eigentlich nicht tun, aber das ist viel, wenn es uns gelingt.

Ja, in der Tat. Sie haben in einer Ihrer Veröffentlichungen in der letzten Zeit gesagt, daß das Fach Politik nun endlich - wenn ich das so richtig im Kopf habe - gleichwertig ist mit anderen Fächern. Es hat sich - darf ich es etwas platt sagen - "losgestrampelt" - "freigeschaufelt" - von

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der historischen Belastung, aus der historischen Entwicklung heraus. Da gab es immer eine Belastung dieses Faches und nun ist es gleichwertig und steht demzufolge unter einem - genau wie andere Fächer - unter dem Legimitationszwang. Was legitimiert denn wirklich das Fach Politik als ein zentrales Fach - daß es in der Schule als zentrales Fach beibehalten wird? Sicherlich kommen wir da auch auf die Elemente zurück, die Sie eben schon genannt haben, aber wenn wir vom Legitimationszwang sprechen - Deutsch, Mathematik - gar keine Diskussion - aber die Frage, die auch im Raum steht, auch gerade im schulischen Bereich, warum ein getrenntes Fach Politik? Warum nicht, wie es in der Orientierungsstufe schon ist, ein Fach ‘WUK’, wo es - Welt- und Umweltkunde - wo alles subsumiert wird?

Diese Subsumtion finde ich nicht glücklich. Schulfächer sind zwar mehr oder weniger historisch zufällig entstanden, je nach Macht- und Marktlage sozusagen. Aber ich bin ein entschiedener Vertreter einer wirklichen Fachdidaktik, eines fachorientierten Unterrichts. Nun kann man natürlich irgendwann Geschichte und Politik zu einem Schulfach zusammenlegen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn die Lehrer beides studiert haben. Aber es geht ja in einem Schulfach nicht nur um bestimmte Kenntnisse, sondern auch um die jeweils spezifischen Methoden, mit denen sie gewonnen werden können. Es ist ganz wichtig, daß Schüler wie elementar auch immer lernen, was man auf welche Weise erkennen kann und was nicht, weil sonst irreale Vorstellungen über den Handlungsspielraum entstehen. Woher weiß ich denn eigentlich was? Was kann ich auf diese Weise nicht wissen, und wo liegt in diesem Spielraum meine persönliche Verantwortung?

Außerdem muß man darauf achten, daß ein Fach auch einen inneren Kern behält, der es von anderen Fächern unterscheiden läßt. Welcher Teil der Wirklichkeit wird von diesem Fach abgedeckt? Sonst wird der Stoff additiv aneinander gereiht, und wenn ich mir Schulbücher von heute ansehen, ist dieser Prozeß schon weit fortgeschritten. Man hat den Eindruck, da haben Kommissionen zusammen gesessen, und jeder hat sein Lieblingsthema in die Liste eingebracht. Sinn der Schulfächer ist aber, die Wirklichkeit zum Zwecke der Aufklärung vernünftig aufzuteilen, so daß der Schüler weiß, in der Mathematik geht es anders zu als in der Geschichte, der Politik usw.

Eine Chance der Integration sehe ich aber gerade in den Kategorien, und zwar in den politischen Kategorien. Es wäre ein großes Verdienst sowohl des Geschichts- als auch des Politikunterrichts, wenn die Schüler in beiden Fächern die Anwendung von politischen Kategorien lernen würden.

Das sehe ich auch so, wobei man prüfen muß, ob für historische Phänomene das Kategorienmodell so anwendbar ist wie in der politischen Bildung. Im Mittelpunkt der Politik stehen die res gerendae, im Mittelpunkt der historischen Betrachtung die res gestae. Bei der Geographie ist das wieder anders. Die Kategorien sind erfunden worden für die Beurteilung von Handlungen, darin liegt auch ihre Grenze.

Für mich besteht im Augenblick folgendes Problem: Wir sprechen in unserem Tagesgeschehen sehr viel von der Demokratie auf dem Prüfstand. Unser Staatssystem, unsere Demokratie, die geprüft wird durch viele Belastungen - soziale Belastungen, geschäftliche Belastungen in vielfältiger Form. Ich sehr hier eine besonders große Notwendigkeit im Politikunterricht mit Schülerinnen und Schülern, diese Probleme aufzuarbeiten. Da hat es mich überrascht an einer Stelle Ihres Aufsatzes in der Beilage zum Parlament zu lesen, daß Schülerinnen und Schüler auch das Recht haben, sich für Politik nicht zu interessieren.

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Das Recht haben alle Staatsbürger. Das kann aber die Schule nicht zum Maßstab machen, und ich halte überhaupt nichts davon, den Schülern ins Herz oder in den Kopf zu kriechen und sie zu fragen: "Was meint Ihr denn, was Politik ist?" Ich wende mich damit gegen manche Jugendforscher, die da sagen, die Jugendlichen hätten eben ein anders Verständnis von Politik; wenn sie ihre Diskothekenveranstaltungen machen, dann sei das auch ein bestimmtes Verständnis von Politik. Das mag vielfach so sein, aber was Politik ist, kann man sich ebensowenig aussuchen wie die Gesetze der Natur. Wer das nicht wissen will, zahlt dafür irgendwann die Zeche. Bei der Politik ist es - im Unterschied etwa zum beruflichem Lernen - so, daß man nicht genau wissen kann, worin man eigentlich benachteiligt wird, wenn man darüber nichts lernt. Ich meine, daß gerade in einer Umbruchsituation wie der heutigen dem Politikunterricht eine enorme Bedeutung zukommt, wenn wir etwa daran denken, was sich jetzt alles ändern muß. Ich halte es für ausgesprochen merkwürdig, daß der Politikunterricht in dem Maße an Bedeutung zu verlieren scheint, wie die objektive politische Lage ihn gerade erfordert. Nach dem zweiten Weltkrieg war er aus anderen Gründen wichtig, damals ging es ja darum, mit Hilfe des Politikunterrichts Demokratie überhaupt zu etablieren. Das meine ich mit Normalisierung, daß es heute darum geht, die Demokratie selbstverständlich zu machen, sie zu erhalten und die Probleme anzugehen, die demokratisch gelöst werden müssen.

Um diese Aufgaben in der Schule leisten zu können, halten Sie es da für wichtiger, daß die Lehrer politikwissenschaftlich ausgebildet werden - soll da der Schwerpunkt liegen - oder soll er mehr auf der politikdidaktischen Ausbildung liegen?

Beides kann ich nur zusammen sehen. Ich kann mir keinen Politik-Didaktiker vorstellen, der das Fach nicht gründlich studiert hat und sich auch entsprechend fortbildet - zumindest muß er die Methoden kennen. Die Tatsachen kann er immer wieder neu recherchieren, aber die Methoden muß er kennen. Insofern ist für mich eine Politikdidaktik, die sich nicht mit ihrem Selbstverständnis in ihrem zuständigen Fach ansiedelt, sondern etwa in einer allgemeinen Pädagogik, eine Fehlentwicklung. Die Fähigkeit zur didaktischen Analyse setzt eine profunde Fachkenntnis voraus und ist nicht deren Ersatz.

Jetzt müssen wir ganz kurz zurückkommen zu dem, was Sie eben sagten, die Demokratie auf dem Prüfstand, die Fragen und Probleme, die unsere Demokratie beschäftigen, die die nächsten und nachwachsenden Generationen beschäftigen, auf der einen Seite, auf der anderen Seite erlebe ich es, und andere Kollegen, mit denen ich spreche, im Fachbereich auch, daß immer stärker von diesem Recht, sich nicht für Politik zu interessieren, Gebrauch gemacht wird. Könnte das nicht aus Ihrer Sicht, auch gerade im historischen Rückblick, tatsächlich für den Bestand unserer Demokratie ein Risiko sein?

Die Schüler müssen sich nicht für Politik interessieren, sie müssen sich auch nicht für Literatur interessieren oder für andere Schulfächer, aber sie müssen die geistige Leistung bringen. Ich bin entschieden dafür, daß Politik so sachlich-systematisch unterrichtet wird wie andere Fächer auch, daß da Zensuren vergeben werden, daß Leistungen erbracht werden müssen. Wenn Schüler sich dann trotzdem nicht für Politik interessieren, steht das auf einem anderen Blatt, davon kann sich kein Schulfach abhängig machen. Es gibt Leute, die interessieren sich später nie mehr für Literatur im engeren Sinne, und trotzdem bestehen sie das Abitur in Deutsch. Das hängt damit zusammen, daß wir, wenn wir Bildung generell als gesellschaftliche Teilhabehilfe

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verstehen, nicht im voraus wissen können, was jemand unter welchen sozialen Bedingungen einmal wie brauchen wird. Es kann jemand in der Schule ein Goethe-Fan sein und hinterher sitzt er nur noch vor dem Fernseher - vielleicht, weil er eine ermüdende Arbeit zu verrichten hat. Aber unser Problem ist, daß wir unter der Flagge einer höchstmöglichen Bildung für alle die künftigen Verwendungen nicht antizipieren können, da hatte es die alte Klassen- und Standesschule einfacher. Die übertriebene "Lebensweltorientierung" der gegenwärtigen Schulpädagogik geht im Grunde wieder hinter diese Emanzipation zurück, weil wir nämlich nicht mehr vorher wissen können, wer nun später Arbeiter, Bauer oder Professor wird. Weil wir das nicht mehr wissen, müssen wir im Politikunterricht wie in allen anderen Fächern möglichst hohe geistige Leistungen erwarten. Als die Arbeiterkinder mit ziemlicher Sicherheit wieder Arbeiter und die Bauernkinder wieder Bauern wurden, war das alles einfacher, da ergab "Lebensweltorientierung" einen Sinn. Im übrigen werden die Menschen sich spätestens dann wieder für Politik interessieren, wenn sie von existentieller Bedeutung für sie wird, und dann kommt es darauf an, mit welchem Bewußtsein sie dies tun, und dies hängt nicht zuletzt davon ab, was sie dafür in der Schule gelernt haben.

Nur ist das Fach Politik eben nicht in dem Maße etabliert, wie Deutsch, wie Englisch, wie Mathematik. Und da komme ich zu meiner letzen Frage an Sie aus meiner Sicht: Die Deutsche Vereinigung für politische Bildung hat sich verschiedene Zielsetzungen gegeben. Sie überlegt aber auch, was angesichts der neuen und veränderten Situation in unserem Staat, in unserer Gesellschaft, für sie als Schwerpunkte der Arbeit dazukommt. Meine Frage an Sie: Welche Aufgaben oder Aufträge würden Sie aus Ihrer Sicht der DVPP zuteilen?

Wir müssen uns gegen den modischen didaktischen Subjektivismus wehren und gegen eine Unterrichtsmethodik, die zum Selbstzweck wird und sich auf alle möglichen außersachlichen Gründe beruft, die sie für erzieherisch wertvoll hält. Diese allgemeine schulpädagogische Tendenz ruiniert kein Fach so gründlich wie die politische Bildung. Außerdem müssen wir das Kanonproblem wieder aufgreifen: Was gehört zum Grundbestand politischen Wissens und politischer Kategorien? Die Kanonfrage stellt sich auch für die anderen Fächer, nachdem auch deren Stoffe ins Uferlose ausgedehnt wurden und keinen inneren Zusammenhang mehr erkennen lassen. Die politische Bildung darf nicht zu einem Laberfach werden, in dem über alles Mögliche dahergeredet wird. Ich bin für einen altmodischen systematischen Kernunterricht, etwa über die Systeme der Politik, der Ökonomie und der öffentlichen Kommunikation, in dem grundlegende Fakten, Strukturen und Zusammenhänge vermittelt werden; erst dann ergeben andere Ansätze wie Problem- und Konfliktorientierung ebenfalls einen Sinn.

Also in manchen Klassen, wenn man die Schüler erlebt, erscheint mir soziales Lernen wichtiger, als Politikunterricht, obwohl ich Ihnen in allen Punkten zustimme. Wenn man die Gewalttätigkeit von Schülern erlebt, wenn man das Fehlen von Umgangsformen - es sind nicht Umgangsformen, sondern soziale Tugenden - erlebt, erscheint mir das soziale Lernen wichtiger, auch, weil damit Werte, die für die Demokratie wichtig sind, den Schülern besser nahegebracht werden können, als im Politikunterricht. Oder, um es überspitzt zu sagen: In einer Klasse, in der latente Gewaltbereitschaft bei den Schülern herrscht, halte ich es für verfehlt, Politikunterricht zu machen, da halte ich es für wichtiger, daß mit sozialem Lernen gegen diese Gewaltbereitschaft vorgegangen wird.

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Das gilt ja für alle Fächer, die sind ja nicht nur im Politikunterricht gewalttätig. Ich sehe einerseits ein, daß Sie Recht haben, andererseits sehe ich das ambivalent. Natürlich müssen die Konflikte, die in der Schule auftauchen, dort auch rational erörtert und möglichst auch befriedigend gelöst werden können. Andererseits finde ich aber auch, daß die Schule als Institution die Steuergelder nicht dadurch verschleudern darf, daß sie da einen Kindergarten inszeniert, wo "soziales Lernen" dann eine vielfach sogar erwünschte Ersatzlösung für anstrengenden Unterricht ist. Indem die Schule diejenigen Verhaltensweisen durchsetzt, die für einen erfolgreichen Unterricht nötig sind, bringt sie zugleich die wichtigsten öffentlich akzeptablen Verhaltensweisen bei. Wenn die Schule als Institution sich nicht wieder stärker durchsetzt, dann nützen alle Appelle ans soziale Lernen nichts. In der Sozialpädagogik - von Wichern bis Makarenko - war immer klar, daß die Sozialfähigkeit nicht aus der Innerlichkeit der kindlichen Seele erwächst, sondern daß dafür soziale Rahmenbedingungen notfalls auch machtvoll vorgesetzt werden müssen, nach dem Motte: Das gibt es hier bei uns nicht, basta!

Darf ich noch eine Frage anschließen: Einen unausgesprochenen Konflikt in der Fachdidaktik sehe ich darin, daß die einen Fachdidaktiker als Inhalte Recht, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, evtl. auch noch die Geschichte und Philosophie ansehen, die anderen sagen, Politik ist der Kern des Politikunterrichts. Sehen Sie diesen Konflikt auch und wo ist Ihre Position?

Mit Politik meinen die betreffenden Kollegen offenbar die politische Aktualität.

Ja, also Politik als Kern der politischen Bildung meint: Politische Probleme, Schlüsselprobleme weniger, politische Probleme, politische Konflikte, den politischen Handlungsrahmen, während die anderen bewußt sprechen von Großgemeinschafts- oder Sozialkunde und zählen dazu auch die Gesellschaft, daß Recht, die Wirtschaft.

Beides muß in eine Balance gebracht werden. Ohne Strukturkenntnisse droht die Beschäftigung mit aktuellen politischen Problemen unsystematisch-additiv zu werden. Außerdem muß man sehen, daß die Schule als spezifischer Lernort nicht alles an sich Wünschenswerte gleich gut machen kann. Ich komme ja aus der außerschulischen Arbeit. Da war es möglich, in der sogenannten Kurzzeitpädagogik lauter spannende Geschichten zu machen - ein Wochenende, eine Woche oder auch etwas länger. Das setzte aber voraus, daß die Teilnehmer in der Schule bereits systematisch einiges begriffen hatten. Die Schule ist nicht der einzige Ort, an dem sich Jugendliche mit politischen Fragen beschäftigen können, aber sie ist der einzige Ort, wo sie über längere Zeit Zug um Zug systematisch etwas begreifen können. Daran gemessen erscheint es mir eher unwichtig, ob der Akzent eher in die eine oder die andere der von Ihnen erwähnten Richtungen geht.

Ja, das ist sicherlich das Problem, daß Schule - Sie sprachen vorhin von der Notwendigkeit, daß die Schule sich als Institution auch wieder etabliert, als Lernort auch darstellt - demgegenüber steht aber auch die Überfrachtung, auch aus den Elternhäusern heraus, was Schule alles leisten soll, und ich denke da an das Bewußtsein, auch von Schülern, die solches auch ganz klar in Aufgaben von Arbeiten und Klausuren formulieren, die Schule soll die Kinder zu sozialen Fähigkeiten bringen, die Wissensvermittlung immer stärker in den Hintergrund gestellt, das können wir uns notfalls auch selber anlesen. So!

Das führt zu der Frage, wozu die Schule überhaupt da ist im Konzert der übrigen Sozialisationsfaktoren. Und da ist meine Position sehr entschieden: Schule ist Ort des

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Unterrichts; vieles bringt das außerschulische Leben bei, aber nur die Schule kann systematisch unterrichten. Das ist nicht nur im Sinne des Frontalunterrichts gemeint, sondern unter Einschluß der bekannten methodischen Varianten. Dabei kann man nur diejenigen "sozialen Fähigkeiten" lernen, die man dafür auch braucht; andere muß man woanders lernen. Man kann in der Schule z.B. nicht lernen, wie man sich erfolgreich in einer Diskothek verhält. Von einem richtig verstandenen Unterricht profitieren beide Seiten: das Kind und die Gesellschaft. Dem Kind eröffnet der Unterricht gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten, die es ohne ihn niemals erlangen könnte, die Gesellschaft bekommt auf diese Weise ein nachwachsende Generation, die in der Lage sein wird - so hoffen wir jedenfalls - die später anfallenden Probleme produktiv und demokratisch zu lösen.

Vielen Dank für dieses Interview.

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193. Auf der Suche nach einer Theorie der Jugendarbeit -
Zur Erinnerung an Klaus Mollenhauer (1998)

In: neue praxis, H. 5/1998, S. 441-447

Im Jahre 1964 erschien ein Buch, in dem vier Autoren "Versuche" über eine "Theorie der Jugendarbeit" präsentierten; zu ihnen gehörte auch Klaus Mollenhauer (vgl. Müller/Kentler/Mollenhauer/Giesecke 1964). Bis heute gilt dieser Band, der immer noch auf dem Markt ist, als Beginn eines neuen professionellen Selbstverständnisses derjenigen, die in diesem Feld hauptberuflich pädagogisch tätig sind.

Historisch gesehen sind diese Texte durchaus noch von Interesse. So werfen sie etwa die Frage auf, welchen bzw. wessen Bedarf sie eigentlich offensichtlich erfolgreich ansprachen. Immerhin war bis dahin die Jugendarbeit weitgehend ohne systematische theoretische Überlegungen ausgekommen, was mit ihrer Entstehungsgeschichte zu tun hat. Sie verdankt sich nicht pädagogischen Planungen, sondern war Teil einer ganzen Reihe von Lebensreformbewegungen um die Jahrhundertwende, in deren Rahmen auch die Jugendbewegungen entstanden. Sie prägten sich in zwei Varianten aus, nämlich der "bürgerlichen" und der "proletarischen": einerseits als Aus-

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bruch aus der erstarrten bürgerlichen Alltagskultur, andererseits als Widerstand gegen die Bedingungen, denen junge Arbeiter in ihren Betrieben - als Lehrlinge und Jungarbeiter - ausgesetzt waren.( Vgl. Giesecke, 1981; Krafeld, 1984) Was sich zunächst als Reaktion junger Menschen auf die damals in vieler Hinsicht unmodern gewordenen Sozialisationsbedingungen in Schule und Familie präsentierte, muß tatsächlich in den größeren Zusammenhängen der modernen Emanzipationsbewegungen verortet werden - des Bürgertums, der Arbeiterschaft, der Frauen und nun eben auch der Jugendlichen. "Jugendarbeit", zunächst "Jugendpflege" genannt, war eine öffentliche politisch-pädagogische Reaktion darauf mit dem Ziel, den neu erworbenen Freiraum jugendlicher Selbst- und Mitbestimmung einerseits zu fördern, andererseits aber auch unter Kontrolle zu behalten. Die vor dem Ersten Weltkrieg eingerichtete staatlich subventionierte Jugendpflege war zunächst primär auf die (männliche) Arbeiterjugend konzentriert, um eine "Kontrollücke" zu schließen, die zwischen Schulpflicht und Militärdienst entstanden war, und ging einher mit entschiedenen Bestrebungen, die Eigenorganisationen der Arbeiterjugend zu behindern und deren Anhang ins bürgerliche Lager abzuwerben. Sonst, so befürchtete man, könnten diese Jugendlichen der von den Konservativen als staatsfeindlich angesehenen Sozialdemokratie zulaufen oder in ihrer Freizeit verwahrlosen. Aber auch für diese Ambitionen blieben die pädagogischen Konzepte weitgehend theorielos; sie verstanden sich als Förderung der von der bürgerlichen Jugendbewegung erfundenen Maximen des "jugendgemäßen Lebens": Naturnähe, Distanz zur städtischen Zivilisation, Gesellung in Gleichaltrigengruppen und sexuelle Abstinenz. Diese Maßstäbe kamen den Initiatoren insofern gelegen, als sie sich gleichsam als anthropologisch vernünftig auszuweisen schienen und so nicht dem Verdacht der politischen Indoktrination ausgesetzt waren, obwohl sie doch in erster Linie aus politischen Motiven in Szene gesetzt wurden. Jugendarbeit bzw. Jugendpflege galt als eine Lebensform, weniger als pädagogische Veranstaltung. In dieser Tradition verstand sich sogar die Hitlerjugend, obwohl sie zum ersten Mal in nennenswertem Maße Hauptamtliche beschäftigte. Sie wollte Jugend in einem eigenen "Stand" als abgrenzbaren Teil des gesamten Volkes zusammenfassen - mit standesspezifischen Regeln, Ritualen und Ordnungen. Was die Reichsjugendführung an pädagogischen Grundsätzen verkündete, hatte jedoch eher den Charakter einer "Gebrauchspädagogik" (Giesecke, 1993) als einer ernsthaften pädagogischen Theorie, die dieses pädagogische Feld in einen plausiblen Zusammenhang mit der Erziehung bzw. Sozialisation im ganzen thematisiert hätte, obwohl die Hitlerjugend mit dem Anspruch auftrat, neben Familie und Schule als dritte Erziehungsinstanz anerkannt zu werden. Vermutlich wäre jedoch diese theoretische Abstinenz nicht von Dauer gewesen, wenn der Krieg nicht die weitere Ausdehnung des hauptberuflichen pädagogischen Personals gestoppt hätte. Jedenfalls blieb die Jugendarbeit bis Ende der fünfziger Jahre eher ein Sozialisationsarrangement als ein durchgeplantes Erziehungsfeld. Das Interesse des staatlichen Geld- und Gesetzgebers war ein primär präventives im Sinne eines vorbeugenden Jugendschutzes; im übrigen und in diesem Rahmen sollten die Jugendlichen den Freiraum selbst gestalten. Ende der fünfziger Jahre wurden jedoch Tendenzen erkennbar, die ein neues Publikum für den Bedarf an pädagogischer Theorie hervorbrachten.

- Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter war nun dank der neuen Finanzierungsgrundlagen (Bundesjugendplan; Landesjugendpläne und andere Finanzquellen der Öffentlichen Hand) erheblich angestiegen. Zudem nahm der Anteil derjenigen unter ihnen zu, die eine akademische Ausbildung absolviert hatten. Diesem Personenkreis fehlte jedoch ein berufliches Selbstbewußtsein, wie es andere pädagogische Berufe, z.B. die Lehrer, längst entwickelt hatten. Ohne ein solches Bewußtsein mußte die berufliche Anerkennung von außen marginal bleiben. Abhilfe war nur zu erreichen durch eine anspruchsvolle pädagogische Theorie, die auf die besonderen Eigenheiten der Tätigkeit und des ihm zugeordneten pädagogischen Feldes zugeschnitten war, so wie es etwa die Volksschullehrerschaft vorgemacht hatte. Von deren Vorstellungen bzw. vom schulpädagogischen Denken überhaupt mußte sich eine solche Theorie andererseits deutlich abgrenzen, weil sonst ja der Jugendarbeiter stets am Berufsbild des Lehrers gemessen worden wäre. Deshalb spielten - teilweise übertriebene - Abgrenzungen

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zur Schulpädagogik bei allen vier Autoren eine mehr oder weniger große Rolle, obwohl ihnen dieser Zusammenhang damals nicht bewußt sein konnte, er wird nur aus der Rückschau unübersehbar.

- Verstärkt wurde der Theoriebedarf noch dadurch, daß diese Mitarbeiter überwiegend bei "freien" Trägern der Jugendarbeit angestellt waren, die auf ihren besonderen Zielen im Rahmen des gesellschaftlichen Pluralismus bestanden. Wollten die pädagogischen Mitarbeiter mehr sein als bloße Exekutierer eines solchen verbandlichen oder kommunalen Willens, brauchten sie eine Vorstellung von ihrer Arbeit, die über diesen partikularen Anspruch hinausreichte und ein berufliches Selbstverständnis ermöglichte, das sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen der anderen Träger teilen konnten. Die Emanzipation der Jugend mußte bzw. sollte auch zur Emanzipation derjenigen führen, die beruflich mit ihnen zu tun hatten.

- Diese berufliche Gemeinsamkeit konnte sich also nicht auf den Zielen des jeweiligen Trägers fundieren, sondern mußte gerade eine Distanz zu ihm begründen und rechtfertigen. Ein solches Bedürfnis haben Ehrenamtliche oder Nebenamtliche nicht, weil die Identifikation mit den Zielen des Trägers ja gerade ihre Bereitschaft zur Mitwirkung konstitutiert und sie außerdem dort nicht beruflich tätig sind, sondern ihre berufliche Identität aus einer anderen Quelle beziehen. Die erwünschte professionelle Gemeinsamkeit konnte vielmehr nur aus der Definition der beruflichen Partner, nämlich der Jugendlichen, erwachsen. Man mußte deren (entwicklungsbedingte) Bedürftigkeit herausfinden. Der jugendliche Mensch ist offensichtlich mehr als nur ein Mitglied etwa seines Jugendverbandes, seine Bedürftigkeit geht weit über das hinaus, was der Verband ihm anbieten kann und von ihm erwartet. Geht man von dieser Tatsache aus, dann kann sich die pädagogische Profession "Jugendarbeiter" von daher, nämlich von einer umfassend verstandenen Bedürftigkeit des Jugendlichen her, begründen. Umgekehrt können von einer solchen Position aus wiederum Forderungen, nämlich nun sogenannte "pädagogische", an den Träger erhoben werden; der professionelle Jugendarbeiter wird so auch zum Anwalt des Jugendlichen gegenüber dem Träger.

Derartige Überlegungen konnten sich auf die gerade in ihrer ersten Blüte stehende Jugendsoziologie stützen. Sie war in diesem Zusammenhang aus mindestens zwei Gründen besonders attraktiv. Ihre empirische Sichtweise, die insbesondere Schelsky in seinem Bestseller Die skeptische Generation (Schelsky, 1957) zusammengefaßt hatte, erschütterte das bis dahin gültige normativ bestimmte Jugendbild nachhaltig, auf das sich die ältere Generation der Jugendarbeiter berief und das in Sprangers Psychologie des Jugendalters (Spranger, 1966) seine klassische Formulierung gefunden hatte. Deshalb waren die Thesen der Jugendsoziologie besonders akzeptabel für Jugendarbeiter der jüngeren Generation in der fachlichen Auseinandersetzung mit der älteren, denen Schelsky zudem eine Fixierung auf das in ihrer Jugendzeit entstandene Bild des Jugendlichen und des Jugendgemäßen vorgeworfen hatte. Zum anderen enthielt diese Jugendsoziologie eine pädagogische Implikation, die praktisch aufgegriffen werden konnte, nämlich die Aufforderung, Jugendlichen im Übergang zur Erwachsenenwelt Anpassungshilfen zu leisten.

- Hinzu kam, daß die Jugendarbeit neben den überlieferten Funktionen eine neue Aufgabe bekommen hatte: die (insbesondere politische) Bildungsarbeit. Zwar gab es auch früher schon Ansätze einer Bildungsarbeit, vor allem in den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Jugendorganisationen, wo sie ein Gegengewicht gegen die als klassenspezifisch angesehene bürgerliche Bildung in den Schulen bilden sollte. Auch Mitarbeiterfortbildung war längst bekannt, aber sie beschränkte sich im wesentlichen auf methodische Themen etwa der Gruppenarbeit. Neu war nun, daß der Jugendarbeit insgesamt eine Bildungsaufgabe gestellt wurde, die die schulische ergänzen sollte. Dabei trafen mehrere Tendenzen zusammen. Zum einen war, wie Schelsky richtig gesehen hatte, die Attraktivität des "Jugendgemäßen" immer mehr zurückgegangen; die Jugendarbeit suchte schon aus Gründen der Selbsterhaltung nach neuen Aufgaben, was vor allem für die Jugendverbände galt, die sich in einer Krise befanden und von vielen Zeitgenossen als historisch überholt angesehen wurden. Für die professionellen Mitarbeiter andererseits kam diese neue Aufgabe wie gerufen; denn gerade für Bildungsarbeit wurde ihre professionelle, zumal akademische Qualifikation benötigt, sie war nicht mehr mit den Haupt- und Nebenamtlichen zu leisten. Zudem steckte darin auch die Möglichkeit der beruflichen Expansion - was beruflichem Selbstbewußtsein bekanntlich zugute kommt.

Die neue Bildungsaufgabe war allerdings auch politisch motiviert. Ende der fünfziger Jahre gab es drei Phänomene, die mit Jugendlichen zu tun hatten und die die Öffentlichkeit erregten: Die "Halbstarkenkrawalle", Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Gräbern und Einladungen westdeutscher Jugendlicher in die DDR zu Begegnungen und zu äußerst preisgünstigen Ferienaufenthalten, wo sie den politischen Diskussionen mit den DDR-Jugendlichen aus politischer Unkenntnis meist nicht gewachsen waren. Insbesondere die beiden letztgenannten Ereignisse führten dazu, daß vor allem über den Bundesjugendplan und die Landesjugendpläne erhebliche Mittel bereitgestellt wurden, um politische Bildung in der außerschulischen Jugendarbeit zu forcieren, und dafür wurden professionell Kundige gebraucht.

Alles in allem läßt sich sagen: Der Wunsch nach einer pädagogisch-theoretischen Fundierung der Jugendarbeit kam nicht von den Jugendlichen selbst, sondern von den hauptamtlichen Pädagogen.

Diesen hier nur kurz skizzierten Wandel spiegeln die Texte des erwähnten Buches in einzigartiger Weise wider. Seiner Veröffentlichung vorausgegangen waren zwei Tagungen, zu denen der Verleger des Juventa-Verlages, Martin Faltermaier, unter der Leitfrage: "Was ist Jugendarbeit?" eine Reihe von ihm bekannten Personen eingeladen hatte, die damals in der Jugendarbeit tätig waren; bei dieser Gelegenheit lernte ich auch Klaus Mollenhauer kennen. Aus den teilweise heftigen Diskussionen entstanden die Texte des Buches, die wiederum als Initialzündungen für weitere Diskussionen gedacht waren. Die Heftigkeit mancher Reaktionen zeigte an, daß die erkenntnisleitenden Interessen der Autoren keineswegs allgemein akzeptiert wurden (1). Sie ließen bisher verdrängte Konflikte offenbar werden, die etwa zwischen Funktionären und Ehren- und Nebenamtlichen der älteren Generation (den "Praktikern") einerseits und den so forsch daherkommenden "Theoretikern" andererseits bestanden. Rückblickend muß man wohl sagen, daß die damals begonnene Professionalisierung der Jugendarbeit den Einfluß der bis dahin dominanten ehrenamtlichen Mitarbeiter zurückgedrängt hat, was manche Kritiker nicht zu Unrecht mit Sorge sahen.

Während nun Müller, Kentler und Giesecke sich konzentrierten auf Erfahrungen, die sie im Rahmen ihrer praktischen Arbeit gemacht hatten, und von daher eher unsystematisch auf die Leitfrage "Was ist Jugendarbeit?" eingingen, präsentierte Klaus Mollenhauer einen theoretischen Gesamtzusammenhang mit dem Ziel, der Jugendarbeit im Rahmen der übrigen pädagogischen Orte ihren spezifischen Raum zuzuweisen und sie auf diese Weise zum Thema einer systematisch verstandenen Erziehungswissenschaft zu machen.

Zu diesem Zweck mußten aber grundlegende Kategorien der überlieferten Erziehungswissenschaft entsprechend modifiziert werden. Das betraf insbesondere den "pädagogischen Bezug". In der Jugendarbeit sei das Beziehungsverhältnis zwischen erwachsenen Pädagogen und nicht erwachsenen Jugendlichen nicht im tradierten Erzieher-Zögling-Verhältnis zu suchen. Vielmehr sei die Jugendarbeit ein besonderes Phänomen des Generationenproblems, weil sie nicht nur auf Anpassung an überlieferte Denk- und Verhaltensnormen angewiesen sei, sondern sozialschöpferisch und experimentell auch bessere Möglichkeiten des sozialen Daseins ins Auge fassen könne; sie sei ein freier Raum für jugendliche Gesellungen und Engagements. Diese heute nicht mehr besonders originelle Einsicht war damals jedoch für viele in der Praxis Engagierte

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schockierend, weil sie davon ausgingen, daß auch in diesem Feld die erwachsenen Pädagogen - jugendlicher "Freiraum" hin oder her - zu wissen hatten, was für Jugendliche angebracht sei und was nicht (2). Mollenhauer folgte hier ausdrücklich der These Schleiermachers, wonach "die heranwachsende Generation ... nicht nur auf die Erhaltung des bestehenden Guten, sondern auf seine Verbesserung, das heißt, den gesellschaftlichen Fortschritt vorzubereiten" sei (Mollenhauer 1964: 93). Die Berufung auf Schleiermacher erfolgte nicht zufällig; denn er schien denjenigen, die wie Mollenhauer nach einer theoretischen Rechtfertigung für eine kritische Pädagogik und Erziehungswissenschaft im Rahmen der eher konservativen geisteswissenschaflichen Tradition suchten, ein geeigneter, weil politisch nicht diskreditierter Gewährsmann zu sein. Die Jugendarbeit war nämlich nicht zuletzt auch deshalb pädagogisch-theoretisch interessant geworden, weil sie scheinbar eher dem Pol der gesellschaftlichen Veränderung zugeschlagen werden konnte als etwa die der Erhaltung des Bestehenden viel deutlicher verpflichtete Schule. Die vier Autoren waren jedenfalls damals davon überzeugt und setzten entsprechende Hoffnungen auf das kritische Potential der Jugendarbeit. In diesem Sinne verortete auch Mollenhauer die Jugendarbeit im Erziehungssystem: Im Vergleich zu den anderen Erziehungsorten sei sie von geringer Erziehungsabsicht bestimmt, über die Inhalte wie über die Sozialstrukturen dort könnten in erster Linie die Jugendlichen entscheiden, methodisch gesehen sei sie das variantenreichste Erziehungsfeld. Dazu trügen auch ihre "Bedingungen" bei: Die Teilnahme sei freiwillig, weshalb die Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen hier besonders gut zur Geltung kommen könnten. Klaus Mollenhauer hat im Anschluß an diese Überlegungen in einer empirisch fundierten Untersuchung der evangelischen Jugendarbeit seine Thesen weiterentwickelt und vor allem auch gegen widerstrebende Traditionen in dieser Organisation zur Geltung zu bringen versucht (vgl. Mollenhauer u.a. 1969).

Ich halte zumindest im formalen Sinne Mollenhauers knappe Skizze einer erziehungswissenschaftlichen Theorie der Jugendarbeit nach wie vor für gelungen. Allerdings sind nach mehr als 35 Jahren, wie nicht anders zu erwarten, inhaltliche Modifizierungen notwendig, die sich insbesondere aus der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung und aus verbesserter historischer Kenntnis ergeben haben.

- Alle vier Autoren gingen von der Voraussetzung aus, daß "Jugend" wenn schon nicht eine anthropologisch allgemeingültige, so doch eine epochal feststehende soziale Tatsache sei, daß es also Sinn mache, eine pädagogische Theorie auf sie als auf eine abgrenzbare soziale Gruppe zu beziehen. Nun hatte aber schon Schelsky darauf hingewiesen, daß die Grenze zwischen Jugend- und Erwachsenenstatus sich immer mehr verwischen würde und daß der eigentliche biographische Bruch sich zwischen Kindheit und Jugendstatus ergeben werde. Diese Prognose hat sich nicht nur erfüllt, vielmehr ist zudem die Altersgrenze zwischen Kindheit und jugendlichem Erwachsenenstatus immer weiter zurückgegangen. Darin drückt sich aber nur aus, daß die Emanzipation der Jugend im Sinne einer Befreiung aus früheren Abhängigkeiten allmählich an ihr historisches Ende gelangt ist. Damit teilt diese soziale Gruppe das Schicksal aller erwähnten modernen Emanzipationsbewegungen, daß sie nämlich in dem Maße ihre soziale Besonderheit einbüßen, wie sie sich gesellschaftlich und politisch als gleichberechtigt durchsetzen.

- Folgerichtig geht damit aber auch das öffentliche Interesse an ihr zurück. Beispielhaft läßt sich das zeigen an der Art und Weise, wie die Gesellschaft mit jugendlicher Arbeitslosigkeit umgeht. Während nach dem Zweiten Weltkrieg "jugendliche Berufsnot" noch fern jeden arbeitsmarktlichen Kalküls von allen Verantwortlichen als erzieherische Katastrophe verstanden wurde, als eine Art von anthropologischer Sittenwidrigkeit, die es deswegen vorrangig zu bekämpfen gelte, ist sie heute eher ein statistisches Problem, jedenfalls keines, das Verantwortliche auf die Barrikaden treibt. "Vom Mythos zum Sozialfall" - so läßt sich das veränderte

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Interesse der Gesellschaft an der Jugend von der Jahrhundertwende bis heute beschreiben. Darin kommt nur zum Ausdruck, daß die Rede vom "Freiraum" der Jugend von Anfang an doppelbödig war. Die Erwachsenen verbanden mit ihr immer auch ihre eigenen Hoffnungen auf die Zukunft: die Jugend sollte künftig besser machen, was die Erwachsenen nicht geschafft hatten.

"Wer die Jugend hat, hat die Zukunft" - dieser Slogan galt mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Das Bildungsbürgertum der Jahrhundertwende, aus dessen Kreisen die bürgerliche Jugendbewegung entstand, wollte mit ihrer Hilfe seine alten Werte remobilisieren; nach dem Ersten Weltkrieg sollte die Jugend die Folgen der militärischen Niederlage kompensieren oder gar korrigieren; die Nationalsozialisten verstanden sich als eine "Bewegung der Jungen", und nach dem Zweiten Weltkrieg projizierten sich die Hoffnungen auf Wiederaufbau und Demokratisierung erneut auf die junge Generation. Derlei Erwartungen funktionierten jedoch jeweils nur unter zwei Voraussetzungen: daß es Visionen einer besseren Zukunft tatsächlich gibt und daß Jugend als sozialer Träger dafür auch zur Verfügung steht. Beides ist inzwischen nicht mehr gegeben, wobei man darüber spekulieren mag, was dabei Ursache und Wirkung ist. Mit dem historischen Ende der Jugendemanzipation ist auch das gesellschaftliche Interesse an der Jugend als sozialer Gruppe weitgehend erloschen.

- Diese Entwicklung hat natürlich Folgen für die Jugendarbeit und das Selbst- und Fremdverständnis derer, die in ihrem Rahmen beruflich tätig sind. Ihr öffentliches Ansehen ist heute so niedrig wie nie zuvor. Die Hoffnungen, die sich die vier Autoren seinerzeit im Hinblick auf eine professionelle Grundlegung der Jugendarbeit gemacht hatten, haben sich nicht erfüllt. Öffentlich interessant ist dieser pädagogische Bereich nur noch insofern, als er sich sozialpädagogisch versteht, also "schwierige" Jugendliche zu befrieden und der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entziehen vermag.

- Deshalb ist auch nicht verwunderlich, daß das gesellschaftskritische Potential in der Jugendarbeit nicht größer ist als in anderen pädagogischen Bereichen. Sofern es überhaupt vorhanden war und ist, beruht(e) es eher auf dem Engagement der dort agierenden Pädagogen als auf dem der Jugendlichen selbst. Nicht per se ist die Jugendarbeit im Unterschied zum formellen Bildungswesen besonders kritisch orientiert, wie die vier Autoren glaubten, sondern nur insofern als und solange wie der Emanzipationsprozeß noch nicht zum Abschluß gekommen ist. Die klassische Jugendarbeit war, rückblickend gesehen, eine Hilfe in diesem Emanzipationsprozeß, und ihr Sinn und Erfolg waren daran gebunden. Nun wird Jugend zur "Zielgruppe" pädagogischer Angebote wie alle anderen denkbaren auch. Wie bei jeder dieser Zielgruppen kann man auch hier besondere Interessen vermuten, aber welche immer das sein mögen, sie dürften kaum mehr für die ganze Altersgruppe interessant sein - was aber die erwähnten Theorien zur Jugendarbeit unterstellten.

- Von Anfang an waren Jugendbewegungen und Jugendarbeit ein Freizeitphänomen. Was immer dort passiert, es geschieht in der Freizeit der Jugendlichen. Diese Tatsache bestimmte auch die Bedingungen, die Mollenhauer beschrieben hat, etwa die Freiwilligkeit der Teilnahme. Anders als die Einrichtungen des formellen Bildungswesens sind die der Jugendarbeit einem Konkurrenzdruck auf dem Freizeitmarkt ausgesetzt, ihre Angebote stehen im Wettbewerb mit kommerziellen. Die Methodenvielfalt, die Mollenhauer und die anderen Autoren als spezifisch für dieses pädagogische Feld ansahen, entpuppte sich je länger je mehr als teilweise verzweifelter Versuch, sich auf diesem Markt möglichst günstig zu plazieren. Was die Autoren vertraten, wurde deshalb später nicht ganz zu Unrecht als "sozialintegrative" Jugendarbeit bezeichnet, von der sich die "antikapitalistische" abzugrenzen trachtete - mit nur zeitweiligem Erfolg (vgl. Lessing/Liebel, 1974).

Wenn die These zutrifft, daß der Prozeß der Emanzipation der Jugend als sozialer Gruppe und damit auch deren überlieferte pädagogische Definition an ihr historisches Ende gekommen sind, stellt sich die Frage nach der Zukunft der Jugendarbeit und nach einer entsprechenden pädagogischen Theorie neu. Diese wird kaum mehr von einer spezifischen Bedürftigkeit der Jugendphase her zu begründen sein, die sich zudem einfach aus dem jeweiligen Stand der Jugendsozio-

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logie ableiten ließe. Sinnvoller wäre wohl, Jugendarbeit als Teil des Freizeitsystems zu verstehen, die Konkurrenz mit anderen Marktangeboten zu akzeptieren und solche Angebote zu unterbreiten, die der kommerzielle Markt von sich aus - etwa aus Kostengründen - nicht hergibt, die sich aber überzeugend pädagogisch begründen lassen, wobei das "Pädagogische" immer mit Lernen zu tun hat: Welche Lernchancen sollen warum und für wen zusätzlich zur Schule und Berufsausbildung angeboten werden? Dazu könnten vielleicht folgende Aufgaben gerechnet werden:

- Soziales Lernen im Rahmen von Geselligkeit,

- Nachwuchsrekrutierung der gesellschaftlichen Verbände,

- Bildungsangebote im Sinne einer Verbesserung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten,

- Ressourcenunterstützung für jugendliche Gruppen außerhalb etablierter Verbände, die "harte" (z.B. künstlerische und musikalische) Freizeitinteressen verfolgen,

- Sozialpolitische Maßnahmen wie Freizeit- und Ferienangebote für auf dem Markt benachteiligte Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen.

Diese Aufzählung ist fürs erste pragmatisch gemeint, möglicherweise nicht vollständig und müßte gewiß noch differenziert werden. Nach dem großen theoretischen Anlauf der sechziger und siebziger Jahre sind systematische Überlegungen zur Jugendarbeit inzwischen in einem kurzatmig begründeten Praktizismus weitgehend versandet. Wer diesen Zustand überwinden will, muß dafür nach wie vor an einem das Aufwachsen im ganzen in den Blick nehmenden Erziehungs- bzw. Sozialisationskonzept arbeiten, wie es Klaus Mollenhauer vorgeschwebt hat.

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Anmerkungen:

(1) Im Jahrgang 1965 der Zeitschrift "deutsche jugend" finden sich kritische Beiträge von Theodor Wilhelm, Heinz-Georg Binder, Christof Bäumler, Martin Vogel, Karl Seidelmann, Wolfgang Fischer und Walter Hornstein. Außerdem: Heinz Hermann Schepp: Jugendarbeit in der egalitären Gesellschaft, in: ZfPäd H. 5/1964.

Die Autoren Kentler, Giesecke und Mollenhauer - Müller befand sich im Ausland - antworteten auf die teilweise heftige Kritik im Oktoberheft der Zeitschrift

(2) Alternative Positionen zur Rolle der Pädagogen finden sich in den damals viel beachteten und auch umstrittenen Praxisberichten von Lutz Rößner (1962) und Helmut Kentler (1962)

Literatur

Giesecke, H., 1981: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, Weinheim und München (im Original fälschlich: Basel, H.G.)
Giesecke, H., 1993: Hitlers Pädagogen, Weinheim und München
Kentler, H., 1962: Jugendarbeit in der Industriewelt, München
Krafeld, F. J., 1984: Geschichte der Jugendarbeit, Weinheim und Basel
Lessing, H./Liebel, M., 1974: Jugend in der Klassengesellschaft, München
Mollenhauer, K., 1964: Versuch 3, in: Müller u.a.
Mollenhauer, K. u.a., 1969: Evageliesche Jugendarbeit in Deutschland, München
Müller, C. W./Kentler, H./Mollenhauer, K./Giesecke, H., 1964: Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie, München
Rößner, L.,1962: Jugend in der Offenen Tür, München
Schelsky, H., 1957: Die skeptische Generation, Düsseldorf
Spranger, E.,1966: Die Psychologie des Jugendalters, Heidelberg (28. Aufl.)


 

194. Gespräch mit Thomas  Rex im Alpha-Forum des Bayerischen Rundfunks

(Erstausstrahlung: Mittwoch, 8. Juli 1998, 20.15 Uhr. Das Gespräch wurde unter Einhaltung der vorgegebenen Zeit frei geführt, aufgezeichnet und nachträglich nicht mehr korrigiert oder gekürzt,  H.G.)

Quelle: http://www.br-online.de/alpha/forum/vor9807/19980708_i.html
 
 
 

Herr Rex: Ich begrüße Sie, liebe Zuschauer, herzlich bei Alpha-Forum. Heute bei uns zu Gast ist Professor Hermann Giesecke. Herr Professor Giesecke, Sie sind gerade frisch emeritierter Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Universität in Göttingen. Ihre Bücher gehören zur Standardliteratur in den Erziehungswissenschaften, und Sie sind alles andere als ein Theoretiker. Bereits während Ihres Studiums arbeiteten Sie auf einem Jugendhof. Wie war denn das damals in den fünfziger Jahren?

     Prof. Giesecke: Die Jugendhöfe waren eine Erfindung der britischen Besatzungsmacht, in Süddeutschland gab es sie, wie ich glaube, gar nicht. Es ging darum, ein Forum für die Jugendverbände zu schaffen, die nach 1945 wieder in der Art von vor 1933 entstanden waren. Die Jugendhöfe sollten eine gemeinsame Plattform darstellen, damit sich die innere Zerrissenheit der Weimarer Zeit nicht wiederholte. Das war der politische Ausgangspunkt. Ich bin natürlich erst sehr viel später dazugekommen. Diese Jugendhöfe hatten unter anderem die Aufgabe, politisch bildende Lehrgänge zu veranstalten, und daran habe ich mich schon als Student beteiligt - als Teamer, wie wir damals sagten.

     Herr Rex: War das ein Jugendtagungsort, an dem am Wochenende Seminare stattfanden?

     Prof. Giesecke: Nicht nur an Wochenenden, wir machten vielmehr Lehrgänge für Gymnasiasten der Oberstufe, aber auch für Lehrlinge und für ganze Lehrlingsgruppen aus einzelnen Betrieben der Umgebung. Das hing damit zusammen, daß in den fünfziger und sechziger Jahren die politische Bildung auf einmal eine besondere Bedeutung bekam. Das kam durch zwei Ereignisse: zum einen durch die Hakenkreuzschmierereien damals in den fünfziger Jahren. Der zweite Grund war, daß die DDR ideologisch sehr aktiv geworden war: Sie lud Schüler, Lehrlinge und Studenten in die DDR ein. Hier im Westen mußten man dabei feststellen, daß kaum einer der Jugendlichen wirklich eine Ahnung hatte von dem, was in der DDR geschah. Das waren die Hintergründe.

     Herr Rex: Sie sind 1932 in Duisburg geboren, erlebten den Krieg evakuiert im Osten und kamen dann zurück. Sie begannen 1954 Ihr Studium mit den Fächern Geschichte, Latein und Philosophie. Wie kamen Sie auf diese Fächer?

     Prof. Giesecke: Also, Geschichte, das war immer schon klar gewesen. Das war eigentlich das Fach, das mich am meisten interessiert hatte. Latein war ein Brotstudium, ich brauchte ein zweites Fach für das Lehramtsexamen  – ich wollte Gymnasiallehrer werden. Und die Philosophie und auch die Pädagogik waren damals sogenannte Begleitstudien, die wir sowieso machen mußten.

     Herr Rex: Sie sind dann von 1963 bis 1967 wissenschaftlicher Assistent am pädagogischen Seminar in Kiel gewesen. Dort haben Sie auch promoviert. Was waren denn da Ihre Schwerpunktthemen?

     Prof. Giesecke: Meine Dissertation hatte unsere praktische Arbeit auf einem Jugendhof in der Nähe von Bremen zum Inhalt. Sie hieß "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" und mußte damals zum Glück nicht gedruckt werden. Zum Glück, weil das in einem sehr schweren und anstrengenden Stil geschrieben war – ich hielt das damals noch für akademisch, so zu schreiben.

     Herr Rex: Sie schreiben heute viel lesbarer für das breite Publikum?

     Prof. Giesecke: Ja, das habe ich u. a. meinem Doktorvater Theodor Wilhelm zu verdanken, der damals auch harsche Kritik an dem Text übte. Mit dem Inhalt war er sehr einverstanden, aber er nannte das eine     Imponiersprache und meinte, das sollten wir besser den Soziologen überlassen, die Pädagogen dürften das nicht machen.

     Herr Rex: Sie kamen dann 1967 an die "Pädagogische Hochschule" in Göttingen und mit den achtundsechziger Jahren gleich in ganz turbulente Zeiten hinein.

     Prof. Giesecke: Ja, das kann man wohl sagen. Bei uns an der "Pädagogischen Hochschule" war es nicht so dramatisch wie an der benachbarten Universität, da war das alles sehr viel rabiater und aggressiver. Meine Stellung dazu war von Anfang an sehr gespalten: einerseits hielt ich viele Vorschläge, die aus der Achtundsechziger-Bewegung kamen, politisch für vernünftig, andererseits hat mich auch sehr schnell die Irrationalisierung, auch die politische Irrationalisierung dieser Bewegung irritiert.

     Herr Rex: Sie waren damals ja schon Professor.

     Prof. Giesecke: Ich war schon Professor damals, ja.

     Herr Rex: Der Aufbruch zu neuen Ufern, von der Ordinarienuniversität in die achtundsechziger Zeit hinein – war das für Sie persönlich schwierig?

     Prof. Giesecke: Es war für mich schwierig, weil ich eine andere Vorstellung mitgebracht hatte. Ich hatte in den fünfziger Jahren studiert, und ich komme aus sozialen Verhältnissen, in denen das nicht vorgesehen war. Für mich war das Studieren eine riesige Chance gewesen. Ich hatte eigentlich kein Verhältnis dazu, daß nun Studenten kamen und sagten, das sei alles gar nicht so wichtig. Das hat mich also u. a. daran gestört.

     Herr Rex: Damals war ja schon von der Bildungskatastrophe die Rede. Wie sehen Sie das heute, 30 Jahre später?

     Prof. Giesecke: Wenn man das auf einen Punkt bringt, dann muß man sagen, diese Bildungsreform ist letztendlich daran gescheitert, daß es ihr gar nicht um die Schüler, um besseren Unterricht, um eine bessere Schule ging, sondern daß da Erwachseneninteressen eine Rolle gespielt haben. Da war erstens das politische Interesse: Man wollte über die Schule die Gesellschaft verändern, und viele der methodischen Maximen, die heute noch gültig sind, stammen von daher. Das hat man inzwischen vergessen, man hält das heute für pädagogisch, aber damals waren die Ursprünge politischer Art. Das zweite war der Aufstiegswille der Volks- und Hauptschullehrerschaft, auch das ist in Vergessenheit geraten. Sie konnten der Universität bzw. dem Universitätsstudium nur dann gleichgestellt werden, wenn z. B. so etwas wie die Gesamtschule etabliert wird. Die Gesamtschule machte es möglich, daß in Gestalt des Stufenlehrers eine gemeinsame Lehrervorstellung entstehen konnte. Nicht zu vergessen sind die empirischen Wissenschaften, die auf einmal ein neues Feld – etwa die Unterrichtswissenschaft - für ihre Begriffe wie z. B. Evaluation fanden. Diese Begriffe sind ja heute noch im Umlauf: Sie kommen von daher, haben dort auch ihren Sinn, aber angewandt auf die Pädagogik ist das alles sehr problematisch.

     Herr Rex: Sie können ja die Jungen und Mädchen, die Schülerinnen und Schüler aus den fünfziger Jahren mit denen von heute vergleichen. Sind die von heute denn so anders als die von damals?

     Prof. Giesecke: Sie haben andere Probleme zu lösen. In den fünfziger Jahren und auch in den Jahren, als ich aufgewachsen bin, gab es noch so etwas wie ein einheitliches Erziehungsverständnis der ganzen Gesellschaft: Ob zu Hause oder in der Öffentlichkeit, man wußte, wie sich Kinder zu benehmen hatten und man griff auch ein, wenn das nicht so war. Während es heute so ist, daß sich die Pluralisierung der Gesellschaft - die ja spätestens zu Beginn des Jahrhunderts schon eingesetzt hatte - inzwischen so radikalisiert hat, daß diese Einheitlichkeit verloren ist. Es wird eigentlich nur noch an einzelnen Orten erzogen: in der Schule, in der Familie, durch das Fernsehen.

     Herr Rex: Sie haben das die Mit-Erzieher genannt: das Fernsehen, auch die Cliquen. Wie werden denn die Kinder von diesen Miterziehern geprägt? Wie ist das Verhältnis zur Kernfamilie? Über die Familie, die Stieffamilie und die normale Familie haben wir später noch zu sprechen, das ist ja auch alles im Aufbruch. Aber wie wichtig sind denn diese äußeren Erzieher, diese Mit-Erzieher für die Jugend von heute?

     Prof. Giesecke: Sie sind alle wichtig, trotz der schlechten Einflüsse, die sie natürlich auch ausüben können. Sie sind wichtig für die Individualisierung des Kindes, denn Individualisierung ergibt ja nur Sinn, wenn man
Wahlmöglichkeiten hat, wenn man balancieren muß. Insofern ist meiner Meinung nach auch das Fernsehen wichtig. Die Gleichaltrigengruppe und das Kaufhaus als Symbol der Konsumgesellschaft sind wichtig, weil Kinder  und Jugendliche lernen müssen, sich in diesen widersprüchlichen Anforderungen und Erwartungen eine eigene Handschrift für ihre Person zuzulegen.

     Herr Rex: Wie ist das mit Stars und Idolen? Haben die die gleiche Rolle, die sie vielleicht in den fünfziger Jahren hatten?

     Prof. Giesecke: Wir hatten keine Stars und Idole, außer vielleicht beim Fußball, aber das war etwas anderes.

     Herr Rex: So Romanhelden wie bei Karl May, so etwas in der Richtung?

     Prof. Giesecke: Sicher, Winnetou, aber das war nichts für Mädchen, das war bloß etwas für Jungs. Nein, der entscheidende Punkt ist, daß etwa die Idole der Schlagerbranche heute für bestimmte Jahrgänge des Jugendalters so etwas wie Identitätskrücken anbieten. In dieser Übergangsphase identifiziert man sich damit, aber wenn man dann erwachsen geworden ist, ist das auch wieder vorbei. Insofern haben sie auch eine gewisse positive Funktion.

     Herr Rex: Sie sind also eine Orientierungshilfe während der Zeiten, in denen so viele Leute und so viele Faktoren miterziehen.

     Prof. Giesecke: Ja, und vor allem in der Zeit, in der man selbst seine Identität noch nicht gefunden hat, in der man dieses Balancieren noch nicht richtig gelernt hat.

     Herr Rex: Sie schreiben, 30 Jahre nach Beginn der achtundsechziger Bewegung verharrt die Pädagogik heute trotz oder gerade wegen der Reform in einer tiefen Krise. Und es geht Ihrer Einschätzung nach auch um wesentlich mehr als um den Streit über die Gesamtschulen. Sie schreiben dazu, "daß unsere Gesellschaft im Ganzen ein gestörtes Verhältnis hat zu ihrem Schulwesen, nämlich
 zu dessen Aufgaben und Funktionen". Wo liegt es denn im Schulwesen am meisten im Argen?

     Prof. Giesecke: Das Schulwesen, das wir heute haben, ist ja ideell, um nicht zu sagen ideologisch geprägt worden in der achtundsechziger Bewegung. Im Zuge dieser Entwicklung hat man der Subjektivität der Schüler, also ihrer Befindlichkeit, ihrer Gestimmtheit, ob sie Lust und Spaß haben usw. zu viel Bedeutung beigemessen. Das ist zu kritisieren, weil die Welt, die objektive Welt - z. B. die Berufswelt – nicht danach fragt: Sie hat ihre eigenen Gesetze. Aufgabe der Schule wäre es, an diese Regeln – die Regeln des Lebens wie Korczak das mal genannt hat – heranzuführen.

     Herr Rex: Die Lehrer sind Ihnen also zu sehr Sozialpädagogen und zu wenig Lehrer? Sie haben das einmal so ähnlich formuliert.

     Prof. Giesecke: Ja, die Lehrer hat man in eine tiefe Identitätskrise gestürzt, weil man nun alles Mögliche von ihnen verlangt. Sobald etwas mit den Kindern und Jugendlichen nicht stimmt, sagt man, sie sollen sich darum kümmern. Das ist aber historisch völlig überholt, diese Erziehungsvorstellung kann gar nicht funktionieren. Meiner Meinung nach muß sich die Schule auf ihren wirklichen Zweck konzentrieren, nämlich guten Unterricht zu machen, und auf diese Weise die Welt und die Stellung des Kindes in ihr erklären.

     Herr Rex: Ist da den Lehrern, aber vielleicht auch den Eltern der Mut zum Erziehen abhanden gekommen? Denn erziehen heißt ja auch, Verantwortung zu haben.

     Prof. Giesecke: Die Eltern sind natürlich genauso verwirrt wie alle anderen auch.

     Herr Rex: Weil sie oft schon aus dieser Generation stammen.

     Prof. Giesecke: Weil sie selbst schon aus dieser Generation stammen, haben sie es nicht gelernt, z. B. die Familie primär als eine soziale Größe zu betrachten, bei der natürlich auch die Beziehungsdimensionen und die psychologischen Implikationen und Schwierigkeiten eine Rolle spielen, aber bei der es eben primär um soziale Zusammenhänge geht. Verkürzt ausgedrückt: Die Familie muß heute zunächst einmal für sich selbst erziehen und die großen Töne weglassen, die mit dem alten Begriff der Erziehung ja noch verbunden sind. Dasselbe gilt übrigens für die Schule: Sie muß für sich selbst erziehen und indem sie dies tut, bringt sie eben auch, nebenbei sozusagen, die in der Öffentlichkeit erforderlichen Verhaltensweisen bei. Wenn Sie einen erfolgreichen Unterricht machen, lernen die Schüler dabei eben auch Toleranz, sie lernen zuzuhören, zu schweigen, sich einzubringen usw., also einen Stil, der für das öffentliche Verhalten ungemein wichtig ist.

     Herr Rex: Die Schlagzeilen lauten leider anders: Gewalt auf dem Schulhof, Lehrer, die am liebsten mit 45 Jahren in die Frühpensionierung gehen wollen, weil sie an ihren Schülern, aber auch an streitsüchtigen Eltern verzweifeln. Ist das die Realität, oder sind das nur Schlagzeilen?

     Prof. Giesecke: Nein, nein, das ist schon zum großen Teil Realität. Das liegt eben daran, daß dieser Beruf seine Identität und sein professionelles Selbstbewußtsein durch die Fülle der Ansinnen, die an ihn gestellt werden, verloren hat.

     Herr Rex: Kann man daran kurzfristig etwas ändern, oder ist das auch ein gesellschaftlicher Prozeß, der sich jetzt über Jahre hinwegziehen muß?

     Prof. Giesecke: Ja, man sagt immer "gesellschaftlicher Prozeß". Das ist mir aber zu allgemein. Das ist eine  ideologische Frage, um das mal so auszudrücken, d. h. es ist jedenfalls eine Frage des Bewußtseins. Was müssen wir Kindern und Jugendlichen beibringen, was müssen sie lernen und welche Arrangements müssen wir dafür treffen? Zum Beispiel: Wenn Sie eine Schulklasse haben, in der keine Regeln gelten, in der der Lehrer nicht in der Lage oder es ihm gar nicht erlaubt ist, die grundlegenden Ordnungen, die da nötig sind, durchzusetzen, dann provozieren Sie ja Aggressivität als Überlebensmittel für die Schüler. Die müssen sich ja sozial irgendwie behaupten können.

     Herr Rex: Sie sagen, wir stehen vor einer pädagogischen Wende, und Sie fordern diese Wende auch. Es gibt natürlich auch noch andere Forderungen. Für die Krise in der Pädagogik nennen Sie drei Gründe: den Verlust der Glaubwürdigkeit der Erziehungswissenschaften, das klang gerade schon an.  Sie sagen auch, der pädagogische Zeitgeist habe sich geändert - heute erhalten eben die psychosozialen Aspekte ein Übergewicht auf Kosten der sozialen und gesellschaftlichen Faktoren. Und drittens konzentriert sich das pädagogische Denken einseitig auf Familie und Schule. Wie wirken denn diese Faktoren zusammen und wie hat sich dieser pädagogische Zeitgeist geändert? Was ist das      eigentlich?

     Prof. Giesecke: Ja, was ist das eigentlich? Zeitgeist ist ein Begriff, den ich dafür gewählt habe: Das ist etwas, was man in Sachen Erziehung für richtig hält, ohne daß dahinter eine Theorie stehen muß. Dieser Zeitgeist ist eben  unter anderem charakterisiert durch eine übertriebene Psychologisierung der Kindheit und des Jugendalters. Was ich vorhin schon einmal erwähnt habe: dieser Blick auf die innere Gestimmtheit des Kindes, auf seine innere Struktur. Verlorengegangen sind die sozialen Dimensionen. Dieser Zeitgeist oder diese zweite reformpädagogische Phase, wie man das auch nennen könnte – nach der ersten um die Jahrhundertwende -, ist eigentlich überall in den westlichen Ländern am Ende. Man kann das auch in den USA studieren. Das ist so, weil man gemerkt hat, daß es  ins Leere geht, daß es die Probleme nicht löst.

     Herr Rex: Wer ist denn da jetzt gefordert, um diese pädagogische Wende wirklich voranzubringen? Ist  das ein Appell an die Professoren oder an die Politiker?

     Prof. Giesecke: Ja, das ist natürlich ein Appell an die Politik. Aber die Politik kann auch nur das tun, was im öffentlichen Bewußtsein zu verankern ist: Sie muß ja Wahlen gewinnen und Wahlen kann sie nur gewinnen, wenn sie Menschen hinter sich bringt, die von etwas überzeugt sind. Insofern muß die Korrektur eigentlich auf allen  Ebenen einsetzen. Auch in der Schule müssen sich die Lehrer wieder stärker als Kollegium verstehen, das als Gruppe bestimmte Grundsätze des sozialen Verhaltens, des Umgangs auch mit den Eltern usw. zur Geltung bringt. Aber das ist ein mühsamer Prozeß, das wird noch Jahre dauern, davon bin ich überzeugt.

     Herr Rex: Wenn man sich heute auf dem Lehrstellenmarkt umsieht, wenn man mit Firmen- und Personalchefs redet, dann schütteln die oft den Kopf über die Qualifikationen, die die Schüler mitbringen: Sie können nicht mehr rechnen, sie können nicht mehr lesen, sie sind nicht in der Lage, einen Aufsatz zu schreiben, sie sind nicht in der Lage sich zu benehmen – klagen die Unternehmer. Ist das auch die Realität, ist das überspitzt? Und wenn es so ist, warum sind dann diese Kinder von heute so anders als die Ihrer und vielleicht auch meiner Generation?

     Prof. Giesecke: Sie sind anders, weil man sie zu einem guten Teil so sein läßt. Was diese Mängel betrifft, so sind sie, wie ich glaube, nicht übertrieben. Es gibt inzwischen ja auch ernsthafte wissenschaftliche und internationale Untersuchungen, die bestätigen, daß die Schulleistungen bei uns enorm zurückgegangen sind – in der Mathematik und in den Naturwissenschaften hat man das bei uns jedenfalls untersucht. Das hat auch damit zu tun, daß Unterricht inzwischen ein Schimpfwort geworden ist. Auch das rührt von der achtundsechziger Attacke her, die den Unterricht als etwas Autoritäres zu demontieren versucht hat. Das hat sich jetzt eben weitgehend  durchgesetzt. Am liebsten ist es den Reformpädagogen, die Kinder finden selbst heraus, was sie lernen sollen, und finden selbst auch die Motive dafür, warum sie das denn tun sollen.

     Herr Rex: Das funktioniert Ihrer Einschätzung nach aber überhaupt nicht.

     Prof. Giesecke: Das kann gar nicht funktionieren, so sind die Menschen nicht – weder die Erwachsenen noch die Kinder.

     Herr Rex: Es gab das Schlagwort "Bildung für alle". Wer soll denn Ihrer Einschätzung nach wie gebildet werden?

     Prof. Giesecke: Bildung für alle ist im Prinzip eine richtige Forderung, weil sie zu einer demokratischen Gesellschaft gehört. Früher hatten wir ja die Klassen- oder Standesbildung. Das war nur solange zu vertreten, wie die Arbeiterkinder eben wieder Arbeiter wurden und die Bauernkinder wieder Bauern. Das hat sich geändert und dafür brauchen wir eine neue Bildungsvorstellung, die sich allen Kindern öffnet. Aber: Das kann nicht heißen, daß nun auch alle das Abitur machen oder alle auch studieren, weil dafür nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Interessen der Menschen zu unterschiedlich sind. Viele interessiert das einfach nicht, und das ist ja auch ihr gutes Recht.

     Herr Rex: Die Erziehungswissenschaft, die Sie ja vertreten, kann eigentlich nur das an die jungen Lehrer, an die Studentinnen und Studenten weitergeben und an Normen umsetzen, was die Politik vorlegt. Diese Normen, das haben Sie soeben schon gesagt, sind verbesserungswürdig. Aber wer kann  sie denn wirklich geben, diese Normen? Kann man jetzt ein Gesetz verlangen, daß so und so unterrichtet wird, und dann wird das alles besser - oder ist das nicht ein Prozeß, der noch viel
schwieriger ist?

     Prof. Giesecke: Wenn Sie nur auf die Schulen schauen, ist das meiner Meinung nach verhältnismäßig einfach, weil es dafür schlagende Gründe gibt. Wie sich immer mehr herausstellt, ist die alte Bildungsidee des Herrn von Humboldt gerade auch bei der betrieblichen Bildung und Weiterbildung die einzige wirklich moderne Bildungsidee, die es gegeben hat. Die reformpädagogischen Ideen sind das nicht, sie sind zeitbedingt. Die Idee von Humboldt beinhaltet nämlich die Vorstellung, daß es möglich ist, sich vor jeder gesellschaftlichen Nützlichkeit im Beruf eine grundlegende Bildung zu verschaffen, die einem die Welt erklärt und die eigenen geistigen Fähigkeiten in Bewegung setzt.

     Herr Rex: Das sind diese Schlüsselqualifikationen, die die Arbeitgeber so oft bei ihren Lehrlingen vermissen?

     Prof. Giesecke: Ja, Sie nennen das Schlüsselqualifikationen, aber das ist auch ein zu wenig konkreter Begriff. Diese Schlüsselqualifikationen gelten für Sie, für mich und für Studenten, das ist nichts Spezifisches. Nein, es geht um einen in Fächer aufgeteilten Unterricht, der die Kultur, die Natur und die Geschichte in den Grundzügen erklärt, so daß in den Menschen vor jeder Spezialisierung eine grundlegende Vorstellung darüber entstehen kann, wie die Dinge zusammenhängen und was die Welt zusammenhält. Das wäre wieder Aufgabe der Schulen.

     Herr Rex: Sie haben es eben schon anklingen lassen, die empirische Sozialforschung mit ihren Techniken führt auch mit zur Dauerkrise der Erziehungswissenschaft. Für Sie ist das nicht meßbar: Das, was ich in das eine Kind investiere, muß nicht unbedingt zum gleichen Ergebnis führen wie bei einem anderen Kind, d. h. wenn ich das Ganze auf andere Kinder anwende. Die empirische Sozialforschung ist für Sie also hier völlig fehl am Platze?

     Prof. Giesecke: Nein, so kann man das nicht sagen. Aber früher hieß die Pädagogik einfach nur Pädagogik, und jemand hatte eine Professur für Philosophie und Pädagogik oder Psychologie und Pädagogik. Dann, in den
fünfziger und sechziger Jahren, hat man geglaubt, sich mit der Sozialwissenschaft, die damals ja – Beispiel Soziologie - groß aufblüte, verbünden zu müssen, weil man auf diese Weise zu einer modernen Wissenschaft  werden könnte. Von da an hieß man dann auch Erziehungswissenschaftler. Diese Hoffnung ist jedoch enttäuscht worden – nicht deshalb, weil diese Forschungen an und für sich wertlos wären, sondern eher deshalb, weil sie für die konkrete Praxis nicht viel hergeben. Wenn wir z. B. wissen, daß etwa 15 Prozent der Jugendlichen rechtsextremem Gedankengut zuneigen, dann weiß ich als Lehrer noch überhaupt nichts. Ist in meiner Klasse überhaupt jemand, den das betrifft? Oder sind – je nach Wohnlage oder Einzugsgebiet - vielleicht alle so? Das ist vielleicht ein etwas simples Beispiel, aber es verdeutlicht, daß die Umsetzung in die Praxis schwierig ist. Noch schlimmer war das ja bei den Lehrplanideen, bei den Ideen zum Curriculum, die von Lernzielen ausgingen und immer nur zu riesigen Listen ohne inneren Zusammenhang geführt haben. Von da an gab es eigentlich erst diese irrwitzige Stoffülle, die wir bis dahin so in unseren Schulen nicht gekannt haben, weil es bei uns eben noch den übergreifenden Begriff der Bildung gab. Statt dessen tagen jetzt Gremien: Das, was jedem wichtig ist, kommt in die Lehrpläne hinein, und das Ganze wird dann hintereinander abgeschrieben. Das hat zum großen Teil jedenfalls keinen inneren geistigen Zusammenhang mehr.

     Herr Rex: Das ist dann der Kontext für die Kinder.

     Prof. Giesecke: Wenn die Kinder einen guten Lehrer haben, dann leistet er das für sie. Aber darauf kann man eben nicht setzen.

     Herr Rex: Wird die Pädagogik jetzt, am Ende der neunziger Jahre, auch zu einer  Sozialisationswissenschaft?

     Prof. Giesecke: Das muß sie sein, weil sie sonst eine reine Schulwissenschaft oder eine reine sozialpädagogische Wissenschaft wird. Wenn wir uns heute das Aufwachsen von Kindern im Gesamtzusammenhang vorstellen, dann müssen wir über die Schule hinausblicken und alle Faktoren wie Familie, Fernsehen, Konsumgesellschaft, Gleichaltrigengruppe usw. mit betrachten, um überhaupt ermitteln zu können, wozu die Schule, wozu die Familie noch da ist.

     Herr Rex: In einem anderen Zusammenhang haben Sie geschrieben, daß der Pädagogik eine ganze Generation von Leuten fehlt, die sich einbringen können. Dies kam dadurch, daß nach 1968 sehr viele neue Stellen geschaffen wurden und einfach deshalb momentan der Mittelbau fehlt. Hat das Auswirkungen?

     Prof. Giesecke: Ja, aber sicher. Es gibt Schulen, in denen die jüngsten Lehrer 50 Jahre alt sind. Wenn man sich das einmal vor Augen führt: Das ist eine Katastrophe für die Kinder, weil sie diese Generationsdifferenzen
zwischen jungen und alten Lehrern nicht mehr miterleben. Das ist auch für die Lehrer ganz schlecht, es fehlt nämlich der frische Wind im Kollegium, sie versauern ja regelrecht. Und an den Hochschulen ist die Situation ja ähnlich.

     Herr Rex: Es müßten also schnell junge Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden, aber dafür fehlt das Geld. Das ist wieder ein politisches Problem. Sie haben schon 1985 ein Buch mit dem Titel "Das Ende der Erziehung" geschrieben, das den hoffnungsvollen Untertitel "Neue Chancen für Familie und Schule" trägt. Gibt es denn diese Chancen, wenn Sie im Moment doch ein so kritisches Bild der Schule skizzieren?

     Prof. Giesecke: Der Titel "Das Ende der Erziehung" ist, wenn man das Buch nicht liest, mißverständlich, denn ich bin ein entschiedener Vertreter von Erziehung. Aber nicht im überlieferten Sinn - und dagegen richtete sich das Buch: daß man sich eine Gesamtvorstellung vom Menschen entwirft, den man in der Schule und in der Familie möglichst genau herstellen möchte. Der Erziehungsprozeß ist parzelliert und begrenzt worden. Ich hatte das vorhin schon gesagt: Im Grunde kann man in der Schule zunächst nur für die Schule erziehen und in der Familie für die Familie. Die Summe all dieser Einflüsse muß das Kind und dann später der Jugendliche – und das ist eben die individuelle Leistung – zu einer persönlichen Variation integrieren. Das ist historisch neu – jedenfalls für viele Menschen. Für tendenziell alle Menschen ist es historisch neu, früher hat man diese Forderung nur an Eliten gestellt.

     Herr Rex: Jetzt kommen wir zu dem zweiten großen Feld, in dem Kinder erzogen werden, zur Familie. Da gibt es ja auch einen großen Wandel in unserer jetzigen Gesellschaft. Ein Drittel aller Ehen werden geschieden, und sehr viele Kinder leben dann nur noch mit der Mutter oder dem Vater zusammen oder es gibt Stieffamilien. Die sogenannte normale Familie ist gar nicht mehr die Norm, da gibt es einen großen Wandel. Sie sind aber auch der Auffassung, daß eine Erziehung in einer Nicht-Normfamilie nicht unbedingt schlechter sein muß, daß diese Familie nur anders ist.

     Prof. Giesecke: Es kommt auf das Bewußtsein an. Die Familie ist anders und hat sogar bestimmte zusätzliche Chancen. Wenn Sie sich z. B. eine Stieffamilie ansehen, dann sind die Beziehungsstrukturen, die dort möglich sind, viel komplexer und differenzierter als in einer Erstfamilie. Das heißt, das Kind hat die Möglichkeit, z. B. zwischen verschiedenen Formen von Nähebeziehungen unterscheiden zu lernen, während die Nahbeziehung in der Normalfamilie relativ eindimensional ist. In der Stieffamilie gibt es den Stiefvater und den leiblichen Vater, und da gibt es die Verwandten von beiden Seiten, die im besten Fall dem Kind zugetan sind, aber trotzdem eine unterschiedliche Rolle spielen. Wenn man das als Eltern pädagogisch bemerkt, dann stecken darin eine Reihe von Chancen für das Kind, die die Normalfamilie so gar nicht haben kann.

     Herr Rex: Aber für die Familien ist das auch sehr schwierig, wenn sie aus der Konfliktsituation einer Scheidung heraus in eine intakte Zweitfamilie, wie Sie das genannt haben, kommen. Und auch an die Kinder werden große Ansprüche gestellt.

     Prof. Giesecke: Ja, wobei aber die Zweitfamilie genau besehen schon eine Drittfamilie ist. Es gibt die Erstfamilie, dann kommt die Trennung oder Scheidung, dann kommt ja als Zwischenglied erst einmal die Alleinerzieherfamilie. Meist ist das die Mutter mit Kind oder Kindern. Dann erst kommt als dritte Stufe oft die Situation der Stieffamilie mit einem neuen Partner hinzu.

     Herr Rex: Was können Sie den Müttern, die das in den meisten Fällen betrifft, im Umgang mit ihren Kindern raten, wenn der Ehepartner jetzt nicht mehr in der Familie lebt? Wie kann sie diese Trauerarbeit bewältigen und gleichzeitig mit ihren Kindern normal umgehen? Gibt es da Mittel und Wege?

     Prof. Giesecke: Ja, auch da kommt es natürlich auf das Bewußtsein an. Etwas ganz Vordergründiges ist z. B.: Die Kinder profitieren nicht von einem schlechten Gewissen der Eltern oder in diesem Fall der Mutter. Wenn die Mutter das auch noch bearbeitet und sich permanent fragt, ob diese Trennung nötig war oder ob sie etwas falsch gemacht hat, dann ist das ein Festhängen an der Vergangenheit. Daran können sich die Kinder nicht beteiligen. Und oft erwachsen gerade aus diesen Selbstzweifeln falsche Strategien im Umgang mit den Kindern. Die Kinder brauchen aber einen "stinknormalen" Alltag. Daneben ist es vor allen Dingen wichtig, den Zugang zum abwesenden Elternteil, in der Regel zum Vater, offenzuhalten.

     Herr Rex: Aber es ist so, daß die Kinder dann nicht unbedingt die Vertrauten der Mutter werden sollten, weil sie so auf die Erwachsenenebene erhöht und ins Vertrauen gezogen werden. Das schadet, oder?

     Prof. Giesecke: Diese Versuchung ist nicht nur im Scheidungsfall vorhanden, sondern überhaupt immer dort, wo alleine erzogen wird, wo Mutter und Kind eine duale oder Zweierbeziehung bilden, weil die Zweierbeziehung im Grunde keine soziale Beziehung ist. Zur Sozialität gehören nämlich mindestens drei. Es besteht dann die Gefahr, daß das Kind zu sehr zum Vertrauten für die Erwachsenenprobleme des Erwachsenen wird. Das Kind hat aber ganz andere Probleme.

     Herr Rex: Sie haben dieses "Stinknormale", das Sie soeben angesprochen haben, den "sozialen Heimathafen" genannt. Können Sie noch ein bißchen deutlicher machen, was darunter zu verstehen ist?

     Prof. Giesecke: In dem Bild vom Heimathafen ist ja enthalten, daß man aus dem Hafen ausläuft - zur Arbeit, zur Schule oder z. B. für eine Reise -, aber auch wieder dorthin zurückkommt und sich auch darauf freut, mit den anderen wieder zusammenzutreffen, mit ihnen zu reden und Erfahrungen auszutauschen usw. Das meint das Bild.Die moderne Familie ist nicht mehr dieses geschlossene System, das es früher gewesen ist, sondern sie ist ein sehr offenes System geworden - spätestens durch das Fernsehen, aber eben nicht nur. Die Außenwelt kommt herein, und man geht auch auf die Außenwelt ganz anders zu, als das früher in der klassischen Familie der Fall war.

   Herr Rex: Auch bei diesen Themen sind Sie kein Theoretiker, sondern Sie haben die Stieffamilie selbst gelebt.

     Prof. Giesecke: Ja, ja. Der Fall hat mich auch selbst betroffen, und ich habe dann in meinem Buch "Wenn Familien wieder heiraten" versucht, diese persönlichen Erfahrungen systematisch zu verbinden mit dem, was man wissenschaftlich darüber grundsätzlich weiß – insofern geht es dabei doch auch um Theorie.

     Herr Rex: Aber schon Ihr Großvater war in der Situation, daß er in einer Zeit, die weit vor der unsrigen lag, mit einer Zweitfamilie umgehen mußte. Wie war das damals?

     Prof. Giesecke: Mein Großvater war etwa 20 Jahre alt, als sein bester Freund starb, der bereits verheiratet war. Und er hat ihm damals am Totenbett versprochen, für die Kinder zu sorgen. Damals ging das nur, indem er die Frau heiratete. Das war damals wahrscheinlich keine Liebesheirat im heutigen Sinn. Das war eine soziale Handlung.

     Herr Rex: Aber auch recht ungewöhnlich oder war das zu diesen Zeiten schon gang und gäbe?

     Prof. Giesecke: Gang und gäbe bestimmt nicht, aber ich glaube auch nicht ganz so ungewöhnlich, obwohl ich persönlich keine anderen Beispiele aus dieser Generation kenne.

     Herr Rex: Die Familienbindung zu Vater und Mutter, die jetzt manchmal als Norm bezeichnet wird -  Sie haben eben schon gesagt, daß das so normal inzwischen gar nicht mehr ist - hat in früheren Jahrhunderten nicht diesen Bestand gehabt. Es ist durchaus häufiger so gewesen, daß statt der Mutter  z. B. Dienstboten für die Kinder wesentlich wichtigere Ansprechpartner gewesen sind. Woran lag das
denn damals?

     Prof. Giesecke: Das lag damals daran, daß z. B. die reichen Elternhäuser, also die bürgerlichen Familien, Dienstboten hatten, die in irgendeiner Weise auch mit den Kinder befaßt waren. Das kann man in der Memoiren- oder Romanliteratur immer wieder lesen. Diese Personen konnten für das Kind unter Umständen auch eine ganz wichtige Bedeutung haben. Das hat sich aber im Laufe der Geschichte verändert, und die Kleinfamilie ist übrig geblieben. Oft sind nicht einmal mehr die Generationen von Eltern und Großeltern in der Nähe. Es bedarf dann umständlicher Anreisen, damit die Kinder ihre Großeltern sehen können. Das war früher natürlich anders – auch schon wegen der fehlenden Mobilität.

     Herr Rex: Aber das, was heute mit alleinerziehenden Familien, mit Stieffamilien passiert, das hat alles seine Vorbilder in der Geschichte und ist keine nur moderne Zeitgeisterscheinung.

     Prof. Giesecke: Nein, das hat es immer schon gegeben: schon wegen der Todesfälle, die ja früher häufiger waren als heute, wenn man einmal an das durchschnittliche Lebensalter der Menschen denkt. Das Neue ist bei der Stieffamilie eigentlich nur, daß sie heute ganz überwiegend nicht durch Todesfall entsteht, sondern durch Scheidung und Trennung.

     Herr Rex: Wie haben Sie denn in Ihrem Leben Beruf und Familie vereinbaren können?

     Prof. Giesecke: Als Professor war ich natürlich privilegiert. Meine Frau hat damals noch als Lehrerin gearbeitet und war damit vormittags aus dem Haus. Ich konnte meine Veranstaltungen und Termine weitgehend so ansetzen, daß ich erst am Nachmittag weg mußte.

     Herr Rex: Also nicht Teilzeit, aber geteilte Zeit.

     Prof. Giesecke: Das ist aber, wie gesagt, ein Privileg.

     Herr Rex: Welche Zukunft geben Sie denn der sogenannten Normalfamilie? Wird sie ganz verschwinden?

     Prof. Giesecke: Das glaube ich nicht. Die Familie ist ja in der modernen Geschichte immer wieder totgesagt worden. Man hat sie auch abschaffen wollen wie in der frühen Sowjetunion. Dann hat man sich aber auch dort in den dreißiger Jahren eines Besseren besonnen. Ich glaube, daß das Grundbedürfnis der Menschen, in einer stabilen, verläßlichen Basis-Sozialität zu leben, nicht totzukriegen ist. Die Schwierigkeit ist eben nur, daß früher die öffentliche Ordnung dieses Bedürfnis z. B. durch Gesetze viel stärker gestützt hat als heute. Heute interessiert den Staat rechtlich gesehen an der Familie nur die Rechtsfolgen – sowohl der Heirat als auch der Scheidung. Ansonsten sagt er: "Den Rest müßt ihr alleine machen. Ihr müßt euch sozusagen selbst vereinbaren."

     Herr Rex: Das alleine zu machen, ist manchmal auch ganz schön schwierig.

     Prof. Giesecke: Genau das ist der Punkt. Man kann nicht absehen, ob in Zukunft nicht doch wieder Generationen aufwachsen, die dieses Bedürfnis ganz anders sehen, als es etwa die achtundsechziger Generation gesehen hat, und daher ganz anders handeln werden: in der Einsicht, daß nun jeder selbst seines Glückes Schmied sein muß. Es gibt weder ein Milieu – z. B. katholisch oder bildungsbürgerlich –, das mir sagt, wie ich mich zu meinem Glück verhalten soll, noch sagt mir das der Gesetzgeber, weil ihn das gar nicht interessiert. Statt dessen müssen die Menschen diesen Freiraum nun selbst ausfüllen, und vielleicht gelingt das künftigen Generationen besser als den gegenwärtigen.

     Herr Rex: Welche größten Fehler machen denn im Moment die Eltern in den Familien?

     Prof. Giesecke: Der größte Fehler ist wohl immer der zu bestimmen, was die Kinder wollen sollen. Das sieht man z. B. an der Wahl der Schule, wenn Kinder für das Gymnasium getrimmt werden, sie dort nicht mitkommen und zu Außenseitern werden - anstatt mit den Kindern rechtzeitig zu überlegen, welche Alternativen es denn gäbe, damit das Kind auch eine glückliche Perspektive für sich und für die Entfaltung seiner Fähigkeiten sieht.

     Herr Rex: Manchmal sind also die Ziele zu hoch gesteckt.

     Prof. Giesecke: Ja, manchmal sind die Ziele zu hoch gesteckt. Das ist nur ein Beispiel, es gäbe auch noch zahlreiche andere Fehler.

     Herr Rex: Wir haben vorhin von den aggressiven, von den kriminellen Kindern gesprochen: Sind sie durch Erziehung noch zu retten?

     Prof. Giesecke: Das Problem dabei ist, daß wir in einer Gesellschaft leben, deren Rechtsstruktur auf Leute wie Sie und mich gemünzt ist, d. h. auf Leute, die relativ gebildet sind, die gelernt haben, ihre Affekte zumindest in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu bringen, und die an den gesellschaftlichen Chancen teilhaben können. Für die anderen, die das nicht schaffen, interessiert sich unser Rechtssystem eigentlich nicht: Kinder, die noch nicht strafmündig sind, werden ohnehin nicht erfaßt, sie können machen, was sie wollen. Die anderen werden erst dann interessant, wenn sie ein Gesetz gebrochen haben. Insofern glaube ich nicht, daß die bisherigen Regelungen, die man sich da ausgedacht hat, wie z. B. Psychologisierung und Therapeutisierung den entscheidenden Punkt treffen. Es kommt darauf an, für diese Kinder ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem sie befriedigend aufwachsen können. Aber das ist eben unter den heutigen Bedingungen ganz schwierig. Wo wollen Sie z. B. Menschen finden, die von Berufs wegen rund um die Uhr mit ihnen zusammenleben wollen? Da fängt das Problem schon an.

     Herr Rex: Ich möchte noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen, nämlich auf Ihre Forschungen. Sie haben mit "Hitlers Pädagogen" zu Beginn der neunziger Jahre ein Buch vorgelegt, in dem Sie über die pädagogischen Chefideologen Ernst Krieck, Alfred Bäumler oder Baldur von Schirach, den Gründer der Hitlerjugend, geschrieben haben. Waren das denn alles verblendete
Mitläufer oder kriminelle Erzieher?

     Prof. Giesecke: Nein, "kriminelle Erzieher" kann man bei diesen drei nicht sagen, nicht einmal bei Schirach, obwohl er der Erfinder der Hitlerjugend war – jedenfalls der ideelle Erfinder, es gab sie ja auch schon vor ihm. Bei Bäumler und Krieck war es so, daß sie zu ihrer Zeit, also vor 1933, weder erkennen ließen, daß sie etwas mit den Nazis zu tun hatten, noch Ideen vertreten haben, die mit deren Ideologie ohne weiteres übereinstimmten. Sie waren in den zwanziger Jahren, in der Weimarer Zeit, angesehene Wissenschaftler, und es ist für mich als nachfolgenden Pädagogen sowohl interessant wie auch beängstigend festzustellen, wieso und auf welche Weise sie in einem schon sehr hohen Alter in dieses Naziregime und diese Nazizeit hineingekommen sind.

     Herr Rex: Aber daran sieht man doch auch, was die Erziehung mit einer ganzen Gesellschaft machen kann, wie wichtig die Erziehung ist.

     Prof. Giesecke: Ja, aber das Merkwürdige ist ja, die Nazierziehung seit 1933 hat ja überhaupt nicht gewirkt - allenfalls für die ganz jungen Kriegsteilnehmer. Die anderen waren ja alle vorher erzogen worden. Auch die SS, die ja eine "akademische Elite" war, war ja im Wilhelminismus und in der Weimarer Zeit zur Schule gegangen.

     Herr Rex: Aber die Erziehung ist Ursache dafür, daß es heute immer noch diesen Bodensatz von Ewiggestrigen gibt.

     Prof. Giesecke: Also bei den Älteren ganz sicher. Obwohl ich ja zu denen gehöre, die die Wirkung von Erziehung eher geringer einschätzen, als andere Leute das tun - vielleicht liegt das an meinem Beruf. Bei diesen Alten, an die Sie hier denken, ist es wahrscheinlich eine Identitätsproblematik: Sie waren vorher mit den  Nationalsozialisten irgendwie liiert, sie waren vielleicht Soldaten, und sie haben es nicht geschafft, den Bruch mit ihrem früheren Leben zu vollziehen - so wie das andere eben geschafft haben – und deshalb hängt das nach. Bei den Jüngeren ist das ganz anders. Die Jüngeren, also die, die man heute so zur Neonaziszene zählt, haben mit dieser Phase gar nichts mehr zu tun, das hat ganz andere Hintergründe.

     Herr Rex: Aber auch das hat mit einer gescheiterten Erziehung bei den Jungen zu tun.

     Prof. Giesecke: Ja, mit einer gescheiterten Erziehung natürlich auch, aber da muß man fragen, warum die Erziehung gescheitert ist: Weil es eben viele Menschen gibt, die mit diesen Freiheitsspielräumen, die unsere Gesellschaft in ihrer pluralistischen Struktur sowohl anbietet als auch fordert – das gehört ja zusammen -, nichts anfangen können. Und es gibt so etwas wie eine Flucht in die unkomplizierte Identität. Dafür ist die Neonaziszene ein Beispiel, aber auch etwa Jugendsekten: die Lösung der Identitätsproblematik durch Unterwerfung unter ein kollektives Ich, unter einen Gruppenzwang oder so etwas Ähnliches.

     Herr Rex: Herr Professor, ganz herzlichen Dank, wir sind leider schon am Ende. 

Das war Alpha-Forum mit Professor Hermann Giesecke von der Universität Göttingen. Herzlichen Dank, liebe Zuschauer, für Ihr Interesse, auf Wiedersehen.
 

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