Hermann
Giesecke Hitlers
Pädagogen Theorie
und Praxis nationalsozialistischer Erziehung
2.
überarb. Aufl. Weinheim: Juventa-Verlag 1999
Teil
I:
Die pädagogischen Chefideologen
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beim Autor. © Hermann Giesecke
Inhalt
Teil
I Teil 1: Die
pädagogischen Chefideologen
1.
Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)
Hitlers
Erziehungsvorstellungen in "Mein
Kampf' Politisch-pädagogisches
Resümee 2.
Völkischer Erziehungsstaat
(Ernst Krieck) Leben und Werk
Politisch-pädagogisches
Resümee:
Die völkische Sackgasse 3.
"Politische
Pädagogik"
(Alfred Baeumler) Leben und Werk
Politisch-Pädagogisches
Resümee:
Die anthropologische Sackgasse
1.
Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)
Hitlers
Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf'
"Diese Jugend, die lernt ja
nichts
anderes, als
deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren
in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male
überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen
sie vier
Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend und dort behalten
wir se
wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück
in
die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger sondern dann
nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA
oder in die SS, in das NSKK usw. Und wenn sie dort zwei Jahre oder
eineinhalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden
sein sollten, dann kommen sie inden Arbeitsdienst und werden dort
wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem
deutschenSpaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an
Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch
vorhanden sein
sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung
auf
zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren
zurückkehren,
dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig
werden,
sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei ihr
ganzes Leben". (Zit. n. Fest 1980, 311 f.) Mit diesen Worten
charakterisierte Hitler
in einer
Rede 1938 sein Erziehungsideal, das er zu diesem Zeitpunkt schon
weitgehend verwirklicht sah: Ein Aufwachsen als nahezu ausbruchssichere
NS-Karriere, gegründet auf ein Erfahrungsmonopol ohne
Alternativen.
Später allerdings, am Ende seines Lebens, als er in der
Reichskanzlei
Bilanz zu ziehen versuchte, warum er den Krieg verloren hatte, kam er
unter an- 19
derem darauf, daß er ihn zu
früh habe führen müssen,
daß nicht genügend Zeit geblieben sei "um eine neue Elite
zur Reife zu
bringen, der die nationalsozialistische Denkart gleichsam mit der
Muttermilch verabfolgt worden war" (Zit. n. Fest 1973, 1012). Auf die
damit aufgeworfene Frage, wie erfolgreich die NS-Erziehung nun
tatsächlich gewesen ist, wird noch zurückzukommen sein. Hier
geht es
zunächst nur um Hitlers Absicht, um das Ziel, nämlich um den
möglichst
lückenlosen Erziehungsstaat. Diese Idee findet sich schon in
seiner
Bekenntnisschrift "Mein Kampf'. Sie handelt von den Ursachen für
die
deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und sucht die dafür
Schuldigen.
Demnach sind außer den Frontsoldaten mehr oder weniger alle
schuldig:
die militärische Führung, die bürgerliche Wilhelminische
Gesellschaft,
vor allem aber die Juden, die mit ihren "Helfern und Helfershelfern"
das deutsche Volk unterwandert hätten und durch die Revolution den
deutschen Soldaten in den Rücken gefallen seien. Schuld trage aber
auch
die Erziehung, die nur die wirtschaftliche Karriere des Einzelnen im
Sinne gehabt habe, die Förderung seines persönlichen
Egoismus, aber die
männlichen soldatischen Tugenden vernachlässigt habe. Eine
neue, vor
allem auf Körperertüchtigung und Charakterstärkung
gerichtete Erziehung
sei nötig, wenn das deutsche Volk sich wieder zu der ihm
gebührenden
Größe entwickeln wolle. Diejenigen, die er zu Feinden des
deutschen
Volkes definierte, überschwemmte er geradezu mit Haßtiraden,
die auch
heute noch schwer zu ertragen sind. Hitlers Extremismus war nur der
Reflex seiner Interpretation der Lage des deutschen Volkes: es sei so
geschädigt und gedemütigt, von innen wie von außen,
daß nur eine
radikale und rücksichtslose Anstrengung es noch zur retten
vermöge. Der
fanatische Hysteriker, wie man ihn genannt hat, schuf sich die radikale
Lagebeurteilung, die er brauchte. In den Rahmen dieser radikalen
Lagebeurteilung
stellte er auch die Erziehung. Im zweiten Band des Buches, im Kapitel
über den künftigen, den "völkischen" Staat, finden sich
längere
Ausführungen zu Erziehungsfragen. Sie enthalten eine
eigentümliche
Mischung aus Rassismus, Volksverhetzung, Banalitäten, aber auch
durchaus plausiblen Beobachtungen. Gerade diese explosive Mischung -
nicht nur in seinem Buch, sondern in der nationalsozialistischen
Agitation über- 20
haupt - erzielte die
Massenwirkung.
Jeder, der sich
als Deutscher fühlte - von den Juden und Sozialisten abgesehen,
die
waren ja vorweg als Feinde des Volkes hinausdefiniert -, konnte etwas
finden, was ihn bestätigte und was ihm wenigstens teilweise
Zustimmung
erlaubte. Die Haßtiraden mochten die begrüßen, denen
sie aus dem Herzen
gesprochen waren, andere mochten sie entschuldigen als
Äußerungen eines
Mannes, der wie viele seiner Generation verbittert war und dessen
Vernunft mit seiner politischen Verantwortung vielleicht noch wachsen
werde. An
diesem Text über Erziehung
läßt sich exemplarisch
die Breite der ideologischen Sammlung zeigen, die charakteristisch
für
die Hitlerbewegung war. "Mein
Kampf"' war keine politische
Aufklärungs-,
sondern eine Agitations- und Propagandaschrift, deren einziges Ziel es
war, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Das erklärt
die Breite der
ideologischen Aspekte. Für viele findet sich etwas, von dem sie
sich
angesprochen fühlen konnten, und alles entsprach einem "gesunden
Volksempfinden", das Hitler in seiner Person zu repräsentieren
schien. Der
reformorientierte Lehrer mochte
pädagogische
Kundigkeit vermuten, wenn Hitler das - bis heute ungelöste -
Problem
der Stoffülle anspricht. Es sei gefährlich, das jugendliche
Gehirn mit
einer Flut von Eindrücken zu überschwemmen; da könne
Wichtiges von
Unwichtigem nicht mehr unterschieden werden, und oft werde gerade das
Wesentliche wieder vergessen. "So geht der hauptsächliche Zweck
dieses
Viel-Lernens schon wieder verloren; denn er kann doch nicht darin
bestehen, durch angemessene Häufung von Lehrstoff das Gehirn an
sich
lernfähig zu machen, sondern darin, dem späteren Leben jenen
Schatz an
Wissen mitzugeben, den der Einzelne nötig hat und der durch ihn
wieder
der Allgemeinheit zugute kommt" (465). Der bildungsbürgerliche
Studienrat
dagegen wird mit
zustimmendem Kopfnicken Hitlers Plädoyer für die klassische
Bildung zur
Kenntnis genommen haben. ,Es
liegt im Zuge unserer heutigen
materialisierten
Zeit, daß unsere wissenschaftliche Ausbildung sich immer mehr den
nur
realen Fächern zuwendet, also der Mathematik, Physik,
21 Chemie
usw. So nötig dies für
eine Zeit auch ist, in
welcher Technik und Chemie regieren und deren wenigstens
äußerlich
sichtbarste Merkmale im täglichen Leben sie darstellen, so
gefährlich
ist es aber auch, wenn die allgemeine Bildung einer Nation immer
ausschließlich darauf eingestellt wird. Diese muß im
Gegenteil stets
eine ideale sein. Sie soll mehr den humanistischen Fächern
entsprechen
und nur die Grundlagen für eine spätere fachwissenschaftliche
Weiterbildung bieten. Im anderen Falle verzichtet man auf Kräfte,
welche für die Erhaltung der Nation immer noch wichtiger sind als
alles
technische und sonstige Können" (469). Hitlers Begabungsbegriff
schließlich war dem der
späteren sozial-liberalen Koalition nicht unähnlich, als
diese in den
60er und 70er Jahren ihre Bildungsreformen einleitete, um
Arbeiterkindern bessere Bildungschancen zu verschaffen.
"Ein Bauernjunge kann weit
mehr Talente
besitzen als
das Kind von Eltern aus einer seit vielen Generationen gehobenen
Lebensstellung, wenn er auch im allgemeinen Wissen dem Bürgerkind
nachsteht. Dessen größeres Wissen hat aber an sich mit
größerem oder
geringerem Talent gar nichts zu tun, sondern wurzelt in der wesentlich
größeren Fülle von Eindrücken, die das Kind
infolge seiner
vielseitigeren Erziehung und reicheren Lebensumgebung ununterbrochen
erhält. Würde der talentierte Bauernknabe von klein auf
ebenfalls in
solcher Umgebung herangewachsen sein, so wäre seine geistige
Leistungsfähigkeit eine ganz andere" (477). Alle diese pädagogischen
Einzelheiten sind nicht
typisch nationalsozialistisch, sind auch nicht Hitlers Erfindungen; er
fand sie vor und griff sie auf. Sie wurden später insofern
wichtig, als
man sich darauf berufen konnte, wenn man bestimmte pädagogische
Vorhaben durchsetzen oder verteidigen wollte. Nahezu jede
pädagogische
Veröffentlichung im Dritten Reich legitimierte sich zunächst
einmal mit
Hitler-Zitaten. So diente z.B. Hitlers Satz, daß Jugend von
Jugend
geführt werden müsse, dem Reichsjugendführer Baldur von
Schirach dazu,
die außerschulische Erziehung in der HJ zu monopolisieren und
Erziehungsansprüche anderer NS-Organisationen abzuwehren. Neu
für die
damalige Erziehungsdiskussion war der Zusammenhang in dem Hitler diese
päd- 22
agogischen Einzelheiten sah.
Die
pädagogischen
Aussagen stehen nicht zufällig im umfangreichen Kapitel über
den Staat,
der kommende völkische Staat hatte nach Hitler vor allem eine
Aufgabe:
die Reinheit des Blutes und damit der Rasse wieder herzustellen.
Ausführliche Erörterungen dazu stehen am Anfang des
Erziehungskapitels.
Der völkische Staat "hat die Rasse in den Mittelpunkt des
allgemeinen
Lebens zu setzen. Er hat für ihre Reinerhaltung zu sorgen. Er hat
das
Kind zum kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muß
dafür Sorge
tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur
eine Schande
gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in
die
Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten.
Umgekehrt
aber muß es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation
vorzuenthalten. Der Staat muß dabei als Wahrer einer
tausendjährigen
Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des
Einzelnen als Nichts erscheinen und sich zu beugen haben. Er hat die
modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis
zu
stellen. Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet
und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären
und dies
praktisch auch durchzusetzen. Er hat umgekehrt dafür zu sorgen,
daß die
Fruchtbarkeit des gesunden Weibes nicht beschränkt wird durch die
finanzielle Luderwirtschaft eines Staatsregiments, das den Kindersegen
zu einem Fluch für die Eltern gestaltet ... . Wer körperlich
und
geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im
Körper
seines Kindes verewigen. Der völkische Staat hat hier die
ungeheuerste
Erziehungsarbeit zu leisten" (446 f.). Das also war der entscheidende
Punkt: es
kommt
darauf an, das deutsche Blut wieder "rein" zu bekommen, und das kann
nicht nur eine Frage der Kindererziehung sein, sondern das ganze
gesellschaftliche Leben muß so organisiert werden daß nur
die
biologisch Besten sich fortpflanzen dürfen und die Erbkranken
daran
gehindert werden. Erziehung kann sich nicht mehr auf das Kindes- und
Jugendalter beschränken, sondern muß alle lebenden
Generationen so
erfassen, daß sie von der Richtigkeit dieser These überzeugt
sind und
entsprechende Maßnahmen - wie die Zwangssterilisierung der
"biologisch
Minderwertigen" - bereit sind mitzutragen. Die Unterschiede von
Erziehung, Propaganda und Indoktrination verwischen sich. Jede
öffentliche Einrichtung hatHermann Giesecke
Hitlers
Pädagogen
Theorie und Praxis
nationalsozialistischer Erziehung
Juventa-Verlag
Weinheim: München ,2. überarb. Aufl. 1999
Zu
dieser Edition: Der
Text des Buches, das in 1. Aufl. 1993 erschien, wird hier vollständig
wiedergegeben. Zum biographischen Hintergrund vgl. meine Autobiographie
Mein Leben ist lernen. Das Literaturverzeichnis befindet sich
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gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.
©
Hermann Giesecke
Inhalt
Vorwort
zur 2. Auflage 7 Einleitung
9 Teil 1: Die pädagogischen
Chefideologen 17 1.
Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)
19 Hitlers Erziehungsvorstellungen in "Mein
Kampf' 19 Politisch-pädagogisches
Resümee 27 2. Völkischer
Erziehungsstaat (Ernst Krieck) 33 Leben
und Werk 33 "Philosophie der
Erziehung" 36 "Nationalpolitische
Erziehung" 45 "Völkisch-politische
Anthropologie" 53 Politisch-pädagogisches
Resümee: Die völkische Sackgasse 60 Revolutionärer
Dynamismus 60 Illusion des
Erziehungsstaates 61 Faszination
der "bewegten Masse" 64 Grenzen
der Gemeinschaft 66 Grenzen der
Brauchbarkeit 68 Markt,
Massenmedien und Gemeinschaft 70 "Integration"
als Sinnstiftung 71 3.
"Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)
75 Leben und Werk 75 Männerbündischer
Germanismus 81 Symbol und
Einsatz 87 Bildung, Bildbarkeit
und Schule 95 Politisch-Pädagogisches
Resümee: Die anthropologische Sackgasse
103 Symbol und Aufklärung
104 Handeln und Werte
107 Pädagogik für Mitläufer
111 Bildung als
Individualisierung 113 Ansätze
einer pluralistischen Erziehung 118 Teil
2 123 Pädagogische
Felder 123 4. Zwischen Ideologie
und Sachzwang: Das Schulwesen 125 Die
Entwicklung des Schulwesens 126 Die
Entwicklung der Lehrerbildung 144 Ausschaltung
und Gleichschaltung 151 Kritisches
Resümee 155 5. Der
volksgemeinschaftliche Jugendstaat: Die
Hitler-Jugend 163 Baldur von
Schirach 163 Das
politisch-pädagogische Konzept 172 Verpflichtung
auf die Person Hitlers 173 Volksgemeinschaftliche
Einheitsorganisation 174 Das
Prinzip der Selbstführung 180 Verbesserung
der sozialen Lage der Jugend 182 Die
musisch-kulturelle Wende 191 "Einheit
der Erziehung" 196 Emanzipation
durch den BDM? 209 Stichworte
einer "Gebrauchspädagogik" 218 Kritisches
zur HJ-Pädagogik 225 Die HJ im
Kontext der Jugendgeschichte 244 Vergesellschaftung
der Jugendphase 248 Pluralisierung
255 Individualisierung
258 Teil 3: Fazit 263 6.
Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität
265 7. Fazit II: Kriminelles Arrangement und die
Ohnmacht der Erziehung 281 Literatur
293 Literatur-Hinweise zu den einzelnen
Kapiteln 293 Literatur
296
Vorwort zur 2.
Auflage
Dieses
Buch ist aus meinen Lehrveranstaltungen über die Pädagogik im
Nationalsozialismus entstanden. Es soll Studierenden, darüber hinaus
aber auch allen anderen Interessierten einen ersten Einstieg
ermöglichen, von dem aus weiterführende Recherchen möglich sind. In
diesem Sinne entspricht der Text in etwa einer geschriebene
Einführungsvorlesung. Deshalb setzt er auch keine speziellen
historischen Vorkenntnisse voraus. Meist ist ein moralisches Urteil
über diese Zeit zwar bereits vorhanden, ihm entsprechen jedoch oft nur
geringe sachliche Informationen und kaum hinreichende
Vorstellungszusammenhänge, an die sich anknüpfen ließe. Dieser Mangel
tritt insbesondere dann in Erscheinung, wenn es neben der notwendigen
kritischen Distanz um die für einen Historiker selbstverständliche
Forderung geht, auch mit den Köpfen der Beteiligten zu denken.
Im
Mittelpunkt der Betrachtung stehen drei der wirkungsvollsten damaligen
pädagogischen Akteure (Krieck, Baeumler und Schirach); um diese herum
versuche ich das Thema zu entfalten. Es ist - so stellt sich heraus -
keines, das im ganzen historisch erledigt wäre, vielmehr sind wichtige
Probleme, die dabei zur Sprache kommen, epochale, waren längst vorher
schon entstanden und reichen in modifizierter Form bis in die
Gegenwart. Dafür den Blick zu schärfen ist meine ausdrückliche Absicht,
weil nur so die Möglichkeit entsteht, aus falschen Lösungen zu lernen.
So wenig aktuell die Texte vor allem von Krieck und Baeumler uns
gegenwärtig auf den ersten Blick erscheinen mögen, so geben sie doch
den damaligen (pädagogischen) Zeitgeist einigermaßen präzise wieder,
weshalb die von mir präsentierten Kernzitate sich auch zu dessen
Studium eignen. Die kollektive Mentalität, die darin zum Ausdruck
kommt, war der Teich, in dem Hitler erfolgreich fischen konnte.
Selbstverständlich
gehörten zu "Hitlers Pädagogen" nicht nur diese drei. Sie gelangten
jedoch in besonders exponierte Positionen. Um sie herum gab es eine
ganze Reihe weiterer Hitler ergebener Pädagogen, von denen aber
vergleichsweise wenig zu berichten ist; jedenfalls entwickelten sie
keine bemerkenswerten Versuche, für die NS-Bewegung so etwas wie ein
theoriefähiges pädagogisches Konzept zu entwickeln.
7 Vielmehr
benutzten sie meist - vor allem wenn sie der jüngeren Generation
angehörten - die Schlüsselworte der NS-Weltanschauung als Leerformeln,
um im übrigen pragmatisch-technokratisch zu argumentieren und zu
handeln. Gerade dieser Mangel an Reflexion machte sie aber auch zu
willigen Exekutoren, so daß es durchaus angebracht wäre, sie in einer
eigenen Studie zu behandeln. Im Unterschied zu ihnen waren Baeumler,
Krieck und Schirach durchaus darauf aus, eine spezifisch
nationalsozialistische Pädagogik zu formulieren, weshalb ich sie als
pädagogische "Chefideologen" apostrophiere.
Dieses
Buch beweist
nicht erneut die monströse politische Kriminalität des NS-Regimes,
sondern setzt sie als unumstößliche Tatsache voraus. Vielmehr versucht
es am Beispiel dieser drei Personen zu zeigen, wie Menschen, denen
verbrecherische Ambitionen ursprünglich fremd waren, gleichwohl in die
nationalsozialistische "Bewegung" - teils aktiv, teils als Mitläufer -
verwickelt wurden und darauf bis zum bitteren Ende fixiert blieben. An
ihrem Beispiel läßt sich heute mehr lernen, als aus dem
selbstverständlich gewordenen und letztlich folgenlos bleibenden
Abscheu gegenüber den mörderischen Tätern. Mit diesen vermag sich kaum
jemand von seinem Alltag her zu identifizieren, jene aber legen viel
eher die Frage nahe, ob wir Heutigen uns damals wesentlich anders
verhalten hätten. Gegenstand des Buches sind also in erster Linie die
Motive und Gründe solcher Personen, die Hitler mehr oder weniger arglos
gefolgt sind, aber gerade dadurch seine populistische Macht fundierten.
Ich
bemühe mich, das Thema nach denselben Regeln zu bearbeiten, die für
historische Recherchen und Deutungen allgemein angezeigt sind, auch
wenn das zumal in pädagogischen Zusammenhängen nicht unbedingt die
Billigung des Zeitgeistes findet.
Die Gelegenheit
der Neuauflage
habe ich auch dazu benutzt, den Text zu korrigieren und zu straffen,
eine Reihe ärgerlicher Druckfehler der alten Ausgabe zu tilgen sowie
wichtige Ergebnisse der neueren Forschung einzuarbeiten.
Göttingen,
Herbst 1998 Hermann Giesecke
8
Einleitung
Eine
partei- oder staatsoffizielle pädagogische Doktrin hat es im
Nationalsozialismus nicht gegeben. Als er 1933 an die Macht kam, waren
gerade im kulturellen Bereich viele Fragen offen, und zupackende Männer
wie Baldur von Schirach hatten gute Chancen, ihre eigenen Vorstellungen
durchzusetzen. Erst müsse man die Macht haben, dann werde man
weitersehen, hatte Hitler gesagt. Aber für die Zeit danach gab es kaum
innenpolitische Programme außer im negativen Sinne, daß nämlich die
politischen Gegner (Juden, Sozialisten, Kommunisten) auszuschalten und
die verhaßte parlamentarische Demokratie der Weimarer Zeit
einschließlich der sie tragenden liberalen Ideen zu beseitigen seien.
Aber wie Deutschland nun neu gestaltet werden sollte, war weitgehend
offen und hing nicht zuletzt von den Menschen ab, die nun die Chance
des Handelns bekamen. Zudem verstanden die Nazis sich primär nicht als
eine politische Partei neben anderen, sie betrachteten ihre Partei nur
als notwendig, um im Gefüge des Parlamentarismus politisch auftreten zu
können. Vielmehr sahen sie sich in erster Linie als völkisch-politische
Bewegung, und die hatte ein sehr breites ideologisches Spektrum, so daß
sich auch solche Menschen ihr anschließen oder zumindest mit ihr
sympathisieren konnten, die mit der NSDAP selbst wenig im Sinn hatten
oder sich gar innerlich von ihr distanzierten. Nicht die Partei,
sondern die Bewegung erreichte die Massen. Das fehlende positive
Programm für die Neugestaltung des "völkischen Staates", wie Hitler ihn
nannte, war also gerade eine Voraussetzung dafür, daß die NSDAP vor der
Machtergreifung zur Massenpartei werden konnte. Hätte sie präzise
Vorstellungen über die Neuordnung von Staat und Gesellschaft gehabt,
wie etwa die Kommunisten, dann hätte sie eine ganze Reihe von Anhängern
nicht erreichen können. Das ständige Einschlagen auf die politischen
Gegner - im wörtlichen wie im ideologischen Sinne - reichte als die
Bewegung zusammenhaltende Strategie zunächst aus.
Eines
der
Felder, die nach der Machtergreifung neu zu bestellen waren, war das
der Erziehung. Auch für diese Aufgabe gab es nur allgemeine Vorgaben,
wie sie Hitler in "Mein 9 Kampf"
formuliert hatte. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein.
Die
Herausforderung war eine theoretische und praktische. Eine neue,
nämlich an der NS-Weltanschauung orientierte Erziehungstheorie sollte
gefunden werden, die sich von den bisher gültigen bürgerlich-liberalen
Konzepten abheben ließ. Andererseits sollten natürlich die
pädagogischen Praxisfelder "im neuen Geiste" umgestaltet werden. Aber
wo und bei wem war dafür eine theoretische Fundierung zu finden?
Vor
allem zwei Wissenschaftler boten sich an, diese Lücke zu füllen: Ernst
Krieck und Alfred Baeumler. Sie versuchten auf unterschiedlichen Wegen,
dem neuen Regime nicht nur eine weltanschaulich passende
Erziehungswissenschaft zu offerieren, sondern darüber hinaus auch diese
Weltanschauung selbst philosophisch zu legitimieren. Da aber die
NS-Bewegung vor 1933 kulturell wenig festgelegt war, kann man den
Sachverhalt auch anders akzentuieren. Beide - Krieck wie Baeumler -
nutzten diese Offenheit, um ihre eigenen Vorstellungen im Rahmen der
ideologischen Vorgaben zur Geltung bzw. zu offiziellem Ansehen zu
bringen. Jedenfalls können wir sie als pädagogische "Chefideologen" des
Regimes bezeichnen.
Ihre praktische Bedeutung wird
jedoch
übertroffen durch einen Dritten, den man zwar nicht als "Chefideologen"
bezeichnen kann, weil er nicht primär durch seine Schriften gewirkt
hat, der aber mit der "Hitler-Jugend" eine Jugendorganisation
geschaffen hat, deren pädagogische Wirkung auf viele junge Menschen
nicht unterschätzt werden darf. Baldur von Schirach.
Krieck,
Baeumler und Schirach waren wohl die herausragenden Pädagogen in einer
ganzen Reihe von Kollegen, die sich der Hitler-Bewegung mehr oder
weniger entschieden anschlossen, die sich also als "Hitlers Pädagogen"
verstanden.
Dabei konnten ganz verschiedene Motive
eine Rolle
spielen. Viele identifizierten sich mit der nationalen Bewegung und der
damit verbundenen patriotischen Aufbruchstimmung, ohne sich dabei die
NS-Ideologie im ganzen zu eigen zu machen. Fast jeder deutsche
Pädagoge, der sich in der NS-Zeit öffentlich geäußert hat, tat dies
auch mit Floskeln der NS-Ideologie, wobei im Einzelfall schwer zu
entscheiden ist, ob
10
dies aus
Opportunismus oder aus
Überzeugung geschah. Jedenfalls wäre es problematisch daraus
abzuleiten, hier handele es sich schon deshalb um einen NS-Pädagogen.
Nicht einmal der Rassismus reicht als Abgrenzungskriterium aus, denn
die drei genannten NS-Pädagogen waren keine Rassisten im Sinne Hitlers.
Eine
weitere Schwierigkeit für eine zutreffende Beurteilung der damaligen
Pädagogen besteht darin, daß eine Reihe von Schlüsselworten der
völkischen Ideologie wie "Volksgemeinschaft" und sogar "Rasse" oft in
einem unpräzisen alltagssprachlichen Sinne verwendet wurden, die kaum
sachliche Stellungnahmen meinten, sondern eher soziale Zugehörigkeit
ausdrückten (wenn man "Rasse" sagte, gehörte man auch zur "Bewegung").
Ähnliches läßt sich auch heute feststellen, wenn wir etwa an einen
Gruppenjargon denken oder an politische Sprachregelungen. Neuerdings
machen wir solche Erfahrungen auch im Umgang mit der "Aufarbeitung" der
DDR, wenn wir etwa versuchen, deren Pädagogik zu rekonstruieren und zu
bewerten. Halten wir uns dabei lediglich an die verwendeten allgemeinen
ideologischen Floskeln, ist wenig Aufklärung zu erwarten. So war es
auch damals: Wie alle Schlüsselworte der NS-Weltanschauung wurde auch
"Rasse" als ein Wort des Zeitgeistes in vielen Schattierungen benutzt.
Es gab keinen nationalsozialistischen Katechismus, im Gegenteil gab es,
wie wir sehen werden, über ideologische Fragen zum Teil erbitterte
Auseinandersetzungen, was zeigt, daß hier der Spielraum zunächst
relativ groß war.
Weder hat Hitler sein Buch "Mein
Kampf" zum
Glaubensbuch erklärt, noch durften andere NS-Autoren sich mit diesem
Anspruch präsentieren. Einige NS-Führer gaben sich betont atheistisch,
andere in einer mehr oder weniger verschwommenen Weise "gottgläubig".
Jedenfalls war Atheismus kein offizielles Dogma. Die Zeitgenossen
konnten daraus geistige Offenheit ablesen, tatsächlich kam darin jedoch
nur zum Ausdruck, daß das Regime seine Machtansprüche nicht durch
irgendwelche geistigen bzw. ideologischen Vorgaben begrenzen lassen
wollte. Die scheinbare Offenheit ermöglichte vielen Menschen, sich der
Hitlerbewegung anzuschließen, wozu z.B. überzeugte Katholiken gehörten,
die mit den atheistischen Attitüden nichts im Sinn hatten. Aber für den
völkisch-politischen Aufbruch, den Hitler versprach,
11 konnten
sie sich trotzdem einsetzen, wenn sie das parlamentarische System für
abgewirtschaftet hielten.
"Erziehung"
war ein Modewort im Nationalsozialismus. Jeder Parteifunktionär fühlte
sich berufen, sich über Fragen der Erziehung zu äußern, und es verging
kaum eine öffentliche Kundgebung, auf der dies nicht geschah, und sei
es auch nur, daß dabei bekannte Hitler-Zitate in Erinnerung gebracht
wurden. Auch höhere Chargen, wie etwa Alfred Rosenberg, zuständig für
die weltanschauliche Überwachung der Partei, veröffentlichten
entsprechende Texte. Niemandem gelang es aber, eine allgemein
anerkannte pädagogische Theorie zu formulieren, die als die
"nationalsozialistische" akzeptiert worden wäre.
Mit
einem
gewissen Recht kann man auch führende Erziehungswissenschaftler der
Weimarer Zeit wie Spranger, Nohl, Flitner, Petersen als NS-Pädagogen
bezeichnen, weil sie den völkischen Implikationen der NS-Ideologie so
fern nicht standen. Gelegentlich ist damit heute eine nachträgliche
moralische Verurteilung solcher "bürgerlicher" Pädagogen verbunden.
Aber die ideologische Vielfalt und Widersprüchlichkeit der
nationalsozialistischen "Bewegung" machte es vielen nicht leicht, darin
ihre eigene Position zu präzisieren. Konnte man für die
"Volksgemeinschaft", aber gegen den Atheismus und Rassismus sein?
Selbst katholische Bischöfe taten sich schwer mit solchen Feinheiten.
Für
die meisten Pädagogen, die 1933 in Amt und Würden waren und sich in der
Folgezeit publizistisch äußerten, galt, was Klaus-Peter Horn über die
Autoren der geisteswissenschaftlich-reformpädagogisch orientierten
Zeitschrift "Die Erziehung" herausgefunden hat: "Einige Autoren wandten
sich eindeutig dem Nationalsozialismus zu, nahmen seine Themen und
Argumente auf und führten sie weiter. Andere Autoren versuchten,
traditionelle pädagogische Argumente mit den neuen Themen zu mischen,
sie lavierten zwischen nationalsozialistischer Option und Festhalten an
den alten Ideen. Eine dritte Gruppe von Autoren meinte, mit den alten
Konzepten den Nationalsozialismus und seine pädagogischen Ideen besser
zu verstehen als die Nationalsozialisten sich selbst. Schließlich muß
die kleine Gruppe von Autoren genannt werden, die an ihren Theorien
festhielten und sie kritisch gegen den Nationalsozialismus wendeten.
Die mei- 12 sten Autoren aber
akzeptierten die
nationalsozialistische Erziehungsrealität und übernahmen die
nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen, teilten nur nicht die
radikale Ablehnung der eigenen (früheren) Position und Leistungen"
(Horn, 302).
Über die politische Kriminalität des
NS-Regimes muß
man heute keinen vernünftigen Menschen mehr belehren. Aber kaum jemand,
der Hitler 1933 gefolgt ist, hatte diese Kriminalität vor Augen oder im
Sinn, das gilt auch für unsere drei Pädagogen. Sie waren keine
besonderen Bösewichter, sie waren, wie viele andere, die Hitler gefolgt
sind, Menschen mit einer bestimmten Lebensgeschichte und mit daraus
resultierenden Erfahrungen; sie versuchten dort, wo sie sich befanden,
ihren Alltag zu gestalten und dabei natürlich auch auf ihren Vorteil
und ihre Chancen zu sehen. Wer 1933 sich der Hitler-Bewegung anschloß
oder sie z.B. bei der Wahl unterstützte, war nicht schon deshalb
politisch kriminell, und wer dadurch für seine berufliche Perspektive
eine Chance sah, war deswegen nicht schon überdurchschnittlich
opportunistisch.
Damit meine ich, daß die Menschen
im
allgemeinen weder Helden noch Bösewichte sind, als die sie aus der
historischen Rückschau leicht erscheinen, sondern gerade in schwierigen
Zeiten sich um ihr Überleben im Alltag mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Mitteln kümmern. Nicht wenige von ihnen - und dazu gehörten
auch Krieck und Baeumler - hatten die Weimarer Republik und ihre
Verfassung durchaus zu respektieren versucht - weit davon entfernt,
gleichsam "geborene Nazis" zu sein. Irgendwann gewannen sie aber den
Eindruck, daß die Republik unfähig sei, die Probleme ihres Alltags zu
lösen, und aus Respekt wurde Gleichgültigkeit oder gar Haß. Schließlich
schienen sich die politischen Verhältnisse zu polarisieren auf die
Alternative Kommunismus oder Nationalsozialismus: auf der einen Seite
eine Klassenkampfpartei, von der man - was immer man sonst von ihr
politisch oder ideologisch halten mochte jedenfalls keine Ruhe und
keinen inneren Frieden erwarten konnte; auf der anderen Seite die
Hitler-Bewegung, die zu einer Volksbewegung anschwoll, die nicht nur
Arbeit und Brot versprach, sondern auch, solche politischen Ziele zu
verfolgen, die speziell dem deutschen Volke auf den Leib geschnitten
seien, die ihm wieder Einheit, Wohlstand und An- 13 sehen
verschaffen würden. Da konnte die Wahl nicht schwer fallen.
Zu
den bemerkenswertesten Erkenntnissen der historischen Forschung gehört
die Tatsache, daß die Deutschen fast bis zum bitteren Ende Hitler eine
hohe Massenloyalität gewährten - allerdings nicht der Partei, nicht
einzelnen Organen der Partei, sondern der Person Hitler selbst. Vor
allem in den Kriegsjahren richtete sich viel Unmut gegen die "Bonzen",
in der HJ-Führung gab es z.B. die Vorstellung, nach dem Kriege
gemeinsam mit Hitler unter ihnen "aufzuräumen". Auch unsere drei
Pädagogen blieben loyal zu Hitler; sie wurden dabei - wie sich zeigen
wird - zu tragischen Figuren.
In einem ersten Teil
stelle ich
zunächst die grundlegenden politisch-pädagogischen Vorstellungen
Hitlers, Kriecks und Baeumlers vor.
Anders als die
meisten
Veröffentlichungen zu unserem Thema, die die NS-Autoren nur in
Zitatfetzen präsentieren und sie von vornherein einer bestimmten
Interpretation unterwerfen, möchte ich Darstellung und Kritik deutlich
trennen, Hitler, Krieck und Baeumler möglichst selbst zu Wort kommen
lassen, damit nicht nur ihre Argumentationen deutlich werden, sondern
auch die Tonart vernehmbar wird, in der sie vorgetragen wurden. Die
Diktion verrät manches, was der Gedanke verschweigt.
In
einem
zweiten Teil wird die Entwicklung der beiden wichtigsten pädagogischen
Praxisfelder - Schule und außerschulische Jugendarbeit (HJ) -
dargestellt - nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt, wie weit die
Vorstellungen der "Chefideologen" hier Wirkung gezeigt haben.
Untersuchungen, die ausschließlich die Zeit von 1933 bis 1945 im Blick
haben, gelangen leicht zu falschen oder einseitigen Beurteilungen, weil
es für alles, was die Nationalsozialisten dachten und aussprachen, eine
Vorgeschichte gab. Mit dieser waren die damals Handelnden
lebensgeschichtlich, aber auch im Hinblick auf vielerlei kollektive
Traditionen verbunden, die wiederum die Art und Weise beeinflußten, wie
sie die Problemlage ihrer Gegenwart deuteten. Deshalb werden dort, wo
es sich von der Sache her anbietet, knappe historische Rückblicke
eingefügt.
Unser Thema ist zwar einerseits ein
historisches, insofern es sich mit einem bestimmten geschichtlichen
Zeitraum be-
14
faßt;
andererseits ist es aber auch deswegen aktuell, weil dieser Zeitraum
eingebettet ist in einen darüber hinausreichenden epochalen
Zusammenhang, in dem sich die Prozesse der Moderne entfalten, in dem
sich langfristige Probleme und Konflikte entwickeln, die mit den
Stichworten Kapitalismus, Entfremdung, Emanzipation,
Fundamentaldemokratisierung, Identität angedeutet werden können. Diese
Probleme sind zu einem guten Teil immer noch aktuell, und eben deswegen
können wir aus der Beschäftigung mit der NS-Zeit wichtiges für unsere
Gegenwart lernen. Wir werden z.B. auf eine Reihe von pädagogischen
Irrtümern stoßen, an denen bis heute festgehalten wird, aber auch auf
Gedanken, die uns inzwischen als absurd erscheinen.
Den
Abschluß
bildet ein zweifaches Fazit. Einmal versuche ich die These zu belegen,
daß zumindest ein wichtiger Grund für den Erfolg der Hitler-Bewegung in
ihrem Identitätsangebot zu sehen ist, daß sie sich mit ihrer Ideologie
der "Volksgemeinschaft" als Lösung einer massenhaften Identitätskrise
präsentiert hat. Das zweite Fazit geht der Frage nach, ob und in
welchem Maße eine "richtige" Erziehung politische Barbarei verhindern
kann, bzw. ob die NS-Erziehung, wie sie von Krieck, Baeumler und
Schirach propagiert wurde, politische Kriminalität zum Ziele bzw. zum
Ergebnis gehabt hat.
Um die Lesbarkeit des Textes
nicht zu
beeinträchtigen, werden an Ort und Stelle nur die Zitate nachgewiesen.
Den an weiteren Informationen interessierten Leser verweise ich auf das
kapitelweise kommentierte Literaturverzeichnis am Schluß des Bandes.
15 (Leerseite)
16
Teil
1: Die pädagogischen Chefideologen
17 (Leerseite)
19
1.
Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)
Hitlers
Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf'
"Diese
Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch
handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation
hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft
bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in
die Hitlerjugend und dort behalten wir se wieder vier Jahre, und dann
geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten
Klassen- und Standeserzeuger sondern dann nehmen wir sie sofort in die
Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK usw.
Und wenn sie dort zwei Jahre oder eineinhalb Jahre sind und noch nicht
ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie inden
Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate
geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschenSpaten. Und was dann
nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder
Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann
die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach
zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit
sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS
usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben". (Zit. n. Fest
1980, 311 f.)
Mit diesen Worten charakterisierte
Hitler in einer
Rede 1938 sein Erziehungsideal, das er zu diesem Zeitpunkt schon
weitgehend verwirklicht sah: Ein Aufwachsen als nahezu ausbruchssichere
NS-Karriere, gegründet auf ein Erfahrungsmonopol ohne Alternativen.
Später allerdings, am Ende seines Lebens, als er in der Reichskanzlei
Bilanz zu ziehen versuchte, warum er den Krieg verloren hatte, kam er
unter an-
19 derem
darauf, daß er ihn zu früh habe
führen müssen, daß nicht genügend Zeit geblieben sei "um eine neue
Elite zur Reife zu bringen, der die nationalsozialistische Denkart
gleichsam mit der Muttermilch verabfolgt worden war" (Zit. n. Fest
1973, 1012). Auf die damit aufgeworfene Frage, wie erfolgreich die
NS-Erziehung nun tatsächlich gewesen ist, wird noch zurückzukommen
sein. Hier geht es zunächst nur um Hitlers Absicht, um das Ziel,
nämlich um den möglichst lückenlosen Erziehungsstaat.
Diese
Idee
findet sich schon in seiner Bekenntnisschrift "Mein Kampf'. Sie handelt
von den Ursachen für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und
sucht die dafür Schuldigen. Demnach sind außer den Frontsoldaten mehr
oder weniger alle schuldig: die militärische Führung, die bürgerliche
Wilhelminische Gesellschaft, vor allem aber die Juden, die mit ihren
"Helfern und Helfershelfern" das deutsche Volk unterwandert hätten und
durch die Revolution den deutschen Soldaten in den Rücken gefallen
seien. Schuld trage aber auch die Erziehung, die nur die
wirtschaftliche Karriere des Einzelnen im Sinne gehabt habe, die
Förderung seines persönlichen Egoismus, aber die männlichen
soldatischen Tugenden vernachlässigt habe. Eine neue, vor allem auf
Körperertüchtigung und Charakterstärkung gerichtete Erziehung sei
nötig, wenn das deutsche Volk sich wieder zu der ihm gebührenden Größe
entwickeln wolle. Diejenigen, die er zu Feinden des deutschen Volkes
definierte, überschwemmte er geradezu mit Haßtiraden, die auch heute
noch schwer zu ertragen sind. Hitlers Extremismus war nur der Reflex
seiner Interpretation der Lage des deutschen Volkes: es sei so
geschädigt und gedemütigt, von innen wie von außen, daß nur eine
radikale und rücksichtslose Anstrengung es noch zur retten vermöge. Der
fanatische Hysteriker, wie man ihn genannt hat, schuf sich die radikale
Lagebeurteilung, die er brauchte.
In den Rahmen
dieser radikalen
Lagebeurteilung stellte er auch die Erziehung. Im zweiten Band des
Buches, im Kapitel über den künftigen, den "völkischen" Staat, finden
sich längere Ausführungen zu Erziehungsfragen. Sie enthalten eine
eigentümliche Mischung aus Rassismus, Volksverhetzung, Banalitäten,
aber auch durchaus plausiblen Beobachtungen. Gerade diese explosive
Mischung - nicht nur in seinem Buch, sondern in der
nationalsozialistischen Agitation über-
20 haupt
-
erzielte die Massenwirkung. Jeder, der sich als Deutscher fühlte - von
den Juden und Sozialisten abgesehen, die waren ja vorweg als Feinde des
Volkes hinausdefiniert -, konnte etwas finden, was ihn bestätigte und
was ihm wenigstens teilweise Zustimmung erlaubte. Die Haßtiraden
mochten die begrüßen, denen sie aus dem Herzen gesprochen waren, andere
mochten sie entschuldigen als Äußerungen eines Mannes, der wie viele
seiner Generation verbittert war und dessen Vernunft mit seiner
politischen Verantwortung vielleicht noch wachsen werde.
An
diesem Text über Erziehung läßt sich exemplarisch die Breite der
ideologischen Sammlung zeigen, die charakteristisch für die
Hitlerbewegung war.
"Mein Kampf"' war keine
politische
Aufklärungs-, sondern eine Agitations- und Propagandaschrift, deren
einziges Ziel es war, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Das erklärt
die Breite der ideologischen Aspekte. Für viele findet sich etwas, von
dem sie sich angesprochen fühlen konnten, und alles entsprach einem
"gesunden Volksempfinden", das Hitler in seiner Person zu
repräsentieren schien.
Der reformorientierte Lehrer
mochte
pädagogische Kundigkeit vermuten, wenn Hitler das - bis heute ungelöste
- Problem der Stoffülle anspricht. Es sei gefährlich, das jugendliche
Gehirn mit einer Flut von Eindrücken zu überschwemmen; da könne
Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterschieden werden, und oft
werde gerade das Wesentliche wieder vergessen. "So geht der
hauptsächliche Zweck dieses Viel-Lernens schon wieder verloren; denn er
kann doch nicht darin bestehen, durch angemessene Häufung von Lehrstoff
das Gehirn an sich lernfähig zu machen, sondern darin, dem späteren
Leben jenen Schatz an Wissen mitzugeben, den der Einzelne nötig hat und
der durch ihn wieder der Allgemeinheit zugute kommt" (465).
Der
bildungsbürgerliche Studienrat dagegen wird mit zustimmendem Kopfnicken
Hitlers Plädoyer für die klassische Bildung zur Kenntnis genommen haben.
,Es
liegt im Zuge unserer heutigen materialisierten Zeit, daß unsere
wissenschaftliche Ausbildung sich immer mehr den nur realen Fächern
zuwendet, also der Mathematik, Physik, 21
Chemie
usw. So nötig dies für eine Zeit auch ist, in welcher Technik und
Chemie regieren und deren wenigstens äußerlich sichtbarste Merkmale im
täglichen Leben sie darstellen, so gefährlich ist es aber auch, wenn
die allgemeine Bildung einer Nation immer ausschließlich darauf
eingestellt wird. Diese muß im Gegenteil stets eine ideale sein. Sie
soll mehr den humanistischen Fächern entsprechen und nur die Grundlagen
für eine spätere fachwissenschaftliche Weiterbildung bieten. Im anderen
Falle verzichtet man auf Kräfte, welche für die Erhaltung der Nation
immer noch wichtiger sind als alles technische und sonstige Können"
(469).
Hitlers Begabungsbegriff schließlich war dem
der späteren
sozial-liberalen Koalition nicht unähnlich, als diese in den 60er und
70er Jahren ihre Bildungsreformen einleitete, um Arbeiterkindern
bessere Bildungschancen zu verschaffen.
"Ein
Bauernjunge kann
weit mehr Talente besitzen als das Kind von Eltern aus einer seit
vielen Generationen gehobenen Lebensstellung, wenn er auch im
allgemeinen Wissen dem Bürgerkind nachsteht. Dessen größeres Wissen hat
aber an sich mit größerem oder geringerem Talent gar nichts zu tun,
sondern wurzelt in der wesentlich größeren Fülle von Eindrücken, die
das Kind infolge seiner vielseitigeren Erziehung und reicheren
Lebensumgebung ununterbrochen erhält. Würde der talentierte Bauernknabe
von klein auf ebenfalls in solcher Umgebung herangewachsen sein, so
wäre seine geistige Leistungsfähigkeit eine ganz andere" (477).
Alle
diese pädagogischen Einzelheiten sind nicht typisch
nationalsozialistisch, sind auch nicht Hitlers Erfindungen; er fand sie
vor und griff sie auf. Sie wurden später insofern wichtig, als man sich
darauf berufen konnte, wenn man bestimmte pädagogische Vorhaben
durchsetzen oder verteidigen wollte. Nahezu jede pädagogische
Veröffentlichung im Dritten Reich legitimierte sich zunächst einmal mit
Hitler-Zitaten. So diente z.B. Hitlers Satz, daß Jugend von Jugend
geführt werden müsse, dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach dazu,
die außerschulische Erziehung in der HJ zu monopolisieren und
Erziehungsansprüche anderer NS-Organisationen abzuwehren. Neu für die
damalige Erziehungsdiskussion war der Zusammenhang in dem Hitler diese
päd- 22 agogischen Einzelheiten
sah. Die pädagogischen
Aussagen stehen nicht zufällig im umfangreichen Kapitel über den Staat,
der kommende völkische Staat hatte nach Hitler vor allem eine Aufgabe:
die Reinheit des Blutes und damit der Rasse wieder herzustellen.
Ausführliche Erörterungen dazu stehen am Anfang des Erziehungskapitels.
Der völkische Staat "hat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen
Lebens zu setzen. Er hat für ihre Reinerhaltung zu sorgen. Er hat das
Kind zum kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muß dafür Sorge
tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande
gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die
Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten. Umgekehrt
aber muß es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation
vorzuenthalten. Der Staat muß dabei als Wahrer einer tausendjährigen
Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des
Einzelnen als Nichts erscheinen und sich zu beugen haben. Er hat die
modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu
stellen. Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet
und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies
praktisch auch durchzusetzen. Er hat umgekehrt dafür zu sorgen, daß die
Fruchtbarkeit des gesunden Weibes nicht beschränkt wird durch die
finanzielle Luderwirtschaft eines Staatsregiments, das den Kindersegen
zu einem Fluch für die Eltern gestaltet ... . Wer körperlich und
geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper
seines Kindes verewigen. Der völkische Staat hat hier die ungeheuerste
Erziehungsarbeit zu leisten" (446 f.).
Das also war
der
entscheidende Punkt: es kommt darauf an, das deutsche Blut wieder
"rein" zu bekommen, und das kann nicht nur eine Frage der
Kindererziehung sein, sondern das ganze gesellschaftliche Leben muß so
organisiert werden daß nur die biologisch Besten sich fortpflanzen
dürfen und die Erbkranken daran gehindert werden. Erziehung kann sich
nicht mehr auf das Kindes- und Jugendalter beschränken, sondern muß
alle lebenden Generationen so erfassen, daß sie von der Richtigkeit
dieser These überzeugt sind und entsprechende Maßnahmen - wie die
Zwangssterilisierung der "biologisch Minderwertigen" - bereit sind
mitzutragen. Die Unterschiede von Erziehung, Propaganda und
Indoktrination verwischen sich. Jede öffentliche Einrichtung hat die 23
gleiche
Aufgabe der "Volkserziehung", und Hitler sprach dies im Jahre 1937 auch
aus:
"Wir
können deshalb auch nicht zugeben, daß irgendein taugliches Mittel für
diese Volksausbildung und Erziehung von dieser
Gemeinschaftsverpflichtung ausgenommen werden könnte. Jugenderziehung -
Wehrmacht, sie sind alle Einrichtungen dieser Erziehung und Ausbildung
unseres Volkes. Das Buch, die Zeitung, der Vortrag, die Kunst, das
Theater, der Film, sie sind alle Mittel dieser Volkserziehung." (Zit.
n. Steinhaus, 48) Auf diesem Hintergrund ist jene bekannte Rangordnung
der Erziehungsziele zu verstehen, die Hitler formulierte:
"Der
völkische Staat hat ... seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie
nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das
Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die
Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze
die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens-
und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur
Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche
Schulung" (452).
Auf den ersten Blick ist an diesem
Programm für
jene Zeit nichts außergewöhnliches. Es gab damals auch in der
bürgerlichen Reformpädagogik eine breite Diskussion über die sogenannte
"Verkopfung" der Schule, daß den Schülern zu viel totes Wissen
eingetrichtert würde, daß dabei die Charakterbildung zu kurz komme und
daß die Erziehung überhaupt zu lebensfern sei. Daß zudem die Schule
körperfeindlich sei und vor allem in den Großstädten die
Leibeserziehung vernachlässige, gehörte ebenfalls zu den häufig zu
hörenden Klagen. Wenn Hitler also die damals herrschende Rangfolge der
Erziehungswerte umkehrte, die körperliche Erziehung an die erste
Stelle, die Charakterbildung an die zweite und die wissenschaftliche
Schulung an die dritte Stelle setzte, dann sprach er damit eine weit
verbreitete Stimmung an. Aber das Bild vom "Heranzüchten kerngesunder
Körper" verweist schon darauf, daß hier nicht die Leibeserziehung im
Interesse der Bildung des einzelnen Menschen gemeint war, sie sollte
vielmehr den rassistischen Zwecken des neuen völkischen Staates dienen.
24
"Die
körperliche Ertüchtigung ist daher im völkischen Staat nicht eine Sache
des einzelnen, auch nicht eine Angelegenheit, die in erster Linie die
Eltern angeht, und die erst in zweiter oder dritter die Allgemeinheit
interessiert, sondern eine Forderung der Selbsterhaltung des durch den
Staat vertretenen und geschützten Volkstums ... . Der völkische Staat
... hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper
schon in ihrer frühsten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und
die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten" (453).
Geradezu
enthusiastisch äußerte er sich in diesem Zusammenhang über das Boxen.
"Es
gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist in gleichem Maße
fördert, blitzschnelle Entschlußkraft verlangt, den Körper zu
stählerner Geschmeidigkeit erzieht ... . Vor allem aber, der junge,
gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen lernen. Das mag in den Augen
unserer heutigen Geisteskämpfer natürlich als wild erscheinen. Doch hat
der völkische Staat eben nicht die Aufgabe, eine Kolonie friedsamer
Ästheten und körperlicher Degeneraten aufzuzüchten. Nicht im ehrbaren
Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer sieht er sein
Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher
Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen"
(454).
Hart sein und leiden können soll der ideale
Nationalsozialist. Darauf zielt auch die Charakterbildung im neuen
Staat. "Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit sind Tugenden, die ein
großes Volk nötig braucht, und deren Anerziehung und Ausbildung in der
Schule gewichtiger ist als manches von dem, was zur Zeit unsere
Lehrpläne ausfüllt. Auch das Aberziehen von weinerlichem Klagen, von
wehleidigem Heulen usw. gehört in dieses Gebiet. Wenn eine Erziehung
vergißt, schon beim Kinde darauf hinzuwirken, daß auch Leiden und
Unbill einmal schweigend ertragen werden müssen, darf sie sich nicht
wundem, wenn später in kritischer Stunde, wenn einst der Mann an der
Front steht, der ganze Postverkehr einzig der Beförderung von
gegenseitigen Jammer- und Winselbriefen dient" (461).
Ferner
komme es darauf an, die Willens- und Entschlußkraft sowie die
Verantwortungsfreudigkeit auszubilden. Mit Ver-
25
antwortung
war aber nicht gemeint, eine Entscheidung zu treffen, nachdem man alle
Umstände erörtert und die Konsequenzen für andere Menschen bedacht hat
- im Gegenteil: Wille und Entschlußkraft des fanatischen Menschen waren
gemeint, der im blinden Glauben, nicht ruhig analysierend handelt.
Höhnisch rechnet Hitler mit denjenigen ab, die nur handeln, nachdem sie
sich gewisse Wahrscheinlichkeiten des Erfolges ausgerechnet haben:
"Wer
vom Schicksal erst die Bürgschaft für den Erfolg fordert, verzichtet
damit von selbst auf die Bedeutung einer heroischen Tat. Denn diese
liegt darin, daß man in der Überzeugung von der Todesgefährlichkeit
eines Zustandes den Schritt unternimmt, der vielleicht zum Erfolg
führen kann" (463).
Verantwortung ist hier keine
Kategorie des
normalen bürgerlichen Handelns, sondern an Grenzsituationen orientiert:
das fast Aussichtslose zu wagen. Für Hitler gab es keine mittlere
zivile Ausgewogenheit, sondern nur extreme Haltungen, Gesinnungen und
Tatsachen: gesund - krank; Freund - Feind; rein - unrein, entweder -
oder.
"Die deutsche Jugend wird dereinst entweder
der Bauherr
eines neuen völkischen Staates sein, oder sie wird als letzter Zeuge
den völligen Zusammenbruch, das Ende der bürgerlichen Welt erleben"
(450).
Wenn wir also den rassistisch-biologistischen
Ausgangspunkt außer acht lassen, waren Hitlers Äußerungen über
Erziehung zu einem guten Teil nicht ungewöhnlich, aber es sollte sich
bald herausstellen, daß es ein Fehler vieler Zeitgenossen war, gerade
diese rassistischen Vorgaben nicht ernstzunehmen; denn wenn sie Hitlers
Kapitel über Erziehung gelesen haben, dann haben sie auch folgende
Stelle gelesen, in der sich Rassenhaß und Sozialneid zu einer
unerträglichen Borniertheit verbinden.
"Von Zeit zu
Zeit wird in
Illustriertenblättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da
und dort zum ersten Mal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja
Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige
Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll
von Respekt für dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst
versteht der Jude sehr schlau daraus 26 einen neuen
Beweis für
die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der
Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen
bürgerlichen Welt nicht auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde
an jeder Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist,
einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus
ihm einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen Angehörige der
höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen verbleiben
müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist,
wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen
im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt, während man
Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert. Denn
um eine Dressur handelt es sich dabei, genauso wie bei der des Pudels,
und nicht um eine wissenschaftliche Ausbildung. Die gleiche Mühe und
Sorgfalt auf Intelligenzrassen angewendet, würde jeden Einzelnen
tausendmal eher zu gleichen Leistungen befähigen" (478).
Der
deutsche Bauernjunge kann - weil arisch - grundsätzlich zu Höherem
fähig sein, ein Negerjunge - weil nicht arisch - auf keinen Fall. Es
sollte sich bald herausstellen, daß dieser Rassismus nicht nur ernst
gemeint war, sondern sogar zum Leitmotiv des politischen Handelns wurde.
Politisch-pädagogisches
Resümee
Zusammenfassend läßt sich über Hitlers
Erziehungsvorstellungen folgendes sagen:
1.
Ihre rassistisch-biologistische Grundlage ist unbezweifelbar; nur in
diesem Zusammenhang sind alle Äußerungen über pädagogische Einzelheiten
zu verstehen. Dieser radikale und fanatische Rassismus, der sich, wie
das Zitat zeigt, keineswegs nur gegen die Juden richtete, wurde von den
anschließend vorzustellenden Pädagogen nicht geteilt. Charakteristisch
für ihn war die Unmöglichkeit, darüber zu verhandeln. Die Tatsache, daß
jemand einer anderen Rasse angehörte, schloß ihn von vornherein aus dem
deutschen Volkszusammenhang aus. Diese Vorstellung implizierte
zumindest die Unterdrückung wenn nicht die Vernichtung anderer Ras 27 sen;
jedenfalls sah Hitler die verschiedenen Rassen nicht als gleichwertig
an, die arische galt ihm als Herrenrasse, die das Recht habe, über die
anderen zu herrschen. Die mörderischen Konsequenzen aus diesem
anthropologischen Wahn konnte er allerdings erst im Kriege ziehen, als
er die Loyalität der Deutschen durch die scheinbare Notwendigkeit der
Landesverteidigung erpreßte und sie mißbrauchte zum Massenmord an den
Juden wie auch zum barbarischen Umgang mit den zu "Untermenschen"
herunterdefinierten Völkern Polens und der Sowjetunion.
Hitlers
Menschenbild beruhte also nicht auf der Gleichheit der Menschen,
sondern auf ihrer angeblich naturbedingten Ungleichheit. Deshalb galten
für ihn auch die allgemeinen Menschenrechte nicht, die hielt er - wie
im Zitat über den Neger zum Ausdruck kommt - für eine jüdische
Erfindung.
In der Pädagogik der NS-Zeit wirkte sich
dieser
Rassismus besonders in der Behandlung derjenigen Kinder und
Jugendlichen aus, die, obwohl deutsch und "arisch", nicht "HJ-fähig"
waren, wie im Kapitel 5 zu zeigen sein wird.
Die als
fremdrassig
definierten Kinder und Jugendlichen - z.B. die jüdischen - waren nach
dieser Logik ohnehin nicht "erziehbar" im Sinne einer Anpassung ihres
Verhaltens an die in Deutschland gültigen sozialen Regeln und Normen,
weil es nur auf das als rassisch determiniert angenommene genetische
Potential ankam, das weder durch Politik noch Erziehung verändert
werden könne.
Sachlich gesehen ist das Unsinn.
Bisher haben sich
signifikante genetische Unterschiede zwischen sogenannten "Rassen"
nicht nachweisen lassen, sondern nur zwischen Individuen, und diese
Unterschiede verteilen sich offensichtlich einigermaßen gleich unter
den sogenannten "Rassen". Die bisherige "Rassenforschung", wie sie in
der NS-Zeit ihren berüchtigten Höhepunkt erreichte, hat
bezeichnenderweise immer eine "Rasse" - nämlich die "weiße" bzw.
"arische" als den anderen "überlegen" "erwiesen". Auf diese Weise
ließen sich imperiale Ansprüche der "Weißen" gegenüber anderen Völkern
als naturbedingt, also als durch soziales Handeln nicht veränderbar,
begründen.
Vom Rassismus übrig bleibt die Tatsache
kultureller Fremdheit, wie wir sie heute auch zum Teil im Umgang mit
Asylbe
28
werbern
erleben, die aus uns fremden Kulturen kommen. Kulturelle Fremdheit aber
bereitet vielen Menschen Angst, und diese ist politisch mobilisierbar,
weshalb Rassismus wohl auch in Zukunft eine Gefahr bleiben wird, obwohl
er wissenschaftlich nicht gestützt werden kann.
2.
Aus der
Annahme, daß die Bedrohung des Volkes in erster Linie eine rassische
sei, folgte das Konzept des totalen Erziehungsstaates. Erziehung war
nun nicht mehr wie in der bisherigen pädagogischen Tradition ein
bestimmtes und begrenztes Einwirken von Erwachsenen auf noch nicht
Erwachsene, das sein Ende mit dem Status des Erwachsenseins findet,
vielmehr sind nun alle lebenden Generationen gleich mündig bzw.
unmündig. Die mit den Aufgaben des völkischen Staates gegebenen
prinzipiellen Erziehungsziele gelten für alle Generationen, allerdings
mit unterschiedlichem Gewicht. Während die Kinder und Jugendlichen von
vornherein in diesem Sinne erzogen werden können, müssen die bereits
anders erzogenen Erwachsenen umerzogen werden. Dazu dienten dann in der
Praxis die zahllosen Schulungslager. Ferner folgte aus diesem totalen
Erziehungskonzept eine Umkehrung des Generationenverhältnisses. Die
Jungen hatten nun die Chance, eher nationalsozialistisch erzogen zu
werden als die Älteren. Ein entsprechendes Selbstbewußtsein entwickelte
die HJ dann auch z.B. gegenüber der Schule.
3. In
diesem
Erziehungskonzept werden die Grenzen von Erziehung, Bildung,
Indoktrination, Agitation und Propaganda fließend. Angewendet wird das
Verfahren, das bei bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation am
meisten Erfolg verspricht. Dadurch wird aber ein kritisches,
theoretisch fundiertes Nachdenken über pädagogisches Handeln erschwert
und als Folge davon das berufliche pädagogische Selbstverständnis
unterhöhlt.
Erziehung und Bildung sind nun nicht
mehr allein
Sache eines bestimmten Berufsstandes, der eine eigene Berufsethik
entwickelt und nach deren Normen seine Aufgaben erfüllt. Vielmehr wird
jeder zum Erzieher der anderen, der sich im Besitz der rechten
Gesinnung glaubt. Die pädagogischen Berufe sind nun nicht mehr
orientiert am Wohl des einzelnen Kindes, sondern treten dem Kind
gegenüber als Übermittler der offiziell propagierten NS-Ideologie. Alle
Berufe, die auf
29
Menschen
bezogen sind, werden in diese
völkische Erziehungs-Agitation eingespannt. Das galt z.B. auch für die
Ärzte, die - wie wir heute wissen - bei der Durchsetzung des Rassismus
gegenüber gesundheitlich und sozial abweichenden Menschen eine
verhängnisvolle Rolle gespielt haben.
4.
Normalerweise geht es
in der Erziehung darum, Kinder und Heranwachsende zu befähigen,
selbständig am Leben der Gemeinschaft teilnehmen zu können. Wenn dies
mißlingt, kommen schlimmstenfalls in diesem Sinne schlecht erzogene
Kinder dabei heraus. Hitlers Erziehungsziele sind jedoch nicht am
einzelnen Menschen orientiert, sondern an dem, was er für die
Entwicklungsgrundlage des völkischen Staates hält. Eine scheiternde
Erziehung gerät nun in die Nähe der Staatsgefährdung. Daraus wiederum
ergibt sich gleichsam zwangsläufig ein Bündnis von Pädagogik und
Polizei. Wer sich nicht als "richtig erzogen" erweist, der muß mit
polizeilichen Reaktionen rechnen. Polizeiterror und Erziehung
verschmelzen hier zu zwei Seiten einer Münze. Die auf den ersten Blick
enorme Aufwertung der Erziehung erweist sich als deren Unterwerfung. So
verwundert es nicht, daß Hitler die Lehrer im Grunde verachtete und
lieber auf die Techniken der Massenbeeinflussung setzte, also auf
Propaganda. Auch damit beschäftigt er sich in "Mein Kampf' ausführlich.
5.
In unserem Eingangszitat beschreibt Hitler triumphierend eine
Bilderbuch-Sozialisation im Rahmen der nationalsozialistischen
"Formationen" (HJ-Arbeitsdienst-Wehrmacht-SA-SS). Bei dieser Aufzahlung
fehlen jedoch einige wichtige Sozialisationsinstanzen: Familie, Kirche
und vor allem die Arbeitswelt.
Bei den Erwachsenen
hielten sich
die Möglichkeiten des Erziehungsstaates in Grenzen. Im Zentrum ihres
Lebens stand nicht die SA, die ohnehin weitgehend zu einem
männerbündischen Kameradschaftsverein verkam, sondern die Erwerbsarbeit
und die Sicherung der materiellen Existenz. Auch im Dritten Reich galt
der kapitalistische Grundsatz weiter, daß für möglichst wenig Lohn
möglichst viel geleistet werden sollte. Die Erwerbsarbeit hatte also
ihre eigenen Gesetze, man konnte sie zwar mit politischen Appellen
anheizen und mit Nazi-Symbolen umstellen, die Arbeiterschaft als
"Gefolgschaft" bezeichnen und den Hitler-Gruß verordnen, aber
30
die
Arbeit sozialisierte die Menschen nicht von diesen Symbolen her.
Für
das Aufwachsen der Kinder jedoch darf Hitlers Vision des
Erziehungsstaates nicht unterschätzt werden. Entscheidend war damals
nicht allein, was der Lehrer in der Schule den Kindern sagte, sondern
daß das Kind, wenn es die Schule verließ, draußen in der Öffentlichkeit
und im Rundfunk auf die gleichen Parolen und Gestimmtheiten traf. Es
ist den Nationalsozialisten zu einem erheblichen Teil gelungen, eine
Art von eindimensionaler, geschlossener Sozialisation für Kinder und
Jugendliche zu arrangieren, in der alternative Denk- und
Verhaltensweisen kaum zur Erfahrung werden konnten. Lediglich die
Familie und gegebenenfalls eine Religionsgemeinschaft konnten unter
Umständen gegenläufig wirken.
Trotz des
rassistischen
Radikalismus ließen sich aus Hitlers Vorstellungen wenig
praktisch-pädagogische Konsequenzen ziehen. Diese Lücke bot nun
Pädagogen, die sich für Nationalsozialisten hielten, einen
verhältnismäßig breiten Spielraum für eigene Initiativen an, um sich
zum pädagogischen Chefideologen zu profilieren. Einer von ihnen war
Ernst Krieck.
31
(Leerseite)
32
2.
Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)
Leben und
Werk
Ernst
Krieck wurde 1882 als Sohn eines unselbständigen Maurers und
Kleinbauern in Vögisheim in Südbaden geboren. Er besuchte die
Realschule, anschließend das Lehrerseminar, war mit 18 Jahren
Junglehrer und blieb mit Unterbrechungen bis 1928 als Volksschullehrer
tätig.
Für einen Jungen, der lernwillig war, aber
das Geld für
den Besuch des Gymnasiums oder gar für ein Studium nicht aufbringen
konnte, war der Weg über die Lehrerausbildung damals - vor dem Ersten
Weltkrieg - nahezu der einzige, um zu einer höheren Bildung zu
gelangen. Dieser Weg war bedrückend und demütigend, denn der
Volksschullehrer sollte nichts weiter als gesinnungstreue, der
Kulturtechniken halbwegs kundige Untertanen produzieren, und
entsprechend wurden die Lehrer behandelt. Die Volksschule kannte damals
noch keine moderne Pädagogik, sie war eine Drill- und Paukschule.
Für
seinen Beruf war Krieck "überqualifiziert" - wie man heute sagen würde;
er fühlte sich unterfordert und kompensierte dies durch Fortbildung und
autodidaktische Studien. Ferner engagierte er sich publizistisch für
die liberale Berufsorganisation der Volksschullehrer, den Deutschen
Lehrerverein. Er redigierte eine Badische Lehrerzeitung und schrieb
zahllose Artikel, mit denen er in die bildungs- und kulturpolitischen
Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit eingriff.
Dabei
ging es
vor allem um zwei Fragen: um die Konfessionalität der Volksschule und
um den chancengleichen Zugang der Arbeiterkinder zur höheren Bildung.
Das
Volksschulwesen lag traditionell in der Hand der Kirchen. Zwar hatte im
19. Jahrhundert der Staat formell die
33
Schulaufsicht
übernommen, sie aber den Kirchen wieder zur Ausübung übertragen, weil
die Volksschulen konfessionell waren und dies auch nach dem Willen des
Staates bleiben sollten. Diese kirchliche Schulaufsicht, die nicht von
pädagogischen Fachleuten, sondern von Geistlichen ausgeübt wurde, wurde
von den im Deutschen Lehrerverein organisierten Volksschullehrern
bekämpft. Sie forderten die staatliche, von pädagogischen Fachleuten
auszuübende Schulaufsicht, aber erst 1918 wurde diese Forderung
realisiert. Ferner wurde in diesem Zusammenhang die nationale - also
konfessionell neutrale - Einheitsschule gefordert - eine Vorläufer der
heutigen Gesamtschule. Alle Kinder sollten in eine Schule gehen und
dort je nach ihren Fähigkeiten einen Abschluß auf der Höhe der Volks-,
Real- oder Gymnasialstufe machen. Die "Einheitsschule" sollte also eine
Stufenschule sein.
Nun wurde zwar 1918 die
geistliche
Schulaufsicht abgeschafft, nicht jedoch die Konfessionsschule. Sie
wurde sogar in der Weimarer Verfassung ausdrücklich wieder verankert,
allerdings mit der Einschränkung, daß auf Wunsch der Eltern auch
weltliche Schulen eingerichtet werden könnten. Die Einzelheiten sollten
durch ein "Reichsschulgesetz" geregelt werden, das aber nicht zustande
kam, so daß weltliche Schulen wegen fehlender rechtlicher Grundlagen
verhindert werden konnten, die Konfessionsschule aber Regelschule blieb.
Eine
Konsequenz der Idee der "Einheitsschule" war die einheitliche
Lehrerbildung, also die Universitätsausbildung auch für
Volksschullehrer. Beides konnte jedoch nicht realisiert werden,
verwirklicht wurde 1920 nur die vierjährige gemeinsame Grundschule für
alle Kinder; vorher wurden diejenigen Kinder, die ein Gymnasium
besuchen sollten, auf sogenannten "Vorschulen" darauf vorbereitet. Das
bedeutete, daß die Volksschüler und die Gymnasiasten vom ersten
Schultag an getrennte Schulen besuchten.
Die
bildungspolitischen
Vorstellungen der erwähnten Volksschullehrerorganisation wurden von der
SPD unterstützt, weil sie geeignet erschienen, das "Bildungsprivileg"
des Bürgertums zu brechen und den entsprechend begabten Arbeiterkindern
einen Aufstieg durch höhere Bildung zu ermöglichen.
Auch
Ernst Krieck setzte sich für diese Forderungen publizistisch ein, zumal
er an sich selbst erfahren hatte, wie
34
schmerzlich
es ist, aus finanziellen Gründen auf den Besuch des Gymnasiums und auf
ein Studium verzichten zu müssen. Sein Hauptgegner wurde dabei das
Zentrum, die politische Partei des Katholizismus. Sie spielte während
der Weimarer Zeit insofern eine problematische Rolle, als ihr Hauptziel
die Erhaltung und wenn möglich die Vermehrung des Einflusses der
katholischen Kirche auf das Bildungswesen und auf das kulturelle Leben
überhaupt war. Für dieses Ziel war die Partei bereit, jede nur denkbare
Koalition einzugehen - ohne Rücksicht auf andere politische Sachfragen.
So hatte sie in Bayern 1924 durch ihren dortigen Ableger, die
Bayerische Volkspartei, ein Konkordat durchsetzen können, das ihren
Vorstellungen über die konfessionellen Volksschulen und die
Lehrerausbildung weitgehend entsprach. Krieck nahm dies zum Anlaß einer
öffentlichen Auseinandersetzung. Ohne die katholische Religion
anzugreifen, forderte er die uneingeschränkte staatliche Trägerschaft
des Bildungswesens.
"Der Anspruch der Kirche auf die
Vorherrschaft in der öffentlichen Erziehung ist eine durch gar nichts
gerechtfertigte Anmaßung. Die Kirche ist nicht imstande, aus ihren
Mitteln, ihrem geistigen Besitz den Lehrplan auch nur einer Volksschule
zu füllen. Es gibt keine katholische Erdkunde, keine protestantische
Raumlehre, keine jüdische Sprachwissenschaft, keine freireligiöse
Chemie... . Der Staat ist verloren und verkauft, der die
Staatsbürgerbildung nicht aus eigener Machtvollkommenheit und eigenen
Machtmitteln leisten kann" (Zit. n. G. Müller, 66).
Auf
diesen
Artikel reagierte die Presse des Zentrums mit einer zentral gesteuerten
Kampagne gegen Krieck. Gerhard Müller, dem wir die bisher
umfangreichste Untersuchung über Krieck verdanken, beurteilt diese
Kampagne so:
"Man wird sich heute bei Durchsicht der
Pressestimmen der Meinung Kriecks anschließen können, daß die
Argumentation der Zentrumspresse größtenteils 'bis zur Hirnerweichung
blödsinnig' war. Die Pressefehde des Zentrums offenbart auf
verschiedenen Ebenen einen unglaublichen geistigen Tiefstand der
Argumentation, die um der eigenen Sache willen vor keiner demagogischen
Verfälschung des Krieckschen Anliegens, das in seinem Kern nicht
berührt wurde, zurückschreckte . . ." (Müller, 66 f.).
35
Seine
entschiedene Haltung zum Zentrum entfremdete Krieck aber allmählich
auch seiner Standesorganisation, dem Deutschen Lehrerverein. Er griff
nämlich nicht nur das Zentrum heftig an, sondern auch alle diejenigen,
die mit ihm paktierten und Kompromisse schlossen, was ja auch die
Lehrerverbände, die liberale Deutsche Volkspartei und die
Sozialdemokraten taten. Er durchlebte in den 20er Jahren einen
mehrfachen Entfremdungsprozeß. Seine wissenschaftlichen Arbeiten
entfremdeten ihn seinem Beruf und seinem sozialen Herkunftsmilieu; mit
seiner entschiedenen, kompromißlosen Haltung distanzierte er sich auch
von denjenigen Verbänden, die ihm eigentlich nahestanden. Ihm fehlte
das Verständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen; er dachte
zunehmend im Entweder-Oder-Schema und beurteilte schließlich alle
politischen Organisationen danach, ob sie sich dem Zentrum konsequent
widersetzen oder nicht. Diese starre und nicht selten auch
rechthaberische Argumentationsweise ist sicherlich gefördert worden
durch die autodidaktische Weise des Studierens. Im Unterschied zum
üblichen Hochschüler mußte er sich nicht ständig mit anderen Menschen
auseinandersetzen. Schroff ging er auch mit seinen Fachkollegen um, den
Erziehungswissenschaftlern in der Weimarer Zeit, denen er schlicht
Unwissenschaftlichkeit vorwarf.
Krieck hat ein
umfangreiches
publizistisches Werk hinterlassen, auf das wir hier nicht im ganzen
eingehen können. Vielmehr müssen wir uns auf seine wichtigsten
pädagogischen Schriften konzentrieren. Sein Hauptanliegen war
allerdings ein politisches. Er versuchte, durch eine Aufarbeitung der
deutschen Geschichte und Geistesgeschichte die "deutsche Eigenart"
herauszufinden und daraus entsprechende Vorschläge für die
Neuformierung von Volk und Staat zu entwickeln. Für unseren
Zusammenhang ist daran bedeutsam, daß er pädagogische Fragen, wenn er
sich damit beschäftigte, immer im Zusammenhang seiner darüber
hinausgehenden politischen Ambitionen sah.
"Philosophie
der Erziehung"
Im
Jahre 1922 erschien sein erziehungswissenschaftliches Hauptwerk unter
dem Titel "Philosophie der Erziehung", das ihn mit einem Schlag berühmt
machte und ihm die Eh-
36
rendoktorwürde
der
Universität Heidelberg eintrug. Die Thesen dieses Buches waren damals
ungewöhnlich. Nicht das, was einzelne Personen wie Eltern und Lehrer
mit Kindern absichtsvoll - also intentional - tun, sei das
entscheidende an der Erziehung, sondern die Art und Weise, wie Kinder
in den sozialen Gemeinschaften aufwachsen. Diese Gemeinschaften
erziehen "funktional", also durch ihre bloße Existenz, und einzelne
Personen, z.B. die Eltern oder Lehrer, sind nur Funktionsträger solcher
Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Kirche, Volk. Und die
Gemeinschaften formen keine Individuen, sondern Typen, d.h. sie
versuchen, den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild zu prägen.
Diesen Prozeß der kollektiven Assimilierung des Menschen nannte er
Zucht. Das war nicht biologisch gemeint, etwa im Sinne von
Tierzüchtung, sondern einer Prägung durch Sitten und Normen der
jeweiligen Gemeinschaft. Die Gemeinschaften jeder Art seien
"überindividuelle und ursprüngliche geistige Organismen, nicht aber
Zweckverbände aus freier Wahl und Summierung Einzelner"; Erziehung sei
"eine Urfunktion im Gemeinschaftsleben, genauso, wie Sprache, Religion,
Recht, Kunst, gemeinsame Arbeit Urfunktionen des Gemeinschafts- oder
Geisteslebens sind" (45).
Mit dieser These wendet
sich Krieck
gegen die Beschränkung der modernen Pädagogik auf die rational
veranstaltete Erziehung in Schulen und Hochschulen; diese sei nur die
oberste von drei Schichten, in denen sich "funktionale" Erziehung
ereigne. "Die unterste Schicht erzieherischer Faktoren besteht aus den
unbewußten Wirkungen, Bindungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch.
Sie bilden den Untergrund des Gemeinschaftslebens, die unmittelbarste
und stärkste Bindung im organischen Gefüge... ." (47).
Die
zweite Schicht der funktionalen Erziehung sei zu finden auf der Ebene
des bewußten sozialen Handelns in der Familie, am Arbeitsplatz usw.
"Von jeglicher Verständigung zwischen Menschen, von jeglicher
Gemeinsamkeit wie von jedem Gegensatz, von allem gemeinsamen oder
gegenwirkenden Tun, mit einem Wort: von jeder Wechselwirkung gehen auf
die Beteiligten erzieherische Wirkungen aus, auch wenn diese Wirkungen
weder beabsichtigt sind noch auch bewußt werden. Die Menschen werden
sich darin zu gegenseitig bildenden Mächten: sie müssen sich
nacheinander richten, auf-
37
einander
einstellen,
ineinander fügen, und das Maß, das Ergebnis der dabei beteiligten
Wirkungskräfte bestimmt die innere Form, die Bildung, die Richtung des
geistigen Werdens bei allen Teilnehmern. Wenn zwei Menschen an einem
Geschäft oder an einer Arbeit teilnehmen, so wirken sie beständig durch
Übereinstimmung oder Gegensatz erzieherisch aufeinander" (48).
Erst
auf der Ebene der rational organisierten Erziehung finden wir
Erziehungsabsichten, Zwecke und Methoden; aber auch sie "besteht
niemals abgelöst und für sich allein; sie ist stets verknüpft mit
irrationalen Lebenskräften, die sie tragen und dem Ganzen organisch
verbinden. Ohne sie würde jede höhere Bildung und Kultur rasch
austrocknen, verdorren und absterben" (49).
Diese
drei Schichten
der funktionalen Erziehung seien gleichrangig zu sehen, als aufeinander
angewiesen, und auch die rational organisierte Erziehung könne man
nicht verstehen, wenn man die anderen beiden Schichten nicht
berücksichtige.
Erziehung finde aber nicht nur in
einer solchen
"Tiefengliederung", sondern auch in einer "Breitengliederung" statt.
"Die Pole sind die Selbsterziehung der Gemeinschaft und die
Selbsterziehung der Einzelnen. Dazwischen spannt sich das weite Gebiet
der Fremderziehung, und zwar der wechselwirkenden Fremderziehung der
Glieder, also des Ich und des Du, ferner die Fremderziehung jedes
Gliedes durch die Gemeinschaft und endlich die Fremderziehung der
Gemeinschaft durch die Glieder. Dazu tritt dann noch die Erziehung der
Gemeinschaft durch andere Gemeinschaften, also durch die
Wirkungsbeziehungen kultureller, wirtschaftlicher und politischer Art
nach außen" (50 f).
Erziehungswirkungen ergeben sich
demnach
also nicht nur in pädagogischen Einrichtungen wie in der Schule, und
nicht nur dadurch, daß Einzelne auf Einzelne einwirken; auch
Gemeinschaften wirken aufeinander, auch eine Korporation wie z.B. die
Ärztekammer hat eine erzieherische Bedeutung nicht nur im Hinblick auf
ihre Mitglieder, sondern auch in Bezug zu anderen Korporationen, z.B.
den Kirchen. Im Grunde hat nach Krieck das gesamte soziale und
gesellschaftliche Leben eine erzieherische Implikation, und in dem
Maße, wie der einzelne Mensch Mitglied von Gemein-
38
schaften
und Korporationen ist, wird er auch nach deren jeweiligen
Typenerwartungen erzogen und trägt von sich aus im Rahmen seiner
sozialen Teilhabe zur Erziehung anderer bei.
Eine
Sonderstellung
nimmt in diesem Konzept die Familie ein. Sie ist die Urzelle des
Gemeinschaftslebens, trägt als Keim die Grundlagen der größeren
Gemeinschaften in sich. Die höchste Form der Gemeinschaft ist das
"Volk". Zu ihm stehen alle anderen Gemeinschaften im Verhältnis der
"Gliedschaft", wie auch die Individuen "Glieder" ihrer Gemeinschaften
sind. Das Verhältnis der Glieder zum jeweiligen "Ganzen" ist so zu
sehen, daß - wenn dieses System funktioniert - die Glieder trotz
vorhandener Spannungen in das größere Ganze eingebunden bleiben. In
diesem Verständnis gibt es keine einseitige Abhängigkeit oder gar
Unterdrückung der Glieder durch das höhere Ganze, vielmehr wird den
Gliedern im Rahmen ihrer Funktion für das Ganze auch relative Autonomie
zugestanden. Allerdings setzen die Gemeinschaften auch Grenzen für den
Spielraum des abweichenden Verhaltens, weil sie sonst ihre Zerstörung
zulassen würden.
"Was aber immer den Grundgesetzen
und
Existenzbedingungen einer solchen Gemeinschaft zuwiderläuft, wird
erbarmungslos unterdrückt, auch wenn es an sich, rein menschlich
genommen, noch so wertvoll wäre. Setzen sich dann solche Menschen und
Werte trotzdem durch, hat die Gemeinschaft nicht mehr Gewissen und
Kraft zur Normierung des Nachwuchses, dann ist eben sie ihrerseits vor
die revolutionäre Probe auf Existenzrecht und Lebenskraft gestellt"
(19).
Im Klartext heißt das: Im äußersten
Konfliktfalle wird
entweder der einzelne ausgeschlossen - auf welche Weise immer -, oder
die Gemeinschaft zerbricht an seiner Abweichung.
Erziehung
erweist sich als ein höchst komplexes Zusammenspiel von Wirkungen und
Gegenwirkungen. Krieck unterscheidet also vier gleichberechtigte Formen
der Erziehung:
1. Die Gemeinschaft erzieht die
Glieder. 2. Die
Glieder erziehen einander. 3. Die Glieder erziehen die Gemeinschaft. 4.
Die Gemeinschaft erzieht die Gemeinschaft.
39
Um
diese
Argumentation zu verstehen muß man sich vor Augen halten, daß Krieck
nicht jede soziale Formation als Gemeinschaft versteht. Zweckverbände
wie die Gewerkschaften, in die man eintreten und aus denen man
jederzeit wieder austreten kann, zählen dazu nicht, weil sie nicht über
die erste Stufe der "funktionalen" Erziehung, nämlich den irrationalen
gemeinsamen Untergrund verfügen. Überhaupt ist schwer zu ermitteln, wo
Krieck die Grenze setzt, ob z.B. die Schulen dazugehören. Gemeint ist
mit den vier Erziehungsformen etwa folgendes: Die Ärzteschaft
beispielsweise als Korporation erzieht durch die Regeln ihres
Standesethos ihre einzelnen Mitglieder; die erziehen zugleich auch
einander, indem sie etwa gegenseitig auf die Regeln achten. Die
einzelnen Ärzte erziehen aber umgekehrt auch ihre eigene Gemeinschaft,
nämlich die Korporation, indem sie darauf achten, daß diese die Regeln
einhält, oder indem sie darauf drängen, daß sie modifiziert werden,
weil sie etwa neuen Zeitumständen angepaßt werden müssen. Als
Gemeinschaft erzieht die korporierte Arzteschaft aber auch andere
Gemeinschaften, etwa die Kirchen, indem sie z.B. in Fragen der
Abtreibung einen entsprechenden Druck ausübt. Einleuchtender ist
vielleicht das Beispiel der Familie: Die Familie als Gemeinschaft
erzieht die Glieder, z.B. die Kinder, die sich wiederum untereinander
erziehen, zugleich erziehen sie wiederum die Familie als Gemeinschaft,
indem sie deren Normen etwa auch gegenüber den Eltern zur Geltung
bringen. Als Gemeinschaft erziehen sie andere Gemeinschaften, etwa die
Nachbarfamilien.
Diese Formen der "Fremderziehung"
werden ergänzt durch zwei Formen der "Selbsterziehung".
1.
Die Gemeinschaft erzieht sich selbst. 2. Der Einzelne erzieht sich
selbst.
Unklar
bleibt hier, wie Gemeinschaften sich selbst erziehen sollen, wenn nicht
durch entsprechende Aktivitäten ihrer Mitglieder, also durch eine der
eben genannten Formen der "Fremderziehung". Zu verstehen ist das nur
unter der Voraussetzung, daß Gemeinschaften wie einzelne Menschen
lebende Organismen seien. "Selbsterziehung" könnte man sich vorstellen
als Leistung des Individuums, sich in diesem Komplex unterschiedlicher
Erziehungsansprüche eine eigene, persönliche Version zu verschaffen,
indem es die dafür
40
vorhandenen
Spielräume nutzt. So ähnlich sieht es auch Krieck:
Im
allgemeinen werde der Einzelne durch "Selbstformung und
Selbsterziehung" sich an den erwarteten Typus anpassen, ihm seine
individuelle Version geben. Aber schöpferische Menschen können auch den
kollektiven Typus verändern, "umschaffen, erhöhen oder erweitern".
Selbst Genies allerdings seien nur in einer begrenzten Hinsicht
originell, im übrigen aber blieben auch sie am Durchschnitt ihres
sozialen Typus gebunden.
Krieck nennt diesen
komplexen
Zusammenhang der Erziehung "organisch", und diese Kennzeichnung
verweist auf sein politisch-gesellschaftliches Grundverständnis. Auf
den ersten Blick könnte man meinen, hier handle es sich um eine
soziologische Erziehungstheorie, denn schließlich spielen die sozialen
Gemeinschaften dabei die zentrale Rolle. Das trifft aber zumindest im
Sinne der modernen, empirisch arbeitenden Soziologie nicht zu. Es geht
ihm nicht nur um die empirisch feststellbaren Wirkungen, sondern auch
um die irrationalen Untergründe, die er in den Gemeinschaften vermutet.
Die Gemeinschaften sind keine Zweckverbände, deren Mitglied man je nach
Interesse werden kann oder nicht, in ihnen sind die Menschen nicht
"gleich", wie sie vor dem Gesetz oder als wahlberechtigte Staatsbürger
gleich sind. Sein Begriff der Gemeinschaft ist ausdrücklich als
Gegenkonzept gedacht zu den modernen liberalen Vorstellungen, die auf
der Gleichheit der Menschen basieren, was ja zur Voraussetzung hat, daß
das Individuum prinzipiell als losgelöst von seinen konkreten sozialen
Kontexten gedacht wird, als ein Wesen, das sich von solchen
traditionellen Eingebundenheiten emanzipiert. Auch die modernen
Massenorganisationen der Arbeiterbewegung widersprechen diesem
"organischen" Weltbild. Insofern verbindet sich mit Kriecks Begriff der
Gemeinschaft von vornherein eine anti-liberale und anti-sozialistische
Gegenposition, das politische Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung.
Wenige Jahre später wird er die NS-Bewegung als diejenige politische
Kraft verstehen, die diese Neuordnung zustandebringen könne.
Krieck
glaubte, mit diesem prinzipiellen Konstrukt eine grundlegende
"Philosophie" der Erziehung gefunden zu haben, die Erziehung zu allen
Zeiten und für alle Kulturen zu
41 erforschen
erlaube. Er
nannte sein Konzept "autonome Erziehungswissenschaft" und versuchte es
durch weitere Arbeiten historisch zu untermauern ("Menschenformung",
1925; "Bildungssysteme der Kulturvölker", 1927). Besonders
eindrucksvolle historische Beispiele für Typenbildung durch Einwirken
der Gemeinschaften fand er im griechischen Männerbund, im römischen
Staat, in der germanischen Gefolgschaft und in der mittelalterlichen
Handwerksgilde.
Seine wichtigste These war also, daß
Erziehung
ein soziales Phänomen sei, immer schon vorhanden, wo Menschen leben.
Sie ist keine von außen an die Gemeinschaften herangetragenene
zusätzliche, künstliche Institution, auch keine kulturelle Erfindung
der Menschheit. Lediglich die Formen, in denen die Gemeinschaften die
Erziehung organisieren, sind kulturell geprägt, also auch veränderbar.
Die
"Autonomie" der Erziehungswissenschaft sah Krieck darin, daß sie nun
einen eigenen Gegenstand bekam, nämlich das, was sich in jeder
Gemeinschaft an erzieherischen Wirkungen
abspielt; sie sei nun weder
abhängig von der Ethik, von der die Pädagogen die Normen ihres Handelns
bezogen, noch von der Psychologie, die die Techniken des Umgangs mit
Kindern bereit stellten.
Seine Argumentation traf in
mancherlei Hinsicht den pädagogischen Nerv seiner Zeit.
1.
Während die damals tonangebende geisteswissenschaftliche Pädagogik im
"pädagogischen Bezug", also im persönlichen Verhältnis von Erzieher und
Zögling, den Ausgangspunkt aller planmäßigen Erziehung und Bildung sah,
hielt Krieck die Erzieher und Lehrer vor allem für Funktionäre der
sozialen Gemeinschaften, spielte also deren Bedeutung wie die Bedeutung
ihres "pädagogischen Verhältnisses" zu den zu Erziehenden erheblich
herunter.
2. Die Reform-Pädagogik seiner Zeit
verstand sich als
Individualpädagogik; sie strebte danach, die individuelle Autonomie des
Kindes zu fördern und zu unterstützen. Jedenfalls sah sie das Kind
nicht als "Typus" irgendeines Kollektivs oder einer Gemeinschaft,
sondern als Einzelwesen, dessen eigentümliche Persönlichkeit zur
Entwicklung und Entfaltung kommen müsse. Demgegenüber betonte Krieck,
daß Erziehung zur Individualität gar nicht möglich sei, diese ent-
42
stehe
vielmehr im Rahmen der Assimilation an den Typus durch Selbsterziehung,
indem das Individuum sich in diesem Prozeß eine persönliche Version des
allgemeinen Typus schaffe. Die Individualität des Kindes stehe der
planenden Pädagogik gar nicht zur Verfügung, die könne vielmehr nur das
gemeinschaftlich Typische im Blick haben.
3. Die
Pädagogik
seiner Zeit konzentrierte sich auf die rationelle Planung von Bildung
und Erziehung und war dabei durchweg normativ orientiert, dachte also -
vereinfacht gesagt - über das Wesen des Menschen nach, wie er in seiner
Vollkommenheit sein sollte, um dann zu erörtern, wie die Erziehung ihn
zu einem solchen Menschen machen bzw. sich entwickeln lassen könne,
wobei sie den konkreten sozialen Kontexten kaum Bedeutung schenkte, in
denen die Kinder lebten und handelten.
Diese Absicht
hielt
Krieck nicht nur für eine Illusion, er macht darüber hinaus auch die
unbewußten, irrationalen Dimensionen geltend, die beim Aufwachsen von
Kindern in den Gemeinschaften - bei der Familie beginnend - eine Rolle
spielen.
4. Die neuzeitliche Pädagogik ging davon
aus, daß
Erziehung - was immer im einzelnen darunter zu verstehen sei - sich nur
auf Unmündige, also Kinder und Jugendliche beziehen könne, nicht jedoch
auch auf Erwachsene. Zwar war in der Umgangssprache darüber hinaus etwa
von der erzieherischen Bedeutung des Militärdienstes die Rede;
abgesehen davon, daß die Rekruten in der Regel minderjährig waren, also
unter den Erziehungsbegriff paßten, sprach man in der
wissenschaftlichen Pädagogik jedoch im allgemeinen von
"Erwachsenenbildung", wenn man pädagogische Arbeit mit Erwachsenen
meinte.
Bei Krieck nun verliert der Begriff der
Erziehung diesen
begrenzten Sinn, er dehnt sich aus auf alle lebenden Generationen:
"Alle erziehen alle jederzeit". 5. Seiner autonomen
Erziehungswissenschaft ging es nicht mehr darum, die Absichten
irgendwelcher Erzieher zu untersuchen, sondern die Wirkungen, die
tatsächlich von den einzelnen Gemeinschaften ausgehen. Diese These traf
die geisteswissenschaftliche Pädagogik insofern zentral, weil diese
sich gerade in der Tradition der pädagogischen Klassiker ver-
43 stand,
also von Praktikern bzw. Autoren, die im Kern über ihre Absichten und
die Möglichkeiten der Realisierung geschrieben hatten.
Kriecks
Einsprüche gegen die traditionelle Pädagogik bedrohten also in
zentralen Punkten deren Selbstverständnis, und so ist nicht
verwunderlich, daß die Universitätspädagogik der Weimarer Zeit ihn
weitgehend zu ignorieren versuchte, zumal Krieck deutlich aussprach,
daß er diese Pädagogik für unwissenschaftlich und historisch
rückständig hielt.
"Die Pädagogik hat der
geistesgeschichtlichen
Wendung des 19. Jahrhunderts von der Idealkonstruktion zur
geschichtlichen, völkerkundlich und soziologisch begründeten
Erfahrungswissenschaft standhaft Widerstand geboten und ist darum
jederzeit über die Wirklichkeit, statt sie zu erforschen und sie zu
gestalten, mit Wünschbarkeiten, mit Weltverbesserungsplänen und
Menschheitsvervollkommnungsversprechen hinweggeflogen ... . Die
Rückständigkeit der Pädagogik mußte notwendig in ihrem Bereich eine
besonders tiefgehende Krise auslösen, sobald das Mißverhältnis der von
ihr ausgehenden Verheißungen zur Wirklichkeit deutlich hervortrat"
(Zit. n. Müller, 243).
Krieck reagierte auf seine
Außenseiterrolle mit Polemik und bezeichnete die Universitätspädagogen
öffentlich als "Professorenkonzern" und als "Auflobungsgesellschaft auf
Gegenseitigkeit".
Im Jahre 1928 berief der
preußische
Kultusminister Becker Krieck an die Pädagogische Akademie Frankfurt am
Main; sie war die einzige simultane Pädagogische Akademie in Preußen,
d.h. die einzige, auf der katholische und evangelische Volksschullehrer
gemeinsam ausgebildet wurden. Im Juli 1931 hielt er auf einer privaten
Sonnenwendfeier eine Rede, die in dem Schlußruf endete: "Heil dem
Dritten Reich!" Ein sozialdemokratischer Student denunzierte ihn, und
der neue sozialdemokratische Kultusminister Adolf Grimme verfügte seine
Strafversetzung an die Pädagogische Akademie Dortmund.
Diese
Maßregelung war rechtlich höchst problematisch und entfachte in Presse
und Hochschulen eine heftige öffentliche Diskussion. Fast alle
Hochschullehrer für Pädagogik schlossen sich diesem Protest an. Die
Solidarität galt aber nicht nur
44
der
Person Kriecks,
sondern vor allem den jungen pädagogischen Akademien im ganzen, die die
alten Lehrerbildungsanstalten in Preußen abgelöst hatten. Aus der
Erfahrung mit diesen ehemaligen Anstalten reagierte man sehr sensibel
auf obrigkeitsstaatliche Eingriffe. Es ist nicht ganz geklärt, ob
Krieck mit diesem Ausruf die Hitler-Partei gemeint hat. Gerhard Müller
beurteilt in seinem Buch über Krieck den Vorfall so:
"Die
kurze
Rede war auf die Situation der Lehramtskandidaten eingestimmt, denen
als Folge der Wirtschaftskrise mit großer Sicherheit eine ihrer
Verheißung adäquate Berufslaufbahn nach Abschluß des Studiums versperrt
war. Dieser bedrückenden Situation Rechnung tragend sollte die Rede
Optimismus, Hoffnung auf bessere Zeiten und Mut zum Durchhalten wecken.
Politisch gesehen war der Schlußruf eine Naivität, subjektiv wird man
Krieck glauben dürfen, daß er nicht für das Dritte Reich der
nationalsozialistischen Partei war, sondern das alte Symbolwort ... als
Ausdruck des Namens auf eine bessere Zukunft in die gesellige Runde
warf" (88).
"Nationalpolitische Erziehung"
Krieck
tritt
am 1. Januar 1932 in den nationalsozialistischen Lehrerbund ein, womit
die Mitgliedschaft in der NSDAP automatisch verbunden war. Zu diesem
Zeitpunkt kannte er von den Naziführern nur Alfred Rosenberg - von dem
er wenig hielt - und den Volksschullehrer Hans Schemm, den Führer des
NS-Lehrerbundes. Schemm, der vor allem unter Junglehrern Ansehen genoß,
propagierte damals aus persönlicher Überzeugung, daß der
Nationalsozialismus die Forderungen der Lehrerbewegung nach
einheitlicher Schule und einheitlichem Lehrerstand erfüllen werde. Für
Kriecks Freunde kam der Eintritt in die NSDAP überraschend, denn bis
dahin zeigte er kaum Sympathien für die Hitlerbewegung. Der
sozialistische Pädagoge Paul Oestreich meinte, Krieck sei historisch
derart gebildet, daß er daran krank geworden sei. Es ist müßig, über
persönliche Motive zu spekulieren. Vielleicht hat die Verärgerung über
seine Strafversetzung eine Rolle gespielt, die nicht die einzige
persönliche Diskriminierung war, die er in der Weimarer Zeit erleiden
mußte.
45 Deutlich
erkennbar ist aber die Rolle, die er für sich im Rahmen der
Nazibewegung sah.
Bis
zur Machtergreifung war diese Bewegung ideologisch und vor allem in
Hinblick auf ihre kulturellen Ziele wenig festgelegt. Sie hatte kaum
kulturell bedeutsame Persönlichkeiten in ihren Reihen vorzuweisen. In
dieser Lücke sah Krieck offenbar eine Chance, seine Vorstellungen zur
Geltung zu bringen. Dabei setzt er auf die Dynamik der Bewegung, von
der er annahm, daß sie auch nach der Machtergreifung fortwirken und das
ganze gesellschaftliche und kulturelle Leben revolutionieren werde. Er
sah die Nazis nicht als eine partikulare politische Partei, sondern als
die Führer einer völkisch-revolutionären Bewegung, deren Ende offen
schien und die insofern der Gestaltung durch eine neue kulturelle Elite
bedürfe.
So ganz abwegig schien diese Perspektive
damals nicht
zu sein, denn die NS-Bewegung hatte einen linken, sozialrevolutionären
Flügel, dem z.B. der schon erwähnte NS-Lehrerbund um Hans Schemm, die
SA und Teile der HJ zuzurechnen waren, der auf eine umfassende
Revolution setzte, die nach der Machtergreifung erst richtig beginnen
sollte. Angesichts der kulturellen Dürftigkeit der NS-Bewegung
wurde
Kriecks Übertritt freudig begrüßt, schließlich galt er als bedeutender
Wissenschaftler. Er beteiligte sich an Wahlveranstaltungen für die
Juli-Wahlen 1932 und nannte diese Tätigkeit später die schönste Zeit
seines Lebens.
Im selben Jahr veröffentlichte er das
Buch
"Nationalpolitische Erziehung", das für die nächsten Jahre zu einer
politsich-pädagogischen Bibel für nationalsozialistisch orientierte
Studenten und Lehrer werden sollte. Krieck schien Recht zu behalten mit
seiner Vermutung, daß die Bewegung sich für seine Ideen benutzen ließe.
Immerhin erreichten seine Schriften hohe Auflagen. Bis 1941 wurden etwa
300.000 Exemplare - ohne Übersetzungen - verkauft. Die
"Nationalpolitische Erziehung" brachte es auf 80.000 verkaufte
Exemplare.
Dieses Buch beginnt mit dem folgenreichen
Satz: "Das
Zeitalter der 'reinen Vernunft', der 'voraussetzungslosen' und
,wertfreien' Wissenschaft ist beendet". (1)
Sie sei
eine Fiktion gewesen, weil kein Wissenschaftler davon absehen könne,
daß er seinen Gegenstand, sein For-
46
schungsthema
immer von seiner gegenwärtigen Befindlichkeit her in Anspruch nehme und
deute. Angesichts der Notlage des deutschen Volkes müsse die
Wissenschaft "politisch" werden, d.h. sich für die Behebung dieser Not
und für den Entwurf produktiver Perspektiven einsetzen.
"Die
in
den Grund der Existenz vordringende Not des deutschen Volkes ist die
Gegebenheit, die Überwindung dieser Not in neuen Lebensordnungen und
einem neuen deutschen Menschentum die Gesamtaufgabe, an der Politik,
Wirtschaftsgestaltung, Wissenschaft, Kultur und Erziehung gemeinsam
Anteil haben" (8).
Der politische Träger für diese
Perspektive sei die nationalsozialistische Bewegung.
"Der
symbolische Name des Kommenden heißt: Das Dritte Reich. Sein Sieg
schreitet fort im Maße, als der Gegner auf allen Gebieten überwunden
und das revolutionäre Prinzip in Bewußtsein, Haltung und Lebensordnung
durchdrungen ist. Dieser Gegner aber verteidigt seine Positionen zäh
auf allen Lebensgebieten: als Liberalismus in Wirtschaft, Staat und
Recht, als Individualismus in der Kultur, als Mechanismus in den
Lebensordnungen, als reiner Rationalismus in der Wissenschaft, als
einzelmenschlicher Autonomismus in Haltung und Erziehung, als
Humanismus in der Bildung, als Pazifismus im Zusammensein der Völker,
als Kollektivismus, d.h. als die summenhafte, massenhafte mechanisch
zusammengefügte und zusammengehaltene Einzelmenschlichkeit im
Marxismus, dem Sohn und Erben des Liberalismus. Dem Dritten Reich aber
ist zugeordnet das organische Weltbild, der organische Staat, die
organische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die das Gesetz des
Ganzen über dem Gesetz des Teils und Gliedes errichten, zugleich aber
die Eigengesetzlichkeit des Gliedes in seiner Teilhabe am Ganzen
anerkennen und zur Entfaltung kommen lassen: Die Gegenseitigkeit und
Wechselwirkung zwischen Glied und lebendigem Ganzen, die dazu führt,
jedes Glied seiner Vollendung entgegenzuführen im Gerade, als es das
Ganze in sich aufnehmen und zur Darstellung bringen kann - in seiner
Besonderheit, an seinem Ort und nach seinem Eigengesetz. Darum: nicht
allen das Gleiche, sondern jedem das Seine" (9).
Im
Unterschied zur "Philosophie der Erziehung" von 1922 war dies nun
unverkennbar eine politische Kampfschrift.
47 Und
das Zitat benennt auch die politischen Gegner: Individualismus,
Liberalismus, Kollektivismus, Pazifismus - Stichworte, mit denen Krieck
die parlamentarische Weimarer Demokratie und die ihr zugrunde liegende
Gesellschaftsverfassung nicht mehr kritisiert, sondern verwirft. Seine
Hoffnung war, daß die NS-Bewegung die Gesellschaft so ordnen werde, daß
das Volk wieder als organische Ganzheit in Erscheinung treten könne, in
sich durchaus differenziert, aber so, daß der Einzelne sich als "Glied"
verstehen, darin einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz finden
könne. Es war also ein Programm zur Überwindung der "Entfremdung",
deren Ursache Krieck in der "liberalistischen" Gesellschaftsordnung
sah, die den einzelnen Menschen aus seinen gemeinschaftlichen Bezügen
gerissen, ihn als Teil einer rein numerischen Masse definiert habe: als
absolutes Individuum.
Mit dem weltanschaulichen
Widerwillen
gegen Liberalismus und Individualismus ist ein Ton angeschlagen, den
wir auch von Baeumler und Schirach hören werden und der einen Kern der
gesellschaftskritischen Ausgangsposition des Nationalsozialismus
ausmacht, wie wir es schon in Hitlers "Mein Kampf' gefunden haben.
Primär geht es gar nicht um bestimmte politische Ziele, es geht um die
Stellung des Menschen in der Gesellschaft; er soll aus der isolierten
und einsamen Subjektivität, in die ihn die liberalistische
Parteiendemokratie gezwungen habe, befreit und wieder in die
natürlichen Gemeinschaften, deren höchste das Volk ist, heimgeholt
werden. Von daher erklären sich die ideologischen Feindpositionen fast
zwangsläufig: Das humanistische Bildungsideal? Ein Teil des kulturellen
Individualismus. Die demokratisch gewählten Parteien? Eine
mechanistische Struktur, um partikulare Ziele auf Kosten des Ganzen
durchzusetzen.
"Das Weimarer zwischenstaatliche
System hat mit
seinen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten die Auflösung
geschichtlich gewachsener Formen und Bindungen, die das kapitalistische
Zeitalter kennzeichnen, auf Rechtsform und Scheinorganisation gebracht.
Dem Staat gehört fortan nur die Summe der einzelnen mündigen
Staatsbürger an: er kennt als Volk bloß die Masse der Einzelnen, nicht
aber Sozialgebilde. Den Einzelnen ist ein möglichst weiter Raum
willkürlicher Bewegung zugebilligt, und auf dieser Freiheit ge-
48
nannten
Willkür und Auflösung sollen sich Familie, Staat, Partei,
Wirtschaftsgesellschaft, Wirtschaftsordnung und Kirche gründen: alles
ist Zusammenschluß nach subjektivem Wollen, individuellen Zwecken und
Bedürfnissen, nach Belieben, Neigung und Wahl" (60).
Von
daher seien alle kulturellen Mißstände zu erklären, z.B. auch die
"Entartung der Familie" (59).
"Das
Wahlrecht der Frauen erkennt die Familie nicht mehr als Einheit und
Zelle politischer Willensbildung an, sondern nur als Sammlung autonomer
Einzelmenschen, die Jugend ist in ihren Entscheidungen, vorweg der
religiös-kirchlichen, schon denkbar früh emanzipiert" (61). Besserung
sei nur zu erhoffen, wenn die Familie im Volksganzen wieder ihre
"natürliche" Funktion erhalte.
"Die Urdreiheit von
Vater, Mutter
und Kind, bekanntlich das Urbild göttlicher Dreieinigkeit, ist von der
Familie in Form gefaßt, und in dieser Ordnung fällt dem Mann und der
Frau je eine volle Hälfte des Daseins als besondere Lebensphäre und
Herrschaftszone zu. Das hat der Feminismus der modernen Kultur so lange
verwischt, bis sie selbst, innerlich ausgehöhlt, verfiel. Das Bestreben
von Mannweibern, in die Sphäre der Männer erobernd einzudringen, wäre
aber selbst gegenüber einem Geschlecht von Weibmännern nicht gelungen -
und es hat ja auch nur zu Zerrbildern geführt -, wenn nicht der
Kapitalismus den Menschen nur noch als Mittel seines Erwerbsstrebens
angesehen, Weib wie Mann als bloße Nummern in den Betrieb der
öffentlichen Wirtschaft hineingerissen hätte, indem er die
Naturgegensätze einfach übersprang" (63).
Die Frau
gehöre in die Familie.
"Die
Frau ist aus der öffentlichen Lebenssphäre in Privatkreis und Familie
zu führen, wo sie die geborene Herrscherin ist, und wo ihr auch
keinerlei geistige Entfaltung verwehrt sein soll. Im öffentlichen Leben
hat sie nichts verloren und bleibt subaltern: die politische Amazone,
das Symbol femininer Zeitalter, ist Karikatur auf Mannheit und Weibheit
gleichzeitig" (63).
Auch mit der Reformpädagogik
geht er hart ins Gericht, deren Individualismus kritisierend:
49 "Das
Gesetz dieses Subjektivismus lautet: Die zufälligen und privaten
Bedürfnisse der einzelnen Schüler zu erfüllen, diesen Bedürfnissen
nachzugeben und sie frei ausleben zu lassen. Vorausgesetzt ist dabei,
daß diese Bedürfnisse die inneren Anlagen und Vorbestimmungen des
Schülers auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zum Ausdruck bringen, und
daß der Schüler zur Reife seiner Anlagen, zu seiner humanen Bestimmung
komme, wenn Schule und Lehrer einfach diesen Bedürfnissen nachgeben"
(134).
Dabei werde unterstellt, daß die Menschheit
eine Summe
von Einzelmenschen sei. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für
diese pädagogische Grundhaltung sei die Erfindung des "freien
Unterrichtsgesprächs".
"Das freie
Unterrichtsgespräch wird
gekennzeichnet mit dem stets wiederkehrenden Wort des Schülers: 'ich
meine'. Nach dem Vorbild des Lehrers pflanzt der Schüler großspurig
sein Ich und sein zufälliges Meinen, das in der nächsten Stunde ganz
anders sein kann, vor dem Werk auf und sieht seine Aufgabe nicht in
Hingebung, nicht im Aneignen und Durchdringen eines Notwendigen, nicht
im wirklichen Erarbeiten eines autoritativen Gehaltes, sondern in einem
höchst privaten Richtertum über alles und jedes. Das kleine Ich könnte
vielleicht verloren gehen, wenn es sich nicht von vornherein vor jedem
Problem, jedem Gut wie ein Stehaufmännchen aufrichtet und gegen jede
objektive Forderung zur Wehr setzt. Das Ergebnis nennt sich dann:
Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit entfaltet der Mensch aber seine
Anlagen nur in Hingebung an ein Höheres, im Einfügen unter eine
Autorität, in Arbeit, Kampf und Bewährung vor den vorgefundenen
Wirklichkeiten, im Wachsen an der schicksalhaft auferlegten Aufgabe"
(135 f.).
Der Erfolg des Buches beruhte wohl
einerseits darauf,
daß es die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Weimarer Republik
aufgriff und politisch-philosophisch zu erklären versuchte,
andererseits aber auch Hoffnung darauf anbot, daß mit Hilfe der
NS-Volksbewegung die Lage sich grundlegend verbessern werde. Ein
Programm dafür hatte Krieck allerdings nicht anzubieten, das sollte
sich vielmehr durch die weitere revolutionäre Umwälzung erst ergeben.
Die Antwort auf alle Probleme sollte die national-revolutionäre
Bewegung selbst finden, und er wollte dabei an führender Stelle
50 mitwirken.
Sein Politisches Denkmuster war, wie schon die "Philosophie der
Erziehung" gezeigt hatte, organologisch. Er hielt also das deutsche
Volk wie jede seiner Gemeinschaften für einen überindividuellen,
lebenden Organismus, der nur dann "gesund" sein könne, wenn "das Ganze"
mit seinen Gliedern in produktiver Harmonie lebte. Nun aber sei der
Organismus des Volkes "krank" geworden. Die Parteien der Weimarer
Republik repräsentierten nicht das Ganze, sondern nur partikulare
Interessen; die profitorientierte Wirtschaftsgesinnung und der
Individualismus zerstörten die Gemeinschaften; alle diese Mängel sollte
die völkische Revolution überwinden.
In diesem Buch
vollzog Krieck eine folgenreiche Wendung.
Hatte
er bisher von der Erziehungswissenschaft verlangt, sie solle die
Erziehungswirkungen der Gemeinschaften auf die Mitglieder beschreiben,
so verkündete er nun die erzieherische Bedeutung der
nationalsozialistischen Massenbewegung einschließlich ihrer sogenannten
"Formationen" wie HJ, SA, SS und der Schulungslager. Besonders
beeindruckt war Krieck von der Fähigkeit der Nazis, die Massen in
Bewegung zu bringen.
"Als Massenbewegung setzt (der
Nationalsozialismus) voraus die Kunst der Massenerregung: Masse muß
flüssig werden, wenn sie gestaltbar sein soll. Die von Hitler
meisterhaft geübte Kunst der Massenerhebung hat nicht etwa nur die
Agitationen und Parteiführungstechnik des Parteienstaates in seine
letzten Folgerungen gesteigert, sondern wesentlich neue Elemente und
Wege der Massenerregung und Massenführung gefunden. Es ist Hitler
gelungen, auf eine unterirdische Ader des völkisches Lebens vorzustoßen
und den springenden Quell in ein Bett zu fassen ... . Zum Beispiel
'diskutiert' und 'argumentiert' der Nationalsozialist nicht mit dem
Marxisten über Marxismus, sondern 'widerlegt' diesen damit, daß er ihm
den Anhang wegnimmt durch neue Methoden der Erregung und Bewegung" (36
f.).
Und die pädagogische Nutzanwendung lautet nun: "Der
Nationalsozialismus hat also die aus den Instinkten seiner Führer in
Anwendung gebrachten Elementarmittel und Methoden der Massenerregung
und Massenbewegung auszubauen zu einer allgemeinen Zuchtform, einem
Übungssystem, das im ganzen Volk und in den einzelnen Volksgenos-
51 sen
die Rassewerte weckt, die Rasseeigenschaften und das Rassebewußtsein
zum Höchstmaß entfaltet, womit nicht nur die einzelnen Volksgenossen
geformt, sondern auch die Volkseinheit ins Bewußtsein gehoben, also die
gemeinschaftlichen Querverbindungen gefestigt werden: aus Masse wird
Volk, aus Volk rassebewußte Nation mit geschlossener Macht, mit
einheitlicher politischer Haltung und Willensrichtung" (11).
Das
Führerprinzip erscheint ihm als Garantie dafür, daß die durch den
völkischen Aufbruch entstehenden unvermeidlichen Spannungen durch
Hitler so weit gebändigt werden können, daß die Bewegung nicht
auseinander bricht mit der Folge, daß die innere Zerrissenheit der
Weimarer Zeit sich nur wiederholen würde.
Im Jahre
1933
versuchte Krieck, sein Erziehungskonzept zu präzisieren in der kleinen
Schrift "Nationalsozialistische Erziehung, begründet aus der
Philosophie der Erziehung".
Im Unterschied zur
schwer lesbaren
"Philosophie der Erziehung" und der stellenweise agitatorischen
"Nationalpolitischen Erziehung" ist diese knappe Arbeit geschrieben wie
ein Studienbuch. Offensichtlich ist Krieck hier bemüht, wieder zur
wissenschaftlichen Sachlichkeit zurückzufinden, worauf schon der
Untertitel hinweist, der an die Arbeit von 1922 erinnert, die ihn
berühmt gemacht hatte.
Bemerkenswert ist u.a., daß
die
"Formationen" der "Bewegung" hier nicht besonders herausgehoben werden.
Vielmehr betont Krieck noch einmal die sozialstrukturelle
Differenzierung der Typen-Bildung. Der Einzelne wachse auf und lebe im
Rahmen unterschiedlicher Teilbereiche des völkischen Gesamtlebens:
Familie, Berufsstand, Religionsgemeinschaft usw. Und insofern die
sozialen Gebilde und Organisationen bestimmte Teilaufgaben am
Volksganzen erfüllen, haben sie auch das Recht, in diesem Sinne ihre
Mitglieder zu erziehen. Auch den Religionsgemeinschaften wird dieses
Recht ausdrücklich zugebilligt.
"Die erzieherischen
Einflüsse,
die ein Mensch im Verlauf seines Werdens erfährt, sind recht
mannigfaltig: er muß zum Staatsbürger, zum Glaubensgenossen, zum
Berufsmenschen erzogen werden; die religiöse, die wirtschaftliche, die
staatsbürgerliche und politische, die sittliche und rechtliche Seite
52
seines
Wesens und seiner Anlagen muß entfaltet werden. Es gibt jedoch keine
Instanz und keine Gemeinschaftsart, die das alles auf einmal leisten
könnte; es gibt vor allem kein Sozialgebilde, das die erzieherische
Funktion zum alleinigen Inhalt haben könnte, da die erzieherische
Funktion unlöslich mit allen anderen Lebensfunktionen und
Sozialgebilden verflochten ist" (14).
Nach meinem
Eindruck
bringt diese Schrift Kriecks pädagogische Konzeption am klarsten zum
Ausdruck, und möglicherweise wäre ihm eine bis heute brauchbare
sozialphilosophische Theorie der Erziehung gelungen, wenn er in diesem
Rahmen weiter gearbeitet hätte. Aber sein Interesse ging über
Erziehungsfragen weit hinaus, galt der Formulierung einer umfassenden
völkischen Philosophie, und damit scheiterte er politisch wie
wissenschaftlich.
"Völkisch-politische Anthropologie"
Nach
der Machtergreifung wurde Krieck Rektor der Universität Frankfurt, 1934
erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg und wurde dort
ebenfalls Rektor - ohne einen einzigen Tag an einer Universität
studiert zu haben und ohne überhaupt das Abitur zu besitzen.
Aber
schon 1934, nach der sogenannten Röhm-Affaire, die faktisch zur
Zerschlagung des linken, sozialrevolutionären Flügels führte, begann
sein Einfluß zu schwinden. 1936 erschien der erste Band seiner
dreibändigen "Völkisch-politischen Anthropologie". Diese Arbeit
verstand er als Grundlage für eine nationalsozialistische
Wissenschaftstheorie, die die Einzelwissenschaften sinnvoll integrieren
sollte unter der leitenden Fragestellung, wie die Menschen tatsächlich
in ihren Gemeinschaften leben und sich mit ihrer Umwelt
auseinandersetzen.
Krieck griff damit ein Problem
auf, das viele
Wissenschaftler damals beschäftigte und das im Grunde bis heute noch
aktuell ist. Die Universität hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts
vor allem unter der Expansion der Naturwissenschaften ausdifferenziert
in zahlreiche Einzeldisziplinen, die unverbunden nebeneinander
bestanden und keinen gemeinsamen Sinn mehr ergaben. Der Bildungssinn
der Universität,
53 wie er etwa Wilhelm von
Humboldt
vorgeschwebt hatte, war zerbrochen. Nach diesem Konzept sollte jedes
Studienfach durch die Ideale der Humanität mit jedem anderen dadurch
verbunden bleiben, daß die Philosophie bzw. überhaupt die
Geisteswissenschaften als sinnintegrierende Instanzen fungierten. Aber
inzwischen war auch die Philosophie zu einer bloßen Teildisziplin wie
alle anderen geworden. Krieck versuchte nun, mit seiner
"Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue, alle
Einzelwissenschaften integrierende Philosophie zu präsentieren und
machte diesen Anspruch auch im Vorwort geltend.
"Dieses
Buch
erhebt den Anspruch, die neue, durch die nationalsozialistische
Weltanschauung gegebene Wesensmitte für sämtliche Wissenschaften und
für alle Hochschulen und Fakultäten zu umreißen. Es könnten alle
einzelnen Behauptungen des Buches abgelehnt werden, und dieser Anspruch
bestünde dennoch zu recht. Einst besaßen die Wissenschaften und
Universitäten eine gemeinsame, verpflichtende Grundlage in der
Humanitätsidee. Mit dem Verfall dieser tragenden Idee setzt jener
Prozeß der Auflösung ein, der durch beständige Verzweigung der
Wissenschaften und Verselbständigung der Zweige fortschritt, bis die
Hochschule nur mehr ein organisatorischer Rahmen für einen formlosen
Haufen unzusammenhängender Einzelheiten war ... Durch die
nationalsozialistische Weltanschauung, die berufen ist, das deutsche
Volk einer neuen Erfüllung entgegenzuführen, ist eine neue bindende
Grundlage für alle Wissenschaften, Fakultäten und Hochschulen gegeben.
Aus ihr entsteht ein neues Bild von Welt und Mensch, das anstelle der
Humanitätsidee in den Mittelpunkt tritt ... . Das vorliegende Buch
erhebt den Anspruch, diese neue Wesensmitte zu umreißen, ihren Ort und
ihre Art zu kennzeichnen: es ringt um ein Bild vom deutschen Menschen,
das in die Zukunft führt (Bd I, VI). Aber damit rief er seine
ideologischen Konkurrenten auf den Plan. Alfred Rosenberg, dessen "Amt
Rosenberg" seit 1934 zuständig für die weltanschauliche Überwachung der
Partei war, hatte mit seinem Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts"
selbst eine ideologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt, sie
aber als nicht parteioffiziell erklären lassen müssen. Gleiches
verlangte er nun auch von Krieck. Der fühlte sich zu Recht
mißverstanden, weil er ja lediglich eine Wissenschaftstheorie und kein
parteioffizielles
54
Werk
vorlegen wollte, und bot die Rückgabe seiner Parteiämter an.
Viel
bedeutsamer war jedoch eine andere Polemik, weil sie an die Substanz
der Rassenlehre ging.
Krieck
war zwar Antisemit, aber kein Rassist. Über "Die Judenfrage" schrieb er
1933 einen Artikel in seiner Zeitschrift "Volk im Werden", in dem er
die religiöse und kulturelle Eigenart der Juden als Volk respektierte,
ihnen in Deutschland einen Minderheitenstatus mit eigenen Schulen und
Hochschulen einräumen wollte, obwohl ihm die zionistische Lösung - ein
eigener Judenstaat, wie er dann später in Gestalt des Staates Israel
auch realisiert wurde - am liebsten gewesen wäre. Zugleich warf er den
deutschen Juden vor, mit ihrem angeblichen Anti-Germanismus und
Internationalismus die deutsche Volkwerdung zu behindern bzw. derartige
Bestrebungen zu zersetzen. Zudem hätten die Juden im Vergleich zu ihrem
Bevölkerungsanteil zu viele Machtpositionen inne. Diese Argumentation
lief auf ein "Deutschland den Deutschen!" hinaus, aber nicht im Sinne
der Staatsbürgerschaft - die Juden in Deutschland waren ja durchweg
deutsche Staatsbürger mit allen damit zusammenhängenden Rechten und
Pflichten -, sondern im Hinblick auf ihre völkische Zugehörigkeit. Zwei
Jahre später werden die "Nürnberger Gesetze" diese Ungleichheit der
Staatsbürgerschaft rechtlich verankern, indem zwischen
"Staatsangehörigen" und "Reichsbürgern" unterschieden wird.
"Reichsbürger" konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder
artverwandten Blutes" sein. An Kriecks Antisemitismus ist also nichts
zu verharmlosen, aber mit Hitlers Rassismus hatte er wenig zu tun.
Was
Krieck über "Rasse" schrieb, beruhte nicht auf biologistischer
Determiniertheit. Rasse war für ihn so etwas wie ein allgemeiner
biologischer Urgrund, der in den Gemeinschaften zur Entfaltung kommt.
Schon in seiner "Philosophie der Erziehung" hatte er den
Sozialdarwinismus attackiert:
"Nun trägt der
Darwinismus mit
seinem 'Kampf ums Dasein' und 'Überleben der Geeignetsten' sichtbar die
Praktiken des brutalsten Kapitalismus in die Natur hinein, und seine
menschenzüchterischen Adepten übertragen sie von da wieder ins
geschichtliche Leben". Durch eine solche Auslese würden nicht die
Besten übrigbleiben, sondern gerade die
55
anderen:
"Was
aber als 'survival of the fittest' übrigbliebe, das ist zu sehen an den
triumphierenden Schiebern, Börsianern, Schlotbaronen, Parteiagitatoren,
Advokaten und Journalisten. Neben dieser Aristokratie des Kapitalismus
. . . bleibt die entselbsteste und proletarisierte Masse als Objekt
ihrer Herrschaft" (121).
Bei dieser Grundposition
blieb Krieck
auch jetzt, und seine "Völkisch-politische Anthropologie" setzte sich
deutlich ab von der sich nun breitmachenden biologistischen
Rassentheorie. Grundlage seiner Anthropologie war dagegen eine
"universale Biologie", in die er sowohl die Naturwissenschaften wie die
Geistes- und Sozialwissenschaften einbinden wollte. Sein Hauptgegner
wurde Wilhelm Hartnacke, der schon 1930 ein Buch mit dem Titel
"Naturgrenzen geistiger Bildung" veröffentlicht hatte. Hartnacke, der
nach 1933 eine Zeit lang sächsischer Kultusminister war, übertrug in
diesem Buch biologische Vorstellungen auf das politische und soziale
Leben. In bildungspolitischer Hinsicht führte dies zur Konsequenz, daß
die Tüchtigen und Begabten sich ohnehin durchsetzen, es also keine
Veranlassung gebe, in diesen Naturprozeß etwa durch Schulreformen
einzugreifen. Schon 1935, also ein Jahr vor Erscheinen der
"Völkisch-politischen Anthropologie", hatte Krieck in seiner
Zeitschrift "Volk im Werden" diese Konzeption scharf angegriffen:
"Das
Besitzbürgertum nimmt hier wieder seinen Monopolanspruch auf Bildung,
Hochschule und Wissenschaft auf und begründet diesen Anspruch mit
seinem Erbgut'... . Das ist eine sehr einfache und einleuchtende Lösung
des Problems der Rasse, des Aufstiegs, der Auslese. Ihr Kernpunkt sitzt
im Geldbeutel, und ihre Lösung heißt: haltet die Unteren darnieder. Der
Knecht soll Knecht bleiben. Und das wäre Nationalsozialismus?" (Zit. n.
Müller, 117).
Nun kam es zu einer scharfen
Kontroverse bis hin
zur Verleumdungsklage zwischen Hartnacke und Krieck. Für Krieck
ergriffen öffentlich Partei der NS-Dozentenbund, der NS-Lehrerbund und
der NS-Studentenbund. Hinter Hartnacke stellten sich jene
Naturwissenschaftler, die - wie Krieck es formuliert hatte - die
Gesetze des Kapitalismus erst in die Natur hineindeuteten, um sie dann
auf die Gesellschaft zu übertragen: die biologistischen Rassisten.
Diese Interpretation vertritt jedenfalls Gerhard Müller, wenn er
schreibt:
56
"Tatsächlich war in
dieser von Krieck mit
Vehemenz betriebenen parteiinternen Weltanschauungsdiskussion die, wie
wir heute wissen, zentrale wissenschaftliche Position der politischen
Biologie im Dritten Reich angegriffen, die einer durch Erbbiologen,
Rassetheoretiker und Rassehygieniker legitimierten inhumanen Praxis mit
den bekannten Folgen der Ausmerze rassisch oder erbbiologisch
Minderwertiger das Wort redete" (137).
Auf Vorschlag
des
rassepolitischen Amtes der Partei verbot Reinhard Heydrich mit der
Autorität des Sicherheitsdienstes der SS im November 1937 die
öffentliche Diskussion und die Presseberichterstattung über diesen
Fall, und zwar "im Interesse der Staatssicherheit und der
Geschlossenheit der Bewegung". Ob Heydrich damit auch in der Sache
Partei ergreifen wollte, ist nicht geklärt. Für Krieck bedeutete dies
das endgültige Scheitern seiner früheren Hoffnung, die NS-Bewegung als
Vehikel seiner eigenen politisch-pädagogischen Vorstellungen benutzen
zu können. Er tritt 1938 aus der SS aus und wurde, wie es heißt,
"ehrenvoll verabschiedet".
Krieck war 1934 in die SS
eingetreten
und als Gutachter für den "Sektor Wissenschaft" im "Sicherheitsdienst
des Reichsführers SS" (SD - RFSS, genannt SD) tätig. Mit diesem Amt
konnte er durch seine Gutachten Einfluß nehmen z.B. auf Berufungen.
Einzelheiten dieser Tätigkeit sind bisher kaum bekannt.
Der
SD
war damals ein Nachrichtendienst ohne exekutive Befugnisse. Er hatte
zwei Aufgaben: Zum einen sollte er wie eine Art von demoskopischem
Institut durch Analysen des Volkswillens Planungsunterlagen für
politische Entscheidungen erarbeiten. Zum anderen sollte
"Gegnerforschung" betrieben werden, durchaus auch mit dem Ziel, auf
Mißstände in der Partei hinzuweisen. Daran aber waren die zuständigen
Stellen nicht sonderlich interessiert. Krieck hatte engen Kontakt mit
den Führern des NS-Studentenbundes in Heidelberg, die nach der
"Röhm-Affäre" von der SA zur SS übergewechselt waren. In der Tätigkeit
im Rahmen des SD sah Krieck offenbar eine Chance, mit jungen,
sozialrevolutionär orientierten Männern seine schon vor 1933
entwickelte Idee der "Elitenzirkulation" zu realisieren. Er ging davon
aus, daß seine Vorstellungen von völkischer Erneuerung mit den alten
bürgerlichen Eliten in Wissenschaft und
57
Politik
nicht
zu verwirklichen seien. In den jungen intellektuellen Schutzmännern,
die auch bei den wissenschaftlichen Kontroversen zu ihm hielten, sah er
die Chance eines Wechsels, zumal die SS sich ja auch selbst für einen
Elite-Orden hielt. Verabschiedet wurde er 1938 im Rang eines
Obersturmbannführers.
Nach dem Machtwort von
Heydrich stellt er
auch sein Amt als Rektor der Universität Heidelberg zur Verfügung.
Aller öffentlicher Ämter ledig wendet er sich nun wieder seiner
wissenschaftlichen Arbeit zu.
Aber sein Austritt aus
der SS
hatte ihn nun auch schutzlos gemacht, so daß andere
Parteidienststellen, vor allem das Propagandaministerium, seine Arbeit
mehr und mehr behindern konnten. So wurde ihm in seiner Zeitschrift
"Volk im Werden" die Berichterstattung über naturwissenschaftliche und
kulturpolitische Fragen verboten. Im Jahre 1937, als er noch für den SD
tätig war, schrieb er in "Volk im Werden" über die Anwendung des
Führerprinzips auf die Universität, das er 1933 grundsätzlich begrüßt
hatte:
"Die Übertragung des Führerprinzips auf die
Rektoren
wurde so aufgefaßt, als könne nun von staatlicher Sphäre her irgendein
geeignet erscheinender Mann, ein guter Parteigenosse, oder wenn ein
solcher gerade nicht greifbar war, ein der Bewegung nahestehender
Professor herausgegriffen werden, mit einer Art von Diktaturgewalt und
höherer Autorität von oben ausgestattet und damit zum Führer ernannt
werden" (Zit. n. Müller, 416). Es habe Mißgriff auf Mißgriff gegeben,
weil die parteipolitische Gesinnung höher bewertet worden sei als die
fachliche Qualifikation.
In einer Rede, aus der das
Zitat am
Beginn des Hitler-Kapitels stammt, betonte Hitler 1938 noch einmal die
erzieherische Bedeutung der NS-Bewegung. Krieck nahm dies zum Anlaß,
die zahlreichen reaktionären kleinen Führer zu kritisieren, "die ihre
gewonnene Führungsstellung für persönliche Zwecke ... und
größenwahnsinnige Willkür mißbrauchen. Die Revolution hatte nicht den
Sinn, einen Haufen von Interessenten und Kriegsgewinnlern durch einen
Haufen derselben Gattung zu ersetzen" (Zu. n. Müller, 425).
Unterstützung
fand er jedoch immer noch, vor allem beim
Reichswissenschaftsministerium, das 1939 als Geburtstags-
58
gabe
für Hitler einen Band mit Kurzreferaten über den Forschungsstand der
Einzelwissenschaften herausgab. Über die Philosophie enthielt der Band
zwei Beiträge, einen von Alfred Baeumler und einen von Krieck. In
seinem Beitrag beschrieb Krieck die Lage der Geisteswissenschaft im
Nationalsozialismus sehr kritisch - nicht ohne seine eigene Leistung
und die seiner Schüler gebührend hervorzuheben. Das Amt Rosenberg, in
dem Baeumler für den Bereich Wissenschaft tätig war, wollte diesen
Beitrag verhindern, fand aber weder beim Wissenschaftsministerium noch
bei Hitlers Parteikanzlei Gehör.
Zum 60. Geburtstag
im Jahre
1942 richteten die Badische Gauleitung und der NS-Lehrerbund Krieck
eine öffentliche Feier aus, wie sie in dieser Größenordnung für einen
Gelehrten durchaus nicht üblich war. Gegen starken Widerstand vor allem
wieder vom Amt Rosenberg wurde ihm auch die Goethe-Medaille verliehen,
die zweithöchste von Hitler verliehene wissenschaftliche Auszeichnung -
"in Würdigung seiner Verdienste für die deutsche Wissenschaft", wie es
offiziell hieß. Zu dieser Zeit unterlag er bereits seit zwei Jahren der
Vorzensur des Propagandaministeriums.
Der Fall
Krieck zeigt
besonders deutlich den notorischen Kompetenzwirrwarr im Dritten Reich
am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes. Die Zuständigkeit des
Wissenschaftsministeriums wurde ständig überlagert durch rivalisierende
Parteidienststellen. Noch einmal erhält Krieck vom
Wissenschaftsministerium eine Auszeichnung, das Kriegsverdienstkreuz
Zweiter Klasse. Er mußte aber erkennen, daß die Hoffnung, die er in die
völkische Bewegung des Nationalsozialismus gesetzt hatte, Illusion war.
Das Dritte Reich brachte keinen Neuanfang, und diejenigen, die 1933 an
die Macht kamen, dachten nicht daran, diese Macht durch das
Weitertreiben der völkischen Revolution wieder aufs Spiel zu setzen.
Sie waren hinreichend damit beschäftigt, ihre Machtsphäre in Rivalität
zueinander zu vergrößern oder zumindest zu verteidigen. Da blieb kein
Raum für geistige Besinnung, wie sie Krieck immer wieder anstrebte.
Er
wurde 1945 von den Amerikanern entlassen und starb 1947 in einem
amerikanischen Internierungslager. Einige Jahre später wurde er als
Mitläufer entnazifiziert, was wohl so zu verstehen ist, daß ihm
persönlich keine Unrechtstaten
59 nachgewiesen
werden konnten. Leider wissen wir bisher nicht, ob und wie er in der
Zeit seiner Internierung sich mit der NS-Zeit und mit seiner Rolle in
ihr auseinandergesetzt hat.
Politisch-pädagogisches
Resümee: Die völkische Sackgasse
Krieck
hat wie ein Besessener geschrieben, als habe er damit die Hoffnung
verbunden, umso besser verstanden zu werden, denn die Thematik war im
Grunde immer dieselbe, und irgendein Fortschritt - sei es im
thematischen Sinne, sei es im Hinblick auf größere Präzision - ist
nicht zu erkennen. Im Gegenteil läßt sich seine Entwicklung von der
"Philosophie der Erziehung" bis zur "Völkisch-politischen
Anthropologie" eher als Rückschritt verstehen. Gleichwohl hat er
pädagogische Themen aufgegriffen, die in der Luft lagen, und die uns
teilweise heute noch beschäftigen. Im einzelnen sollen folgende Aspekte
noch einmal kritisch hervorgehoben werden.
Revolutionärer
Dynamismus
Üblicherweise
wird politisches Handeln mit Zielen gerechtfertigt, die es realisieren
soll, so daß es an dem Maße, in dem dies gelungen ist, auch beurteilt
werden kann. Kriecks politisches Engagement war nicht von dieser Art.
Er kämpfte für die völkische Revolution als solche in der Hoffnung,
daß, wenn diese lange genug fortschreite, schon etwas Vernünftiges
dabei herauskommen werde. Diese Hoffnung gründete sich darauf, daß das
Volk ja ein lebender Organismus sei, der schon wieder gesund werde,
wenn man politisch zerschlage, was ihn krank gemacht habe. Diese
Vorstellung war deshalb problematisch, weil sie kein Kriterium des
politischen Handelns abgab, weder moralisch noch
sachlich-zielorientiert. Die Folge war das, was das Dritte Reich dann
darstellte: ein nihilistischer, an keinen Werten und gemeinsamen Zielen
orientierter Machtkampf aller gegen alle, dessen Regeln der
unpolitische Krieck nicht beherrschte.
60
Dieser
inhaltsleere politische Dynamismus gab den Nazis die Möglichkeit, unter
reinen Machtgesichtspunkten zu agieren, ohne sich am Maßstab
versprochener Ziele verantworten zu müssen. Dies wäre nicht weiter
schlimm gewesen, wenn die NSDAP eine Partei unter anderen geblieben
wäre, die auch nach 1933 sich im Rahmen eines einigermaßen
ausbalancierten Parteien- und damit auch Machtpluralismus hätte bewegen
müssen. Da die Macht der Hitlerbewegung sehr schnell eine totale war,
mußte sie sich auch nicht mehr öffentlich verantworten. Was immer sich
Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution erhofft haben
mochte, jede Realität, die nun entstand, war nicht das Ergebnis einer
"organischen" Selbsterneuerung des Volkes, sondern des Willens, der
Taten und der Entscheidungen der Nazi-Führer, die in einen weitgehend
offen gewordenen Handlungsraum hinein agieren konnten. Als völkischer
Ideologe trug Krieck also dazu bei, diese Taten als der Gesundung des
Volkes dienende zu rechtfertigen, während sie tatsächlich willkürlich
erfolgten, genauso gut eine andere Richtung hätten nehmen können - wenn
man von der Tendenz der Machterhaltung absieht. Die politische
Perspektive konnte sich nicht auf eine Zukunft richten, sondern versank
in einer endlosen Summe von Gegenwärtigkeiten.
An
dieser
Inhaltsleere ist Krieck mit seiner "Völkisch-politischen Anthropologie"
auch wissenschaftlich gescheitert. So einleuchtend seine These war, daß
man die Menschen in ihren tatsächlichen sozialen Zusammenhängen und in
ihrer Auseinandersetzung mit der Natur betrachten müsse, so gab doch im
Unterschied zur Familie, zum Jugendbund, zur Gemeinde, das "Volk" keine
soziale Kategorie ab, sondern blieb eine Fiktion. Was denn nun das
Völkische am Volk sei, konnte Krieck nie erklären.
Illusion
des Erziehungsstaates
Die
Idee des Erziehungsstaates, die wir schon bei Hitler gefunden haben,
wird auch von Krieck propagiert. Bei Hitler war diese Vorstellung eine
Konsequenz seines Rassismus: die rassische Erneuerung des Volkes sei
nur möglich, wenn alle gesellschaftlichen Institutionen - nicht nur die
für Kinder bestimmten - an einem Strang zogen.
61 Bei
Krieck erwuchs diese Vorstellung einerseits aus der Sicht des
völkischen Organismus; wenn dieser sich erneuern solle, so konnte es
nicht genügen, die Erziehung sozusagen als ein besonderes Glied des
Organismus zu betrachten, vielmehr mußte der ganze Organismus
pädagogisiert werden. Das gesellschaftliche Leben sollte so
eingerichtet werden, daß es selbst wieder erzieherisch im gewünschten
Sinne wirkt.
Andererseits erwuchs dieser Gedanke aus
seiner in
der "Philosophie der Erziehung" entwickelten "funktionalen" Erziehung;
denn schon damals ging es ihm nicht nur um Beschreibung von
Erziehungswirkungen, sondern auch um die Hoffnung, das öffentliche
Leben wieder nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalten zu können.
Das
ist die Vision eines Erziehungsstaates, der so eingerichtet werden
soll, daß gleichsam das Leben selbst wieder durch intakte
Gemeinschaften erziehen kann. Schon 1922 hatte er an der Weimarer
Republik beklagt, daß ein zerrüttetes Volk wie das deutsche nach 1918
seinen Nachwuchs nur ungenügend erziehen könne.
Ich
vermag in
Kriecks Hinwendung zum Nationalsozialismus also keinen Bruch zu
erkennen. Schon 1922, als er mit den Nazis noch nichts im Sinn hatte,
plädierte er für eine pädagogisierte Staatsordnung, und so war es nur
konsequent, daß er sich ab 1932 dafür einsetzte, als die NS-Bewegung
ihm die Chance dafür zu bieten schien. Allerdings mußte Krieck dafür
sein Wissenschaftsverständnis ändern; 1922 betrieb er eine
beschreibende "autonome" Erziehungswissenschaft, die sich im
wesentlichen historischen Phänomenen zuwandte, ab 1932 eine
handlungsorientierte "völkisch-realistische" Erziehungswissenschaft.
Die
Idee des Erziehungsstaates ist ein verführerischer pädagogischer
Gedanke. Seine bislang letzte Ausprägung hat er im SED-Staat erlebt.
Arbeit, Freizeit, Massenkommunikation sollten so organisiert und
geregelt sein, daß der Mensch, wo immer er sich in der Öffentlichkeit
aufhielt, stets sich "sozialistisch" verhalten sollte und konnte.
Selbst die Sicherheitsorgane - einschließlich Stasi - hatten die
Aufgabe, bei nonkonformem Verhalten auch zu belehren. Da eine solche
Gesellschaft zumindest äußerlich frei von gravierenden Widersprüchen
ist, kommt sie dem Harmoniebedürfnis vieler Menschen entgegen. Warum
soll man nicht das, was alle
62
oder
zumindest die
meisten Menschen für schlecht halten, nicht gleich von Staats wegen
verbieten? Verbote und Repressionen sowie die Ausgrenzung von Menschen,
die in ein solches harmonisches Bild nicht hineinpassen, sind die
notwendige Kehrseite des Erziehungsstaates, der also zwangsläufig
autoritäre Tendenzen hat. Die innere Zerrissenheit und Polarisierung am
Ende der Weimarer Zeit war der Boden, auf dem Kriecks Sehnsucht - und
nicht nur seine - nach einem harmonischen Volk erwuchs, in dem es zwar
innere Variationen und Differenzierungen, aber keine massiven
Interessenwidersprüche mehr gibt.
Die Idee des
Erziehungsstaates
resultiert aus einer pädagogisch formulierten, aber politisch gemeinten
Kritik gesellschaftlicher Erscheinungen. In der pädagogischen Form ist
diese Kritik plausibler und spricht manche Gruppen der Bevölkerung
leichter an, weil sie sich auf weithin anerkannte Werte beruft und
scheinbar interessen- und selbstlos daherkommt. Die pädagogische
Politikkritik ist eine typisch bildungsbürgerliche Strategie, die sich
aufs moralisch verstandene Gemeinwohl beruft und eben nicht auf
partikulare Interessen etwa der politischen Parteien oder
Gewerkschaften. Der deutsche Bildungsbürger mahnte das Gemeinsame an,
das über den Parteien und Interessen Stehende, und Krieck befindet sich
ganz in dieser Tradition, wozu auch die politische Fehleinschätzung der
Hitler-Bewegung gehört: nur ein Bildungsbürger konnte so viel
Selbstlosigkeit von den neuen Herren erwarten, daß sie die Revolution
weiter trieben, bis das Völkische am Volk im Sinne Kriecks seinen
Höhepunkt erreicht hätte.
Der Traum vom
Erziehungsstaat, in dem
sich Kinder überall bewegen können, ohne Schaden zu nehmen, in dem sie
überall den gleichen normativen Erwartungen begegnen, der dafür sorgt,
daß die Maximen des Lehrers auch die des Fernsehens sind - und
umgekehrt -, ist ein anti-pluralistischer und in modernen
Industriegesellschaften entweder nur als Fiktion oder nur mit Gewalt
realisierbar. Solange er noch nicht verwirklicht ist, führt er zu einer
illusionären Gesellschaftskritik.
Pädagogen haben
immer wieder
geeifert gegen Phänomene der modernen Gesellschaft wie Kino, Fernsehen,
Schmutz und Schund und gegen die Konsumgesellschaft überhaupt,
63 und
manches davon hätten sie am liebsten verboten. Teilweise ist das ja
auch mit den sogenannten Jugendschutzgesetzen gelungen. Alles dies
steht in der Tradition der bildungsbürgerlichen pädagogischen
Politikkritik. Erst in der jüngsten Zeit vollzieht sich ein
Perspektivenwechsel, insofern die Pädagogik es immer mehr als ihre
Aufgabe betrachtet, Kindern und Jugendlichen Lernhilfen dafür zu geben,
auch mit den unerfreulichen Erscheinungen der Gesellschaft selbständig
und souverän umgehen zu können. Wir erwarten also nicht mehr, daß die
Gesellschaft sich so formiert, daß sie nur noch im positiven Sinne auf
Kinder und Heranwachsende erzieherisch einwirkt.
Faszination
der "bewegten Masse"
Kriecks
politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung beruhte also zu einem
guten Teil auf einer bildungsbürgerlieben Fehldeutung von Politik
überhaupt. Politisch scharfsinnig und teilweise brillant geschrieben
sind nur seine bildungspolitischen Beiträge vor, teilweise auch noch
nach 1933 - wenn er sich auf Gegner konzentrieren konnte. Sein Ehrgeiz
jedoch, darüber hinaus politische Philosophie zu betreiben, brachte ihn
an die Grenze seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten.
Sobald
er
jedenfalls von der Kritik zur philosophischen Konstruktion wechselte,
wurde seine Sprache unklar und diffus. Je mehr er sich in seine
völkische Philosophie verbiesterte, um so weltanschaulicher, d.h. mit
wissenschaftlicher Argumentation kaum mehr nachvollziehbar wurden seine
Ergebnisse. Das läßt sich erkennen in seiner "Völkisch-politischen
Anthropologie": eine unsystematische Arbeit, die irgendwie anfängt und
irgendwie aufhört, die jedenfalls nicht geeignet ist, die
Einzelwissenschaften zu integrieren.
Aber diese
Fehleinschätzung
des Politischen ist nicht der einzige Grund, weshalb Krieck auf die
Hitler-Bewegung hereinfiel. Mit vielen Intellektuellen seiner Zeit
teilte er die ästhetische Faszination, die vom Massenkult der
Hitler-Bewegung ausging. Die jubelnden oder ergriffenen Massen schienen
eine zukunftsträchtige Vitalität auszustrahlen, die Volksgemeinschaft
wurde scheinbar zur sinnlichen Erfahrung. Was vor allem von Goebbels
kalt und zynisch insze
64
niert
wurde zur Volksverhetzung
und zur Eroberung der politischen Macht, gewann für viele
Intellektuelle, deren kluge Köpfe ihre Herzen nicht wärmen konnten,
mystische Qualität. In einem Essay über Ernst Krieck kennzeichnet Klaus
Prange diese Faszination treffend:
"Es scheint kein
Zweifel, daß
die nationalsozialistische Bewegung hier einen Nerv berührt hat, der
wie in anderen Massenbewegungen dem Bedürfnis nach gestalthafter
Gegenwärtigkeit gerecht wird, nach konkreter Anschauung eines
allgemeinen und verbindlichen Sinns. Masse in Bewegung, die Aufmärsche
und Disziplin bei den Reichsparteitagen, die kultische Inszenierung von
Veranstaltungen, die monumentale Gegenwärtigkeit der Macht: das alles
befriedigt den Sinn nach sinnfälliger Praxis und löst einen Affekt der
Mitbewegung aus, dem sich gerade auch Intellektuelle nicht haben
entziehen können. Es ist schwer, gegen den Strom einer allgemeinen
organisierten Stimmung zu schwimmen, sich dem ,Schicksalsrausch' zu
entziehen. Wenn überhaupt, dann sind die Nationalsozialisten in diesem
Punkte erfinderisch gewesen: in der kultischen Inszenierung von
Politik" (229).
Prange nennt auch das Stichwort, das
am ehesten
die Verführbarkeit dieser Intellektuellen zu erklären vermag: die Suche
nach Identität.
Seinen eigentlichen Beitrag zur
Aufwertung der
NS-Bewegung leistete Krieck durch sein Konzept der
"Formations-Erziehung". SA, SS, HJ und die anderen "Formationen" der
Partei konnten sich demnach als Erziehungs-Gemeinschaften verstehen -
und zwar im doppelten Sinne einer Selbsterziehungsgemeinschaft und als
Träger für die Erziehung anderer. Damit gab Krieck sowohl der
Lagererziehung als auch der nun einsetzenden Schulungsarbeit nicht nur
eine Legitimation, sondern auch eine scheinbare
erziehungswissenschaftliche Grundlage. Das war nur möglich auf dem
Fundament seines erweiterten Erziehungsbegriffs, vorher hätte die
Pädagogik gar keine Kategorien dafür gehabt, z.B. einem Verband wie der
SA, der ja als politischer Kampfverband gegründet worden war, außer
vielleicht im metaphorischen Sinne eine erzieherische Funktion
zuzuweisen. Krieck unterschied nicht - wie wir heute - zwischen
Sozialisation und Erziehung, sondern subsumierte beides unter seinen
ausgedehnten Begriff von Erziehung. Erst diese begreifliche Unter-
65 scheidung
macht jedoch möglich, die "Formationen" als Sozialisationsfaktoren für
die ihr zugehörigen Menschen zu verstehen - unabhängig davon, wie diese
Verbände sich sonst definieren mögen -, indem man die Wirkungen
untersucht, die sie auf die Persönlichkeit ihrer Mitglieder ausüben.
Eine pädagogische Legitimation ihrer Existenz - wie bei Krieck -wäre
damit aber nicht verbunden. Die pädagogische Legitimation dieser
Formationen kommt also dadurch zustande, daß Krieck in diesem
Zusammenhang den positiv besetzten Begriff Erziehung verwendet.
Grenzen
der Gemeinschaft
Kriecks
Einsicht in die soziale Funktion aller Erziehung ist sicher zutreffend,
und sie ist uns heute unter dem Stichwort der "Sozialisation"
selbstverständlich geworden. Mit dem Begriff der "Sozialisation"
bezeichnen wir alle Wirkungen, die die Persönlichkeit von Kindern und
Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen beeinflussen, ob sie nun von
einzelnen Menschen, von Gruppen, Gemeinschaften oder von den
Massenmedien ausgehen. Wir wissen inzwischen, daß die geplante
Erziehung - z.B. durch Lehrer in der Schule -nur einen kleinen Teil der
gesamten Sozialisation ausmacht. Sehr viel lernt das Kind auch dadurch,
daß es an dem ihm zugänglichen sozialen Leben handelnd teilnimmt.
Allerdings trennen wir dabei nicht von vornherein wie Krieck zwischen
Gemeinschaften und anderen Formen sozialer Zusammenhalte. Zutreffend
ist auch, daß Individualität nicht erzieherisch geplant werden kann,
und daß sie auch nicht durch die Wirkungen der Sozialisationsmächte
zustandekommt, sondern eine Leistung des jeweiligen Individuums ist -
in der Sprache Kriecks: ein Ergebnis der "Selbsterziehung". Indem das
Kind sich mit den widersprüchlichen Erfahrungen seiner sozialen Umwelt
tätig auseinandersetzt, formt es seine Persönlichkeit heraus. Die
planmäßige Erziehung kann Individualität nicht herstellen, sie kann sie
fördern oder behindern.
Aber um solche pädagogischen
Einsichten
und um weitere Forschung in deren Rahmen ging es Krieck nicht in erster
Linie. Am Herzen lag ihm die völkische Weltanschauung, und deshalb zog
er aus seinen pädagogischen Entdeckungen falsche Schlüsse.
66
Krieck
konnte sich eine pluralistische Sozialisation nicht vorstellen, obwohl
sie in seinem Konzept insofern angelegt war, als ja jede Gemeinschaft
(einschließlich der Kirchen!) das Recht haben sollte, ihre
typenbildenden Ansprüche an den Einzelnen zur Geltung zu bringen. Dann
aber mußte das Erziehungsergebnis eine gewisse Bandbreite von
Widersprüchlichkeit aufweisen, denn es ist z.B. kaum anzunehmen, daß
die katholische Kirche denselben Typus hervorbringt wie die
Hitlerjugend. Krieck betonte sogar, daß keine Instanz das Geschäft der
Erziehung allein vollbringen könne. Dann aber kann die Konsequenz doch
nur lauten, daß die Individuen diese Widersprüche in sich
ausbalancieren und in einem gewissen Maße individuell gestalten müssen.
Diese so naheliegende Konsequenz hat Krieck jedoch vielleicht deshalb
nicht gezogen, weil er damit liberalen Vorstellungen zur Rolle der
Individualität zu nahe gekommen wäre. Jedenfalls hätte er den Prozessen
der Individualisierung eine eigenständige Bedeutung beimessen müssen,
nämlich als eine Leistung, die gerade der Distanz zu den typisierenden
Erwartungen der Gemeinschaft bedarf. Individualität könnte dann aber
nicht mehr aus den funktionalen Prägungen durch die Gemeinschaften
erklärt werden.
Krieck entdeckte die erzieherische
Bedeutung der
sozialen Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als ihre prägende Kraft im
Entschwinden begriffen war. Die herausragenden Faktoren der modernen
Gesellschaft, die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die
rationale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die
radikale Individualisierung der Menschen zu Rechtssubjekten gerade
unter Ignorierung ihrer konkreten sozialen Kontexte, der von Marx
vorausgesagte Siegeszug der Prinzipien des Marktes überall im
gesellschaftlichen Leben und schließlich die Massenmedien haben
notwendigerweise zur Emanzipation des Menschen - inzwischen auch der
älteren Kinder -von jenen Erziehungsgemeinschaften geführt, die Krieck
im Sinne hatte. Die historische Unausweichlichkeit dieser Prozesse,
ihre Notwendigkeit im Rahmen sich entwickelnder Industriegesellschaften
hat er nicht verstanden.
67 Grenzen
der Brauchbarkeit
Man
kann Kriecks Überlegungen fortsetzen und fragen, ob es noch sinnvoll
ist, von "Erziehung" zu sprechen, wenn die typisierende Kraft der
sozialen Gemeinschaften derart zurückgegangen ist, wie wir das heute
erleben. Jedenfalls verstehen wir heute den Prozeß der Erziehung anders
als Krieck. Wir sehen das Kind als lernendes Subjekt, nicht nur als
Objekt von Erziehung. Das Kind bildet seine Persönlichkeit selbst aus,
indem es die Herausforderungen, die ihm das Leben stellt, aktiv und
tätig bewältigt. Ein großer Teil dieser Lemprozesse erfolgt durch das
Leben selbst, ein anderer Teil wird absichtsvoll pädagogisch inszeniert
(z.B. in Kindergarten und Schule). Dort bieten professionelle Pädagogen
"Lernhilfen" an.
Nun ist bemerkenswert, das der
Begriff "Lernen"
bei Krieck gar nicht auftaucht, obwohl er doch die subjektive Seite der
Typenbildung beschreiben würde. Wenn man nämlich wie Krieck meint, daß
Erziehung dadurch stattfindet, daß die Gemeinschaften den Einzelnen
nach ihrem kollektiven Leitbild formen, dann heißt das doch umgekehrt,
daß der Einzelne in diesem Prozeß etwas lernt, z.B. bestimmte soziale
Verhaltensweisen. Vermutlich wäre ihm der Begriff "Lernen" zu
subjektivistisch gewesen, er spricht ja von "Selbsterziehung", um zu
verdeutlichen, daß Lernprozesse nur erfolgen im Rahmen der durch die
Gemeinschaften vorgegebenen Spielräume. Abgesehen davon, daß diese
pädagogische Theorie auf reine soziale Anpassung hinauslaufen kann,
traf sie auch die damalige Realität nicht mehr. Der im Dritten Reich
sozialisierte Mensch war nicht einfach die Summe der sozialen
Prägungen, die er erfahren hatte, er war mehr, und dieses Mehr ist
nicht durch den Terminus der Selbsterziehung zu beschreiben, sondern
nur durch den darüber hinausgehenden Begriff des Lernens. Was auch
damals schon Schule und Hochschule an Bildung und Ausbildung leisteten,
war mit Kriecks Erziehungstheorie nicht zu greifen. Und genau an diesem
Punkte war sein Denken für die pädagogische Praxis unergiebig; denn
diese Praxis hatte schließlich mit lernenden Individuen zu tun. Was
sollten z.B. Lehrer damit anfangen oder diejenigen, die Lehrer
ausbildeten?
So wurde neben der schon erwähnten
innerparteilichen Kritik auch fachliche Kritik an ihm laut, und dies um
so mehr,
68
als
im Zuge der seit 1936 einsetzenden Aufrüstung der Schule und der
Berufsausbildung im weitesten Sinne eine neue, qualifizierende
Bedeutung beigemessen wurde. Es gab auf einmal einen Mangel an
Facharbeitern wie auch an Lehrern. Da war Kriecks Meinung wenig
hilfreich, eine Reform des Bildungswesens werde so schnell nicht
möglich sein, weil dafür der Prozeß der völkischen Erneuerung noch
nicht weit genug fortgeschritten sei.
Damit zusammen
hängt ein
weiteres praktisches Problem, das Zeitgenossen ebenfalls schon
erkannten. Krieck hatte seine erziehungswissenschaftliche Konstruktion
ja an historischen Beispielen entfaltet. Dafür brauchte er nicht
unbedingt kritische Maßstäbe, um diese vergangenen Formen der
"Typenbildung" zu bewerten, er konnte sich mit deren Beschreibung
begnügen. Indem er jedoch handelnd und erklärend sich seiner Gegenwart
zuwandte, mußte er irgendwelche Bewertungsmaßstäbe entwickeln, wenn er
nicht der bloßen sozialen Anpassung das Wort reden wollte. Konnte man
denn die Ergebnisse der sogenannten Formationserziehung einfach
hinnehmen? Konnte nicht z.B. in der HJ der Typus des äußerlich
korrekten und angepaßten Duckmäusers entstehen? Oder der Typus des
sportlich glänzenden Feiglings oder Denunzianten? Und wäre nicht
denkbar, daß in den Religionsgemeinschaften, deren Recht auf Erziehung
Krieck unterstrich, der Typus des verklemmten Heuchlers heranwuchs?
Gerade weil Krieck forderte, daß diese einzelnen Typenbildungen
"Glieder" des Volksganzen zu sein hatten, also von dort her auch ihr
Maß und ihre Ordnung erhalten sollten, hätte er dafür wissenschaftlich
objektivierbare Maßstäbe der Beurteilung entwickeln müssen. Das hat er
nicht versucht, und es wäre ihm auch von seinem Denkansatz her gar
nicht möglich gewesen - ganz abgesehen davon, daß er dann die
Formationen der Hitler-Bewegung einer pädagogischen Kritik hätte
unterziehen müssen. Er ging einfach davon aus, daß Gemeinschaften bzw.
Korporationen, solange sie existieren, auch den ihnen angemessenen
Nachwuchs "züchten"; im übrigen sei das eine Frage der völkischen
Erneuerung: wenn diese einmal gelungen sei, sei auch dieses Problem
gelöst.
Diese Vertröstung auf die Zukunft half
jedoch denen
nicht, die in der Gegenwart Verantwortung trugen. Wir werden sehen, daß
die HJ-Führung sich im Unterschied zu Krieck sehr
69 wohl
Gedanken darüber machte, welchen Typus sie in ihren Reihen eigentlich
produzieren wollte.
Auch
den Berufspädagogen - den Lehrern und Sozialpädagogen etwa - stellte
sich das Problem der Verantwortung ihres Handelns, und auch dafür hatte
Krieck keine Antwort parat.
Dem inhaltsleeren
politischen
Dynamismus entsprach eine eigentümliche pädagogische Ziellosigkeit, ein
ratloses Warten auf die völkische Erneuerung. Aber was sollte bis dahin
geschehen? Weil Krieck diese Frage nicht beantworten konnte, wurde das
Feld frei für pädagogische Technokraten, die auf handgreifliche und
relativ ideologiefreie Qualifikationen und Ausbildung setzten, die aber
auch - wie Krieck zu Recht befürchtet hatte - rein instrumentell
vorgingen, also ohne Bindung an ein auf das Volksganze bezogenes Ethos.
Markt,
Massenmedien und Gemeinschaft
Bezeichnenderweise
kommen in Kriecks Überlegungen zwei moderne Phänomene kaum vor: Der
Markt, hier insbesondere zu verstehen als Konsumgütermarkt, und die
Massenmedien. Die Massenmedien sind nicht einzuordnen in das Konzept
der sozialen Gemeinschaften, sie sprengen das Bild vom organischen
Volkskörper. Sie zerstören die Identität der Gemeinschaften, indem sie
allen dasselbe sagen, den Kindern wie den Erwachsenen, den Christen wie
den Atheisten. Der Versuch der Nazis, die Massenmedien in den totalen
Erziehungsstaat einzubauen, konnte - abgesehen von den Strafandrohungen
für "Feindsender-Hörer" - nur solange Erfolg haben, wie der
massentechnologische Standard - man denke an den "Volksempfänger" mit
seiner geringen Reichweite - entsprechend niedrig war. Heute kann keine
politische Ideologie die Kommunikationsreichweite der modernen
Informationsmedien mehr auf Dauer abblocken.
Insofern
war die
Idee des Erziehungsstaates illusionär, selbst die Agitation und
Propaganda von Goebbels war auf einen relativ unterentwickelten
kommunikationstechnischen Standard angewiesen. Gerade die Massenmedien,
vor allem das spätere Fernsehen, haben einen entscheidenden Anteil
daran, daß der Einfluß der klassischen Erziehungsmächte
70
(Elternhaus,
Schule) auf die Sozialisation sich mehr und mehr verringerte. Rundfunk
und Fernsehen zerstörten das Informationsmonopol der Pädagogen,
beschnitten ihre Möglichkeit, das für pädagogisch wertvoll Gehaltene
den Kindern zugänglich zu machen und das andere ihnen vorzuenthalten.
Der
Konsumgüter- und Dienstleistungsmarkt wiederum richtete sich von
vornherein nicht nach pädagogischen Maßstäben. Er fragt nicht danach,
was gut für Kinder ist, sondem danach, was er an Kinder oder über sie
an die Eltern verkaufen kann. Pädagogisch entscheidend ist dabei nicht,
ob das eine oder andere Konsumgut zu beanstanden ist, wesentlich ist
vielmehr die implizite Moral, die der Markt verbreitet: daß die
Menschen Recht daran tun, wenn sie es sich gutgehen lassen wollen, daß
sie im Recht sind, wenn sie Dinge haben wollen, die ihnen gefallen; daß
sie, wenn sie etwas haben wollen, dafür nur Geld brauchen, aber keine
Vormünder, die ihnen dabei Gebote und Verbote erteilen. Diese Moral lag
von Anfang an, seitdem es einen nennenswerten Konsumgütermarkt gibt,
mit der pädagogischen Moral im Konflikt. Äußerer Ausdruck dafür sind
unsere Jugendschutzgesetze, die schon in der Weimarer Zeit entstanden
und den Versuch darstellen, Kinder und Jugendliche von einem als
besonders gefährdend angesehenen Teil des Marktes ("Schund und
Schmutz-Literatur" "jugendgefährdende Filme") fernzuhalten.
Massenmedien und Markt haben mit den ihnen eigentümlichen Regeln
inzwischen die pädagogische Provinz zerstört, in der Kinder früher
relativ behütet aufwachsen konnten; um wieviel geringer wäre da auf
Dauer die Chance gewesen, eine moderne Industriegesellschaft im ganzen
nach Art einer pädagogischen Provinz zu etablieren. Kriecks völkischer
Erziehungsstaat war eine Illusion - allerdings eine gefährliche, weil
viele Menschen über diese Illusion an Hitler gebunden wurden.
"Integration"
als Sinnstiftung
Kriecks
Bemühungen, dem völkischen Staat Hitlers, wie er ihn sich vorstellte,
eine philosophisch-weltanschauliche Basis zu geben, erschöpfte sich
nicht nur darin, in Gestalt der "Völkisch-politischen Anthropologie"
eine neue Philoso-
71 phie
zu formulieren, die den
einzelnen Wissenschaften wieder eine gemeinsame Basis geben, sie also
zum Wohl des völkischen Staates integrieren sollte. Krieck wollte die
Idee auch organisatorisch umsetzen, indem er in Heidelberg eine
interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft einrichtete, in der sich
Vertreter verschiedener Disziplinen trafen, um gemeinsam
fächerübergreifende Probleme der einzelnen Wissenschaften zu erörtern.
Schon in seiner Rektoratsrede hatte er zu einer tiefgreifenden
Wissenschaftsreform aufgefordert. Gerhard Müller hat diese Bemühungen
ausführlich vorgestellt, die im übrigen bald wieder einschliefen, als
Krieck von seinen Ämtern zurückgetreten war. Hinzu kam, daß die
nationalsozialistische Wissenschaftspolitik im Zuge der Aufrüstung an
begrenzter Fachausbildung interessiert war - auch auf der
Hochschulebene. Krieck jedoch war der Ansicht, daß auf diese Weise nur
Menschen mit Fachborniertheit ausgebildet würden - die
Studentenbewegung Ende der 60er Jahre wird sie "Fachidioten" nennen -,
die nicht in der Lage seien, den Sinn ihrer besonderen beruflichen
Kompetenz im Rahmen der völkischen Gesamtaufgabe zu reflektieren und zu
verstehen. Da entsprechende Überlegungen zur Überwindung des begrenzten
Fachstudiums und für fächerübergreifende Projekte auch in den Debatten
zur Hochschulreform seit den sechziger Jahren eine Rolle spielen,
könnte man geneigt sein, Kriecks Vision in dieser Sache als
fortschrittlich, in die Zukunft weisend zu betrachten. Nach den bisher
vorliegenden Erfahrungen scheint jedoch Skepsis angebracht.
Krieck
hat eigentlich nur bewiesen, daß derartige Bemühungen geradezu
zwangsläufig zur wissenschaftlich nicht mehr gedeckten Politisierung
bzw. zu weltanschaulichen Gemeinplätzen führen. Alfred Baeumler
übrigens, von dem im nächsten Kapitel zu sprechen sein wird, hatte in
dieser Frage eine andere Position als Krieck. Er vertrat zwar
nachdrücklich eine "weltanschauliche Schulung" für alle, auch für
Professoren, aber das sei nicht Aufgabe der Universität, sondern der
speziell dafür eingerichteten Schulungslager.
Krieck
hätte mit
dem Ansatz seiner "autonomen Erziehungswissenschaft" damals eine
neuartige pädagogische Forschung in Bewegung setzen können. Seine
These, daß Erziehung ein ursprünglich soziales Phänomen sei, war ja
richtig, und auch seine Wende zur "Völkisch-realistischen Erziehung" in
der NS-Zeit hätte durchaus entsprechende
72
Forschungen
in Gang setzen können, z.B. über die Formationserziehung" etwa in der
HJ. Aber das hat ihn nicht interessiert. Es ging ihm auch nicht darum,
die Chancen und Grenzen der planmäßigen Erziehung etwa in der Schule zu
ermitteln, seinem Ansatz entsprechend etwa die tieferen, unbewußten und
kollektiven Elemente des Schulehaltens zu erkunden. Seit der
"Völkisch-politischen Anthropologie" verrannte er sich immer mehr in
weltanschauliche Fragen mit der Folge, daß sein Denken spekulativ wurde
mit immer geringer werdender wissenschaftlicher Stringenz. Die
"Völkisch-politische Anthropologie" beruhte auf einer "universalen
Biologie", die zwar nichts mit dem sozialdarwinistischen Biologismus
der Rassefanatiker zu tun hatte, diesen aber insofern mittelbar eine
Rechtfertigung verschaffte, als Krieck für seine Version der Biologie
das Verdikt der Unwissenschaftlichkeit hinnehmen mußte. An der Biologie
interessierte ihn der komplexe Zusammenhang alles Lebendigen, nicht die
bloß naturwissenschaftliche Betrachtung, die er in seiner Zeit vorfand;
sie reduzierte den Gegenstand auf chemische und physikalische
Gesetzmäßigkeiten. In diesem Punkte war er wieder sehr modern, dem
gegenwärtigen Verständnis der Biologie jedenfalls näher als seine
Gegner. Der entscheidende Denkfehler lag darin, auch soziale Phänomene
biologisch zu deuten. Dies war eine weltanschauliche Prämisse, die
durch nichts gedeckt war als durch ein Wunschbild des Autors, und
diesem Wunschbild sollten die einzelnen Wissenschaften verpflichtet
werden. Mit diesem Konzept konnte jedoch niemand etwas anfangen: die
NS-Ideologen nicht, weil Krieck ihrem Rassismus nicht folgte; die
Hochschulpolitiker nicht, weil sie an fachlichen, in möglichst kurzer
Zeit zu absolvierenden Studiengängen interessiert waren, die Lehrer und
Sozialpädagogen nicht, weil ihnen keine Perspektive für ihre
praktischen Probleme geboten wurde. Rückblickend kann man nur denen
Recht geben, die - wie Alfred Baeumler - eine Wissenschaftsreform im
Sinne Kriecks verhindert haben, denn sie hätte die Einzelwissenschaften
in den geistigen Ruin getrieben, sie sozusagen durch krude
Weltanschauung "zersetzt'.
Kriecks Ansehen beruhte
vor allem auf
seiner Funktion als "Sinn-Lieferant" für junge, geistig einigermaßen
anspruchsvolle Intellektuelle, die sich gerne für die neue Elite halten
wollten und dafür ein Abgrenzungskriterium gegenüber den
73 "Spießern"
brauchten. Zudem verfügte Krieck offenbar auch über eine erhebliche
persönliche Ausstrahlung, ein Charisma. Die Sucht nach einer
harmonisch-konfliktfreien, aber philosophisch anspruchsvollen und
deshalb elitären Weltanschauung, der er selbst verfallen war, fand
Jünger gleichen Bedürfnisses.
Alfred Baeumler, sein
ideologischer Konkurrent, war da aus anderem Holze, sein Beitrag zur
NS-Pädagogik lag nicht auf dem Gebiet der völkischen Weltanschauung.
74
3.
"Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)
Leben und
Werk
Am
10. Mai 1933 verbrannten die Nazis auf dem Opernplatz in Berlin etwa
20.000 Bücher und Schriften solcher Autoren, die sie für Feinde der
deutschen Kultur hielten. Die Aktion stand unter dem Motto: "Wider den
undeutschen Geist'. Zu den Akteuren gehörte auch ein kleingewachsener
Professor in SA-Uniform: Alfred Baeumler. Er hatte gerade eine
Professur für Politische Pädagogik an der Universität Berlin übernommen
und an diesem Tag seine Antrittsvorlesung gehalten. Darüber berichtete
das "Neuköllner Tageblatt":
"Als Auftakt der
öffentlichen
Verbrennung der undeutschen Bücher auf dem Opernplatz hielt Professor
Dr. Alfred Baeumler, der neue Ordinarius für Politische Bildung in
Berlin, im Hörsaal 38 der Universität die erste Vorlesung seines
Kollegs 'Wissenschaft, Hochschule, Staat'. Der große Saal war
vollkommen überfüllt. Der größte Teil der Studenten nahm in SA-Uniform
an der Vorlesung teil. Vor Beginn der Vorlesung marschierte eine
studentische Fahnenabordnung mit dem Hakenkreuzbanner ein. Professor
Baeumler beschäftigte sich mit der nationalsozialistischen Revolution
und ihren geistigen und philosophischen Grundbedingungen .
Die
Vorlesung sei von den Studenten mit Begeisterung aufgenommen worden.
Weiter heißt es in dem Blatt:
"Der
Opernplatz war in weitem Umfänge abgesperrt und von einer dichten Kette
von Zuschauern umsäumt. Um 11 Uhr trafen die ersten des Zuges in
Braunhemd und Couleur, an deren Spitze der neue Ordinarius für
Politische Pädagogik in Berlin, Professor Dr. Alfred Baeumler
marschierte, auf dem Opemplatz ein. Sie marschierten auf dem weiten
Platz auf
75 und warfen ihre
Fackeln in den in der
Mitte errichteten Scheiterhaufen, auf dem die Flammen in wabernder Lohe
emporschlugen ... . Von den Wagen, die das undeutsche Schriftmaterial
bis zum Opernplatz in die Nähe des Scheiterhaufens gebracht hatten,
bildete sich eine lange Kette von Studenten, und von Hand zu Hand
gingen die Bücher, die dann dem Feuer überantwortet wurden". (Zit. n.
Poliakow/ Wulf, 199 f.)
In seiner Vorlesung zuvor
hatte Baeumler seinen Studenten eine Rechtfertigung formuliert:
"Sie
ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder
Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen. Auf
dem Scheiterhaufen, den Sie errichten, werden nicht Ketzer verbrannt.
Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm stellen wir uns im Kampfe,
er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was wir heute von uns abtun,
sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung
angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so
mächtig werden zu lassen, daß sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln
können. Wir dürfen nicht auf Verbote bauen. Aus uns selber heraus
müssen wir den undeutschen Geist überwinden" (Baeumler 1934, 137).
Als
er diese Worte spricht, wird den politischen Gegnern nicht die Ehre des
Kampfes zuteil, sie werden vielmehr längst verhaftet, von SA und
Gestapo mißhandelt.
Später, als Siebzigjähriger,
wird er vor
Geburtstagsgästen eine Ansprache über seinen Weg als Schriftsteller
halten und dabei erwähnen, daß im Jahre 1945 seine sämtlichen
Manuskripte, Vorlesungen und Exzerpte im Garten seiner Berliner Wohnung
verbrannt worden seien.
"Die Verbrennung erfolgte
nicht durch
die Russen in den Tagen des Einmarsches, sondern Wochen danach durch
avisierte Kommunisten. Sie war offenbar durch eine informierte Stelle
angeordnet" (M. Baeumler, 243). Als Drahtzieher vermutete er
den
kommunistischen Philosophen Georg Lukacs. Daß es da einen Zusammenhang
mit seinem Auftritt von 1933 geben könnte, kam ihm offenbar nicht in
den Sinn.
Im Jahre 1933 war Baeumler schon 46 Jahre
alt. Geboren wurde er 1887 im sudetendeutschen Neustadt an der Tafel- 76
fichte,
das damals zu Österreich gehörte. Sein Vater war Porzellanmacher und
ging 1896 nach Nürnberg. Baeumler legte dort 1908 sein Abitur ab und
studierte in München, Bonn und Berlin zunächst Kunstgeschichte, dann
Philosophie und Ästhetik. Nach der Promotion 1914 wurde er von 1915 bis
1918 österreichischer Soldat und 1919 deutscher Staatsbürger.
Nach
dem Ende des Ersten Weltkrieges setzte er seine philosophischen Studien
fort, veröffentlichte 1923 ein Buch über "Kants Kritik der
Urteilskraft". Gemeinsam mit Manfred Schröter, Philosophie-Professor an
der Technischen Hochschule München, gab er ab 1924 das "Handbuch der
Philosophie" heraus und veröffentlichte darin einen Beitrag über
"Ästhetik"; 1931 erschien ein Reclam-Bändchen über "Nietzsche, der
Philosoph und Politiker", 1924 habilitierte er sich an der Technischen
Hochschule Dresden und wurde dort 1928 außerordentlicher, 1929
ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik.
"Schicksalbestimmend"
- wie Baeumler für den Rest seines Lebens meinte - sollte jedoch eine
andere Veröffentlichung werden. Manfred Schröter hatte 1926 eine
Auswahl der Schriften des romantischen Mystikers Bachofen unter dem
Titel "Der Mythos von Orient und Occident" herausgegeben. Baeumler
sagte zu, für diese Edition eine Einleitung zu schreiben. Unter der
Hand geriet diese Einleitung zu einem ganzen Buch, über 200 Seiten
lang. Diese Bachofen-Einleitun g unter dem Titel "Bachofen, der
Mythologe der Romantik", fand unter Fachleuten erhebliche Beachtung.
Zu
den Lesern gehörte auch Thomas Mann. Er hielt sich damals in Paris auf
und legte seine Eindrücke und Erfahrungen in der Schrift "Pariser
Rechenschaft" nieder. Darin erwähnt er auch Baeumlers
Bachofen-Einleitung, lobt den Tiefgang dieser Studie, äußert sich aber
auch kritisch über die möglichen Wirkungen angesichts des sich damals
verbreitenden völkischen Irrationalismus und Mystizismus in Deutschland.
"Man
kann nichts Interessanteres lesen, die Arbeit ist tief und prächtig,
und wer sich auf den Gegenstand versteht, ist bis in den Grund
gefesselt. Aber ob es eine gute und lebensfreundliche, eine
pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese
Nachtschwärmerei ... von Erde, Volk, Natur,
77
Vergangenheit
und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derart charakterisiert,
in den Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies alles sei
wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkte, es
handele sich nicht sowohl um Geschichte als um Leben, Jugend und
Zukunft - das ist die Frage, die beunruhigt. Dieser Gesinnung gilt die
Einheit der deutschen Romantik nur als optische Täuschung" (in: M.
Baeumler, 155).
Thomas Mann nennt die Abhandlung
eine "Fiktion
voller Tagestendenz" und legt somit die Unterstellung nahe, Baeumler
habe mit dieser Arbeit rechte politisch-ideologische Tendenzen im Sinne
gehabt. Baeumler ist empört und will in einer Broschüre Thomas Mann
antworten, aber sein Verleger rät ihm ab. Die Kritik des berühmten
Schriftstellers zeigte aber Wirkung, sie wird auch in Fachkreisen
aufgenommen, und Baeumler findet sich verkannt und in die rechte
politische Ecke gedrängt. Daß Thomas Mann damit einen Knick in seiner
philosophischen Karriere bewirkt habe, wird ihm immer mehr zur fixen
Idee, von der er sich bis zu seinem Tode nicht mehr befreien kann.
Objektiv
gesehen war der Vorwurf sicher unberechtigt. Im Jahre 1926 hatte
Baeumler mit der politischen Rechten nichts im Sinn, und wer politische
Tendenz verbreiten will, schreibt kein Buch, das nur wenige Eingeweihte
überhaupt verstehen können. Subjektiv gesehen jedoch war Thomas Mann
von der Wahrheit vielleicht nicht allzusehr entfernt; denn wer
engagiert Philosophie betreibt, wie es Baeumler tat, thematisiert damit
immer auch bewußt oder unbewußt seine eigene Befindlichkeit. Er will
nicht nur wissen, was es mit der Welt auf sich hat, sondern auch, was
er selbst in dieser Welt zu bedeuten hat. So war es vielleicht doch
nicht so ganz zufällig, daß Baeumler sich von der Mythologie Bachofens
faszinieren ließ und von Nietzsches anti-bürgerlicher Kulturkritik
beeindruckt war.
In die NSDAP trat Baeumler erst im
April 1933
ein - sehr zur Überraschung derer, die ihn kannten; denn bis dahin
hatte er keine Ambitionen in dieser Richtung erkennen lassen. Über
seine damaligen Motive schreibt er 1954 in einem Brief:
"Bis
zum
Jahre 1933 habe ich nicht daran gedacht, in eine politische Partei
einzutreten. Für mich vollzog sich alles politische Geschehen in einem
abstrakt geschichtlichen Raum ... .
78
Was
mich dann aus
der Stille herausführte, mich wider Willen in die politische Arena zog,
war die Unzufriedenheit mit den Regierungen, die wir hatten ... . Noch
unter dem Druck der Wahl vom 5. März 1932 stehend trat ich zum letzten
Termin (29.4.1933) in die Partei ein. Ich entschloß mich zu diesem
meinen Lebensgewohnheiten fernliegenden Schritt aus einem einzigen,
klarbewußten Grund: ich wollte nicht wieder daneben stehen. Jahrelang
hatte ich nichts als kritisieren können, jetzt, so bildete ich mir ein,
müßte ich Verantwortung übernehmen" (M. Baeumler, 228 im).
Ausschlaggebend
war wohl auch die Bekanntschaft mit Alfred Rosenberg. Rosenberg war auf
Baeumlers philosophische Arbeiten aufmerksam geworden und hatte schon
vor 1933 Kontakt aufzunehmen versucht. Nun hatte Hitler ihm das
sogenannte "Amt Rosenberg" übertragen, eine Parteidienststelle, die für
die weltanschauliche Überwachung und Schulung der Partei zuständig sein
sollte. Auf Drängen Rosenbergs übernahm Baeumler in dieser Dienstelle
1934 die Abteilung Wissenschaft, 1941 mußte er dieses Amt wegen zu
geringer Aktivität und Ineffizienz auf Druck der anderen
Abteilungsleiter aufgeben und übernahm das sogenannte "Aufbauamt Hohe
Schule". Die "Hohe Schule" sollte nach dem Krieg als eine Art von
Partei-Universität zur Wissenschaftsreform beitragen. Während seiner
nebenamtlichen Tätigkeit im Amt Rosenberg behielt er seine Berliner
Professur.
Über diese Tätigkeit ist nicht viel
bekannt. Es ist
aber zu vermuten, daß er als der für "Wissenschaft" zuständige
Ressortchef Einfluß auf Berufungen und überhaupt auf die Beurteilung
von Wissenschaftlern und deren Veröffentlichungen genommen hat (vgl.
Horn). Sicherlich war er auch beteiligt an den Schwierigkeiten, die das
Amt Rosenberg Krieck bereitet hat. Über Kriecks Beitrag über
"Philosophie" für die vorhin erwähnte Festschrift für Hitler war
Baeumler empört, zumal "Philosophie" die einzige Disziplin war, für die
in diesem Band zwei Beiträge -von Baeumler und Krieck- erschienen. Das
Amt Rosenberg hatte andererseits wenig Macht und Einfluß im Vergleich
zu rivalisierenden Instanzen wie etwa dem Propagandaministerium.
Rosenberg hatte unter anderem ein Buch mit dem Titel "Der Mythus des
20. Jahrhunderts" geschrieben, das er für die ideologische Grundlage
des Nationalsozialismus hielt. Davon wurden zwar bis 1945 eine Million
Exemplare verkauft, aber zu Rosenbergs Enttäuschung hatte
79
keiner
der vor dem Nürnberger Tribunal stehenden Parteigrößen das Buch
gelesen. Es diente offensichtlich als Parteigeschenk bei allen
möglichen Gelegenheiten.
Unter seinen Kollegen galt
Baeumler als
unkollegial, arrogant, kontaktscheu und opportunistisch. Rosenberg
jedoch hielt zu ihm und betonte noch im Nürnberger Prozeß, Baeumler
habe durch seine fachliche Kritik der Arbeit des Amtes genützt. Seine
Gauleitung jedoch beurteilte ihn kritischer. Seine
nationalsozialistische Gesinnung sei zwar nicht zu bezweifeln, er zeige
aber zu wenig persönlichen Einsatz und zu wenig Kameradschaft und finde
keine Resonanz bei seinen Studenten.
So überraschend
Baeumlers
Eintritt in die NSDAP für seine Freunde auch sein mochte, so ist doch
auch unverkennbar, daß er sich seit 1930 der NS-Ideologie immer mehr
genähert hatte. In dieser Zeit hielt er einige Vorträge, in denen er
seine ideologische Grundposition entwickelte, die er im Prinzip bis
1945 beibehielt. Er selbst verstand diese Wende nachträglich allerdings
anders, nämlich als Hinwendung zu einem neuen philosophischen Thema:
der Geschichtsphilosophie. Diese Wendung und nicht die erwähnte Kritik
Thomas Manns sollte seinen weiteren Weg bestimmen. Das vorher erreichte
Niveau seines philosophischen Denkens wich nun einem mystifizierenden,
irrationalistischen Germanismus.
Baeumlers
politische Vision war
ein neues deutsches Reich, das auf germanischer Tradition basierte,
d.h. darauf, daß es getragen wird von den Wehrbünden der Männer und
gegliedert ist durch persönliche Führer-Gefolgschaft-Beziehungen in
wechselseitiger Treue. Alles, was dieser Vision widerspricht oder
entgegenwirkt, verfällt der Kritik.
Baeumlers Denken
wird nun
sehr widersprüchlich - nicht so sehr in einem logischen Sinne, als
vielmehr durch die Kombination unterschiedlicher Ebenen, die von heute
aus auch unterschiedlich beurteilt werden müssen. Da gibt es einmal die
erwähnte Ebene des spekulativen Germanismus, von der sich Baeumler nach
1945 distanziert hat. Auf einer zweiten Ebene benutzt Baeumler
Ergebnisse seiner philosophischen Arbeit, vor allem aus seiner
Beschäftigung mit Bachofen und Nietzsche, zur Analyse seiner
politischen Gegenwart, also auch der Hitler-Bewegung, der er sich dann
zuwandte. Auf dieser zweiten Ebene geht es vor allem um den Begriff des
80
"Symbols"
und um die anthropologische These, daß der Mensch ein aktives,
handelndes Wesen sei. Auf einer dritten Ebene schließlich gibt es von
ihm Beiträge zu pädagogischen Themen etwa über die Funktion der Bildung
und der Schule, die rein pragmatisch fundiert zu sein scheinen und auch
heute noch lesenswert sind. Ich will diese drei Ebenen hier nicht zu
einer inneren Logik zusammenführen, sondern sie einfach nacheinander
vorstellen.
Dabei muß auf eine Darstellung und
Bewertung der im
engeren Sinne philosophischen Arbeiten Baeumlers verzichtet werden, um
die pädagogischen Fragestellungen nicht aus dem Blick zu verlieren. So
muß die Frage ungeprüft bleiben, ob Baeumler Bachofen oder Nietzsche
zutreffend interpretiert hat. Es geht hier vielmehr um solche
politisch-pädagogischen Texte Baeumlers, die er seinerzeit an ein
philosophisch nicht besonders vorgebildetes Publikum gerichtet hat.
Männerbündischer
Germanismus
Der
männerbündische Germanismus wird erkennbar in einem Vortrag über den
"Sinn des großen Krieges" - gemeint ist der Erste Weltkrieg - aus dem
Jahre 1929.
Die Frage nach dem "Sinn" des Krieges,
den
Deutschland verloren hatte, beschäftigte das deutsche Bürgertum in
hohem Maße, so daß dieses Thema damals keineswegs ungewöhnlich war.
Viele Deutsche gaben sich mit der schlichten Erklärung nicht zufrieden,
daß der Krieg verloren wurde wegen der militärischen und vor allem auch
materiellen Überlegenheit der Gegner. Statt dessen blühten
Mystifizierungen, deren folgenreichste die "Dolchstoßlegende" war: Die
Truppe sei unbesiegt geblieben, aber in der Heimat seien vor allem "die
Roten" und die Juden ihr in den Rücken gefallen. In "Mein Kampf' hatte
Hitler diese Stimmung ebenfalls beschrieben: Schuld an der Niederlage
seien außer den Soldaten eigentlich alle irgendwie gewesen. Die
militärische Niederlage in Verbindung mit dem daraus resultierenden
"Schandfrieden" von Versailles hatte ein tiefes Trauma beim deutschen
Bürgertum hinterlassen.
Hinzu kam das sogenannte
"Fronterlebnis" derjenigen, die den Krieg als Soldaten erlebt hatten.
Der Krieg hatte an der
81 Front
nämlich ein anderes Gesicht gezeigt, als man das in der vorausgehenden
Kriegsbegeisterung erwartet hatte. Es war ein Krieg der
"Materialschlachten", die den einzelnen Soldaten zu einer anonymen
statistischen Größe machten. Diese Art der Kriegführung beseitigte den
Status-Unterschied zwischen Offizieren und Mannschaften und schweißte
beide zu einer Art von Schützengraben-Gemeinschaft zusammen. Dieses
Erlebnis hinterließ bei vielen Soldaten eine tiefe und nachhaltige
Wirkung und prägte auch Wünsche nach einer dementsprechenden
politisch-gesellschaftlichen Ordnung; auch Baeumlers politische
Vorstellungen waren offenbar davon beeinflußt. Was war für ihn "Der
Sinn des großen Krieges"?
Im Kriege hätten zwei
Lebenssysteme, zwei Kulturen miteinander gerungen:
"Im
Mittelpunkt des ersten Lebenssystems steht die materielle Kultur. Das
Wort 'materiell' ist hier nicht moralisch zu nehmen! Auch hier werden
Götter angebetet! Da steht der Götze Mammon, da steht der Moloch, der
Jugend verschlingt. Wirtschaft und Gesellschaft ist das Losungswort.
Der Staat wird zu einer Organisation des Schutzes und der Förderung
guter Geschäfte. Sicherheit, nämlich Sicherheit der gewohnten
Lebensumstände, der gewohnten Genüsse ist das oberste Gut. Zu diesen
Genüssen sind auch die sogenannten 'geistigen' zu zählen: Literatur und
Theater, Wissenschaft und Kunst. Wesentlich ist der Genuß in jeder Art
(Baeumler 1934, 6).
Dieses System finde seinen
reinsten Ausdruck
in der Mode. Diese die Menschen einsam und selbstsüchtig machende
urbane Kultur werde vor allem durch die großen Städte repräsentiert,
deren in diesem Sinne vollkommenste Paris sei.
Dem
wirtschaftlich-materialistischen Lebenssystem stehe das
männlich-heroische gegenüber.
"Die
entgegengesetzte Lebensform ist die des Mannes. Nicht die Wirtschaft
und der Genuß, sondern der Staat und die Arbeit stehen hier im
Mittelpunkt. 'Arbeit' bezeichnet die Welt des Mannes ... . Die Welt der
materiellen Kultur ist eine Welt des Genusses, die Welt der Arbeit ist
eine Welt der Tat. Dem Lebenssystem dieser Tat ist die städtische
Wohnweise nicht wesentlich, ja sie kann ihm feindlich werden, da sie
mit einer
82
gewissen
Notwendigkeit zur Erleichterung,
Sicherung und Behaglichmachung des Lebens führt. Für die urbane
Lebensform bedeuten die Mauern der Stadt, die die Häuser umschließen,
etwas Heiliges. In dieser Lebensform dagegen heißt es: nicht die Mauern
sind es, sondern die Männer, die das Vaterland ausmachen. Nicht das
Haus und der Salon, sondern die Männerversammlungen und das Feldlager
sind die symbolischen Wirklichkeiten dieser Welt. Ich stelle sie als
die heroische der urbanen gegenüber".
Die Hinführung
des jungen
Mannes zur urbanen Kultur erfolge durch das Weib, das den Mann von der
Bindung an Seinesgleichen fernhalte. Die Feminisierung der Politik
führe zur Demokratie und diese zum bildungs- und luxusverzehrenden
Privatmann.
"Die Gesellschaft weckt zuerst das
Bedürfnis nach
materieller Kultur, und hält sodann denjenigen, in dem es wachgeworden
ist, an seinen Wünschen fest. Denn diese Wünsche sind nur durch Geld zu
befriedigen; das Geld aber verwaltet die Gesellschaft. So ist der junge
Mann, ohne daß er es merkt, Pazifist geworden. Denn die Gesellschaft
hat das Bedürfnis nach Sekurität, sie will, daß die Geschäfte sich
ruhig und sicher abwickeln. Der Staat ist nur dazu da, um Erwerb und
Geldverkehr zu sichern. Jeder verdiene so viel er kann, das ist die
Devise" (41).
Die weibliche urbane Kultur sei dem
deutschen
Volke nicht wesensgemäß, es müsse wieder zurückfinden zum heroischen
Männerbund, aussteigen aus der westlich-bürgerlichen Kultur. "Die
bürgerliche Welt ist im Jahre 1918 über Deutschland Herr geworden, weil
sie zuvor in seinem Inneren Herr geworden war. Für Deutschland gibt es
seitdem nur eine Wahl: die restlose Einordnung in das siegreiche
bürgerliche Europa als ein Hausgenosse minderen Rechts - oder der
Austritt aus dem bürgerlichen Lebenssystem" (14).
An
dieser Frage entscheide sich, wer politisch ,links'' oder "rechts"
steht.
",Politisch
links' eingestellt sein heißt in Deutschland, diesen Sieg billigen,
heißt also, sich auf die Seite des Urbanismus stellen. Für die Linke
ist der große Krieg als Krieg, als Ereignis, sinnlos; als Erfolg der
feindlichen Waffen dagegen sinnvoll, weil er den Sieg des Urbanismus
bedeutet. Heute ist die
83 große Aufgabe
der Linken:
Zerstörung der nichturbanen Volksschichten und Urbanisierung der
Arbeiterschaft. Für die Rechte ist der Krieg als Ereignis sinnvoll. Sie
lebt noch in der heroischen Welt, sie weiß noch, was Kampf und Sieg
ist" (14 f.).
Diese auf den ersten Blick harmlos
erscheinende
Passage ist tatsächlich eine politische Diffamierung der Linken; denn
sie werden zwar nicht als militärische, wohl aber als kulturelle
Bündnispartner der Siegermächte dargestellt, mit denen gemeinsam sie
die "nicht-urbanen Volksschichten" - also die, auf die es nach Baeumler
ankommt - zerstören und damit auch die Substanz des deutschen Volkes
antasten, die mit der weltbürgerlichen Zivilisation nicht in Deckung zu
bringen sei.
Baeumlers Kritik der Weimarer
Gesellschaft ähnelt
also der von Krieck - zumindest was die beanstandeten Phänomene angeht:
Antidemokratische, antiliberale, antifeminine und antibürgerliche
Ressentiments verschmelzen zu einem ideologischen Syndrom.
Bemerkenswert ist auch die Übereinstimmung beider im Hinblick auf den
anti-femininen Affekt: Die Emanzipation der Frau ist für beide
offensichtlich eine fundamentale Bedrohung ihrer politischen Identität,
Krieck bringt damit die Auflösung der Familie als sozialer Gemeinschaft
in Verbindung, die zur Auflösung auch aller anderen völkischen
Gemeinschaften führe; für Baeumler ist die Emanzipation das Symbol
jener im Ersten Weltkrieg siegreichen bürgerlichen Kultur, die dem
deutschen Wesen nicht gemäß sei. Bei Baeumler nimmt der anti-feminine
Affekt skurrile Züge an, wenn er etwa beklagt, daß in der Weimarer
Rechtspflege "Weiber" über Männer zu Gericht sitzen dürfen, oder wenn
er die Studentinnen ignorierte und seine Hörer ostentativ mit "Meine
Herren!" anredete.
An einer anderen Stelle versuchte
er seine
Vorstellung vom heroischen Männerbund - der "Mannschaft" - im Vergleich
zu einer Sportler-Mannschaft zu verdeutlichen:
"Zur
Mannschaft
gehört eine Verbundenheit der Glieder, die nicht abhängig ist von dem
technischen Zweck, der unmittelbar erreicht werden soll. Die
Sportmannschaft dagegen ist ein technischer Verband und je reiner sie
das ist, desto besser ist es für den Sport. Es wäre ganz irrtümlich,
diesen gegebenenfalls für Tage und Stunden zusammengestellten Verband
84
als
eine besondere Art von Mannschaft aufzufassen. Fällt der Zweck fort,
der den Zusammenschluß bewirkte, so fällt die ,Sportmannschaft'
auseinander. Der Geist einer echten Mannschaft dagegen würde durch den
Fortfall des nächsten Ziels nicht zerstört; er würde sich dann erst
recht bewähren. Die Mannschaft wird zwar nur durch eine gemeinsam
empfundene und anerkannte Aufgabe wirklich - das unterscheidet sie von
bloß persönlichen Freundschaftsbünden -, aber keineswegs ist das, was
sie zur Einheit zusammenschmiedet, die Vollbringung einer speziellen
Leistung" (Baeumler 1942, 164).
Aber diese Vision
der Mannschaft
konnte in der arbeitsteiligen modernen Industriegesellschaft, wie sie
Deutschland damals darstellte, keinen sozialen Ort haben, sie mußte
sich abdrängen lassen in die relativ marginale Lokalität der Lager, und
auch dort blieb sie wohl im wesentlichen Fiktion.
Als
jedoch der
Zweite Weltkrieg ausbrach, schien diese Fiktion Wirklichkeit zu werden.
In seinem Aufsatz "Der totale Krieg" propagierte er diesen, bevor es
Goebbels in seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast tat.
"Mit
unserer Jungmannschaft sind wir alle angetreten, um dorthin zu
marschieren, wohin der Glaube des Führers uns weist. In der feierlichen
Stunde dieses Aufbruchs wollen wir uns geloben, daß der Glaube derer,
denen Deutschlands Jugend anvertraut ist, niemals geringer sein soll
als der Glaube der Mannschaft, die die Heimat schützt und eine
Weltwende heraufführt" (Baeumler 1942, 32).
Bemerkenswert
ist,
daß die "Jungmannschaft", die da für Hitler in den Krieg zieht, nicht
als Zweckverband verstanden wird - wie die eben erwähnte
Sportmannschaft - sondern als Lebensform.
Der
Begriff des
"totalen Krieges" folge aus dem der "totalen Gemeinschaft" und führe
zur "totalen Offenbarung", d.h. in dieser Grenzsituation zeige sich,
was für Kerle die Menschen im Verhältnis zur Gemeinschaft wirklich
seien.
"Der Begriff des totalen Krieges gibt der
Einsicht
Ausdruck, daß jeder Versuch eines Gliedes der Gemeinschaft, sich auf
irgendeine Weise außerhalb des Kampfes zu halten, erkenntnismäßig auf
einer Fiktion beruht und ethisch ein Verbrechen ist Der Einzelne ist
nur, was er ist, durch die
85 Gemeinschaft
in der Gemeinschaft. Sobald die Gemeinschaft sich im Kampfe befindet,
befindet auch er sich im Kampfe" (35). Es
sei ein liberalistischer Irrglaube zu meinen, der politische
Normalzustand sei der Friede. Beides, Krieg und Frieden, gehörten
zusammen. Daraus folge keine Ablehnung des Friedens:
"Das
Ziel
des Krieges ist nicht wieder der Krieg, sondern der Friede. Ein Krieg,
der um seiner selbst Willen geführt würde, wäre nicht total in unserem
Sinne, sondern Wahnsinn. Totaler Krieg heißt nicht immerwährender
Krieg. Es heißt vielmehr: Der Krieg ist der einzige Weg zum Frieden und
das einzige wahre Mittel zur Erhaltung des Friedens" (35).
Baeumler
geht nicht der Frage nach, welcher Art der Krieg sei, den Hitler
begonnen hatte, um welche politischen Ziele es dabei ging und welche
Bedingungen für einen kommenden Frieden gegeben sein müssen.
Ganz
so "total", wie es zunächst in strammer Radikalität klang, sollte es
dann doch wieder nicht zugehen; denn es sei falsch, nun alle Funktionen
der Gesellschaft "zu den Kriegshandlungen in Beziehung" zu setzen. Das
gelte auch für die Schule; sie müsse weiterarbeiten und ihren
vorhandenen Leistungsstand unbedingt halten.
Den
"Meckerern" jedoch muß das Handwerk gelegt werden, sie haben den
totalen Krieg nicht begriffen.
"Der
gewohnheitsmäßige Meckerer ist nicht von oben herab zu belehren oder
mit humorvoller Nachsicht zu behandeln, sondern als einer, der
'draußen' stehen möchte, existenziell zu widerlegen - wenn es sein muß
mit rauher Hand. In dem Augenblick, wo ein Volk um sein Dasein kämpft,
hört nicht nur der Spaß, sondern auch das lächelnde Verzeihen auf. Wer
meckert, läuft moralisch zum Feinde über. Nach dieser geistigen
Haltung, nicht nach dem geringfügigen Anlaß ist der Meckerer zu
beurteilen und zu behandeln" (38).
Daß der moderne
Krieg ein
"totaler" sei, war schon eine Erfahrung des Ersten Weltkriegs; er wurde
nicht mehr wie vorher irgendwo auf einem "Schlachtfeld" von Soldaten
ausgetragen, während in der Heimat das Leben mehr oder weniger seinen
üblichen Verlauf nahm. Vielmehr mußten auch die
86 Lebensbedingungen
in der Heimat den militärischen Notwendigkeiten untergeordnet werden.
Ähnlich
wie Krieck die moderne kapitalistische gesellschaftliche Entwicklung
durch das Modell des organischen Volksstaates korrigieren wollte,
wollte Baeumler die auf Gelderwerb und Genuß beruhende Gesellschaft
ablösen durch eine männerbündische Sozialstruktur von "Mannschaften",
in denen Führer und Geführte in gegenseitiger Treue einander
verschworen sein sollten.
Baeumler hat dieses
politisch-ideologische Weltbild nach 1945 als "Germanismus" bezeichnet
und sich davon distanziert. Im wesentlichen rekonstruierte er damit
eine historische Tradition, die als Vorgeschichte der Hitlerbewegung
gelten konnte; dafür montierte er zusammen, was allenfalls unter einem
abstrakten geschichtsphilosophischen Blickwinkel zusammen paßte: das
germanische Heerlager, die alte Reichsidee, den Turnvater Jahn, die
deutsche Romantik, Nietzsche und das Bismarckreich.
Symbol
und Einsatz
Auf
der zweiten Ebene seines Wirkens geht es um die Prinzipien, nach denen
er seinen Berliner Lehrauftrag verstehen und ausführen wollte.
Was
kennzeichnete ihn als einen nationalsozialistischen Philosophen und
zudem als Pädagogen, der der Jugend die neue geistige Ausrichtung
beibringen sollte? Schließlich hatte man ihm mit einer solchen
Erwartung den Berliner Lehrstuhl übertragen! Das für ihn in Berlin
eingerichtete "Institut hat die Aufgabe, die wissenschaftlichen
Grundlagen der neuen Staatserziehung herauszuarbeiten und an die Stelle
des ausgearbeiteten Begriffsystem der Pädagogik des Liberalismus ein
tragfähiges Begriffsystem im neuen Geiste zu setzen. Diese Aufgabe kann
nur eine realistische Philosophie lösen, die sich dazu mit den
Wissenschaften verbindet, die das menschliche Handeln zum Gegenstand
haben" (Zit. n. Dickopp 1970, 427). So heißt es in der Chronik der
Berliner Universität.
An diese Aufgabe, gegen die
individualistische Pädagogik des Liberalismus eine solche "im neuen
Geiste'' - also im
87 nationalsozialistischen
Sinne - zu setzen, ging er ganz anders heran als Krieck. Er setzte
nicht auf die sozial-revolutionäre Seite der "Bewegung", in der
Hoffnung, diese werde von selbst zur volksgemeinschaftlichen Harmonie
führen, vielmehr nahm er die politische Realität des NS-Systems so an,
wie sie war, und versuchte in diesem Rahmen philosophisch fundierte
Präzisierung zu leisten. Als gelernter Philosoph blieb er kritisch und
deutlich ablehnend gegenüber Kriecks Versuchen, eine alle
Daseinsbereiche umfassende und integrierende völkische Philosophie zu
formulieren; er hielt das zu Recht für reine Spekulation. Dafür
erreichte er aber auch nicht Kriecks publizistische Resonanz. Baeumler
publizierte in der Zeit von 1933-1945 vier Sammelbände mit Aufsätzen
und Reden (Männerbund und Wissenschaft, 1934; Politik und Erziehung,
1937; Bildung und Gemeinschaft, 1942; Studien zur deutschen
Geistesgeschichte, 1943). Hinzu kommt eine längere Einleitung im ersten
Band der geplanten Gesamtausgabe der Schriften von Alfred Rosenberg,
von denen aber nur dieser erste Band erschienen ist. Ferner sind einige
Aufsätze zu erwähnen - vor allem in den beiden Zeitschriften, die er
herausgegeben hat: "Weltanschauung und Schule" und "Internationale
Zeitschrift für Erziehung". Das war im Vergleich zu Kriecks kaum zu
überblickender Produktion nicht sehr viel.
Für diese
zweite, aus
seinen philosophischen Studien resultierende Ebene sind vor allem zwei
Vorträge aus dem Jahre 1933 von Bedeutung: Seine schon erwähnte
Antrittsvorlesung und ein einige Wochen früher gehaltener Vortrag "Der
theoretische und der politische Mensch".
In seiner
Antrittsvorlesung präsentierte Baeumler seine politisch-ideologischen
Voraussetzungen und sein Programm. Sie beginnt mit einer Ehrenrettung
für die NS-Studenten, die sich ja durch Aktionen gegen Professoren,
durch randalierende Störungen von Lehrveranstaltungen weithin unbeliebt
gemacht hatten. Sie hätten dabei ein Bild einer neuen Hochschule in
sich getragen, das sie noch nicht in Worte fassen könnten. Keineswegs
wollten sie die wissenschaftliche Arbeit abschaffen. Aber die
idealistische Überlieferung der Universität genüge ihnen nicht mehr,
sie wollten sich vielmehr aktiv an der Revolution beteiligen; sie
wollten politisch handeln und nicht lediglich unpolitisch zuschauen,
wie es die traditionelle Universität von ihnen erwarte. Die dieser zu
88
grundeliegende
Philosophie des Humanismus habe sich an einer Idee orientiert, wohl
wissend, daß sie in reiner Form nie zu verwirklichen sein werde. Dieses
"Denksystem des bildlosen Idealismus" sei unpolitisch, auch wenn sich
seine Vertreter zur nationalen Bewegung bekannten; denn "eine
Hochschule, die selbst im Jahre der Revolution nur von der Führung
durch Geist und Idee, nicht von der Führung durch Adolf Hitler und
Horst Wessel redet, ist unpolitisch" (Baeumler 1934, 126).
Diesem
Denksystem stellt Baeumler nun nicht etwa ein anderes entgegen, sondern
eine im Symbol konkretisierte Idee:
"Die
Gefolgschaft Adolf Hitlers kennt das Symbol, die Darstellung der Idee
in einem Menschen, in einer Fahne. Das Führerprinzip und die Symbole
des Nationalsozialismus haben den Begriff der Idee neu geprägt. Hier
handelt es sich nicht um einen Wortstreit ... . Bis vor kurzem konnte
man noch hören: es heißt Heil Deutschland, nicht Heil Hitler. Der
allgemeinere Begriff:. Deutschland bedeute mehr als der individuelle
Begriff: Hitler, und es sei parteiisch und engstirnig, wenn man nicht
'Heil Deutschland' sage. Als ob wir nicht, wenn wir Heil Hitler sagen,
Heil Deutschland meinten! Aber wir meinen es konkret, wir meinen es
eindeutig, wir meinen es politisch. Hitler ist nicht weniger als die
Idee, er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich" (126 f.).
An
die Stelle des früheren absoluten Begriffs des Menschen müsse ein
geschichtlicher, realistischer treten, daß der Mensch nämlich einer
bestimmten Rasse und einem bestimmten Volkstum in einer bestimmten
geschichtlichen Lage angehöre. Korrigiert werden müsse vor allem die
Diskrepanz zwischen dem Typus des Gebildeten und dem des Soldaten:
"Das
eigentliche Verhängnis des 19. Jahrhunderts war, daß die humanistische
Philosophie und die schweigende Philosophie der Soldaten des
preußischen Generalstabs nicht zusammenstimmten. Fast gleichzeitig mit
der Berliner Universität ist das System der allgemeinen Wehrpflicht
entstanden. Das neue Universitätssystem und das neue Wehrsystem hätten
auf den gleichen Erziehungsgedanken gegründet werden müssen Das ist
nicht geschehen. Im Heere wurde der Mann erzogen, an der Universität
wurde der Mensch gebildet. Der preußische Generalstab erzog Soldaten,
die Universität brachte Gebildete hervor. Der theoretische Mensch, den
sie
89 großzog, kannte wohl die geistigen
Güter seiner
Nation, aber er wußte nichts von der Erde und von der schweren Mühe des
Alltags, er war dem Bauern und dem Arbeiter fremd, er hielt sich für
ein absolutes Ich unter hochmütiger Verachtung des Volkes, der Mutter,
die ihn geboren hatte. Der kämpfende Mensch, der politische Mensch, der
Soldat, der Bauer und der Arbeiter waren diesem nur noch 'verstehenden'
Gebildeten fern und unzugänglich" (129).
Es nütze
nicht viel,
wenn die Gebildeten lediglich per Gesinnung sich zur
nationalsozialistischen Revolution stellten; denn "Volksgemeinschaft
bedeutet etwas anderes als Verbundenheit in Gesinnung und Wille. Wer
legt diese Gesinnung, diesen Willen aus? Wer richtet die einzelnen aus,
wer bezeichnet das Ziel konkret? Die patriotische Gesinnung wird nicht
bezweifelt, aber mit patriotischer Gesinnung kann man nicht kämpfen und
die Macht ergreifen. Dazu bedarf es des unbedingten Einsatzes für
konkrete Symbole. Nur ein solcher Einsatz ist politisch, d.h.
bewirkend. Die bloße Gesinnung bewirkt nichts" (128).
Das
heißt im Klartext: Aktiver Einsatz wird verlangt für denjenigen, der
den "Willen auslegt": für Hitler.
Nationalsozialismus
bedeute "geistig" "die Ersetzung des Gebildeten durch den Typus des
Soldaten" (129).
"Typus"
ist hier wie bei Krieck gemeint als kollektive Haltung, Gesinnung und
Einstellung in einer bestimmten sozialen Gruppe, also im Gegensatz zur
bloßen Individualität. Und von dieser Grundposition aus versteht
Baeumler den Lehrauftrag der "Politischen Erziehung" so:
"Ich
werde an die Stelle des neuhumanistischen Bildes des Menschen das wahre
Bild vom politischen Menschen setzen, ich werde das Verhältnis von
Theorie und Praxis neu bestimmen, ich werde die Lebensordnungen
beschreiben, in denen wir wirklich leben, ich werde meine Erkenntnisse
vermitteln, aber ich werde nicht in Politik dilettieren. Das Bild des
politischen, d.h. des wirklichen Menschen zu zeichnen ist meine
Aufgabe, nicht Kathederpolitik zu treiben. Politik können nur die
machen, die sie auch zu verantworten haben " - ... der Gedanke muß sich
vor dem Gedanken verantworten" (130).
Dabei werde
seine Aufgabe auch darin bestehen, die Symbole zu deuten, den Gegensatz
von Symbol und Wort zu be-
90
arbeiten,
was heißen soll: die ursprünglichen Symbole der Hitlerbewegung, wie
Gruß, Fahne usw. müssen philosophisch gedeutet und auf diese Weise zu
einer neuen Kultur geformt werden. Das Symbol schmücke aber nicht den
einzelnen, sondern repräsentiere Gemeinschaft, schließe also auch
andere aus, und "Humanität" gelte keineswegs gegenüber allen Menschen -
wie es im Programm der allgemeinen Menschenrechte verkündet ist.
"Wer
unter Humanität eine politische und geistige Organisation alles dessen,
was Menschenantlitz trägt, versteht, dem erwidern wir: wir sind nicht
human. Denn wir wissen, daß es ein Zusammenleben von Menschen auf
höherer als nur ökonomischer Basis nicht geben kann ohne die
Konzentration dieser Menschen um das ihnen angemessene Symbol. Dieses
Symbol vollbringt eine Scheidung, es setzt, was Recht und Unrecht, was
wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt, es schließt aus, es ist ein
Symbol nur für diejenigen, die es aus dem Grunde verstehen, und die es
mit Begeisterung erfüllt. Das ist unser Begriff von Humanität:
Humanität ist da, wo Menschen an ein Symbol glauben und sich einsetzen,
wo ein Symbol begeistert und fortreißt zu Gestaltungen und Taten.
Humanität ist uns ein Begriff nicht der Ausdehnung, sondern ein
Begriff, der auf eine bestimmte Höhenlage hinweist. ,Menschlich' ist
ein Volk nicht dann, wenn es alle Rassen duldet, wenn es Fremden die
politische und geistige Herrschaft über sich zugesteht, sondern
menschlich ist es dann, wenn es sich mit aller seiner Kraft bemüht,
sich selber in menschlich große Form zu bringen" (135).
Und
die
Warnung an den politischen Gegner ist unüberhörbar: "Wer nicht mit uns
leben und sterben kann, der wird nicht als Ketzer verbrannt. Er bleibt
unbehelligt, wenn er uns nicht angreift. Aber: ... wir stellen es dem
Einzelnen nicht frei, die Symbole anzugreifen und zu verwerfen, in
denen sich unsere Einigkeit offenbart" (137).
Die
Einheit des
deutschen Volkes wird für Baeumler also repräsentiert und sinnlich
erfahrbar gemacht in den Symbolen der Nazibewegung bzw. in denen, die
diese Bewegung aus Traditionsbeständen – z.B. des preußischen Militärs
- aufzunehmen gedenkt.
Einige Wochen vor seiner
Antrittsvorlesung, am 27.2.1933 - da war er noch nicht Parteimitglied -
hielt Baeumler einen
91 Vortrag
unter dem Titel "Der theoretische und der politische Mensch".
Entwickelte er in der Antrittsvorlesung im wesentlichen die Bedeutung
der Symbole und ihrer Interpretation, so ging es ihm hier um die These,
daß der Mensch ein handelndes Wesen sei. "Der Mensch ist
wesentlich
ein politisches Wesen, d.h. er ist nicht ein Wesen, das zuerst
kontempliert, Werte betrachtet, und dann handelt, er ist nicht ein
Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist, daß er teilnimmt an einer
höheren geistigen Welt - dann wären die meisten Menschen vom Menschsein
ausgeschlossen -, sondern er ist ein ursprünglich handelndes Wesen"
(Baeumler 1934, 94).
Diese anthropologische
Grundthese
formulierte er im ausdrücklichen Gegensatz zum schon erwähnten
Selbstverständnis des humanistisch "Gebildeten".
"Die
humanistisch-idealistische Philosophie der Bildung geht von der
Vorstellung aus, daß sich über einem Unterbau von Not und Arbeit, von
Widerspruch und Streit ein Überbau des Geistes erhebe, die lichte Welt
des Bewußtseins, eine Welt über dem ,Graus der Zeiten', in der nicht
gestritten und gerungen wird, sondern wo die stille Betrachtung, das
Verstehen und Erkennen ihren Ort haben. Und die Voraussetzung ist: es
sollte jenen Kampf, jene Not des Arbeitens, jene Entzweiung des
politischen Kampfes nicht geben. Nur da sei der Mensch ganz Mensch, wo
er spiele" (95).
Dieses Harmonie- und
Friedensbedürfnis sei aber
eine Illusion, eine Fehleinschätzung der menschlichen Wirklichkeit, für
die im Gegenteil Handeln konstitutiv sei. "Handeln ist aber
kein
Realisieren erkannter Werte. So leicht ist es dem Menschen nicht
gemacht. Der wahrhaft Handelnde steht immer im Ungewissen, er ist
,wissenlos', wie Nietzsche sagt. Das macht gerade das Handeln zum
Handeln, daß es nicht gedeckt ist durch einen Wert" (95 f.).
Aus
dieser anthropologischen Grundbefindlichkeit des Menschen folge, daß
menschliches Verhalten nie absolut "sachlich" sein könne, sondern immer
tendenziös sein müsse. Deshalb erfolge Handeln immer in einer
bestimmten Richtung, politisches Handeln heiße also immer Partei
ergreifen. Das habe der Parlamentarismus verleugnet, er sei "das der
Fiktion des theoretischen Menschen entsprechende
92
politische
System" (105). Nach dieser Fiktion bestehe das Parlament aus lauter
einzelnen Abgeordneten, die je individuell nach bestem Wissen und
Gewissen entschieden, der Sache und dem Volke verpflichtet. In diesem
Verständnis gebe es keinen "ursprünglichen Willen", kein
"ursprüngliches Handeln", "keine unabhängig handelnde, rein politische
Macht", sondern "lediglich eine nach allgemeiner Einsicht beschließende
Körperschaft, deren Beschlüsse von einer nur ausführenden Macht im
Verwaltungswege 'verwirklicht' werden" (105 f).
Die
Tatsache,
daß im Parlament Parteien vertreten seien, werde in der Verfassung gar
nicht erwähnt, und deshalb sei diese "der Ausdruck der Entpolitisierung
unseres gesamten Daseins" (106).
Das individuelle
politische
Handeln sei also nicht nur immer parteilich gerichtet, es sei immer
auch gerichtet auf das Ganze, und die entscheidende Frage sei: "Wer
soll das Ganze vertreten?
Die Frage nach dem Wer ist die existentielle
Frage, ihr kann man nicht entgehen. Es gibt keine Politik ohne Namen,
ebenso wenig wie eine Wissenschaft ohne Namen: Erkennen und Handeln
unterscheiden sich nicht wie sicheres Vorgehen und egoistisches
Ansichreißen, sie fallen auch nicht zusammen unter dem Begriff
fachmännischen Tuns, sondern sie stehen zusammen unter dem Begriff des
Wagnisses. Von dem Erkennenden wie dem Handelnden wird das ganze
gewagt, die großen Methoden wie die großen Reiche tragen die Namen
derer, die sie gewagt haben" (107 f.).
Die Frage
nach der
Repräsentanz des Ganzen hatte er schon beantwortet: Hitler steht für
das Ganze, und deshalb sei es unpolitisch, nur eine patriotische
Gesinnung zur Schau zu stellen, auf aktiven "Einsatz" für die
Hitler-Bewegung komme es an.
Auch die "Kulturwerte",
die der
"Gebildete" als seinen "Wert" betrachtet, seien nicht durch Anerkennung
von Werten zustande gekommen, sondern durch aktive Wagnisse.
"Handeln
heißt nicht: sich entscheiden für
... , denn das setzt voraus, daß man
wisse, wofür man sich entscheidet, sondern Handeln heißt: eine Richtung
einschlagen, Partei nehmen, Kraft eines schicksalhaften Auftrags, Kraft
eigenen Rechts,
93 ohne die Möglichkeit
einer Deckung. Handeln heißt: sich einsetzen ohne Sicherheit, nur mit
Gewißheit" (108).
Wir
werden uns mit dieser Handlungstheorie noch beschäftigen müssen. Welche
gefährlichen, ja demagogischen Konsequenzen sie haben kann, führt
Baeumler selbst blauäugig vor. Die Rektorenkonferenz hatte im Hinblick
auf politisch motivierte Ausschreitungen an den Universitäten am 4.
Dezember 1932 folgende Entschließung verfaßt:
"Es
liegt den
deutschen Hochschulen und ihren Rektoren fern, der studierenden Jugend
die Beschäftigung mit den Problemen des politischen Lebens zu
verwehren. Sie erachtet es vielmehr für selbstverständlich, daß Lehrer
und Studenten mit heißem Herzen Anteil nehmen am Geschick des deutschen
Vaterlandes. Dagegen lehnen sie mit dem Nachdruck ihrer
Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Wissenschaft das Hineintragen
der Parteipolitik in die Hochschule grundsätzlich ab".
Dazu
Baeumlers Kommentar: "Die Studenten dürfen sich also mit dem Verstande
und mit dem Herzen mit Politik beschäftigen - aber sie dürfen nicht
Politik treiben" (109).
Das hatten die Rektoren gar
nicht
gesagt, sie wollten nur innerhalb
der Hochschule keine politische
Betätigung. Dieses von Baeumler selbst vorgebrachte Beispiel zeigt
jedenfalls eine Konsequenz seines Handlungsbegriffes: Die
Rechtfertigung derartiger Übergriffe; denn sie waren natürlich nicht
durch Werte gedeckt, erfolgten nicht durch Realisierung von Werten, sie
waren ein "Wagnis", weil die so Handelnden die Folgen nicht klar
voraussehen konnten, die Rektoren hätten ja zum Beispiel, wenn sie auch
etwas "gewagt" hätten, die Rädelsführer von der Universität verbannen
können.
Mit der Vorstellung dieser beiden Reden ist
Baeumlers
politisch-pädagogische Grundposition hinreichend beschrieben: politisch
geht es gegen das parlamentarische System von Weimar und die dieses
tragenden und stützenden liberalen, und humanistischen Ideen,
philosophisch geht es gegen die Tradition des humanistischen
bürgerlichen Idealismus, wobei beides für ihn innerlich zusammengehört.
Etwas vereinfacht läßt sich also sagen: durch seinen männerbündischen
Germanismus ist Baeumler zur Hitlerbewegung gestoßen; seine
Eintrittskarte waren die politische Hofierung der Nazi - Symbole und
seine aktivistische Anthropologie.
94
Immer
erfolgt die
Argumentation so, daß die politische Führung gerechtfertigt und
Baeumlers nationalsozialistische Gesinnung erkennbar wird.
Diese
Tendenz tritt auf der dritten Ebene der im engeren Sinne pädagogischen
Beiträge deutlich zurück.
Bildung, Bildbarkeit und
Schule
Baeumler
hat bis 1945 keine in sich schlüssige, systematische Arbeit über die
NS-Erziehung vorgelegt. Veröffentlicht hat er lediglich Vorträge und
Aufsätze, die sich mit Einzelfragen befassen. Er versuchte, die
nationalsozialistische Erziehung jeweils im Gegensatz zum
individualistischen Liberalismus und der bildungsgeschichtlichen
Tradition zu fundieren, die er vorfand. Zu überwinden sei der Typus des
"Gebildeten", der sich von der Realität des völkischen Lebens
distanziere, sich für über den Parteiungen stehend halte und seine auf
dem Gymnasium und der Universität erworbene "Bildung" als eine Art von
Besitz betrachte. Diesen Typus, der auch bei der
nationalsozialistischen Revolution wie bei allen politischen
Ereignissen abseits gestanden habe und dessen Position auf einem
unrealistischen Menschenbild beruhe, nimmt er immer wieder ins Visier.
Dabei
greift er seine Kontrahenten von der "geisteswissenschaftlichen
Pädagogik" - Litt, Blättner, Nohl, Weinstock - in den ersten Jahren
nach der Machtergreifung polemisch an, und zwar mit dem Vorwurf, sie
würden ihre pädagogische Argumentation dem "neuen Geist" nur anpassen,
tatsächlich jedoch dem traditionellen Bildungsideal verhaftet bleiben.
Diese Polemik verschwindet jedoch etwa ab 1939 und macht einer
zunehmend sachlich werdenden Argumentation Platz.
Im
Unterschied
zu Krieck beschäftigte Baeumler sich mit pragmatischen Fragen der
Pädagogik in dem Bemühen, diesen systematisch auf den Grund zu gehen.
Vor allem galt sein Interesse der Schule, der Lehrerbildung und dem
Sport. Den grundlegenden Sinn der Schule verteidigte er gegen den
schulfeindlichen Impetus der HJ einerseits und gegen das vordergründige
Nützlichkeitsdenken aus Wirtschaftskreisen andererseits. In einem
bemerkenswerten Aufsatz über "Bildung" rechtfertigt er diesen Begriff
als auch für den National-
95 sozialismus
unverzichtbar.
Bemerkenswert ist dieser Beitrag deshalb, weil Baeumler den
Bildungsbegriff der individuellen geistigen Entwicklung der Kinder und
Jugendlichen zuweist, obwohl er sich damit dem Verdacht aussetzt, an
den verpönten liberalistischen Individualismus wieder anzuknüpfen.
"Bildung
... ist etwas, was sich nur im Einzelnen ereignen kann. Der Mensch, der
seine Anlagen und Kräfte entwickelt, ,bildet sich'. Aber dieses
Verbleiben des Vorgangs der Bildung im Subjekt begründet
keineswegs den
Vorwurf des Individualismus gegenüber dem Bildungsvorgang überhaupt ...
. Indem der heranwachsende Mensch geistige Gehalte produzieren und
reproduzieren lernt, bildet er sich, und diese Bildung ist ein
Urvorgang des Gemeinschaftslebens,
obwohl sie sich im Subjekt
vollzieht, und nichts anderes ist als die gesetzmäßige Entfaltung der
Kräfte des Einzelmenschen.
Denn die Gemeinschaft ist darauf angewiesen,
daß die Glieder ihre Anlagen und Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung
bringen, d.h. daß sie sich bilden" (Baeumler 1942, 112).
Der
Weg der Bildung brauche seine Zeit, und die müsse dem Nachwuchs auch
gewährt werden.
"Der
Vorgang der Bildung erstreckt sich über eine Reihe von Jahren und ist
als Ganzes unsichtbar. Das Kind, das den Weg der Bildung begeht, merkt
nichts davon. Die Eltern nehmen die eigentliche Entwicklung meist nicht
wahr. Die Öffentlichkeit empfängt den durch die Schule Gebildeten wie
ein selbstverständliches Geschenk und äußert sich gewöhnlich nur dann,
wenn sie etwas vermißt" (116).
An anderer Stelle
rechtfertigt er
die Schule gegen den Vorwurf, sie sei zu weltfremd, sie müsse näher an
das Leben herangeführt werden.
"Es war einmal
möglich, eine
Schule zu konstruieren, die dem Leben völlig entrückt war. Das ist
heute nicht mehr die Gefahr. Die Schule, die vom Leben nichts weiß, ist
überwunden" (120).
"Der Weg zur Leistung" - so der
Titel des
Aufsatzes - könne nicht immer unmittelbar, etwa im Berufsleben selbst
angestrebt werden, er bedürfe manchmal vielmehr auch des Umwegs. "Die
Schule ist der Umweg, den das Leben selber erfunden hat, um zu
bestimmten Leistungen zu gelangen. Um 96 sein Ziel
zu
erreichen, setzt das Leben sich scheinbar in Widerspruch zu sich
selbst; es schafft die Schule, die ihrem Aufbau nach nicht Leben ist,
und gerade damit dem Leben dient" (119).
Offensichtlich
erfolgt
Baeumlers Parteinahme für die allgemeinbildende Schule auf dem
Hintergrund jener massiven Schulkritik, wie sie ab 1936 aus Kreisen der
Wirtschaft formuliert wurde; die Schulleistungen insbesondere der
Volksschulabgänger seien erheblich zurückgegangen. Dem nun drohenden
vordergründigen Praktizismus widersprach Baeumler.
"Die
allgemeine Schulpflicht der Jugendlichen bis zum 14. Lebensjahre ist
einer der größten Siege, die vom Leben über die bloße Praxis errungen
worden sind. Naturgemäß kann es immer nur einen Ausgleich zwischen der
Schule und dem Leben geben, da beide
im Recht sind. Unfruchtbar wird
die Spannung zwischen ihnen erst dann, wenn man das Recht der Schule
unverständig bestreitet. Vor allem da, wo durch die Sache eine längere
Ausbildungszeit gefordert ist, pflegt ein gewisser
Widerspruch gegen
jede der Schule gewidmete und damit der Praxis entzogene Zeit
einzusetzen ... . Was man in einer guten Schule lernt, ist nicht ein
bestimmtes Handeln, sondern das Handelnkönnen ... sie darf nicht
anlernend und abrichtend, sondern sie muß bildend sein" (122).
Im
Unterschied zu Krieck hält Baeumler nichts von einer universitären
Ausbildung der Volksschullehrer. Er verteidigte und rechtfertigte die
im Krieg beschlossene Neuordnung der Lehrerbildung, die praktisch auf
das Niveau der Seminar-Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg zurückfiel,
mit dem Unterschied, daß nun die Lagererziehung einen breiten Raum
einnahm. Im übrigen kommt er, wenn er sich über die Aufgaben und die
Stellung des Lehrers äußert, über allgemeine Bemerkungen nicht hinaus.
Im Unterschied zu früher unterstehe die Schule nun dem Vorrang der
Politik. Allerdings bedeutet dies "nicht eine Unterwerfung
schöpferischer Kräfte unter tote Vorschriften, sondern die Einordnung
der Erziehung in die Volksordnung. Politik ist das auf die Herstellung
der Volksordnung gerichtete Handeln des Führers, an dem jeder einzelne
in Treue gegen den Führer an seiner Stelle aus eigener Verantwortung
teilnimmt. Nach der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus ist
der Lehrer also
97
nicht ein
bloßer Exekutor von
Anordnungen politischer Organe, sondern er ist derjenige, der den
politischen Auftrag, den die Schule vom Führer erhalten hat, in eigener
Verantwortung durchführt. "Hat er den politischen Auftrag verstanden
und übernommen, so ist er frei"
(96 f.).
Entweder soll das
heißen, daß - wie heute auch - dem Lehrer durch seinen pädagogischen
Auftrag, sozusagen von seiner Sache her, ein Handlungsspielraum
zugestanden wird, dann ist "der Auftrag des Führers" nur eine
ideologische Verklärung. Oder aber dieser Auftrag, der ja nicht
präzisiert wird, sondern in Konfliktfällen der Interpretation bedarf,
ist ein jederzeit benutzbarer Maßstab zur Disziplinierung - nicht durch
Hitler selbst, sondern durch diejenigen, die die Macht haben, seinen
"Auftrag" zu definieren.
Baeumler war zwar mit
ähnlichen
Begründungen wie Krieck Antisemit, aber kein Rassist. Den Begriff
"Rasse" benutzte er selten und dann lediglich im Sinne einer
anthropologischen Grundgegebenheit. In einem Aufsatz mit dem Titel
"Rasse als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft" geht es im Kern um
die Frage der Bildbarkeit des Menschen. Diese sei nicht unbeschränkt,
sondern werde durch den "Charakter" des Menschen bestimmt. Der
Charakter sei aber anlagebedingt und nicht einfach aus Umwelteinflüssen
erklärbar. Er gebe die Grundrichtung, aber eben auch die Grenzen der
menschlichen Bildbarkeit an.
"Das Rassedenken macht
die meist
übersehene, aber doch wohl unbestreitbare Voraussetzung, daß der Mensch
zutiefst Charakter ist, und daß zuletzt auch die Leistungen der
Intelligenz vom Charakter abhängig sind. Gerade die Tiefenschichten der
menschlichen Persönlichkeit aber, die Schichten, in denen die
Entscheidungen des menschlichen Daseins wurzeln und die die Lebenskurve
des Einzelnen zu samt seiner Leistung bestimmen, sind von der Umwelt
ihrer Grundrichtung nach unabhängig" (Baeumler 1942, 83).
Gleichwohl
bedürfe die durch den Charakter vorgegebene Grundrichtung der
Entfaltung durch Erziehung und Bildung. "Nicht von selbst gelangt in
der menschlichen Sphäre das Lebendige zur vollkommenen Gestalt. Es
bedarf der Erziehung in der Gemeinschaft. Nur durch die bildende
Einwirkung der anderen gelangt die Seele zu sich selbst, wird sie das,
was sie ist. Am Anfang steht die angeborene, aber noch
98
unbestimmte
Richtung des Charakters, am Ende die klare bestimmte Form, in der der
Charakter sich erfüllt. Wir nennen diese Form den Typus, zu dem der
Einzelne durch die Gemeinschaft erzogen wird" (85).
Auch
diese Argumentation richtet sich wieder gegen den "lntellektualismus"
des traditionellen Bildungsdenkens:
"Der
Intellektualismus nimmt an: 1. Daß der Mensch als reine, d.h.
unbestimmte Anlage (tabula rasa) zur Welt komme, 2. daß die Umwelt die
Macht habe, auf diese Tafel zu schreiben, was sie wolle, 3. daß das
Organ, mit dem der Mensch sich auf die Welt beziehe, der Intellekt sei,
4. daß das Handeln des Menschen durch den Intellekt geleitet werde und
daher durch Beeinflussung des Intellekts entscheidend zu beeinflussen
sei" (81 f.).
Aus diesen Prämissen habe die
Erziehungswissenschaft den Begriff der unbeschränkten Bildsamkeit
abgeleitet. Das jedoch sei anthropologisch unrealistisch, resultierend
aus der Erfahrung, daß in der Tat der Intellekt des Menschen von allen
seinen Fähigkeiten am ehesten durch die Umwelt - also durch Lernen - zu
beeinflussen sei. Was Baeumler hier Charakter nennt als Zusammenfassung
der erblich vorgeprägten Anlagen, hat für ihn auch eine rassische
Fundierung. Aber er leitet daraus keine rassistische pädagogische
Theorie ab. Im Vergleich zu den damals zu hörenden biologistischen
Tönen wirkt sein Artikel eher distanziert.
Baeumler
verlor nach
dem Kriege seine Professur und wurde drei Jahre in den Lagern
Hammelburg und Ludwigsburg interniert. In dieser Zeit setzt er sich
intensiv mit dem NS-Regime und vor allem mit der Person Hitlers
auseinander, wie aus jüngst veröffentlichten Notizen hervorgeht
(Baeumler 1991). Er klagt Hitler der "Untreue gegen das
deutsche Volk"
an (165); er sei "der rasende Kleinbürger, der alles niedertritt, um
hinauf' zu gelangen" (168). Sein vielzitierter "Instinkt" "geht immer
nur einige Monate, höchstens drei Jahre in die Zukunft. Das ist das
Wesen des
Instinkts: die Enge.
Es gibt keinen Instinkt für Abläufe von
zehn bis zwanzig Jahren. Das ist nur dem Verstand sichtbar" (176). Er
kenne nur Schwachsein und Starksein: "Er fordert zuviel, wenn er stark
ist, er ist gelähmt, wenn er schwach ist. Er handelt nicht
zusammenhängend" (178). Bemerkenswert ist, daß Baeumler sich über
Hitler in der Gegenwartsform äußert, als ob er
99 noch
lebte.
In einer Notiz mit der Überschrift "Warum ich Hitlers Wollen
mißverstehen konnte", heißt es, daß man in Krisenzeiten Gefahr laufe,
"denen zu verfallen, die alles angreifen ... man übersieht ganz, daß es
auch eine grundsätzliche Verneinung gibt ... da die Verneinung in
diesem Falle objektiv, historisch berechtigt
ist, nimmt man sie als
positiven Akt, während sie nur
verneinend ist. Man schließt von der
objektiven Berechtigung auf die Berechtigung dessen, der die Verneinung
ausspricht.
Was mich an Hitler überzeugte, war, daß
er nirgends
stehenblieb, mit nichts paktierte. Das, meinte ich, konnte er nur, weil
er wirklich etwas neues, positives sah, zu den Quellen zurückging. Daß
er überhaupt nichts
sah, konnte ich mir nicht vorstellen. Seine
Unbestimmtheit in Bezug auf die Zukunft hielt ich für politische
Klugheit" (197).
In einer Spruchkammerverhandlung
wurde Baeumler
zunächst in die Kategorie II der "Belasteten" eingestuft, ein Jahr
später aber von einem nun mit Juristen besetzten Gericht
freigesprochen. Schwerer wog, daß er dennoch als hoher ehemaliger
Parteifunktionär angesehen wurde, als Prototyp des deutschen
Wissenschaftlers, der sich der Hitler-Bewegung verschrieben hatte,
obwohl ihm die erste Spruchkammer immerhin persönliche Integrität
bescheinigt hatte. Während die meisten Hochschullehrer, die sich mehr
oder weniger aktiv in der Hitlerbewegung betätigt hatten, bald wieder
in Amt und Würden waren, blieb Baeumler isoliert. Nun rächte sich
offenbar, daß er keiner "Seilschaft" angehörte. Seine philosophische
Laufbahn war zerstört. Er konnte seine Bachofen-Einleitung zwar noch
einmal 1965 unter dem Titel "Das mythische Weltalter'' veröffentlichen,
aber die Nietzsche-Taschenbuchausgabe erregte Ärgernis, weil sie immer
noch mit seinem Nachwort versehen war. Sonst ist unter seinem Namen
offenbar nichts mehr erschienen. Sogar Manfred Schröter, mit dem er in
den 20er Jahren das "Handbuch der Philosophie" herausgegeben hatte,
hielt seine Entlastung durch die Spruchkammer für nicht gerechtfertigt
und schrieb ihm:
"Du giltst in der Welt einmal als
geistiger
Befürworter und Schrittmacher des Nationalsozialismus - mag er später
gegenüber Deinen Anfangshoffnungen noch so entartet sein - am
untadeligen Weiß Deines Philosophenmantels haftet
100
nun
einmal der Hakenkreuzfleck als Radikalböses... "(M. Baeumler, 202).
Damals
konnte die deutsche Öffentlichkeit noch nicht wissen, daß das "Amt
Rosenberg" ziemlich bedeutungslos war im Machtgefüge der
rivalisierenden Parteigrößen, aber es bot Baeumler eine Nische, in der
er verhältnismäßig geschützt arbeiten konnte. Seine Kontakte zur Partei
waren begrenzt auf seine Beziehung zu Rosenberg, im übrigen blieb er in
der Partei ein Außenseiter, was ihm seine Gauleitung ja auch als Mangel
an Aktivität und Einsatz vorgeworfen hatte.
Wie
viele
konservativ orientierte Intellektuelle befand er sich angesichts des
rapiden kulturellen Wandels am Anfang der 30er Jahre in einer
Identitätskrise, auf der Suche nach sozialer und kultureller
Zugehörigkeit. Um diese Krise zu lösen, montierte er sich aus dem
damals vorhandenen konservativen ideologischen Repertoire sowie aus
seinen Studien über die Romantik und Nietzsche eine Weltanschauung
zusammen, die die für seine Identität so wichtigen Fragen beantworten
konnte: Was heißt es, ein Deutscher zu sein? Und: Was heißt es, ein
Mann zu sein? Die Antwort war eben jener männerbündische Germanismus.
In
Hitler sah er den Repräsentanten einer Volksbewegung, in den Märzwahlen
von 1933 eine Volksabstimmung für die Hitlerbewegung. Er setzte auf
diese Bewegung, darauf, daß sie die politischen, gesellschaftlichen und
kulturellen Probleme lösen werde, wie er sie empfand. Im Rahmen dieser
Bewegung wollte er sich auf seinem Gebiet engagieren. Hitler selbst hat
er in seinen Schriften nie zitiert, aber er war so naiv, dessen
Führungsposition als gegeben hinzunehmen, ohne sich z.B. über die Frage
der Machtkontrolle Gedanken zu machen. In einem Brief an Manfred
Schröter schrieb er 1950:
"Ich verleugne es nicht:
Ich war
Nationalsozialist, ich habe, heißt das, an die Zukunft Deutschlands auf
dem Wege, den Friedrich der Große und Bismarck eingeschlagen haben,
geglaubt, ich habe die Republik von Weimar verachtet und gehaßt, ich
habe eine große Zukunft unseres Volkes als selbständige politische
Macht gegen alle Möglichkeit herbeigesehnt ... ich habe auf das Wunder
der Wiedergeburt des Reiches gehofft und daher schließlich nach langem
Zuwarten die Massenbewegung Hitlers für fähig gehalten, den
101 deutschen
Partikularismus zu überwinden. Aber nie habe ich aufgehört, in der mir
wesensmäßig fremden und eigentlich immer unbekannt gebliebenen
Massenorganisation etwas anderes als ein Erstes, Vorläufiges zu sehen,
einen groben Keil auf den groben Klotz der schwarzroten Republik" (M.
Baeumler, 210).
Vier Jahre später schreibt er,
ebenfalls in einem Brief:
"Meine
Erwartung war, daß die Partei sich regenerieren und schon im Interesse
ihrer Erhaltung den Staat so gut als möglich verwalten würde. Ich
glaubte damals an 'Institutionen'. Daß man im 20. Jahrhundert mitten in
Europa eine politische Herrschaft nur auf Terror gründen könne, lag
außerhalb meiner Vorstellungswelt. So etwas kam doch nur bei Tacitus
vor!" (M. Baeumler, 229).
In dem schon erwähnten
Brief an Manfred Schröter aus dem Jahre 1950 distanzierte er sich
ausdrücklich von seinem "Germanismus".
,Alles,
was ich jemals für Hitler und sein System gesagt habe, erkläre ich für
Irrtum und Wahn. Wenn ich etwas gegen die Kirchen und gegen die Juden
geschrieben habe, so ist das stets im geschichtlichen Zusammenhang
geschehen, es war tendenziöse Polemik, die sich aus meiner Auffassung
des ,Reiches' ergab. Es war die negative Kehrseite meines Germanismus.
Ich erkläre diesen Germanismus für einen verhängnisvollen Irrtum, und
alles, was ich daraus gefolgert habe, für falsch. Was ich über die
Kirchen, über die Juden, über den Liberalismus geschrieben habe, ist
Ausdruck einer Übersteigerung der preußisch-deutschen
Geschichtsauffassung, einer unbegreiflichen Verdunkelung des
Verstandes, einer Verirrung des Geistes. Es ist keine Entschuldigung
für mich, daß ich diesen Irrtum mit den hervorragendsten Vertretern der
deutsch-nationalen Geschichtsschreibung teile. Mein Verstand hätte
ausgereicht, die Abgründe rechts und links zu erkennen" (M. Baeumler,
212).
Baeumler starb am 19.3.1968 in Eningen bei
Reutlingen.
102
Politisch-Pädagogisches
Resümee: Die anthropologische Sackgasse
Zweifellos
hat Baeumler in ganz anderem Maße als Krieck die Hitler-Bewegung und
ihre politische Führung ideologisch gerechtfertigt, und seine ständige
Aufforderung, nicht nur die richtige Gesinnung, sondern auch "Einsatz"
für diese Bewegung zu zeigen, grenzte schon an Nötigung. Inwieweit dies
aus Opportunismus geschah oder aus politischer Naivität, mag
dahingestellt bleiben.
Im Unterschied zu Krieck war
er ein
introvertierter Einzelgänger. Während von Krieck eine charismatische
Ausstrahlung auf nicht wenige junge Leute ausging, was wohl vor allem
seiner persönlichen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben war, wirkte Baeumler
abweisend und kontaktarm. Von jener rauschhaften Szene der
Bücherverbrennung, wo er ineins mit den studentischen Massen und diese
führend auftrat, ist später nicht viel geblieben. Das kann nicht nur
daran gelegen haben, daß er relativ hohe Leistungsanforderungen stellte
und wissenschaftliche Maßstäbe aufrechtzuerhalten suchte. Vor der
Spruchkammer verteidigte er sich später unter anderem damit, daß er
nicht mehr als dreißig bis sechzig Hörer gehabt habe.
"Hätte
ich
billige Weltanschauung für HJ und SS vorgetragen, dann wären es in
jedem Semester dreihundert gewesen ... . Hätte ich
'nationalsozialistische Wissenschaft' vorgetragen, dann wären im
Semester zwanzig bis dreißig Doktorarbeiten fällig gewesen, da jeder ja
nur das hätte schreiben brauchen, was er schon wußte. Gerade derartigen
Tendenzen bin ich von Anfang an mit solcher Energie entgegengetreten,
daß ich nach einigen Jahren völlige Ruhe hatte. Im Laufe von zwölf
Jahren wurden bei mir zwölf Doktorarbeiten gemacht" (M. Baeumler, 199
f.).
Beim NS-Studentenbund und beim Dozentenbund,
die die
Universität weltanschaulich pädagogisieren wollten, war er unbeliebt.
In einem Aufsatz hatte er die wissenschaftliche Leistung Einsteins
positiv erwähnt, der als Jude damals nicht zitierfähig war, dafür
wurde er in einem Brief an Rosenberg als "Gesinnungslump" bezeichnet.
In einem Gutachten plädierte er zugunsten der anthroposophischen
Pädagogik ("Waldorf-Schulen"), was ihm d en Zorn Bormanns ein-
103 brachte.
Bei allem Gerede von "Gemeinschaft" blieb sein Denken
individualistisch. Die sozialen Dimensionen der menschlichen Existenz -
das Hauptthema Kriecks - interessierten ihn kaum bzw. nur im Hinblick
auf die irrationalen Aspekte des Symbolischen.
Während
Krieck
sich immerhin bemühte, "Gemeinschaft" in einem völkischen Sinne zu
präzisieren, blieb dieser Begriff bei Baeumler kaum mehr als eine
Phrase. Das wird besonders deutlich in dem erwähnten Aufsatz über den
"Totalen Krieg", wo die "totale Gemeinschaft" zu wenig mehr taugt als
zur Denunziation der "Meckerer".
Andererseits drängt
sich wie
auch bei Krieck der Eindruck auf, Baeumler habe den Spielraum der
NS-Weltanschauung nutzen wollen, um seine eigenen Vorstellungen nicht
nur zum Ausdruck, sondern auch zur offiziellen Anerkennung zu bringen.
So ließen sich etwa einige der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge
verstehen wie der Umgang mit den Begriffen "Rasse" und "Bildung". Aber
anders als Krieck hat Baeumler keine Kontroversen innerhalb des
NS-Regimes angezettelt, so daß nicht festzustellen ist, welche seiner
Vorstellungen er nicht
hat realisieren können. Abgesehen davon
verdienen folgende Aspekte seiner Argumentation eine genauere
Erörterung.
Symbol und Aufklärung
Baeumler
war
beeindruckt von der symbolischen Repräsentanz, die die NS-Bewegung
inszenierte und die ihr einen steigenden Zulauf einbrachte. Er
versuchte, sich dieses Phänomen zu erklären und hielt es für eine noch
nicht in Worte zu fassende Vorwegnahme einer zukunftsträchtigen
völkisch-nationalen Ganzheit. Deuten wollte er diese Symbolik -so hatte
er versprochen - so, daß die richtigen Worte und Erklärungen gefunden
werden konnten, damit daraus eine neue nationale Kultur erwachse. Es
müsse doch gewichtige Gründe dafür geben, daß sich um diese Symbole
freiwillig eine Volksbewegung sammele.
In der Tat
hat Baeumler
damit ein Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung durchaus allgemein ist
und über das Beispiel der NS-Bewegung hinausreicht.
104
Symbole
vermögen offenbar, Menschen aneinander zu binden. Auch nach unseren
gegenwärtigen Erfahrungen gibt es ein tiefes menschliches Bedürfnis,
sich in einem vorrationalen Sinne eins zu fühlen und zu erleben mit
einer menschlichen Ganzheit. Die Rituale der Kirchen haben
offensichtlich eine solche Funktion, wie jeder Gläubige bestätigen
wird. Aber es gibt auch weltliche Beispiele in Fülle, wenn man etwa an
die Rolle des englischen Königshauses als symbolischer Repräsentanz der
ganzen Nation oder an die militaristische Symbolik des früheren Preußen
denkt. Symbole spielen auch beim Film und bei der Werbung eine
bedeutende Rolle. Symbole können tabuisiert werden: so ist es verboten,
ehemalige Nazi-Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen. Um sich zu
einem Symbol zu bekennen, bedarf es keiner besonderen Verheißung oder
einer besonderen "Reife": Groß und Klein, Alt und Jung, Mann und Frau,
Gebildete und weniger Gebildete sind dafür ansprechbar. Es würde sich
also lohnen, diesem Bedürfnis nach emotional fundiertem vorrationalem
Einssein bzw. Einswerden und seinen Formen der Befriedigung in unserem
Alltag einmal nachzugehen, und vielleicht würde sich herausstellen, daß
unsere Gesellschaft zumal nach der Zerschlagung des deutschen
Nationalbewußtseins in diesem Punkte einen vielleicht sogar
gefährlichen Mangel aufweist.
Symbole sind oft
keineswegs nur
relativ äußerliche soziale Signale, wie etwa die Vereinsfahnen auf
Fußballplätzen. Nationale Symbole, z.B. National-Flaggen,
repräsentieren ein ganzes Volk und werden auch von Außenstehenden
respektiert und geachtet.
Andererseits kann man
durch Verachtung
oder Vernichtung von Symbolen auch Feindschaft signalisieren. So werden
bei Demonstrationen gelegentlich gegnerische Symbole verbrannt.
Möglicherweise hat Baeumler die "Bücherverbrennung" 1933 auch als eine
symbolische Handlung verstanden, aus der reale Handlungen z.B. gegen
die Autoren nicht unbedingt folgen müssen, und ohne den kriminellen
Gesamtkontext des NS-Regimes wäre die Bücherverbrennung uns heute
vielleicht nur als eine politische Albernheit erschienen.
Die
sozio-emotionale Bindung an Symbole kann also von erheblicher
politischer Bedeutung sein, und das zeigte sich
105
im
negativen Sinne deutlich in der Weimarer Zeit. Es gelang der Republik
nicht, sich symbolisch in den Menschen festzusetzen, im Gegenteil, das
Bedürfnis danach verlagerte sich auf Teilgruppen der Gesellschaft,
nicht zuletzt auf politische Parteien und Verbände, so daß die innere
Auseinandersetzung am Ende der Republik auch zu einem Bürgerkrieg der
Symbole wurde (Rote Fahne gegen Hakenkreuzfahne).
Auf
diesem
Hintergrund wird verständlich, daß konservative Intellektuelle wie
Baeumler fasziniert waren von der scheinbar unaufhaltsamen
Hitler-Bewegung mit ihrer augenscheinlich so kraftvollen symbolischen
Repräsentanz.
Politisch
gesehen war jedoch Baeumlers
Rechtfertigung der Hitler-Bewegung von ihren Symbolen her, die er schon
in seiner Antrittsvorlesung vortrug, ein verhängnisvoller Irrtum. Zum
einen erhob er damit die von Goebbels und anderen zynisch inszenierten
Massenrituale in den Rang einer philosophischen Legitimation. Zum
anderen rechtfertigte er damit nicht nur politischen Irrationalismus,
sondern erklärte ihn auch noch für unvermeidlich. So konnten sich die
Machthaber einer rationalen Begründung ihres Handelns wie
selbstverständlich entziehen. Baeumler hatte zwar in seiner
Antrittsvorlesung seine Aufgabe u.a. darin gesehen, durch das Wort die
Symbole zu erklären und damit auch aufzuklären, aber davon war später
nicht mehr die Rede. So nahm sich Baeumler selbst - wie auch seinen
Lesern und Hörern -jede Möglichkeit zu einer wenn auch nur
innerparteilichen Kritik, wie sie ja bis zu einem gewissen Grade - wie
Krieck gezeigt hatte - durchaus möglich war. Er konnte z.B nicht mehr
die Grenze zwischen gläubiger Anteilnahme und skrupelloser
Instrumentalisierung erkennen, geschweige denn über sie aufklären.
Dieser
politische Irrtum darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß
Baeumler mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Symbole eine damals wie
heute vernachlässigte Seite der menschlichen Existenz ansprach, ein
Bedürfnis, das gefährlich werden kann, wenn es zur politischen Gewalt
wird; fraglich bleibt nämlich, ob man Symbole, die Menschen etwas
bedeuten, wirklich aufklären kann, ohne daß sie dabei ihre
eigentümliche Kraft verlieren. Vielleicht sind sie gerade wegen ihrer
dumpfen Unaufgeklärtheit wirksam. 106
Handeln
und Werte
Baeumlers
anthropologische These war, daß der Mensch ursprünglich ein handelndes
Wesen sei und daß sein Handeln nicht durch einen Wert gedeckt werde,
nicht der Realisierung von Werten diene, sondern gleichsam einen Schuß
ins Blaue darstelle. Diese These formulierte er gegen den Typus des
"theoretischen" Menschen, der sich einbilde, außerhalb des Geschehens
zu stehen, der sich ab und zu in das Getümmel der Wirklichkeit begebe,
um darin wertgebunden einzugreifen, und sich anschließend wieder auf
seine Beobachterposition außerhalb der schnöden Realität zurückziehe.
Baeumlers
Kritik richtete sich also auf einen bestimmten Begriff der "Werte" In
der sogenannten "Wertphilosophie" war es üblich, nach zeitlosen, immer
gültigen Werten z.B. des "Guten", "Schönen" oder "Wahren" zu fragen,
die Ergebnisse dann der Pädagogik zu offerieren mit der Erwartung, daß
diese sie dann zum Maßstab der Erziehung machen werde.
Die
"Werte" wurden in diesem Verständnis als über der empirischen
Wirklichkeit angesiedelte ideelle Mächte angesehen, die für das Denken
und Handeln des Menschen normative Gültigkeit haben, an die er
emotional gebunden sei bzw. durch Erziehung gebunden werden müsse.
Diesem abstrakten Wertbegriff, der bar jeder sozialen Differenzierung
und historischen Relativierung präsentiert wurde, war Baeumlers Kritik
durchaus angemessen.
Normalerweise aber
wollen wir, wenn wir
handeln, durchaus Werte realisieren, - welche immer das sein mögen.
Unser Handeln - soll das heißen - beruht, auch wenn wir uns dessen
nicht immer bewußt sind, auf einer normativen Fundierung, die
einerseits seiner Begründung, andererseits seiner Rechtfertigung dient;
ohne eine solche Fundierung könnten wir über die Ziele unseres Handelns
nicht mit anderen diskutieren und sie dafür zu gewinnen versuchen. Das
ist vielmehr nur möglich, weil die dem Handeln zugrundeliegenden Werte
eine kollektive Dimension haben, so daß andere sie ebenfalls
akzeptieren können. Diesen Zusammenhang von Handeln und Wert kann man
nur leugnen, wenn der Begriff des Wertes abstrakt gefaßt wird, also
losgelöst von den tatsächlichen sozialen Interaktionen.
107
Richtig
ist allerdings, daß jedem sozialen Handeln - und darum geht es ja hier
im Unterschied zum technischen Handeln - ein mehr oder weniger großes
Moment der Unsicherheit im Hinblick auf das Resultat innewohnt. Das
gilt von der Liebe bis zur Politik. Soziales Handeln mobilisiert
nämlich das Handeln anderer, die mit- oder gegenhandeln können. Diese
Unsicherheit wird aber andererseits auch begrenzt, und zwar nicht nur
durch die Regeln und Erwartungen der Gemeinschaften - wie Krieck meinte
-, sondern vor allem auch durch Institutionen, die in Baeumlers Denken
ebenso wenig einen Platz fanden wie bei Krieck.
Wenn
wir
handeln, wollen wir also im allgemeinen etwas verwirklichen, was wir
für wertvoll halten. Eine andere Frage ist allerdings, in welchem Maße
uns das auch gelingt. Weil wir dabei das Handeln anderer mobilisieren,
kann es sein, daß wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir
ursprünglich wollten; oder wir verlieren im Spiel von Handeln und
Gegenhandeln unser eigentliches Ziel aus den Augen; oder wir können nur
Teilerfolge erringen. Die Politik liefert uns täglich derartige
Beispiele. Insofern gibt es tatsächlich keine Garantie dafür, daß das
Ergebnis unseres Handelns am Ende durch den Wert gedeckt ist, dem wir
ursprünglich folgen wollten.
Zur Ehrenrettung der
von Baeumler
so spöttisch attackierten "Gebildeten" muß jedoch auch gesagt werden:
So weltfremd ihr politisches und soziales Bewußtsein auch gewesen sein
mag, so konnte es doch auch eine normativ fundierte Distanz zum
Aktivismus der Nazi-Bewegung begründen, und die "Werte", um die sich
ihre Bildung gruppierte, waren für nicht wenige Menschen ein normatives
Potential, aus dem sie wenn nicht Widerstand, so doch eine Art von
innerem Vorbehalt gewinnen konnten.
Mit seinem
Handlungsbegriff
erklärte Baeumler also keineswegs das normale bürgerliche, auch
politische Handeln im Rahmen von Institutionen und allgemeinen oder
besonderen sozialen Erwartungen. Vielmehr lieferte er eine politische
Rechtfertigung für die Eigentümlichkeiten des politischen Handelns der
Nazis - jedenfalls ihrer höheren Führer; denn die schalteten
nicht nur
die Kontroll-Institutionen wie Parlament und unabhängige Rechtsprechung
aus, sie überlagerten auch alle anderen Institutionen durch
Parteikompetenzen und unterhöhlten somit deren handlungsorientie- 108
rende
Funktion. Auf diese Weise entstand ein Kampffeld für rivalisierende
Führer, das letztlich nur noch eine Begrenzung kannte: ob Hitler es
erlaubte oder nicht.
Für "normales" bürgerliches
Handeln, also
auch für politisches Handeln, gilt jedenfalls in den westlichen
Demokratien, daß versucht wird, die Folgen möglichst vorauszusehen, zu
antizipieren. Das hängt damit zusammen, daß in modernen Demokratien das
Wohl der Bürger und gerade auch die von Baeumler so verhöhnte
wirtschaftliche Sekurität und Prosperität ein zentraler Wert dieses
Handelns sind. Wie schon Hitler, so orientierte sich auch Baeumler mit
seinem Handlungsbegriff an Ausnahmesituationen, die es auch in der
gegenwärtigen Politik geben kann. Ein gutes Beispiel ist der Beitritt
der DDR zur alten BRD; das war tatsächlich ein in seinen Folgen schwer
zu kalkulierendes "Wagnis" mit noch ungewissem Ausgang. Aber auch in
diesem Falle ging es ganz offensichtlich um die Realisierung von
Werten. Baeumlers Begriff des politischen Handelns war orientiert am
Beispiel des letztlich einsam entscheidenden Führers, der dabei keiner
parlamentarischen oder sonstigen Kontrolle unterliegt, der nur durch
massives Gegenhandeln zu stoppen ist - so wie man sich das bei einem
germanischen Heerführer vorstellen mag. In einem funktionierenden
parlamentarischen System sind dem politischen Handeln jedoch vielfache
institutionell-rechtliche Grenzen gesetzt. Wenn allerdings solche
Regeln nicht mehr funktionieren, wie am Ende der Weimarer Zeit, und
insofern eine revolutionäre Situation entsteht, wird der politische
Handlungshorizont offen und Macht steht gegen Macht. Dennoch bleibt
eine Handlungstheorie, die von solchen Grenzssituationen ihren Ausgang
nimmt, für den Normalfall unrealistisch.
Auch damals
hatten
lediglich Hitler und schon sehr viel weniger die anderen Parteigrößen
einen solchen institutionell entgrenzten Handlungsspielraum zur
Verfügung; die "Normalbürger", die ihrer Arbeit nachgingen, wären in
erhebliche Schwierigkeiten geraten, wenn sie sich diese
Handlungstheorie ebenfalls zu eigen gemacht hätten. Dann hätten sie
etwa den nach ganz anderen Handlungsregeln organisierten
Industriebetrieb ins Chaos gestürzt. Zweifellos hat Baeumler mit seiner
Handlungstheorie zunächst einmal das "Ausnahme-Handeln" der Naziführer
- vor allem Hitlers - gerechtfertigt - ob das nun Absicht war oder
nicht.
109
Ein anderer Aspekt
dieser Handlungstheorie ist
nicht minder problematisch. Baeumler wies zu Recht darauf hin, daß
menschliches Handeln irrationale Elemente enthalte, nicht voll der
Vernunft unterworfen sei. Der Mensch denke nicht irgendetwas sorgfältig
zu Ende, um dann dementsprechend zu handeln, vielmehr spielten dabei
Spontaneität und Emotionalität eine große Rolle.
Das
ist im
Prinzip richtig. Gleichwohl ist diese Einsicht einseitig, weil nicht
die Verantwortung, sondern nur der Erfolg zum Maßstab des Handelns
wird. Wenn es auch zutrifft, daß der Mensch als handelndes, tätiges
Wesen nicht nur seiner Vernunft folgt, so gilt andererseits doch auch,
daß wir nur durch den Einsatz unserer Vernunft, durch Denken und
Nachdenken unser Handeln zu steuern und vor allem in moralischen und
rechtlichen Grenzen zu halten vermögen. Sonst ist blinder Aktionismus
das Ergebnis, und in Baeumlers Begriff des "Einsatzes", bei dem nicht
viel nach Sinn, Zweck und Ziel gefragt wird, kommt eine solche Tendenz
auch zum Ausdruck.
Im Blick steht nur die "Richtung"
des
Handelns, nicht ein bestimmtes Ziel. Insofern kommt Baeumler Krieck
wieder nahe: Baeumler erwartete die Festlegung der Handlungsziele von
der politischen Führung, Krieck vom Fortschreiten der völkischen
Revolution.
Gleichwohl soll nicht verkannt werden,
daß Baeumler
mit seinem anthropologischen Handlungsansatz - der Mensch sei ein
ursprünglich handelndes Wesen - der Pädagogik neue, realistische
Perspektiven eröffnet hat, die er allerdings selbst nicht weiter
verfolgte. Nötig wäre etwa gewesen, diesen Ansatz zu differenzieren im
Hinblick auf die jeweiligen sozialen Orte - Schule, Jugendarbeit,
Betrieb usw. -, wobei die Schule sich im besonderen Maße angeboten
hätte, weil Baeumler über sie und über die Stellung der Lehrer mehrmals
geschrieben hat. So wie Krieck versäumt hat, an seinem soziologischen
Ansatz weiterzuarbeiten, so verfolgte auch Baeumler das
handlungsorientierte Konzept nicht weiter. Ein Grund dafür mag sein,
daß er nicht über angemessen differenzierte Vorstellungen über
Institutionen und über soziale Strukturen verfügte, was wiederum daraus
resultierte, daß er sich auf die Tatsache der modernen
gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gar nicht erst einließ, weil er
diese ja für
110
ein Produkt
"westlicher Zivilisation"
und insofern für "undeutsch" hielt. Gelungene Sozialität konnte er sich
nur als unmittelbar personales
System vorstellen, wie es im
Führer-Gefolgschafts-Modell und im Verbande der "Mannschaft" seinen
Ausdruck finden sollte. Daß in modernen Gesellschaften die Menschen in
erster Linie Funktions- und Rollenträger sind, also im guten Sinne des
Wortes Funktionäre", wollte er nicht einsehen.
Das
hatte Folgen
für die Verantwortung des Handelns. Soziales Handeln muß vor anderen
gerechtfertigt werden können, und dafür muß es Maßstäbe, Regeln und
Verfahrensweisen geben, wie sie etwa im parlamentarischen System
vorgesehen sind. "Verantwortung" ist in Baeumlers Konzept nicht
vorgesehen, weil sie gar keinen institutionellen Ort hätte. Die
Verantwortung übernimmt der Führer, dem unterstellt wird, daß er seine
"Treuepflicht" gegenüber den Geführten wahrnimmt - was Hitler zur
späteren Überraschung Baeumlers eben nicht getan hat.
In
den Notizen aus der Internierungszeit gesteht Baeumler diesen "Irrtum"
ein:
"Ich
habe das Geld
als die verächtlichste Form der Macht angesehen. Das ist
abstrakt. Ich habe den Personalismus in seiner idealen Gestalt gegen
die Geldherrschaft in ihrer schlimmsten Gestalt gesetzt. Aber die
personale Herrschaft hat Möglichkeiten des Absinkens, die noch
grauenhafter sind als die der Geldherrschaft" (1991, 194).
Pädagogik
für Mitläufer
Baeumler
war nach Berlin geholt worden, um unter anderem "politische Pädagogik"
zu lehren. Darunter verstand er etwas ganz anderes, als wir heute unter
"politischer Erziehung" oder "politischer Bildung" verstehen; heute
meinen wir damit das Erlernen solcher Kenntnisse und Fähigkeiten, die
den Bürger instand setzen, seine politischen Teilhabemöglichkeiten auch
optimal nutzen zu können.
Dies meinte Baeumler
nicht, auch nicht
in dem für ihn naheliegenden Sinne, daß die Menschen nun für die
Nazi-Bewegung zu indoktrinieren seien. Vielmehr meinte er damit die
anthropologische Umorientierung der Pädagogik vom an
111
Idealen
orientierten, kontemplativen Menschen zum handelnden, politisch tätigen
Menschen, wobei er unverhüllt, wie wir sahen, zum "Einsatz" für die
Hitlerbewegung aufforderte, nur dies als politisches Handeln gelten
ließ. Weitere Präzisierungen etwa im Hinblick auf die Bedeutung von
Institutionen, oder auf unterschiedliche soziale Handlungsformen,
Mittel und Ziele, auf Machterwerb und Machtkontrolle, auf Rechtsfragen
usw. haben ihn nicht interessiert, so daß alles eigentlich darauf
hinauslief, die politische Führung fraglos anzuerkennen und im übrigen
an seinem jeweiligen Platz in der Volksgemeinschaft nicht nur den
individuellen Nutzen anzustreben, sondern sich immer auch als Glied der
Gemeinschaft zu verstehen. So total sein Handlungsbegriff auch gemeint
war - Handeln sei immer ein Wagnis und nicht durch Werte gedeckt -, so
führte er doch nur zum Typus des entpolitisierten Mitläufers.
Weil
Baeumler die gesellschaftliche Arbeitsteilung für einen Verfall hielt,
konnte er seine Handlungstheorie und damit das Politische auch nicht
weiter differenzieren, denn diese gesellschaftliche Ausdifferenzierung
der öffentlichen Handlungsorte setzt dem menschlichen Handeln Chancen
und Grenzen: in der Politik, der Rechtsprechung, der Verwaltung oder
auch der Erziehung. Wenn der Begriff des Politischen einen Sinn ergeben
soll, dann hätten solche Unterschiede geklärt oder zumindest fraglich
gemacht werden müssen.
Baeumler ließ jedoch nicht
nur die
institutionellen und sozialen Randbedingungen des Handelns außer Acht,
sondern auch die menschlichen Motive. Handeln erscheint bei ihm wie
eine Art von irrationalem Trieb oder Antrieb. Aber warum handeln die
Menschen so, wie sie es tun, welche Ziele verfolgen sie dabei?
Ein
solches Motiv wollte er ausdrücklich nicht gelten lassen: das
materielle Interesse, den Wunsch nach Wohlstand, nach einem guten
Leben. Das gehörte für ihn zur weiblich-urbanen Kultur und galt deshalb
als "undeutsch", als "nicht heroisch". Hier zeigt sich, daß die
Handlungstheorie so realistisch gar nicht war, weil sie fundamentale
Bedürfnisse zumindest des modernen Menschen ignorierte. Als ob die
meisten Menschen Hitler wegen des symbolischen Mummenschanzes gefolgt
wären, und nicht, weil er Arbeit und Brot und da
112 mit
die Aussicht auf ein halbwegs befriedigendes materielles Leben
versprochen hatte!
Bildung als Individualisierung
Weder
eine "politische" noch eine nationalsozialistische Pädagogik hat
Baeumler vorgelegt. Als er 1933 seinen Lehrauftrag in Berlin übernahm,
war das Feld der Erziehung von Krieck bereits besetzt, und zu
pädagogischen Fragen hatte er sich bis dahin nicht geäußert. Ins "Amt
Rosenberg" ging er mit dem Vorsatz, eine "Deutsche Geschichte" zu
schreiben. Als er dann über pädagogische Fragen schrieb, behandelte er
Einzelprobleme, ohne damit auf eine systematische
"nationalsozialistische" Erziehungswissenschaft zuzusteuern. Es geht
dabei vor allem um die Begriffe "Bildbarkeit", "Bildung" und
"Allgemeinbildung" als Aufgabe der Schule.
a) Das
Problem der
"Bildbarkeit" des Menschen ist ein Grundproblem der
Erziehungswissenschaft. Nur insofern und insoweit ein Mensch "bildbar"
ist, können entsprechende pädagogische Maßnahmen - wie der
Schulunterricht - auch eine Erfolgschance haben. Jede Pädagogik muß
also ein Mindestmaß an "Bildbarkeit" des Menschen unterstellen, das
gilt sogar für die Sonderpädagogik, die es zum Beispiel mit geistig
behinderten Menschen zu tun hat.
Wovon hängt die
Bildbarkeit
eines Menschen ab, wodurch wird sie bestimmt? Im wesentlichen von drei
Faktoren - sagen wir heute: Von der erblichen Ausstattung, von den
darauf gerichteten Umwelteinflüssen - zu denen auch Maßnahmen der
Erziehung und Bildung gehören - und von der Tätigkeit des
Menschen,
also von dem, was er aus den gegebenen Bedingungen durch Handeln zum
Vorschein bringt.
Dieser modernen Auffassung kam
Baeumler recht
nahe. Allerdings hatte er die genetische Ausstattung stärker im Blick
als die Umwelteinflüsse, aber er machte klar, daß die genetisch
vorgegebenen Möglichkeiten sich nicht von selbst realisieren, sondern
durch Erziehung und Bildung herausgefordert werden müssen. "Rasse" war
dabei für ihn so etwas wie eine kollektive genetische Grundsubstanz,
die allen Mitgliedern einer Rasse zu eigen sei. Das trifft nicht zu,
aber in dieser Form war der "Rassismus" der Nazis einigermaßen ent-
113
schärft,
denn ob nun im Einzelfall das erkennbare körperliche und geistige
Erscheinungsbild auf rassische oder auf irgendwelche anderen
genetischen Vorgaben zurückgeht, ist für die pädagogische Praxis
unerheblich. Gefährlicher wirkte sich allerdings der Umkehrschluß aus:
Im Umgang mit den sogenannten "Asozialen" oder den schwer geistig
Behinderten zogen vor allem Mediziner von den äußerlich erkennbaren
Merkmalen unbewiesene Rückschlüsse auf genetische Defekte, so daß
solche Menschen in großer Zahl sterilisiert oder gar ermordet wurden.
Baeumlers
Betonung der genetischen Ausstattung richtete sich gegen den vor 1933
vor allem in der Reformpädagogik herrschenden Erziehungsoptimismus, der
der Umwelt und damit auch der Erziehung einen Vorrang bei der
Entwicklung der Persönlichkeit einräumte. Über das Verhältnis dieser
beiden Faktoren zueinander gibt es eine bis heute dauernde Diskussion
unter den Fachleuten. Vermutlich wird die moderne Genforschung hier
größere Klarheit bringen können. Aber verständlicherweise neigen
Pädagogen eher dazu, den Umwelteinflüssen ein größeres Gewicht zu
geben, weil das Ansehen ihres Berufes um so bedeutender ist, je mehr er
angeblich zu bewirken vermag.
b) Auch dem Tätigsein
der Kinder
maß Baeumler eine eigenständige Bedeutung zu. Das wird an seinem
subjektorientierten Bildungsbegriff erkennbar. Während nach der
bildungsbürgerlichen Tradition unter "Bildung" der "Besitz" eines
bestimmten Kanons von "Bildungsgütern" wie Griechisch, Latein,
klassische Literatur verstanden wurde, bezog Baeumler den
Bildungsbegriff auf das lernende, sich bildende Subjekt. Diese Wendung
kommt besonders zum Ausdruck in dem Aufsatz "Jugenddienstpflicht,
Hitler-Jugend und Schule" (Weltanschauung und Schule, 1943). Thema ist
hier die Abgrenzung der Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und
Hitlerjugend. Aufgabe der Schule sei der Unterricht, der mittelbar
immer auch erziehe, und zwar im Durchgang durch die Sachzusammenhänge.
Dabei sei der "Selbstbildung des Schülers" hohe Bedeutung zu schenken.
Der Lehrer "muß die Masse als Einheit zu beherrschen verstehen, und
darf doch keinen Augenblick seine Hauptaufgabe vergessen, die darin
besteht, jeden einzelnen Schüler anzusprechen, nach seiner
Individualität zu behandeln, in seiner Entwicklung zu fördern, und, wo
es notwendig ist, zu strafen.
114 Dogmatischer
Unterricht kann sich an ein Kollektiv wenden; lebendiger Unterricht
führt nur über die Individualität, denn er ist nichts anderes als
Erweckung und Lenkung der Selbständigkeit des Einzelnen" (161). Die
Form der schulischen Betätigung sei "Arbeit", die der HJ "Dienst", die
Schule wirke "mittelbar" erzieherisch, die HJ "unmittelbar"; die
pädagogischen Ergebnisse der Schule lägen wesentlich in der Zukunft,
die Formationserziehung der HJ sei "gegenwartsorientiert".
Aus
den unterschiedlichen Funktionen folge auch eine unterschiedliche Form
von "Kameradschaft".
"Die
Kameradschaft zwischen Lehrer und Schüler, sowie der Schüler als
Schüler untereinander, ergibt sich aus der gemeinsamen Verpflichtung zu
konkreten, genau umschriebenen und in begrenzten Zeiteinheiten zu
erfüllenden Leistungen"
(160).
In dieser "Leistungskameradschaft" habe der
Lehrer eine bestimmte Funktion: ,Er
ist Kamerad - aber er steht doch zugleich in seiner Funktion als Lehrer
den Schülern in einer gewissen Ferne gegenüber. Er ist
nicht nur der
Ältere, er ist auch der, der das schon ,kann', was verlangt wird; er
hat das Pensum bereits hinter sich" (161).
Baeumler
verlagerte
also den Bildungsbegriff und damit die Aufgabe der Schule auf die
subjektive Seite, die Individualisierung des Schülers betonend.
Der
traditionelle Bildungsbegriff war dagegen bezogen auf einen
inhaltlichen Kanon und insofern auf eigentümliche Weise sachlich
begrenzt. Er schloß zum Beispiel die Naturwissenschaften im Prinzip
aus, d.h. diese wurden nur insofern berücksichtigt, als sie sich - z.B.
in ethischer Hinsicht - den humanistischen Werten unterordneten. Die
Frage war also nicht, welche wichtigen Ergebnisse die
Naturwissenschaften vorzuweisen hatten und auf welchen methodischen
Wegen sie dazu gekommen waren, und schon gar nicht, was man mit diesen
Erkenntnissen technisch
z.B. im Rahmen der modernen Industrie bewirken
könne; gefragt wurde vielmehr nach dem "Bildungswert" dieser neuen
Wissenschaften und die Maßstäbe dafür wurden von außen, aus dem
115
Blickwinkel
der einschlägigen Geisteswissenschaften, an die Naturwissenschaften
herangetragen. Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hat
die besten philosophischen Köpfe der Zeit bewegt, und es war allgemein
klargeworden, daß die Unterordnung der Natur- unter die
Geisteswissenschaften nicht länger haltbar war. Kriecks Versuch einer
Kombination beider Wissenschaftsformen in seiner "Völkisch-politischen
Anthropologie" gehört in diesen Zusammenhang.
Wegen
des
stürmischen Vormarsches der Naturwissenschaften war der am
humanistischen Kanon orientierte Bildungsbegriff längst brüchig
geworden; äußerer Ausdruck dafür war die 1900 erfolgte Einrichtung des
naturwissenschaftlichen Gymnasiums (Realgymnasium) als neben dem
humanistischen Gymnasium gleichberechtigte Form der höheren Schule. Je
brüchiger der Bildungskanon wurde, um so deutlicher wurde sein
sozial-separativer Charakter: die nach dem alten Kanon "Gebildeten"
verstanden sich als geistige Elite. Und die spöttische Kritik Baeumlers
wie auch Kriecks an dem Typus des so "Gebildeten" hatte durchaus eine
gewisse Berechtigung.
Baeumler glaubte offenbar
nicht, auf der
objektiven Ebene der Fächer und Stoffe das Problem der Bildung lösen zu
können, und deshalb ist seine Wendung zur subjektiven Seite, also zum
lernenden Individuum hin, durchaus beachtenswert, weil sie in die
Zukunft wies. Kriecks pädagogische Theorie war - wie wir gesehen haben
- nicht zuletzt deshalb wenig ergiebig für die Praxis, weil sie die
Perspektive des lernenden Individuums gar nicht kannte.
Allerdings
hat Baeumler das nun entstandene Problem nicht weiter thematisiert: an
was soll der junge Mensch sich denn nun bilden in der Schule, an
welchen Stoffen und Fächern, und warum gerade an diesen? Der Unterricht
in der Schule ist ja nun einmal auf Stoff- und Lehrpläne angewiesen,
und wer sollte diese nun nach welchen Maßstäben festsetzen?
Die
gesellschaftliche Bedeutung des alten Bildungskanons bestand darin, daß
die Kultur- und Wirtschaftselite Deutschlands über eine annähernd
gleiche Allgemeinbildung verfügte. Es war keineswegs so, daß die
Naturwissenschaftler per se sich bzw. ihre Kinder vom humanistischen
Gymna-
116
sium fernhielten. Im
Gegenteil gaben noch nach
dem Zweiten Weltkrieg viele diesem Gymnasium für ihre Kinder den Vorzug
- oft mit der vordergründigen Erklärung, dort sei die Allgemeinbildung
besser aufgehoben als bei anderen Gymnasien, und je besser diese
Allgemeinbildung sei, um so besser gelinge später z.B. an der
Technischen Universität dann die berufliche Spezialisierung. Es ging
dabei jedoch um mehr, nämlich um eine gemeinsame Bildungsgrundlage für
die beruflich unterschiedlich plazierten Eliten. Sie kannten alle
"ihren" Cicero, Cäsar, Platon, Goethe und Schiller einschließlich der
zu jeder Lebenslage passenden Sinnsprüche, und das gab das Gefühl einer
bei aller sonstigen beruflichen, religiösen und politischen
Verschiedenheit grundlegenden kulturellen Gemeinsamkeit.
Mit
der
Wendung auf die Subjektivität des Bildungsvorgangs zerbrach diese
gemeinsame geistige Fundierung unserer Führungsschichten, und die Folge
sind jene Individualisierungs-Prozesse, wie wir sie vom gegenwärtigen
Gymnasium her kennen, in deren Oberstufe z.B. Fächer mit einem gewissen
Spielraum von den Schülern gewählt werden können. Diese Konsequenz der
Individualisierung hat Baeumler zweifellos nicht vorausgesehen.
c)
Gegen den Expansionsdrang der HJ, die ihre Erziehungsvorstellungen in
die Schule hineintragen wollte, und gegen einen vordergründigen
Praktizismus aus Kreisen der Industrie, die an einer frühen
qualifizierten beruflichen Spezialisierung interessiert waren, weil
Ende der 30er Jahre Mangel an Facharbeitern herrschte, verteidigte
Baeumler den schulischen Auftrag der Allgemeinbildung. Damit stellte er
sich in eine lange schulpädagogische Tradition. Erst müsse der Mensch
seine allgemeinen Fähigkeiten entwickeln und allgemeine Kenntnisse
erwerben, danach sei eine berufliche Spezialisierung angebracht - so
hatte Wilhelm von Humboldt es sinngemäß formuliert.
Diese
Idee
der Allgemeinbildung ist eine wichtige Voraussetzung für die
Demokratisierung des Bildungswesens, aber auch für berufliche
Mobilität; denn nur eine allgemeine, möglichst für alle Kinder geltende
schulische Grundbildung ermöglicht sozialen Aufstieg durch persönliche
Leistung, die frühe Fixierung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit
dagegen würde die Möglichkeiten der Berufswahl frühzeitig
117
verkürzen
und Berufswechsel - im horizontalen wie vertikalen Sinne - erheblich
erschweren.
Diese
demokratische Implikation des Bildungsbegriffs widersprach der
NS-Ideologie nicht unbedingt; denn mit der Feindschaft gegen den
Parlamentarismus konnte sie durchaus ein gewisses Maß an "sozialer
Demokratisierung" vereinbaren, also Begabten Chancen des sozialen
Aufstiegs zu ermöglichen und die herkömmlichen Führungseliten sozial zu
öffnen.
Ansätze einer pluralistischen Erziehung
Baeumlers
Trennung der Erziehungsfunktionen, wie er sie im eben genannten Aufsatz
präsentierte, war für die damalige Zeit ungewöhnlich und in die Zukunft
weisend. Die herrschende pädagogische Meinung vor 1933 war, daß alle
Erziehungsinstanzen an einem Strick ziehen müßten, und in Herman Nohls
berühmtem "Pädagogischen Bezug", der die Beziehung des Erziehers zum
Zögling beschreibt, wird im Grunde das familiäre Beziehungsmodell auf
die pädagogischen Berufe ausgedehnt. Baeumler stellt dagegen fest:
"Die
Klasse ist keine Familie, sondern eine Arbeitskameradschaft, und der
Lehrer ist weder ein Vater noch ein Führer, sondern eben Lehrer, d.h.
Erzieher im Medium des Unterrichts. Man nützt dem ganzen nicht, sondern
schadet ihm nur, wenn man das Spezifische des Lehrerseins aufhebt, und
durch den Ehrennamen des Klassen-Vaters oder der Klassen-Mutter die
Seins-Sphären verwischt und die Würde der Funktionen aufhebt" (160).
Damit
hatte Baeumler angesprochen, was wir heute "pluralistische Erziehung"
bzw. "pluralistische Sozialisation" nennen. Unsere Kinder wachsen auf
in Familie, Kindergarten, Schule, unter Gleichaltrigen, unter dem
Einfluß der Massenmedien, und die Wirkungen dieser Faktoren sind
widersprüchlich, sie ziehen eben nicht an einem Strang. Die Folge davon
ist, daß "Erziehung" kein einheitliches Geschehen mehr ist, das von
einem Ort -
Familie oder Schule - im
ganzen zu steuern wäre; vielmehr
lebt das Kind unter unterschiedlichen, widersprüchlichen Erwartungen,
zwischen denen es balancieren muß.
118
Indem
Baeumler nun
die Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Jugendverband strikt
voneinander unterschied mit der zutreffenden Begründung, sie seien
nicht auseinander ableitbar, machte er den Weg frei für eine
pluralistische Betrachtung des Erziehungsprozesses. Zwar ging er davon
aus, daß alle drei Instanzen im Rahmen der NS-Ideologie und insoweit in
einem einheitlichen Sinne wirken würden. Aber wie sollte das geschehen
und welche Instanz sollte dafür Sorge tragen? Wir werden sehen, daß
Schirach in diesem Punkte eine entgegengesetzte Position vertrat, er
wollte nämlich die "Einheit der Erziehung" unter Zugrundelegung der
Erziehungsprinzipien der HJ auch in der Schule realisieren.
Baeumler
hat jedoch die Konsequenzen seines pluralistischen Ansatzes nicht
gesehen oder nicht sehen wollen. Dabei war schon in den Friedensjahren
zu bemerken, wie gegensätzlich die Erziehungsabsichten und die
Erziehungswirkungen der HJ und der Schule waren, und Baeumler hat
diesen Widerspruch auch deutlich gesehen. Aber er hat ihn zwar
beschrieben, aber doch auch ideologisch zu harmonisieren versucht.
Baeumlers
Äußerungen zu pädagogischen Fragen sind also prinzipieller Natur - wie
es für einen systematisch denkenden Philosophen naheliegt, aber um die
daraus resultierenden pädagogischen Konsequenzen im einzelnen hat er
sich nicht weiter gekümmert. Dies zeigt, daß er den pädagogischen
Auftrag, den er mit seiner Berliner Professur übernommen hatte, nicht
sonderlich ernstnahm.
Baeumlers und Kriecks
Positionen und
grundlegende Argumentationen sind nur zu verstehen auf dem Hintergrund
ihrer Kritik am damals herrschenden Erziehungs- und
Bildungsverständnis. Sie sahen die Hitler-Bewegung auch als eine
kulturelle Revolution, die Erziehung und Bildung einschließen müsse.
Gründe
für eine solche Kritik gab es genug. Der Enthusiasmus der
Reformpädagogik war einer Ernüchterung gewichen. Der Versuch, "vom
Kinde aus", also unter Berücksichtigung seiner Interessen und
Bedürfnisse die Schule zu organisieren, hatte vielfach dazu geführt,
die Objektivität der Welt, also die "Sachen" nicht mehr ernst zu
nehmen. Lernen, so stellte sich heraus, war nur bis zu einem gewissen
Grade
119
zu erleichtern, aber
ohne Anstrengung führte es
nicht weit. Über die "Grenzen der Erziehung" wurde nachgedacht. Dem
pädagogischen Denken waren soziale Dimensionen fremd, es sah den
Menschen in der Tat abstrakt-individualistisch, als "Werte
verwirklichendes Wesen". Auch eine reformpädagogische Erfindung wie die
Gruppenarbeit führte nicht zu einer realistischen Einschätzung der
außerhalb der Schule geltenden sozialen Differenzierungen in der
Gesellschaft. Wie viele Erfindungen der Reformpädagogik war auch die
Gruppenarbeit letztlich ein formalistisches Prinzip, sozusagen ein
methodischer Trick der Lehrer.
Der Unterricht, vor
allem auch
auf dem Gymnasium, war rationalistisch ausgerichtet, sprach also die
emotionale Seite der Schüler wenig an. Beispielhaft dafür war etwa das
philologische "Zerpflücken" der großen Dichtung in alle möglichen
Einzelheiten ohne Rücksicht auf den künstlerischen Gesamteindruck, bis
Faust oder "Wallenstein" den Schülern zum Halse heraus hingen.
Nur
auf diesem Hintergrund lassen sich Kriecks und Baeumlers pädagogische
Argumentationen verstehen und trotz aller Kritik, die hier gegen beide
vorgebracht wurde, muß auch betont werden, daß sie im Vergleich zur
damaligen Erziehungstheorie und Erziehungspraxis so schlecht nicht
aussehen. Kriecks soziologischer und Baeumlers anthropologischer
Ausgangspunkt hätten durchaus tragfähig für die Zukunft der
Erziehungswissenschaft sein können, wenn sie weiter präzisiert worden
wären. Tatsächlich etablierte sich nach 1945 aber jene
Erziehungswissenschaft wieder, die schon 1933 weitgehend am Ende ihres
Lateins war. In Bewegung geriet das pädagogische Denken erst wieder,
als Ende der 50er Jahre die Soziologie und ein Jahrzehnt später die
Psychoanalyse sich in die Diskussion pädagogischer Probleme
einschaltete.
Obwohl Krieck und Baeumler ihre
politischen und
pädagogischen Vorstellungen als zusammengehörig betrachteten, ist es
nützlich, das eine vom anderen zu unterscheiden und auch getrennt zu
beurteilen. Ihre politischen Irrtümer teilten sie mit vielen ihrer
zeitgenössischen Intellektuellen, die sich ebenfalls in der Tradition
des deutschen national-konservativen Denkens bewegten. In diesem
vorgegebenen Bewußtseins-Rahmen versuchten sie den politischen Verfall
der Re-
120
publik und die daraus
hervorwachsende
Hitlerbewegung zu verstehen, und sie taten dies auf dem Hintergrund
ihres geistigen bzw. wissenschaftlichen Repertoires, das ihnen im Laufe
ihres Lebens zugewachsen war. So interpretierten sie die Hitlerbewegung
nach ihren Wünschen und Hoffnungen - ein Umgang mit der eigenen
Gegenwart, der auch heute keineswegs ungewöhnlich ist.
Rückblickend
läßt sich - wie Baeumler es tat - sagen, daß ihr Verstand hätte
ausreichen müssen, die Zeichen rechtzeitig zu erkennen, die auf
Auschwitz und die Kriegsverbrechen hindeuteten. Aber für die planmäßige
Inszenierung des Terrors und des Völkermordes gab es in Deutschland
keine Tradition, die hätte warnen können. Die politische Kriminalität
des NS-Regimes war bis dahin einmalig und so nicht vorauszusehen. Als
Propagandisten des Regimes wurden sie dennoch mitschuldig an seinen
Untaten, die sie selbst nicht gewollt und auch nicht für möglich
gehalten haben.
Bemerkenswert bleibt aber, daß mit
Krieck und
Baeumler zwei Professoren sich als pädagogische "Chefideologen" in der
NS-Zeit etablieren konnten, deren Positionen sich in wichtigen Punkten
ausschlossen.
121 (Leerseite)
122
Teil
2 Pädagogische Felder
123
124
4.
Zwischen Ideologie und Sachzwang: Das Schulwesen
Bisher
war von den beiden pädagogischen "Chefideologen" der NS-Bewegung die
Rede. Aber welchen Einfluß hatten sie auf die pädagogische Praxis in
den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen? Die Nationalsozialisten
übernahmen 1933 ein Schulwesen, das nicht nur eine Reihe von ungelösten
Problemen mit sich herumschleppte, sondern auch in komplizierter Weise
rechtlich und organisatorisch verfaßt war. Diese Ordnung konnte nicht
einfach über Nacht geändert werden. Abgesehen von den personellen
Säuberungen, von denen noch die Rede sein wird, wurde die Praxis in den
Schulen, Hochschulen und Lehrerausbildungsstätten von einer Vielzahl
von Menschen bestimmt, die ihre beruflichen Konzepte und Vorstellungen
längst erworben hatten und nun entsprechend danach handelten. Sie
besaßen keineswegs ein einheitliches, gemeinsames weltanschauliches
Fundament. Viele, vielleicht sogar die meisten, machten weiter wie
bisher und legitimierten dies mit den neuen weltanschaulichen Parolen;
andere wurden überzeugte Nationalsozialisten und verfolgten dabei ihre
Karriere. Kaum einer von ihnen ging jedoch der Frage nach einer
spezifisch nationalsozialistischen Pädagogik so grundsätzlich nach wie
Krieck und Baeumler. Die meisten orientierten sich
pragmatisch-technokratisch und versuchten die Probleme entsprechend zu
lösen, ohne sich dabei in nennenswerte ideologische
Auseinandersetzungen zu begeben. Die Schriften von Krieck und Baeumler
gehörten - neben anderen - zum Kanon der "weltanschaulichen Schulung",
aber sie bestimmten die pädagogische Praxis nur teilweise, denn diese
unterlag einer Reihe von Sachzwängen, die durch ideologische
Wunschbilder nicht einfach hintergangen werden konnten. Deshalb müssen
die beiden wichtigsten pädagogischen Praxisfelder, die nun vorgestellt
werden sollen - Schule und au-
125 ßerschulische
Jugendarbeit -, zunächst einmal im Rahmen ihrer eigenen Entwicklung
untersucht werden.
Als
die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, fanden sie beide
pädagogische Felder in einer bestimmten Verfassung vor. Was haben sie
warum daraus gemacht? Zunächst soll von der Schule die Rede sein.
Die
Entwicklung des Schulwesens
Im
Jahre 1933 war die bildungspolitische Zuständigkeit aufgeteilt auf die
Länder und auf das Reich - hier im Innenministerium verankert. Erst am
1.5.1934 wurde das "Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und
Volksbildung" (REM) eingerichtet, das Bernhard Rust übernahm, ein
ehemaliger Studienrat, der zu dieser Zeit preußischer Kultusminister
war und dieses Amt auch beibehielt, also als Doppelminister fungierte.
Durch das "Gesetz zur Neuordnung des Reiches" (30.1.34) wurden die
bisherigen Rechte der Länder weitgehend ausgeschaltet; sie konnten nur
noch insoweit tätig werden, als das Reich keine Verfügungen erließ.
Rust
vereinheitlichte 1937 das höhere Schulwesen, was schon in der Weimarer
Zeit angestrebt worden war. Es gab eine Vielzahl gymnasialer
Oberstufenformen, die nun auf drei reduziert wurden: das humanistische
Gymnasium, das allerdings nur dort erhalten bleiben sollte, wo die
Schule über eine besondere Tradition verfügte, und die
naturwissenschaftliche sowie die neusprachliche Oberschule. Für die
Mädchen blieb übrig ein neusprachlicher und ein hauswirtschaftlicher
Oberschulzweig. Vor allem in ländlichen Gebieten gab es Aufbauschulen
in Oberschulform - für Mädchen nur in hauswirtschaftlicher Form. Diese
Neuregelung sorgte geraume Zeit für Verwirrung, weil
Übergangsregelungen nötig waren.
Die bis dahin in
Preußen
eingerichteten grundständigen, also mit dem fünften Schuljahr
beginnenden sechsklassigen Mittelschulen führte Rust für das ganze
Reich ein. Als diese Schulform sich einigermaßen konsolidiert hatte,
mußte auf "Führerbefehl" von 1940 nach österreichischem Vorbild
126
1941
die Hauptschule als Pflichtschule eingeführt werden, der begabtere
Volksschüler zugewiesen werden sollten. Hitler wünschte die Einführung
dieses neuen Schultyps zunächst nur für die dem Reich angegliederten
neuen Reichsgaue, aber Bormann drängte auf sofortige Einführung im
ganzen Reich. Diese Schule sollte eine Bildungsgrundlage vermitteln,
"auf der die Ausbildung für alle mittleren und gehobenen praktischen
Berufe in Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Technik, Industrie und
Verwaltung sowie alle hauswirtschaftlichen, pflegerischen, sozialen und
technischkünstlerischen Frauenberufe aufbauen kann". (Ottweiler 1980,
202). Dazu waren aber nun Fachlehrer nötig, die im Kriege so schnell
und so zahlreich nicht zu beschaffen waren, so daß der Ausbau dieses
neuen Schultyps bald stagnierte. Im Grunde handelte es sich hier um
eine Aufteilung der Volksschule: die begabteren Schüler - man rechnete
mit einem Drittel - sollten von den Leitern der Volksschulen für die
Hauptschule ausgesucht werden. Offenbar war damals das Begabungsprofil
der Volksschüler sehr differenziert, wenn man etwa bedenkt, daß 40
Prozent von ihnen den Volksschulabschluß nicht erreichten. Die
Parteikanzlei hielt die Einführung der Hauptschule für das Kernstück
der NS-Bildungsreform, weil sie eine Mobilisierung von
Begabungsreserven ermögliche - eine Hoffnung, die angesichts des
Mangels an Facharbeitern verständlich war.
In der
Praxis führte
die Einführung dieses Schultyps vor allem in den südlichen
Reichsländern, die gerade auf Anweisung Rusts die Mittelschule
einigermaßen flächendeckend eingeführt hatten, zur Verwirrung, zumal
das Verhältnis zwischen diesen beiden Schultypen ungeklärt blieb. Beide
bauten auf der vierjährigen Grundschule auf, aber die Hauptschule
sollte nur vier Klassen umfassen, die Mittelschule war dagegen auf
sechs Klassen angelegt.
Im Zuge dieser
Vereinheitlichung des
Schulsystems wurde auch das Privatschulwesen erheblich zurückgedrängt
zugunsten der "Deutschen Heimschulen", die auf Anordnung Hitlers
insbesondere für Kinder von Offizieren und anderer Berufe eingerichtet
wurden, die mit häufiger Versetzung zu rechnen hatten. Die
Privatschulen befanden sich überwiegend in kirchlicher Trägerschaft und
stellten insofern eine ideologische Konkurrenz zum staatlichen
Schulwesen dar.
127
Neue,
reichseinheitliche
Richtlinien für die einzelnen Schulformen erschienen verhältnismäßig
spät, nämlich ab 1937. Bis dahin waren die Länder in unterschiedlicher
Weise tätig geworden. Einige ordneten an, den bestehenden
Geschichtsunterricht zu unterbrechen zugunsten eines mehrwöchigen
Kurses über die "nationale Revolution", für die bis in die
Sprachregelung hinein Vorgaben gemacht wurden.
An
einer
Neufassung des gesamten Geschichtsunterrichts wurde besonders aktiv
gearbeitet, weil er zum Kernfach der gewünschten politischen Erziehung
werden sollte. Die Gesamtkonzeption des gewünschten
Geschichtsunterrichts hat Eilers treffend zusammengefaßt:
"Geschichtsunterricht
bedeutete von nun an Betrachtung der deutschen Geschichte bzw. der
Geschichte der nordischen Rasse. Der gesamte Geschichtsverlauf wurde
zur Exempelsammlung für ihren Wert und ihre Bedeutung. Als bestimmender
Faktor alles Geschehens wurde neben der rassischen Substanz nur noch
die Führerpersönlichkeit anerkannt. Das pädagogische Ziel dieser Art
der Geschichtsbetrachtung wurde mit 'Weckung einer begeisterten,
heldischen Weltanschauung, planmäßige Förderung des Wehrgedankens und
Rassebewußtseins' umrissen. Der Stoff konzentrierte sich zunächst in
der Urgeschichte bei der Entstehung der Rassen. Über den Nachweis der
politischen und kulturellen Bedeutung nordischer Völker in allen
Kulturen des Altertums ging der Weg zur Erkenntnis, daß Rassenmischung
zum Kulturverfall führe (Spätantike). Die rassenreinen, germanischen
Völker traten als Gegenbild zu den degenerierten Südländern auf.
Völkerwanderung, Italienpolitik und Kreuzzüge wurden zu sinnlosen
Blutverlusten der hochwertigen Rasse, die Ostsiedlung zur Erweiterung
ihres Lebensraumes. Nach den unter 'Niedergang und Auflösung' geführten
Zeiten wandte sich die Aufmerksamkeit dem heroischen Aufstieg Preußens
zu. Der 'Preußengeist' erschien als eine neue Ausformung des echten
deutschen Wesens. Nach dem Zeitalter der Revolution rettete dann
Bismarck Deutschland und führte es zu Einheit und Größe. Den
gigantischen Aufstieg Deutschlands - so setzte sich diese
Betrachtungsweise fort -, der nun auf allen Lebensgebieten einsetzte,
neideten uns 'die Erbfeinde', die Deutschland systematisch einkreisten,
bis es dann im Ersten Weltkrieg gegen eine Welt von Feinden in
heldenmütigem Kampf unterlag,
128
zwar
unbesiegt im Feld,
doch zu Boden geworfen durch den Dolchstoß der marxistischen
Revolution. Vom Diktat von Versailles mit seinen demütigenden und
ausbeuterischen Bedingungen, von der Herrschaft des volksfremden
Parteienstaates erlöste Hitler Deutschland" (15).
Ferner
wurde -
Hitlers Forderung in "Mein Kampf` entsprechend - Rassenkunde eingeführt
- zugeordnet dem Fach Biologie, als Unterrichtsprinzip auch für die
Fächer Deutsch, Geschichte und Erdkunde vorgeschrieben. Der
Deutschunterricht sollte "volkhafte Dichtung" in den Mittelpunkt
stellen, und "psychologisierende und ästhetisierende Literatur"
ausschließen.
Eine Aufwertung erfuhr der Schulsport.
Die
Turnstunden wurden auf drei, später auf fünf erhöht. Auch Boxen wurde
wie Fußball und Geländesport in die "Leibesübungen" aufgenommen. Die
sportliche Leistungsfähigkeit spielte bei Aufnahme- und
Abschlußprüfungen eine immer größere Rolle. Schweres körperliches
Leiden sowie ständige Leistungsunfähigkeit in den "Leibesübungen"
hatten den Verweis von der höheren Schule zur Folge.
Derartige
noch nicht in allen Fällen reichseinheitliche Teilregelungen durch
Erlasse oder Richtlinien der Länderkultusminister versuchten
offensichtlich, Hitlers bereits beschriebenen pädagogischen
Vorstellungen gerecht zu werden. Im übrigen aber galten die in der
Weimarer Republik in Kraft gesetzten Richtlinien weiter. Erst 1937
erschienen aus dem REM die ersten umfassenden Richtlinien, und zwar für
die Grundschule, die aber 1939 durch neue Richtlinien für die gesamte
Volksschule ersetzt wurden.
Diese Richtlinien
bestehen aus einem
allgemeinen Teil und aus grundlegenden Hinweisen für zehn
Unterrichtsfächer (Leibeserziehung; Deutsch; Heimatkunde; Geschichte;
Erdkunde; Naturkunde; Musik; Zeichnen und Werken; Hauswirtschaft;
Rechnen und Raumlehre), sowie aus Stundentafeln für Jungen bzw. Mädchen.
Der
allgemeine Teil begründet zunächst die Erziehungsaufgabe der
Volksschule im Rahmen der übrigen NS-Erziehungsmächte:
"Die
Aufgabe der deutschen Schule ist es, gemeinsam mit den anderen
nationalsozialistischen Erziehungsmächten,
129 aber
mit den ihr gemäßen Mitteln die Jugend unseres Volkes zu körperlich,
seelisch und geistig gesunden und starken deutschen Männern und Frauen
zu erziehen, die, in Heimat und Volkstum fest verwurzelt, ein jeder an
seiner Stelle zum vollen Einsatz für Führer und Volk bereit sind. Im
Rahmen dieser Aufgabe trägt die Volksschule die Verantwortung dafür,
daß die Jugend mit den grundlegenden Kenntnissen und Fertigkeiten
ausgerüstet wird, die für den Einsatz ihrer Kräfte in der
Volksgemeinschaft und zur Teilnahme am Kulturleben unseres Volkes
erforderlich sind" (5).
In diesem Sinne soll die
Volksschule den
Gedanken der Volksgemeinschaft lebendig werden lassen und selbst
lebensnah repräsentieren.
"Eine Erziehung zur
Gemeinschaft kann
nur in der Gemeinschaft erfolgen. Die Volksschule empfängt die Kinder
aus dem Elternhause. Sie soll den Kindern ihre Familiengemeinschaft
bewußt machen, die Beziehung zum Elternhaus pflegen und dem
Familienleben dienen. Zum anderen aber sollen die Kinder schon in den
ersten Jahren in der Schule lernen, sich als Angehörige einer anderen
größeren Gemeinschaft zu fühlen. In den oberen Jahrgängen der
Volksschule sollen die Kinder allmählich über die Sippengemeinschaft
hinaus in die große politische Volks- und Wohngemeinschaft aller
Deutschen hineinwachsen. Dabei sollen sie sich schon mit Stolz bewußt
werden, zu dem Teil der Volksgemeinschaft zu gehören, in dem sie später
als Schaffende die Verantwortung für das Ganze mit zu tragen haben" (5).
Um
ihren Platz in der Volksgemeinschaft finden zu können, müssen die
Kinder über "sicheres Wissen und Können" verfügen, soweit dies nötig
ist, um "alle Kräfte der Jugend für den Dienst am Volk und Staat zu
entwickeln und nutzbar zu machen". Damit ist auch eine Beschränkung auf
das Wesentliche gemeint, denn diese Schule soll sich "von all den
Stoffen freimachen, die auf Grund überwundener Bildungsvorstellungen in
sie eingedrungen sind" (6).
Grundlegendes
didaktisches Prinzip
ist die Heimatkunde; der Unterricht soll ansetzen beim aktuellen Leben
der Schüler, ihren altersgemäßen Erfahrungen und ihren sozialen
Bindungen, wobei Unterschiede zwischen Stadt und Land durchaus
einkalkuliert werden. Der Unterricht soll also das Älterwerden der
Kinder einerseits begleiten, andererseits
130
aber
auch verweisen auf das Volksganze, das als oberster sozialer Horizont
die Bildung des Volksschülers auch begrenzen sollte.
Die
Schule bzw. Klasse müsse eine lebendige Gemeinschaft sein, wenn sie die
Idee der Volksgemeinschaft repräsentieren wolle, wobei der Lehrer
"Führer" ist - eine Absage an anderslautende Vorstellungen der
Reformpädagogik. Als Gemeinschaft soll sie einerseits "Führerauslese
und Führerbildung" betreiben, andererseits aber auch den schwächeren
Schülern helfen.
"Lehrer und Schüler sollen ihren
Stolz darin
sehen, auch schwächere Schüler zu unterstützen, um sie der Gemeinschaft
zu erhalten" (7).
Anteil nehmen soll die Schule
ferner "an allen
großen heimatlichen und völkischen Geschehen" sowohl im Sinne "einer
frühzeitigen und planmäßigen Einführung in das Geschehen der Gegenwart"
als auch durch "Schulfeiern".
Die didaktische
Struktur des
Unterrichts soll in der ersten Klasse vom Gesamtunterricht ausgehen, um
dann zunehmend fachorientiert zu werden. Allerdings wird dabei in den
Richtlinien ein Widerspruch erkennbar zwischen der Fachorientierung
einerseits und der weltanschaulichen Beeinflussung andererseits. "Bei
den im engeren Sinne erziehlich wirkenden, insbesondere den
nationalpolitischen Stoffen hat sich der Lehrer davor zu hüten, ihre
Gesinnung und Willen bildende Wirkung durch Zerreden, Zerfragen,
abstrakte Lehre oder gedächtnismäßigen Drill abzuschwächen oder zu
vernichten. Die freudige Bejahung der nationalsozialistischen
Weltanschauung durch den Lehrer und sein überzeugendes Vorbild sind für
die erfolgreiche Vermittlung der nationalpolitischen Stoffe
entscheidend. Das klare, begeisternde Lehrerwort wird als
schlicht-anschauliche Erzählung und Darstellung von besonderer Wirkung
sein" (8).
Die NS-Weltanschauung ist offenbar einem
rationalen
Unterricht nicht zugänglich. Gleichwohl wird sie im zweiten Teil der
Richtlinien, der die Grundlagen der einzelnen Fächer charakterisieren
soll, immer wieder eingefügt. Von der Heimatkunde wird erwartet, daß
sie "in den vier unteren Jahrgängen nicht nur Kenntnisse vermittelt,
sondern auch
131 den festen Grund legt für
den Stolz auf Heimat, Stamm, Volk und Führer" (13). Noch deutlicher
beim Geschichtsunterricht:
"Die
politische Erziehung in der Volksschule gründet sich in erster Linie
auf den Geschichtsunterricht, der die Kinder mit Ehrfurcht vor unserer
großen Vergangenheit und mit dem Glauben an die geschichtliche Sendung
und die Zukunft unseres Volkes erfüllen soll. Er richtet den Blick auf
den schicksalhaften Kampf um die deutsche Volkwerdung, bahnt das
Verständnis für die politischen Aufgaben unseres Volkes in der
Gegenwart an und erzieht die Jugend zum freudigen, opferbereiten
Einsatz für Volk und Vaterland" (15).
Der Unterricht
soll "die im deutschen Volke wirksamen rassischen Grundkräfte
vorwiegend nordischer Artung" herausstellen.
"Heldischer
Geist und der Gedanke des Führertums in germanisch-deutscher Ausprägung
sollen den gesamten Geschichtsunterricht erfüllen, die Jugend
begeistern und den Wehrwillen wecken und stärken" (15). "Mit
besonderer Sorgfalt ist das Bild des Führers zu zeichnen" (16).
Die
Ideologisierung dieses Schulfaches wird offen eingestanden, wenn auch
mit unfreiwilliger Ironie. "Das
vorzugsweise erziehliche Ziel dieses Unterrichts schließt die Gewinnung
bleibender unterrichtlicher Ergebnisse nicht aus" (16). So sollen "auch
einige wenige Geschichtszahlen" dauerhaft gelernt werden. Im übrigen
entsprechen die Richtlinien für den Geschichtsunterricht dem erwähnten
Urteil von Eilers.
"Leitgedanke" der Erdkunde ist
"die
Wechselwirkung von Volk und Raum, von Blut und Boden (18). "Dabei ist
die Verschiedenheit der Rassen und die besondere Leistung der
nordischen Rasse darzustellen". Ferner sind "die kolonisatorischen
Leistungen unseres Volkes in aller Welt und unser Anspruch auf
kolonialen Raum" "besonders herauszustellen" (19).
Die
"Naturkunde" soll im Rahmen der "Erblehre" "Verständnis" wecken für die
"Wesensverschiedenheit der Rassen" und die "Gefahren der
Rassenmischung" (20).
132
Es wäre
jedoch falsch, die
Richtlinien lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer ideologischen Sätze
zu sehen, zumal zweifelhaft bleiben muß, inwieweit sie in der
Schulpraxis eine Rolle gespielt haben; denn immerhin waren die
Volksschulen noch weitgehend konfessionell bestimmt. Zudem sind
Richtlinien damals wie heute politische Willenserklärungen, aus denen
keineswegs einfach auf die Praxis in den Schulen geschlossen werden
darf. Bemerkenswerter ist vielleicht, daß die Richtlinien das Bild
einer Volksschule zeigen, die milieuverhaftet bleiben soll und von
deren Abgängern offenbar keine nennenswerte Mobilität erwartet wird.
Deshalb verzichteten die Richtlinien auch auf verbindliche Stoffpläne;
diese sollten vielmehr von den Leitern der Volksschulen gemäß den
allgemeinen Vorgaben der Richtlinien entwickelt werden; auf
Bezirksebene sollte dann für eine gewisse Einheitlichkeit gesorgt
werden. Die Stoffpläne sollten also von der Basis her entwickelt werden
und dabei den volksgemeinschaftlichen Besonderheiten der Regionen
angepaßt werden können.
Bayern als einziges
Reichsland hielt
sich jedoch nicht an diese Vorgaben, sondern stellte einen dezidierten
Lehrplan auf, der als "Mindestanforderung" deklariert wurde, also von
allen Volksschulen erfüllt werden mußte.
Schon ein
Jahr vorher -
1938 - waren ausführliche Richtlinien für die höheren Schulen mit
teilweise sehr ausführlichen Lehrplänen für die einzelnen Fächer
erschienen. Der allgemeine Teil beginnt mit einer Rückschau auf die
preußische Gymnasialreform, die Hans Richert, Ministerialrat im
preußischen Kultusministerium, im Jahre 1925 durchgeführt hatte. Ihr
lag der Gedanke zugrunde, daß den deutschen Gymnasien eine neue
Sinnmitte gegeben werden müsse, nämlich ein nationalorientiertes
"deutsches Bildungsgut". Dieses sollte für alle Formen des Gymnasiums
im Mittelpunkt stehen und sich präsentieren in der "deutschkundlichen
Fächergruppe" (Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Staatsbürgerkunde,
Religion). In einem neu eingerichteten Gymnasialtyp, der "Deutschen
Oberschule", sollte diese Deutschkunde sogar zum zentralen
Bildungsinhalt werden.
Von diesem Reformkonzept, das
in den Richtlinien durchaus auch positiv gewürdigt wird, setzen diese
sich gleichwohl
133 ab.
Es sei "in seinem Wesen sowohl wie in seinen geschichtlichen
Voraussetzungen grundverschieden von dem, was der Nationalsozialismus
unter politischer Erziehung begreift" (9). Das Reformkonzept habe auf
den "deutschen Idealismus als Bildungsgut zurückgegriffen in der
Hoffnung, auf diese Weise eine neue Volksgemeinschaft begründen zu
können. Dieser Gedanke beruhe jedoch auf der "Illusion, daß geistige
Bildung einem Volke das schenken könne, was nur durch die politische
Tat einer großen Persönlichkeit dem Schicksal abgetrotzt wird" (9 f.).
Das tatsächliche Verhältnis von Politik und Pädagogik sei hier
verwechselt worden. Die Erziehungstätigkeit könne keine politischen
Ziele setzen, müsse vielmehr umgekehrt von der Politik ihre Aufgabe
empfangen. "Man glaubte, durch eine Reform des Bildungswesens das
einholen zu können, was wir an politischer Macht verloren hatten; man
glaubte, die Einbuße des Staates an Ansehen gegenüber den Mächten der
Gesellschaft durch den Aufbau einer im Grunde unverbindlichen
staatsbürgerlichen Unterweisung ausgleichen ... zu können" (10). Eine
neue Erziehung setze aber eine neue politische Ordnung voraus und die
habe der Nationalsozialismus nun geschaffen. "Alle planende Erziehung
ist ausgerichtet nach einer gegebenen
Ordnung. Das
nationalsozialistische Erziehungssystem ist seinem Ursprung nach nicht
ein Werk der pädagogischen Planung, sondern des politischen Kampfes und
seiner Gesetze" (11). SA und SS seien zunächst als Kampforganisationen
entstanden und präsentierten sich nun als neue Lebensordnung, in der
auch ein neues Erziehungsprinzip wirksam sei. Die
nationalsozialistische Revolution habe den "Vorrang der Politik vor der
Pädagogik" (11) bewiesen. Sie "hat an die Stelle des Trugbildes der
gebildeten Persönlichkeit die Gestalt des wirklichen, d.h. durch Blut
und geschichtliches Schicksal bestimmten deutschen Menschen gesetzt und
anstelle der humanistischen Bildungsideologie, die bis in die jüngste
Vergangenheit fortgelebt hatte, eine Erziehungsordnung aufgebaut, die
sich aus der Gemeinschaft des wirklichen Kampfes entwickelt hatte"
(12). Aus diesen politischen Prozessen sei eine neue Bildungsidee
entstanden, die noch ausgeformt werden müsse. "Auch das
nationalsozialistische Zeitalter wird die Schule hervorbringen, die
Geist von seinem Geiste ist, aber wir müssen uns bewußt sein, daß wir
am Anfang
der neuen Bildung stehen" (12).
134
Unschwer
sind in diesem grundsätzlichen Teil die im vorangehenden Kapitel
vorgestellten Argumentationen Baeumlers erkennbar, und seine Spuren
sind auch sichtbar, wenn nun der Platz der Schule in diesem
Bildungsverständnis markiert wird, nämlich "daß ihr Weg wesentlich über
die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten führt" (13 f.). Die Aufgabe
der Schule sei Unterricht, also "die Zucht des Geistes, die Entwicklung
der Verstandeskräfte und die Vermittlung lebendiger Bildungsstoffe"
(14). Speziell die höhere Schule solle denjenigen Teil der Jugend
bilden, "der später zur selbständigen Lösung von Lebensaufgaben der
Nation herangezogen werden soll" (15). Diese Führungsschicht soll aber
"aus allen Kreisen des Volkes" nach dem "Gedanken der Auslese und
Leistung" gewonnen werden.
Der Erziehung zur
Verantwortungsfähigkeit müsse auch die Unterrichtsgestaltung
entsprechen. Die spezifische Erziehung durch die höhere Schule müsse
mit den "Mitteln des Erkennens" angestrebt werden. "Indem der Schüler
nicht nur fertige Ergebnisse übermittelt bekommt, indem er veranlaßt
wird, den Vorgang des Erkennens und Verstehens in sich selbst zu
vollziehen, soll in ihm die Fähigkeit zu eigener,
selbstverantwortlicher Entscheidung geweckt werden" (16). Nie dürfe
aber "Wissensvermittlung, zum Selbstzweck" werden. Didaktisch soll der
Unterricht "an die Umwelt des Schülers, an seiner Erlebnis- und
Vorstellungswelt anknüpfen", woraus sich unter anderem die Folge
ergibt, "daß die Mädchenerziehung sich nach anderen Gesetzen vollziehen
muß als die Jungenerziehung" (17). Die Berücksichtigung der bereits
vorliegenden Erfahrungen der Schüler dürfe aber keinen Verzicht auf
Leistung bedeuten. "Die neue Höhere Schule wird den jungen Menschen in
eine strenge Zucht des Geistes nehmen, sie wird nicht davor
zurückscheuen, den jugendlichen Geist durch den Zwang, Tatsachen,
Regeln und Zahlen zu lernen, zu kräftigen und geschmeidig zu erhalten,
aber sie wird immer darauf achten müssen, daß nicht ein totes Wissen,
sondern ein lebendiges Verstehen und Können das Ziel allen Unterrichts
ist" (18).
Die Richtlinien versuchen offensichtlich,
eine
Balance zwischen der Subjektivität des Schülers und der Objektivität
der Unterrichtsstoffe herzustellen und damit das Konzept einer
leistungsorientierten Lernschule, mit bestimmten Ideen der
135 Reformpädagogik
zu verbinden. Dazu gehört auch die Klarstellung der Rolle des Lehrers
im Unterricht.
"Unterrichtsgrundsatz
ist ein maßvoller, gebundener Arbeitsunterricht,
bei dem der Lehrer das
Ziel setzt und die Führung fest in der Hand behält. Alles, was die
Selbsttätigkeit des Schülers fördert, ihn zu eigenem Denken und
Urteilen führt, ist Arbeitsunterricht, mithin das lebendige
Lehrgespräch und der zur Mitarbeit anspornende Lehrervortrag ebenso wie
die richtig vorbereitete und geleitete Gemeinschaftsarbeit mit
Arbeitsteilung und -vereinigung und die sinnvoll gestellte Hausaufgabe.
Der
Arbeitsunterricht darf nicht zu verantwortungslosem Kritteln und
Zerreden führen oder in überheblicher Rechthaberei und bloßem
Meinungsstreit steckenbleiben. Er muß vielmehr in einem Ergebnis, in
einer Wertung und Entscheidung sein Ziel sehen. Dafür trägt der Lehrer
die Verantwortung" (19 f.).
Dieser Grundsatz
schließt aber
durchaus "lebendigen Wechsel der Arbeitsweise" ebenso ein wie die
Anerkennung der Individualität des Schülers.
"Ein
Sichverlieren
in stoffliche Nichtigkeiten und eine unnötige Breite des
Unterrichtsganges sind Zeitvergeudung und lähmen die Arbeitslust. Nicht
minder schädlich ist eine Unterrichtsweise, die den Schüler, anstatt
ihm Mut zu machen und sein Selbstvertrauen zu heben, durch kleinliche
Zwischenfragen und vermeintliche Hilfen dauernd bevormundet und ihm
Selbstvertrauen und Freude an der eigenen Leistung raubt. Jede
selbständige Denkleistung ist als solche zu würdigen. Wachsenlassen und
Führen sind die sich ergänzenden Grundsätze aller planvollen Erziehung"
(20).
Zweifellos lassen diese Richtlinien das Bild
einer für die
damalige Zeit relativ fortschrittlichen Oberschule erkennen, die
Einsichten der Reformpädagogik mit relativ hohen
Unterrichtsanforderungen verbindet. Auffallend ist auch, daß im
Unterschied zu den Volksschul-Richtlinien diese in ihrem allgemeinen
Teil kaum spezifische ideologische Passagen enthalten. Die offizielle
Ideologie wird lediglich als fundierende und integrierende Sinnstiftung
verstanden.
"Die nationalsozialistische
Weltanschauung ist nicht Gegenstand oder Anwendungsgebiet des
Unterrichts, sondern sein
136
Fundament.
Sie ermöglicht, daß die Schlagbäume zwischen den einzelnen Fachgebieten
fallen und auf eine ungezwungene Weise ein Unterricht in Querverbindung
und Konzentration betrieben werden kann. Mit ihr lösen sich alle
Lehrplan- und Stundenplanschwierigkeiten, die im Zeitalter des
Bildungspluralismus unüberwindlich schienen. Denn die Weltanschauung
gibt dem Unterricht nicht so sehr neue Bildungsstoffe, als vielmehr
eine neue Sicht, ein neues Erziehungsverfahren und ein neues
Ausleseprinzip für das Bildungsgut" (19). In den Lehrplänen für die
einzelnen Fächer, vor allem für die Gesinnungsfächer und für Biologie
sind entsprechende ideologische Verkürzungen allerdings durchaus zu
finden. Hier wirkt sich die NS-Weltanschauung tatsächlich als "neues
Ausleseprinzip für das Bildungsgut" zum Teil nachhaltig aus. Im ganzen
jedoch versuchen diese Richtlinien, das sachorientierte
Leistungsprinzip gegen allzu starke ideologische Beeinträchtigungen
durchzuhalten. Ein Beispiel dafür, aber auch zugleich ein Hinweise
darauf, daß offensichtlich auch in den Schulen die "Weltanschauung"
bereits verkitscht wurde, ist folgende Bemerkung über den Schulaufsatz:
"Der
Schulaufsatz ist weder der geeignete Prüfstein für eine
propagandistische Begabung des Schülers, noch der Ort, wo er seine
Gesinnung zu Markte tragen soll. Vielmehr ist jedem eitlen und
berechnenden Verschleiß nationaler Werte schonungslos entgegenzutreten:
für die großen nationalen Kundgebungen muß ein unverbrauchter
Wortschatz zur Verfügung stehen, die Phrase, wo und wie immer sie sich
hervorwagt, ist rücksichtslos zu entlarven: Worte wie heldisch, Blut,
Ehre, Volksgemeinschaft und andere müssen ihren tiefen Sinn verlieren,
wenn sie im Alltag des Unterrichts leichtfertig verbraucht werden" (44).
Die
Richtlinien versuchen also, fachliche Leistung in den Oberschulen zu
erhalten und die Abstraktheit und Lebensfremdheit des traditionellen
Gymnasiums zu vermeiden. Die "Lebensnähe" der Schule ist aber eben
immer auch Hinwendung zum tatsächlichen gesellschaftlichen Leben und
damit auch zu dessen offizieller ideologischen Bewertung, und die war
damals eben nationalsozialistisch.
Die Richtlinien
zeigen, daß ein deutlicher Unterschied zwischen Volksschule und höherer
Schule gemacht wird. Ob-
137 wohl
Begabten aus den unteren Volksschichten ausdrücklich der Weg in die
höhere Bildung freigemacht werden sollte, war die Volksschule als
Massenschule des Volkes gedacht. Deshalb sollte sie wie früher wieder
im völkischen Leben verankert werden, an dessen aktuellen Ereignissen
wie an den entsprechenden Festen und Feiern teilnehmen. Diese lokale
wie volksgemeinschaftliche Eingebundenheit erschien den
Richtlinien-Machern wichtiger als dezidiertes Wissen, das sich in
Schulbüchern fand, die zum Teil noch aus der Weimarer Zeit stammten.
Die
Oberschule war dagegen als Leistungsschule gedacht. Andererseits
bemühte sich das Regime durchaus, erkennbaren Begabungen "aus dem Volk"
gerecht zu werden mit Angeboten unterhalb der Oberschule. Die
reichsweite Einführung der Mittelschule durch Rust diente auch diesem
Zweck, ebenso die damit konkurrierende Einführung der Hauptschule, die
für die besten Volksschüler zur Pflichtschule werden sollte. Auch die
Aufbauschulen, die in ländlichen Gebieten eingerichtet wurden, sollten
Begabte mobilisieren, und die im Krieg eingeführten
Lehrerbildungsanstalten machten den Volksschullehrer wieder zu einem
Aufstiegsberuf für Volksschulabgänger, für Abiturienten war er zu einem
Abstiegsberuf geworden - ein wesentlicher Grund für den Lehrermangel.
Bei
der Beurteilung dieser Schule und Bildungspolitik muß man bedenken, daß
es damals - anders als heute - noch eine verhältnismäßig tiefe Kluft
gab zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bzw. Landbevölkerung, die
sich unter anderem auch im Schulzugang ausdrückte. Selbst für ein
unzweifelhaft begabtes Arbeiter- oder Bauernkind war der Besuch einer
Oberschule ein schwieriges Unterfangen - nicht nur, weil dafür
Schulgeld gezahlt werden mußte, sondern vor allem auch, weil damit eine
soziale Entfremdung verbunden war. Deshalb war es keineswegs abwegig,
für solche Kinder Schulformen anzubieten, die näher an ihrem sozialen
Status und gesellschaftlichen Selbstverständnis lagen als die
Oberschulen.
Zu den seit 1937 einsetzenden
Schulreformmaßnahmen
gehört auch das "Reichsschulpflichtgesetz" (6.7.38). Es setzte den
Beginn der Schulpflicht auf das vollendete 6. Lebensjahr des Kindes und
eine achtjährige Volksschulpflicht fest. Zwar
138
hatte
schon die Weimarer Verfassung im Artikel 145 eine Schulpflicht von
mindestens acht Jahren vorgesehen, aber die Länder hatten diese
Forderung unterschiedlich erfüllt. Bayern und Württemberg hatten die
achtjährige Volksschule nur teilweise eingeführt, während in Hamburg
und Schleswig Holstein eine neunjährige Schulpflicht bestand.
Die
wichtigste Bestimmung dieses Gesetzes war jedoch die Neuordnung des
Berufsschulwesens. Zwar hatte auch in dieser Frage der Artikel 145 der
Weimarer Verfassung eine einheitliche Regelung vorgesehen, doch ein
entsprechendes Reichsberufsschulgesetz kam ebenso wenig zustande wie
ein Reichsschulgesetz. Das Ergebnis war eine Fülle von verwirrenden
Bestimmungen, die teilweise nur lokale Geltung hatten, und die vor
allem darauf zurückzuführen waren, daß die Zuständigkeiten von Handels-
und Kultusministerien sich vielfach überschnitten. Etwa ein Viertel der
an sich berufsschulpflichtigen Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18
Jahren konnten keine Berufsschule besuchen. Nun wurde die
"Berufsschulpflicht" reichsweit eingeführt. Sie begann für jeden
Schüler nach dem Ende der Volksschule und dauerte drei Jahre, für
landwirtschaftliche Berufe zwei Jahre. Die Kommunen wurden
verpflichtet, entsprechende Schulen einzurichten, so daß auch das in
Mittel- und Kleinstädten bisher vernachlässigte Berufsschulwesen
ausgebaut werden konnte. Die praktische Berufsausbildung erfolgte in
den Betrieben und war bisher eine Domäne des Handwerks. Nun wurde die
Industrie gedrängt, sich ebenfalls an der Berufsausbildung zu
beteiligen. So entstand innerhalb weniger Jahre eine vom Handwerk
unabhängige Berufsausbildung. Für die einzelnen Lehrberufe wurden
Berufsbilder festgelegt, aus denen dann die für nötig erachteten
Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten abgeleitet wurden. Auf diese
Weise entstanden bis 1943 dreihundertvierzehn anerkannte Lehrberufe,
die allerdings sehr spezialistisch konzipiert waren.
Es
hat
verschiedene Versuche gegeben, die NS-Ideologie in einem eigenen
Schulfach zu lehren. Einer davon war der 1934 eingerichtete
"Staatsjugendtag", der zwischen HJ und Schule aufgeteilt wurde. Die 10-
bis 14jährigen Schüler, die dem Jungvolk angehörten, sollten ihre
nationalpolitische Erziehung in der HJ erhalten, die übrigen blieben in
der Schule, wo ein zweistündiger weltanschaulicher Unterricht, ergänzt
139
durch
Sport, Basteln und Wandern abgehalten wurde. Dieses Projekt scheiterte
aber einerseits an der Unfähigkeit der HJ, diese Aufgabe geistig und
organisatorisch zu bewältigen, zum anderen auch am Widerstand der
Schule, die auf ihr Niveau nicht verzichten wollte; der
"Staatsjugendtag" wurde 1936 wieder abgeschafft.
Lediglich
in
Württemberg wurde die NS-Weltanschauung als Schulfach eingeführt
("weltanschaulicher Unterricht" = WAU). Nach einem 1938
veröffentlichten Stoffplan-Entwurf sollte der WAU folgende Themenkreise
behandeln:
"Für die Grundschule sieht der Entwurf
zwei große
Themenkreise vor: 1. 'Vom Erahnen Gottes in der Natur', wobei Stoffe zu
den Themen 'Die Ordnung der Natur' sowie 'Die Jahreszeiten' vorgesehen
sind und 2. 'Vom Erleben der Blutsgemeinschaft', wobei es um Stoffe zu
den Themen 'Das Kind als Glied der Familie', 'Das Kind in der
Schulgemeinschaft', 'Das Kind in der Stadt- und Dorfgemeinschaft', 'Das
Kind in der Volksgemeinschaft' geht. Für die Mittelstufe (5.8.
Schuljahr) werden Stoffe aus folgenden Themenkreisen vorgeschlagen:
'Göttermythen und Heldensagen', 'Aus der deutschen Geschichte',
'Deutsche Glaubens- und Lebenskunde', 'Vorbilder deutschen Wesens in
Leben und Denken', 'deutsche Kunst', 'Weltanschauliche
Auseinandersetzung mit anderen Mächten', 'Besprechung weltanschaulich
wichtiger Tagesereignisse'. In der höheren Schule steht vor allem die
nationalsozialistische Weltanschauung sowie ihre historischen und
rassischen Grundlagen im Zentrum des ,Entwurfs'. Die Auseinandersetzung
mit den Kirchen fand vor allem unter der Überschrift 'Weltanschauliche
Auseinandersetzungen mit anderen Mächten' statt. Für das siebte
Schuljahr waren da u.a. folgende Stoffe vorgesehen: 'Jüdische
Weltanschauung', 'Das Wesen des Christentums', 'Der politische
Katholizismus'. Schon die Untertitel zum letzten Thema wie 'Das
politische Machtstreben der Kirche im Mittelalter', 'Die Beherrschung
der Seelen durch Lohn und Strafe', 'Das Unfehlbarkeitsdogma' deuteten
auf eine sehr gehässige, einseitige Darstellung der (katholischen)
Kirche und ihrer Geschichte hin. Noch deutlicher war das im achten
Schuljahr zu spüren, wo unter dem Oberthema 'Gegenbewegungen gegen den
deutschen Geist' Themen wie: 'Die Jesuiten', 'Die Politik des
Zentrums', 'Die katholische Aktion und ihre Tarnung im Dritten Reich',
'Protestantische Rompilger'
140
zur
Behandlung vorgeschlagen wurden ... (Thierfelder, S.244).
Die
evangelische Kirche des Landes gestand dem Staat zwar das Recht zu,
einen staatsbürgerlichen Unterricht zu erteilen, wandte sich aber
scharf gegen die anti-christlichen Partien dieses Lehrplans. Der Streit
zog sich bis in die letzten Kriegsjahre hin, und Bischof Wurm forderte
die Pfarrer auf, Kinder nicht zu konfirmieren, die am WAU teilnahmen.
Diese Auseinandersetzung bewog schließlich das REM, die geplante
Einführung des WAU in Sachsen zu verbieten.
Bei den
Versuchen,
die NS-Weltanschauung in den Schulen zu lehren, erwies sich schnell,
daß dieses "ldeengut" dafür zu diffus war bzw. daß niemand die
Kompetenz hatte, es allgemeingültig zu definieren. Lediglich in den von
den Nazis eingerichteten Eliteschulen (NPEA und Adolf-Hitler-Schulen)
war der Spielraum dafür offener, weil die Definitionsmacht derer, die
diese Schulen betrieben, entsprechend größer war.
Dem
Programm
der "Volksgemeinschaft" widersprachen die Bekenntnisschulen. Ihre
Beseitigung stieß jedoch auf rechtliche Schwierigkeiten. Das Konkordat
von 1933 sicherte den Bestand und die Neueinrichtung katholischer
Bekenntnisschulen, und die evangelische Kirche ging davon aus, daß
diese Regelung aus Gründen der Parität auch für sie gelten würde. Für
Preußen galt zudem immer noch das "Volksschulunterhaltungsgesetz" von
1906, das die Bekenntnisschulen ebenfalls garantierte. Bis 1935 änderte
sich in dieser Frage auch nichts, obwohl die Einführung der
"Gemeinschaftsschule" zum Programm des "Nationalsozialistischen
Lehrerbundes" (NSLB) seit 1930 gehörte. Für die Abschaffung der
Bekenntnisschulen gab es nicht nur ideologische Gründe, insofern sie
das Erziehungsmonopol der Nazis gefährdeten, sondern auch praktische;
die Unterhaltung vieler Zwergschulen war unökonomisch. Voll gegliederte
Volksschulen waren nur in den großen Städten zu finden und im ganzen in
der Minderheit. Im Jahre 1940 waren nur circa zehn Prozent der
Volksschulen im Reich voll ausgebaut, vierzig Prozent aller Schulen
waren einklassig, zwanzig Prozent waren zweiklassig, zehn Prozent
dreiklassig, acht Prozent vierklassig.
Der Kampf für
die Gemeinschaftsschule begann 1935 in Bayern und dauerte bis Ostern
1941; erst dann waren die letz-
141 ten
Konfessionsschulen beseitigt. Die Kampagne ging nicht von einer
zentralen Weisung des Reiches aus, sondern von lokalen Parteiinstanzen
bzw. von den Kultusministerien der Länder. Vor allem der
"Nationalsozialistische Lehrerbund" (NSLB) setzte sich dabei in Szene.
Gearbeitet wurde mit Haken und Ösen. Im Grunde mußte der Anschein
erweckt werden, als wolle die Mehrheit der Bevölkerung selbst die
Gemeinschaftsschule. Abstimmungen unter den Eltern wurden in Schulen
veranstaltet, wobei die Anwesenden kurzerhand als Repräsentanten der
Gesamtbevölkerung definiert wurden. An anderen Orten wurden die
Bürgermeister einfach als Vertreter des Volkswillens angesehen. Die
katholische Kirche veranstaltete in ihren Gottesdiensten
Gegen-Abstimmungen und veröffentlichte deren Ergebnisse. Diese
Auseinandersetzung brachte teilweise erhebliche Unruhe in die
Bevölkerung, so daß Heydrich die Abstimmungen 1937 verbot.
Wie
bereits gesagt, ging die Initiative zu dieser Kampagne nicht vom REM
aus. Im Gegenteil versuchte Rust diese Aktivitäten mit dem Hinweis zu
stoppen, er bereite eine reichseinheitliche Regelung vor. Die Kampagne
ist ein Beispiel dafür, daß in der NS-Zeit Schulpolitik keineswegs nur
von den dafür zuständigen staatlichen Instanzen gemacht wurde, sondern
auch von Parteidienststellen. Das war möglich, weil Hitler keine klaren
Direktiven für die Schulpolitik erlassen hatte. Statt dessen griff er
mit "Führerbefehlen" ein. Das waren oft nur Äußerungen im Kreise seiner
Unterführer, die von diesen dann in ihrem Sinne ausgelegt und
durchgeführt wurden. Zunehmende Bedeutung gewann dabei Martin Bormann,
der zunächst Sekretär des Hitler-Stellvertreters Hess, dann Hitlers
Sekretär war. Vor allem von ihm gingen die religions- und
kirchenfeindlichen Tendenzen aus. Er unterstützte die erwähnte
Einführung des WAU in Württemberg nachdrücklich. Er wollte Schulgebete
und Schulandachten durch NS-Morgenfeiern ersetzen und eine Art von
NS-Katechismus anstelle einer christlichen Sittenlehre einführen. Für
die restlose Beseitigung der Bekenntnisschulen setzte er Rust
schließlich ein Ultimatum.
Während Rust und sein
Ministerium
immerhin versuchten, eine sachorientierte Schulpolitik zu betreiben und
dabei die staatliche Administration von Parteieingriffen nach
Möglichkeit freizuhalten, verfolgten führende Persönlichkeiten der
Partei entgegengesetzte Ziele. Baldur von Schirach, der "Reichs-
142
jugendführer",
verwickelte Rust nicht nur in zahllose Konflikte, die die Beziehungen
der HJ zur Schule betrafen, er versuchte auch bis in die Kriegsjahre
hinein ein Jugendministerium unter seiner Leitung durchzusetzen, dem
auch das Schulwesen unterstellt werden sollte. Gemeinsam mit Robert
Ley, dem Führer der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) gründete er 1936
ohne Wissen Rusts, aber gedeckt durch einen "Führerbefehl", die
"Adolf-Hitler-Schulen" als reine Parteischulen, die nicht mehr der
staatlichen Schulaufsicht unterstanden. Davon wird im nächsten Kapitel
noch zu sprechen sein.
Die schon erwähnten
"Deutschen
Heimschulen" unterstellte Hitler dem SS-Gruppenführer August Heißmeyer,
Chef des Hauptschulungsamtes der SS, der auch ab 1936 die Leitung der
1933 gegründeten "Nationalpolitischen Erziehungsanstalten" (NPEA)
übernommen hatte. Ab 1942 bekam er auch die Leitung der
"Reichsvereinigung deutscher Privatschulen" in die Hand; in diesem
Verband waren die noch verbliebenen Privatschulen zusammengefaßt worden.
Die
"Nationalpolitischen Erziehungsanstalten" (NPEA) waren ähnlich wie die
später zu behandelnden Adolf-HitlerSchulen" als Eliteschulen des
Regimes vorgesehen. Am 20.4.33 wurden die staatlichen Bildungsanstalten
in Potsdam, Plön und Köslin, die früher preußische Kadettenanstalten
waren, in NPEA umgewandelt. In diesen Schulen sollte das Modell einer
NS-Erziehung entwickelt werden. Der Lehrkörper setzte sich zusammen aus
Lehrern, die für den Unterricht zuständig waren, und aus Erziehern. Als
Lehrer wurden junge, unverheiratete Studienassessoren auf drei Jahre
verpflichtet, die Erzieher waren durchweg überzeugte
Nationalsozialisten. Neben dem Unterricht in den üblichen Fächern -
wozu hier auch ein "nationalpolitischer Unterricht" gehörte - nahm der
Sport einen breiten Raum ein, einschließlich damals elitärer Sportarten
wie Rudern, Segeln, Segelflug, Motorsport. Hinzu kam Geländesport im
Sinne einer vormilitärischen Ausbildung. Im Herbst fanden mehrwöchige,
manöverähnliche geländesportliche Übungen statt, an denen alle
preußischen Anstalten beteiligt waren und die von ranghohen Offizieren
begutachtet wurden. Auf dem Programm standen auch Fahrten durch
Deutschland. In der Untersekunda mußte jeder Schüler sechs bis acht
Wochen bei einem Bauern oder Siedler arbeiten, im nächsten Schuljahr in
einer Fabrik. Längere Auslandsaufenthalte wurden durch
143 einen
Austauschdienst organisiert. Der Alltag im Internatsbetrieb wurde durch
die typische NS-Lagererziehung bestimmt: Frühsport, Fahnenappell,
Feiergestaltung, Lagerdienst, Gemeinschaftsleben. Das ganze Arrangement
sollte den Schülern das Bewußtsein vermitteln, zu einer privilegierten
Gruppe und zur späteren Elite zu gehören. Deshalb waren Schulplätze für
diese Schulen sehr begehrt. Rust hatte die Lehrer des dritten und
vierten Schuljahres angewiesen, besonders begabte Jungen dem
Kreisschulrat zu melden, der dann die Eltern zu einer Bewerbung
aufforderte. Vorbedingung waren Mitgliedschaft in der HJ, gute
Gesundheit, sportliche Leistungsfähigkeit, Nachweis der arischen
Abstammung der Eltern und ein politisches Gutachten des zuständigen
Kreisleiters. Die vorgeschlagenen Jungen nahmen acht Tage am Dienst
einer NPEA teil, wurden dabei beobachtet und danach endgültig
ausgewählt. Im Unterschied zur Adolf-Hitler-Schule, die kein Schulgeld
verlangte, mußte für die NPEA ein nach Elterneinkommen gestaffeltes
Schulgeld zwischen 200 und 1.200 RM pro Jahr gezahlt werden. Allerdings
gab es eine ganze Reihe von Freiplätzen, die vorzugsweise an Kinder von
bewährten Nationalsozialisten vergeben wurden. Hitler wollte, daß aus
diesen Schulen der Offiziersnachwuchs hervorging. Deshalb verfügte der
Reichskriegsminister über eine Reihe von Stipendien für die Söhne
aktiver Offiziere. Im Kriege gab es in Deutschland und in den
annektierten Gebieten 35 NPEA, etwa ein Prozent der Abiturienten wurde
in ihnen ausgebildet. Das war nicht viel, aber für die Zeit nach dem
Kriege war an einen zügigen Ausbau dieses Schultyps gedacht.
Die
Entwicklung der Lehrerbildung
Im
Jahre 1933, also am Ende der Weimarer Republik, war die Lehrerbildung
in den einzelnen Reichsländern unterschiedlich geregelt; jedenfalls
gilt dies für die Ausbildung der Volksschullehrer, die der
Gymnasiallehrer bestand im Kern aus einem Universitätsstudium in den
gewählten Unterrichtsfächern und einer anschließenden Referendarzeit.
Daran wurde in der NS-Zeit im Prinzip auch nichts geändert.
Die
Ausbildung der Volksschullehrer wurde in der Weimarer Republik
grundsätzlich auf eine wissenschaftliche
144 Grundlage
gestellt - im Unterschied zu der vorher gültigen Seminarausbildung, die
mit Volksschulabschluß absolviert werden konnte; diese Art der
Ausbildung hatte auch Ernst Krieck genossen. Die Weimarer Verfassung
hatte im Artikel 143, 2 festgelegt, daß die unterschiedlichen
Ausbildungen der Lehrergruppen angeglichen werden sollten. "Die
Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung
allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln". Nun sollte also
das Abitur zur Eingangsvoraussetzung für die Ausbildung der
Volksschullehrer werden. Aber zu einer reichseinheitlichen Regelung kam
es nicht.
Das durch die Weimarer Verfassung
vorgegebene Prinzip
der Verwissenschaftlichung wurde in den einzelnen Reichsländern jedoch
unterschiedlich realisiert. Braunschweig, Hamburg, Sachsen und
Thüringen bildeten die Lehrer an der Universität bzw. Technischen
Hochschule aus; Bayern und Württemberg hielten an der Seminarausbildung
fest, die nur unwesentlich modifiziert wurde. Preußen hatte die
"Pädagogische Akademie" eingeführt, eine Hochschule eigenen Typs
außerhalb der Universität. Sie beruhte im wesentlichen auf einem
Gutachten, das Eduard Spranger verfaßt hatte ("Gedanken über
Lehrerbildung", 1920). Spranger befürchtete einerseits eine
Pädagogisierung der Universität, wenn sie die Lehrerbildung übernehmen
würde, andererseits glaubte er, daß der Volksschullehrer für seinen
Beruf anderes brauche als ein wissenschaftliches Universitätsstudium.
Die Akademie sollte eine "Bildnerhochschule", eine "Stätte der
Begegnung mit den Kulturinhalten" sein. Dort sollte der angehende
Lehrer sich selbst bilden können, um danach auf seine Schüler
entsprechend einzuwirken. Gemäß der "Denkschrift" über "Die Neuordnung
der Volksschullehrerbildung in Preußen" (1925) wurde vom Studium an den
neuen Akademien "Pädagogische Schulung, Vertrautheit mit den zu
vermittelnden geistigen, religiösen, sittlichen, technischen und
künstlerischen Bildungswerten, Verwurzelung im heimatlichen Volkstum
und eine ausgeprägte Berufsgesinnung" erwartet (7). Aus diesen
Formulierungen wird erkennbar, daß die "Volksnähe" des
Volksschullehrers, wie sie sich in den Richtlinien für die Volksschulen
von 1939 zeigt, im Prinzip keine Erfindung der Nationalsozialisten war.
Die
preußischen Akademien verwandelte Rust am 6.5.33 in "Hochschulen für
Lehrerbildung" (HFL) mit der Absicht,
145 diesen
Typus für das ganze Reich einzuführen, was aber wegen der erwähnten
unterschiedlichen Ausgangsbedingungen erst 1937 voll gelang. Auch die
neuen HFL setzten das Abitur voraus und das Studium dauerte wie bisher
zwei Jahre. Aber Rust verlegte die Anstalten in ländliche Gebiete und
in Grenzgebiete, um so die völkisch-gemeinschaftsorientierten
Erwartungen an den NS-Lehrer zu unterstreichen. Von 1936 bis 1939
mußten auch Anwärter für das höhere Lehramt zunächst zwei Semester an
einer HFL studieren - im Sinne einer "Ausrichtung der gesamten
Erzieherschaft auf ein einheitliches politisch-weltanschauliches Ziel".
Am Ende dieses Studienabschnitts entschied der Direktor der Anstalt
darüber, ob der Student zu einem weiteren Studium an der Universität
zugelassen werden sollte. Mit Kriegsbeginn wurde dieser Studienanteil
jedoch nicht zuletzt auf Einspruch der Rektorenkonferenz wieder
zurückgenommen.
Von Anfang an gab es einflußreiche
Kreise in der
NSDAP, die den Ausbildungsstandard der HFL für unangemessen hoch
hielten angesichts der Erwartungen, die an den Beruf des
Volksschullehrers zu stellen seien. Vor allem kritisierten sie die
Reifeprüfung als Zulassungsvoraussetzung. Eine ihre Argumentation
stützende Tatsache sahen sie in dem eklatanten Lehrermangel, der Mitte
der 30er Jahre einsetzte, nachdem Ende der 20er Jahre noch
"Überfüllung" geherrscht hatte. Trotz intensiver Werbung für den
Volksschullehrerberuf konnten die HFL 1938 nur etwa die Hälfte des
Bedarfs decken. Im Jahre 1940 konnten die Hochschulen nur etwa 2.300
Junglehrer bereitstellen, benötigt wurden aber etwa 7.000.
Die
Gründe für den Mangel lagen vor allem darin, daß das Ansehen dieses
Berufes nicht zuletzt durch die Angriffe der HJ, wegen der vor allem
auf dem Lande vielfach immer noch geltenden kirchendienstlichen
Pflichten der Lehrer und wegen der schlechten Bezahlung auf einem
Tiefpunkt angelangt war. Die Abiturienten hatten damals weit bessere
berufliche Alternativen vor Augen. Aufschlußreich zu diesem Thema ist
ein Bericht des Kreisleiters von Cloppenburg vom November 1940:
"Wir
alle wissen, wie schwer es ist, Lehrernachwuchs zu bekommen, und
eingehende Umfrage in den Ortsgruppen hat denn auch ergeben, daß wir
diese Schwierigkeiten noch lange nicht überwinden werden. Ein Hauptübel
ist, daß gerade
146
Junglehrer
miserabel bezahlt werden.
Auch darüber habe ich früher schon einmal berichtet und ihr Gehalt mit
den hauptamtlich angestellten Führern der HJ verglichen. Das Ergebnis
war ein Entrüstungsschrei der HJ, die sich einfach verbat, daß ein
Jugendführer mit einem Junglehrer auf eine Stufe gestellt werden
sollte. Heute ist es nun so weit, daß kein Junge mehr Lehrer werden
will; denn 16jährige Jungens verdienen genausoviel wie ein studierter
Junglehrer. Auf dem Ammerland erzählt man sich z.B., ein Junglehrer
bekäme das Gehalt eines Knechtes.
Es kommt hinzu,
daß man den
Lehrern sehr viele Nebeneinkünfte genommen hat, und das Endergebnis
ist, daß heute kein Mensch mehr darum rennt, Lehrer zu werden.
Ich
habe ja auch das Gefühl, als wenn man sich deshalb nicht so sehr zum
Nachwuchs drängt, weil man weiß, daß der Lehrer seine ursprüngliche
beherrschende Position eingebüßt hat und weil man weiter weiß, daß er
heute in hervorragendem Maße für die Mitarbeit in der Partei
herangezogen wird, so daß ihm bei einer gewissenhaften Ausübung seines
Berufes kaum noch Freizeit bleibt ... .
Zu
allerletzt führe ich
dann noch einen Grund an, den man auch nicht außer acht lassen soll:
Hier in unserem Bezirk machen auch die Eltern nicht mit, denn sie
fürchten, daß die Jungens in der Aufbauschule ohne Religion aufgezogen
werden, und dann scheidet der Lehrerberuf in den meisten Fällen aus"
(zit. n. Willenborg, 96).
Auf dem Hintergrund dieses
Mangels
forderte die von Bormann geleitete Parteikanzlei den Abbau der
akademischen Lehrerbildung, und Rust wurde erheblich unter Druck
gesetzt. Er wehrte sich heftig und trat mit Entschiedenheit für eine
wissenschaftsorientierte Ausbildung auch der Volksschullehrer ein. Aber
Hitler verfügte Ende 1940 die Auflösung der HFL und die Schaffung von
"Lehrerbildunganstalten" (LBA). Er hielt es für "völlig abwegig",
"Lehrer, die ABC-Schützen zu unterrichten haben, mit Hochschulbildung
auszustatten" (Ottweiler, in: Heinemann 1980, Bd.1, 206). Er wünschte
außerdem, ehemalige Unteroffiziere nach einer pädagogischen
Zusatzausbildung als Volksschullehrer unterzubringen.
Die
LBA, die nun nicht mehr wie noch die HFL nach Konfessionen getrennt
waren, nahmen Volksschul- und Haupt-
147
schulabgänger
auf, die Ausbildung dauerte fünf Jahre bis zur ersten Lehrerprüfung.
Sie war straff schulmäßig orientiert und fand unter
Internatsbedingungen statt, was - unter maßgeblicher Beteiligung der HJ
- eine intensive Lagererziehung ermöglichte. Ende 1942 gab es im Reich
160 LBA. Ihr Leistungsniveau war so niedrig, daß selbst aus Kreisen der
NSDAP bei der Parteikanzlei - vergeblich - interveniert wurde mit dem
Ziel einer Erhöhung des geistigen Niveaus. Ein Grund für diesen
intellektuellen Verfall war die permanente Inanspruchnahme der
Studierenden und der Lehrenden für Aufgaben der Partei bzw. für den
"Einsatz" im Rahmen kriegsbedingter Aufgaben; schließlich galt es ja,
das Studium nicht akademisch-lebensfremd, sondern
"volksgemeinschaftlich" zu gestalten.
Rust hatte den
Lehrermangel Ende der 30er Jahre durch Notmaßnahmen überbrücken wollen,
ohne das Konzept der HFL im Grundsatz anzutasten. So wurden in Preußen
Anfang 1939 "staatliche Aufbaulehrgänge für das Studium an den
Hochschulen für Lehrerbildung" eingerichtet, in denen
Volksschulabgänger vier und Mittelschulabgänger zwei Jahre lang auf ein
Studium an der HFL vorbereitet wurden. Die Auswahl der Bewerber
erfolgte - analog dem Verfahren für die NPEA - in Musterungslagern, in
denen sich die Jungen und Mädchen zu bewähren hatten. Eine weitere
Maßnahme war die Verkürzung des Studiums an der HFL, von vier auf drei,
schließlich auf zwei Semester. Anfang 1940 wurde mit den "Schulhelfern"
ein ganz neues Konzept auf den Weg gebracht: 19-30jährige Männer und
Frauen mit einem Mittelschul- oder gutem Volksschulabschluß wurden in
dreimonatigen Kurzlehrgängen an zwei HFL als "Schulhelfer" für eine
zweijährige Unterrichtspraxis vorbereitet; danach sollte ein
einjähriges Studium an einer HFL folgen. Vor allem Frauen machten von
diesem Angebot Gebrauch, weil die Hochschulpolitik vor dem Kriege
Frauen sehr benachteiligt hatte und das Studium mit hohen Kosten
verbunden gewesen wäre. Nun bekamen sie eine Ausbildungsvergütung und
während der Schulhelferzeit Dienstbezüge. Aber der "Führerbefehl" zum
Wechsel von der HFL zur LBA machte solche Ansätze zunichte.
Ein
wesentliches Instrument der weltanschaulichen Ausrichtung waren die
"Lager". Entweder waren sie von vornherein Bestandteil der Ausbildung
wie bei den LBA, oder sie
148 wurden
immer wieder bei
allen möglichen Gelegenheiten als eine Art von Intervention in den
Ausbildungsprozeß eingeschaltet. So war im zweiten Referendarjahr die
weltanschauliche Grundlage der NS-Erziehung das allgemeine
Ausbildungsthema, das durch ein Lager abgerundet wurde. In Lagern
wurden auch die Ausbilder weltanschaulich auf Linie gebracht. Die
weltanschauliche Grundlage dafür bildeten vor allem Schriften von
Krieck und Baeumler.
Ein weiteres Kontrollinstrument
war der
freiwillige "Einsatz im Rahmen der NS-Formationen. Bei der Prüfung
hatte der Kandidat darüber Rechenschaft abzulegen, und die
"Reichsordnung für die pädagogische Prüfung" (7.6.37) schrieb
Stellungnahmen zur politischen Einstellung ausdrücklich vor. Die bloß
fachliche Qualifikation reichte nicht aus.
Der
Mangel an
Lehrkräften, der Mitte der 30er Jahre bemerkbar wurde, betraf nicht nur
die Volksschule, sondern auch die Oberschule. Um das Jahr 1933 jedoch
war das Gegenteil der Fall-, in dieser Zeit gab es für beide Schularten
sehr viel mehr Lehramtsbewerber, als eingestellt werden konnten.
Schon
1930 hatte der preußische Kultusminister Adolf Grimme darauf
hingewiesen, daß 1934 etwa sieben- bis achttausend Studienassessoren
keine Anstellung finden würden (Nath 1988, 177). Die
Nationalsozialisten übernahmen 1933 also eine "Überfüllung" nicht nur
der Hochschulen, sondern auch der Oberschulen, und sie versuchten,
dieser Überfülle durch restriktive Maßnahmen Herr zu werden. Im "Gesetz
gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen" (1933)
wird festgelegt, daß die Zahl der Oberschüler und Studenten durch
rigide Prüfungsauslese dem beruflichen Bedarf angepaßt werden soll.
Außerdem werden Richtzahlen für die Aufnahme in Oberschulen und
Hochschulen vorgegeben, die jedoch in der Praxis überschritten wurden.
Leidtragende dieser rigiden Bildungspolitik waren vor allem die
Studentinnen, deren Zahl auf zehn Prozent der Gesamtstudentenzahl
begrenzt wurde, und die jüdischen Studenten, deren Zahl dem jüdischen
Bevölkerungsanteil entsprechend auf 1,5 Prozent gesenkt wurde.
Dieses
Gesetz entsprang dem Geist einer "Numerus-clausus-Fraktion" (Nath 1988,
198) unter den Nationalsozialisten, zu
149 der
auch der bereits erwähnte Wilhelm Hartnacke gehörte, mit dem Ernst
Krieck später eine Fehde austrug; diese Gruppe hielt den Andrang zur
weiterführenden Bildung und zum Hochschulstudium für einen
"Bildungsfimmel". Sie verlor jedoch an Einfluß, als aus der
"Überfüllung" innerhalb kurzer Zeit ein Mangel wurde. Der Bedarf an
Akademikern stieg ab 1936 stark an, weil der wirtschaftliche Aufschwung
und vor allem der Aufbau der Wehrmacht qualifiziertes Personal
erforderten. Deshalb wird die Oberschulzeit ab Ostern 1937 um ein Jahr
auf zwölf Jahre verkürzt, um zwei Abiturientenjahrgänge auf einmal zur
Verfügung zu haben. Schon Ende 1936 erklärt das REM das höhere
Lehramtsstudium als "aussichtsreich", und im Wintersemester 1937
blieben Studienplätze unbesetzt. Nun versuchte das REM, durch
Schulgeldermäßigung, Begabtenförderung, "Begabtenprüfungen" für
Berufstätige und "Sonderreifeprüfungen" für Fachschüler sowie durch
"Gebührenerlaß" für begabte, aber bedürftige Studenten Oberschule und
Studium attraktiver zu machen (die Studiengebühren für die
Universitäten betrugen je nach Fach zwischen 157 und 250 Reichsmark pro
Semester, was etwa dem Monatsgehalt eines Facharbeiters entsprach).
Ferner wurden die Gehälter und die Aufstiegsmöglichkeiten verbessert.
Auch die Frauenquote steigt wieder an, 1941 sind mehr als ein Viertel
aller Vollzeitlehrer an höheren Schulen Frauen - ein Anteil, der erst
Mitte der 60er Jahre überboten wird (Nath 1988, 156). Ab 1938 wurde
allgemein unter den Abiturientinnen für das Hochschulstudium nicht nur
im Hinblick auf frauenspezifische Studiengänge geworben, sondern auch
für andere Fächer wie Jura und Technik. Das Reifezeugnis der
Oberschulen für Mädchen, hauswirtschaftlicher Zweig, berechtigte bisher
nicht zum Studium, diese Beschränkung wurde nun aufgehoben.
Während
also das Niveau der Volksschullehrerausbildung erheblich absank und die
materielle Lage der Lehrer sich kaum verbesserte, wurde ernsthaft
versucht, das Niveau der Oberschulen auch unter Kriegsbedingungen
möglichst zu erhalten, obwohl im Kriege das Studium auf sechs Semester
und die Referendarzeit auf ein Jahr (statt zwei Jahre) verkürzt und auf
die schriftliche Hausarbeit verzichtet wurde.
150
Ausschaltung
und Gleichschaltung
Nachdem
die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gekommen waren, versuchten
sie diese vor allem durch zwei Strategien zu festigen: durch die
Ausschaltung der für Gegner gehaltenen Personen und Organisationen und
durch die Gleichschaltung von Einrichtungen und Organisationen, um sie
auf diese Weise für das eigene Machtstreben nutzbar zu machen. Beide
Strategien betrafen auch den uns hier interessierenden Bereich des
Bildungswesens.
Eine wichtige Maßnahme in diesem
Zusammenhang
war das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom
7.4.33. Es galt für alle Beamten des Reiches, der Länder und Kommunen.
Danach konnten alle Beamten entlassen werden, die nicht über die nötige
Qualifikation verfügten ("Parteibuchbeamte"); nichtarische Beamte
mußten in den Ruhestand versetzt werden; Beamte, die aufgrund ihrer
früheren politischen Tätigkeit keine Gewähr dafür boten, für den neuen
Staat einzutreten, konnten ohne Ruhegehalt entlassen werden; Beamte
konnten in eine niedrigere Gehaltsstufe versetzt werden, wenn "das
dienstliche Bedürfnis" dies erforderlich machte; "zur Vereinfachung der
Verwaltung" konnten Beamte vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden.
Die vagen Begründungen wie "dienstliches Bedürfnis" machten es möglich,
praktisch gegen jeden Beamten vorzugehen. Mitglieder kommunistischer
Parteien oder Organisationen wurden auf diese Weise entlassen. Als auch
die SPD verboten wurde, mußten die Beamten, die Mitglieder dieser
Partei waren, innerhalb von drei Tagen eine Erklärung abgeben, daß sie
ihre Bindungen zu dieser Partei gelöst hätten. Das preußische
Kultusministerium verlangte von allen seinen Beamten die Ausfüllung
eines entsprechenden Fragebogens. Die Regierungspräsidenten und
Oberpräsidenten mußten Dreierkommissionen einsetzen - im Volksmund
"Mordkommissionen" genannt -, die von den Gauleitern mit genehmen
Personen besetzt wurden; die Zusammensetzung dieser Kommissionen blieb
geheim, ihre Berichte über die einzelnen Lehrer gingen an das
Kultusministerium.
Aber nicht nur unter den Lehrern
wurde
"gesäubert". Von 527 Schulräten in Preußen wurden 115 (=22 Prozent)
entlassen. Besonders hart betraf es die HfL, 60 Prozent der Lehr- 151 kräfte
mußten gehen. Diejenigen Lehrer, die die Säuberungen überstanden
hatten, wurden einer systematischen "Umschulung" unterworfen.
Allerdings ließen sich Pläne des REM, jährlich die ganze Lehrerschaft
in Schulungslagern mit der NS-Weltanschauung zu konfrontieren, schon
aus Kostengründen nicht verwirklichen.
Träger der
Umschulung
waren das "Zentralinstitut für Erziehung" und der
"Nationalsozialistische Lehrerbund" (NSLB). Das Zentralinstitut bestand
schon in der Weimarer Zeit und hatte unter anderem die Aufgabe der
fachlichen Weiterbildung der Lehrer aller Schularten in Kursen und
Tagungen. Diese Arbeit wurde nun fortgesetzt unter besonderer
Berücksichtigung der neuen Themenschwerpunkte wie Volkskunde,
Rassenkunde, Heimatkunde. Diese Ausweitung weckte jedoch den Widerstand
des NSLB, der die weltanschauliche Schulung für sich allein
beanspruchte. Beide Träger verständigten sich 1936 über eine
Aufgabenteilung: die fachliche Weiterbildung sollte das Zentralinstitut
übernehmen, die weltanschauliche Schulung der NSLB. Wie jedoch in der
NS-Zeit üblich, wurden solche Absprachen nicht eingehalten, der NSLB
griff auch in die fachliche Weiterbildung ein, was auch deshalb nicht
weiter verwunderlich ist, weil ja die "weltanschauliche Schulung"
schlecht abstrakt, ohne den Bezug zu den Schulfächern erfolgen konnte.
Der NSLB baute seine Schulungsarbeit schnell aus zu einem Netz von
Schulungslagern. Davon gab es 41 im Jahre 1937, bis 1939 wurden davon
215.000 Mitglieder erfaßt, wobei besonders diejenigen Lehrer
herangezogen wurden, die nicht Mitglieder der NSDAP waren.
Der
NSLB war 1927 in Hof (Bayern) von dem Volksschullehrer Hans Schemm
gegründet worden, der 1933 Kultusminister in Bayern wurde. Der Verband
forderte die Beseitigung der Lehrervereine und die akademische
Ausbildung der Volksschullehrer, seit 1930 auch die Einführung der
Gemeinschaftsschule ( = eine nicht nach Konfessionen getrennte
Volksschule) und die Beseitigung der Privatschulen. Diese Forderungen
weisen darauf hin, daß der NSLB durch die Volksschullehrerschaft
bestimmt wurde. Er hatte 1932 erst 6.000 Mitglieder, und nach der
Machtergreifung erwies es sich als schwierig, die "Einheitsfront aller
Erzieher" in einer einheitlichen Lehrerorganisation durchzusetzen, also
die anderen Lehrerverbände gleichzuschalten. Eine besondere
152
Schwierigkeit
war steuerlicher Art: bei einer Überführung anderer Verbände in den
NSLB wären hohe Schenkungssteuern angefallen. So betrieb Schemm eine
korporative Lösung: er gründete im Mai/Juni 1933 die "Deutsche
Erziehergemeinschaft" (DEG), der 44 Verbände beitraten. Diese Gründung
war insofern ein Trick, als diese Verbände davon ausgingen, daß sie
sich im Rahmen eines Dachverbandes befänden, im übrigen aber weiterhin
autonom seien. Das sah Schemm jedoch ganz anders, nämlich nur als
Durchgangsstadium auf dem Weg zur Einheitsorganisation NSLB. Er
versuchte nun, die Mitglieder der anderen Verbände abzuwerben, und
Mitglieder des NSLB übten dabei unter Ausnutzung ihrer amtlichen
Stellung großen Druck auf einzelne Lehrer aus. Nachdem mehrere Verbände
sich daraufhin bei ihrem "Dienstherrn", Innenminister Frick,
beschwerten (das REM war noch nicht gegründet), verbot dieser alle
Angriffe auf die Lehrerverbände und jede Benachteiligung ihrer
Mitglieder. Immerhin war die Mitgliederzahl des NSLB von Ende 1932 bis
Ende 1933 von 6.000 auf 220.000 gestiegen. Die Lage änderte sich durch
die Einrichtung des REM als Ausgliederung aus dem Innenministerium.
Rust setzte die Politik Fricks nicht fort, der die Macht des NSLB
begrenzen wollte. Er duldete z.B. eine scharfe Kampagne des NSLB gegen
den Philologenverband, wozu auch gehörte, daß die Schulbehörden den
Lehrern verboten, an Veranstaltungen des Philologenverbandes
teilzunehmen. Anfang 1935 wurde das "Deutsche Philologenblatt"
verboten, wodurch die Verbandsarbeit praktisch zum Erliegen kam. Der
Widerstand des Philologenverbandes war weniger
weltanschaulich-ideologischer Art als vielmehr verbandspolitisch
bestimmt. Als Verband der Gymnasiallehrer wollte er Distanz zu den
Volksschullehrerverbänden wahren, zumal deren Kernforderungen sich
gegen sein Selbstverständnis und gegen seine Interessen richteten. Eine
Nivellierung der Lehrerschaft, wie sie in der Forderung nach
akademischer Ausbildung für alle Lehrer zum Ausdruck kam, wurde als
Angriff auf die herausgehobene Position der Gymnasiallehrer betrachtet.
Gegenüber einigen kleineren konfessionellen Lehrervereinen, die Ende
1934 noch selbständig waren, wandte der NSLB einen Kunstgriff an, den
auch die HJ zeitweilig benutzte: er verbot die Doppelmitgliedschaft im
NSLB und in einem anderen Lehrerverein. Daraufhin lösten sich diese
Vereine entweder auf, oder gaben ihren Charakter
153 als
Standesorganisationen zugunsten einer religiösen Gemeinschaft auf.
Nach
dem Tode von Hans Schemm - er kam 1935 bei einem Flugzeugabsturz ums
Leben - übernahm Fritz Wächtler - Thüringischer Volksbildungs- und
Innenminister und ebenfalls ein Volksschullehrer - den NSLB. Er klärte
in Verhandlungen mit dem Finanzminister die Möglichkeit einer
steuerfreien Übergabe des Vereinsvermögens der anderen Verbände beim
Übertritt in den NSLB. Die de jure innerhalb des NSLB noch
selbständigen Lehrervereine wurden aufgelöst. Wächtler wollte das
Vermögen möglichst aller Lehrervereine in die Hand bekommen, was ihm
nicht durchweg gelang. Der Philologenverband z.B. hatte sein Vermögen
wissenschaftlichen Institutionen vermacht und konnte mit Unterstützung
des REM dem NSLB seine Gelder bis auf einen kleinen Rest vorenthalten
(Eilers, 84). Nun war der NSLB zur Nachfolgeorganisation der alten
Lehrerverbände geworden. Dabei hatte er aber auch deren Fonds und
Selbsthilfeeinrichtungen übernommen, für die die Mitglieder der nun
vereinnahmten Vereine ihre Beiträge gezahlt hatten. In den Genuß dieser
Sozialmaßnahmen konnte künftig aber nur noch kommen, wer Mitglied des
NSLB wurde und blieb. Bei Austritt oder Ausschluß verfielen diese
Rechte. Wächtler wehrte sich wie Rust hartnäckig gegen die Abschaffung
der akademischen Lehrerbildung, was ihm in der Parteiführung den
Vorwurf "gewerkschaftlichen Verhaltens" eintrug. Im November 1941 wurde
der NSLB durch den Schatzmeister der NSDAP unter Zwangsverwaltung
gestellt, weil offensichtlich seine finanziellen Verhältnisse
unübersichtlich geworden waren. Am 2.3.43 wurde seine Arbeit aus
kriegsbedingten Gründen gegen den Widerstand Wächtlers stillgelegt. Er
war eine der nutzlosesten NS-Organisationen.
"In
seinem immensen
leeren Aktivismus hat er wesentlich zur Aushöhlung der Schulerziehung
beigetragen, indem er die pädagogische Diskussion lähmte und die
Lehrerschaft für Aktionen, Programme und Einsätze in Dienst nahm"
(Eilers, 134).
154
Kritisches
Resümee
1.
Zweifellos war es das primäre Ziel der Nationalsozialisten, die
Bildungseinrichtungen machtpolitisch wie ideologisch möglichst fest in
den Griff zu bekommen. Das NS-Regime war ein "totalitäres", aber in
eigentümlich pluralistischer Weise. Die Skizzierung der Schulpolitik
hat gezeigt, daß die daran beteiligten Instanzen und Personen -
vielleicht mit Ausnahme von Rust, der sich offensichtlich bemühte, eine
sinnvolle und damit auch begrenzte Staatsverwaltung durchzuhalten -
ihre Ansprüche auf das jeweilige Ganze richteten. Schirach wollte die
ganze Erziehung in die Hand bekommen, der NSLB die ganze Schulung und
Weiterbildung der Lehrer, die Parteikanzlei - also Bormann - das ganze
Schulwesen. Jeder einzelne Anspruch war totalitär, und daß die
gesellschaftliche Praxis dann doch nicht so ausgerichet wurde, wie
jeder der Akteure dies nach seinen Maßstäben wollte, lag letzten Endes
an der Rivalität der Beteiligten, die einander Grenzen setzten. Dieser
Tatsache ist vor allem zu verdanken, daß der Alltag des Schulehaltens
wesentlich normaler, nämlich sachbezogener ablief, als die
Willenserklärungen der verantwortlichen Beteiligten vermuten lassen.
Darauf deuten jedenfalls die bisher vorliegenden Innenansichten über
die Schularbeit in der NS-Zeit hin.
Diese Rivalität
innerhalb
des totalitären Systems erwuchs nicht in erster Linie aus
sachorientierten Meinungsverschiedenheiten über die richtige Lösung
bildungspolitischer Probleme, die waren - wie der Lehrermangel - nur
Auslöser oder Aufhänger von Aktivitäten, die in erster Linie der
Vermehrung und Aufrechterhaltung von Macht dienten. Das politische
System beruhte primär auf einer irrationalen, d.h. nicht an konkreten
Zielen orientierten Tat-Philosophie, wie wir sie bei Baeumler gefunden
haben. Wer im Rahmen der Partei etwas gelten wollte, mußte unentwegt
etwas tun, sich durch Handeln ständig in Erinnerung bringen –
unabhängig davon, wie nützlich die Ergebnisse waren, bzw. ob man
dadurch andere Parteigenossen ausschaltete oder verdrängte. Das
Bildungswesen war als Betätigungsfeld für einen solchen Aktionismus gut
geeignet, weil es machtpolitisch in besonderem Maße offen war, nachdem
die Kirchen und Lehrerverbände weitgehend ausgeschaltet waren.
155 Man
kann darüber spekulieren, ob etwa nach einem gewonnenen Kriege dieser
pluralistische Totalitarismus, der ja immerhin gewisse
Handlungsspielräume offenließ, weiter bestehen geblieben wäre. Nach der
Logik eines solchem Systems pflegen sich auf Dauer nur einige wenige
Personen bzw. Institutionen durchzusetzen. Man darf nicht vergessen,
daß der Hauptgrund für die Pluralität darin bestand, daß 1933 Personen
mit teilweise sehr unterschiedlichen Motiven und Zielvorstellungen zur
"Bewegung" gestoßen waren die ihrerseits diese unterschiedlichen
Vorstellungen aus dem national-konservativen Spektrum der Zeit davor
gebündelt hatte, aber auf die Dauer wären diese Unterschiede wohl nach
den Regeln des Sozialdarwinismus beseitigt worden.
2.
Eine
besondere Rolle spielten einige NS-Organisationen, die nach der
Machtergreifung eigentlich überflüssig geworden waren. Alle
NS-Organisationen - ob SA, Studentenbund, HJ, NSLB - die vor 1933
gegründet wurden, hatten zunächst nur eine Aufgabe: Anhänger und Wähler
zu mobilisieren und so die Machtergreifung vorzubereiten. Nachdem dies
nun gelungen war, waren Organisationen wie die SA oder der NSLB
zunächst einmal aufgabenlos. Aber sie lösten sich nicht etwa auf - was
gerade für die SA eigentlich nach der "Röhm-Affäre" nahegelegen hätte
-, sondern suchten sich neue Aufgaben und fanden sie unter anderem in
der "weltanschaulichen Schulung". Das galt in besonderem Maße auch für
den NSLB: Er hatte die zahlreichen Lehrervereine, die es vor 1933 gab,
aufgesogen und aufgelöst. Da er selbst aber keine Standesinteressen
mehr vertreten durfte - was der hauptsächliche Zweck der alten
Lehrervereine gewesen war -, blieb ihm wenig mehr als die
"weltanschauliche Schulung" für möglichst alle möglichst oft.
Diese
"Schulung", wie sie dann tatsächlich stattfand, nämlich mit ständiger
Tendenz zur Expansion, war also keine irgendwie "von oben" angeordnete
Dauereinrichtung, sondern gehört in den Zusammenhang der eben
beschriebenen Tat-Philosophie, des ständigen "Einsatzes" als
Selbstzweck. Die "weltanschauliche Schulung" resultierte also insofern
aus dem Handlungsbedürfnis überflüssig gewordener Verbände, und da
diese Verbände relativ machtlos waren, kompensierten sie dies mit
besonderem Aktivismus - gelegentlich auch Fanatismus - auf diesem neuen
Tätigkeitsfeld.
156
3.
Auf der anderen Seite
brachten sich in der Bildungspolitik die alten bzw. neuen Machteliten
zur Geltung. Dazu sind die Wirtschaftselite, die Bildungselite und vor
allem die neue militärische Elite zu rechnen. Sie waren überwiegend
konservativ-nationalorientiert, dem Nationalsozialismus selten
weltanschaulich fanatisch verbunden, sondern eher insofern, als er
nationale Machtpolitik betrieb. Von diesen Kreisen ging eine leistungs-
und technokratisch orientierte Erwartung an das Bildungswesen aus, das
den bewußten, gewiß weltanschaulich disziplinierten, aber in erster
Linie fachlich qualifizierten Nachwuchs hervorbringen sollte. Ihr
Interesse konzentrierte sich naturgemäß auf die höhere Bildung und also
auch auf die Oberschule und die Hochschulen, und vielleicht ist dies
ein Grund dafür, daß dem Volksschulwesen weit weniger Beachtung
geschenkt wurde.
4. Sieht man von den
politisch-ideologischen
und machtpolitischen Zusammenhängen ab, wie sie eben erwähnt wurden,
dann werden allerdings auch Sachzwänge
erkennbar, denen sich die
NS-Bildungspolitiker gegenüber sahen. Dazu gehörten eine Reihe von
Problemen, die sie vorfanden und deren Lösung bzw. Nicht-Lösung man von
heute aus auch rein fachlich erörtern kann, zumal es sich ja dabei um
einen Teil der Vorgeschichte unseres gegenwärtigen Bildungswesens
handelt.
a) Die Vereinheitlichung der Oberschulen
auf drei Typen
für Jungen und zwei für Mädchen läßt sich sachlich durchaus
rechtfertigen - allerdings nur mit der Einschränkung, daß die
Benachteiligung der Mädchen - die dann, wie das Beispiel der weiblichen
Studienassessoren zeigt, später korrigiert werden konnte - ideologisch
bedingt war. Eine Vereinheitlichung war abgesehen davon schon im
Hinblick auf ein modernes Berechtigungswesen und im Hinblick auf
berufliche Mobilität im ganzen Reichsgebiet nötig. Damit wurde zwar
eine bunte Vielfalt geschichtlich entstandener Formen und Variationen
beseitigt, aber es handelte sich dabei doch auch teilweise um einen
Wildwuchs, der für die Bevölkerung nicht mehr durchschaubar war.
Allerdings hat diese Maßnahme bis heute ein sehr vereinheitlichtes,
staatsmonopolistisches Schulwesen zur Folge, und man kann mit
vergleichendem Blick auf andere westliche Industriegesellschaften wie
England und USA durchaus fragen, ob Modernität wirklich nur so
realisiert werden kann, oder ob uns eine größere Vielfalt von
Schulkonzepten, die untereinander in Wettbewerb stünden, nicht gut täte.
157
b)
Auch die Beseitigung der Konfessionsschulen zugunsten der
konfessionsneutralen Gemeinschaftsschulen stand nicht nur aus
ökonomischen Gründen auf der Tagesordnung. Die Argumente, die Krieck
schon in der Weimarer Zeit gegen die Konfessionsschulen ins Feld
geführt hatte, waren nicht mehr zu übergehen. Auf einem anderen Blatt
stehen natürlich die Methoden, mit denen dann die Gemeinschaftsschule
durchgesetzt wurde. Aber man mußte wahrlich kein Nazi sein, um einer
konfessionellen Spaltung dieser Art ein Ende bereiten zu wollen, die
vor allem in der Weimarer Zeit viel zur innenpolitischen Polarisierung
beigetragen hatte und für die es eigentlich keine plausible
pädagogische Begründung mehr gab. Konfessionsschulen waren vielmehr nur
solange einleuchtend, wie die entsprechenden kirchlichen Milieus eine
gewisse Geschlossenheit aufwiesen, so daß außerschulische Lebenswelt
der Kinder und schulische Orientierung einigermaßen übereinstimmten.
Spätestens aber nach dem Ersten Weltkrieg zerbrachen diese Milieus, und
die Hartnäckigkeit, mit der die Kirchen, vor allem die katholische, in
der Weimarer Zeit sich für ihre konfessionelle Bildungspolitik
engagierten, verrät, daß sie sich längst in der Defensive befanden. Die
Stabilität solcher Milieus setzt nämlich unter anderem das Fehlen von
weltanschaulicher Pluralität und von Mobilität voraus. Gewiß waren
diese Entwicklungen unterschiedlich weit gediehen, in den großen
Städten z.B. weiter fortgeschritten als auf dem Lande, in evangelischen
Regionen weiter als in katholischen, aber tendenziell waren sie nicht
mehr zurückzudrängen unter den Bedingungen einer modernen
Industriegesellschaft. Insofern wäre die Kritik an den "völkischen"
Vorstellungen bei Krieck hier sinngemäß zu wiederholen. Das muß dann
aber auch gelten für jene andere Milieuverhaftung, die die
Nationalsozialisten selbst im Sinne einer heimatlich verbundenen
Volksschule restaurieren wollten; die war nicht minder unzeitgemäß. Allerdings
hätte die Einführung der überkonfessionellen Gemeinschaftsschule auch
eine Befriedung der Konfessionen zur Folge haben müssen - etwa
dergestalt, daß den Kirchen weiterhin Religionsunterricht in diesen
Schulen zugestanden worden wäre und daß auf einen anti-kirchlichen bzw.
anti-christlichen Weltanschauungsunterricht verzichtet
158
worden
wäre. Eine Lösung in dieser Richtung hatte Rust wohl auch im Sinn, aber
die Parteikanzlei - Hitler selbst hat die Auflösung der
Konfessionsschule nie durch einen "Führerbefehl" verfügt -, also
Bormann, aber auch Hess und Rosenberg stemmten sich dagegen. Sie
wollten die Abschaffung nicht nur der Konfessionsschulen, sondern auch
des Religionsunterrichts und setzten dies schließlich auch durch.
c)
Die restriktiven, unter der Panik der "Überfüllung" hastig ins Leben
gerufenen bildungspolitischen Maßnahmen der Jahre 1933 und 1934 durch
die "NC-Fraktion" verhinderten eine rechtzeitige Umstellung auf den von
Fachleuten bereits 1934 vorausgesagten Mangel an Facharbeitern wie an
Akademikern. So verging nicht nur wertvolle Zeit, bis diese Einsicht
die Verantwortlichen erreichte; vielmehr dauerte es dann auch noch eine
Weile, bis die Bevölkerung, die durch die Kassandrarufe der Überfüllung
aufgeschreckt sich der höheren Bildung gegenüber distanziert verhielt,
nun vom Gegenteil überzeugt werden konnte. Der Volksschullehrermangel
zeigte an, daß die Zahl der Abiturienten auf kurze Sicht nicht
erheblich vermehrbar war, obwohl die Nachfrage nach ihnen bzw. nach den
daraus zu erwartenden Hochschulabgängern ständig stieg. In dieser Lage
konnte es durchaus als vernünftig erscheinen, die "Begabungsreserven" -
wie man später in den 60er und 70er Jahren sagen wird - in der
Volksschule zu mobilisieren, die immerhin mehr als neunzig Prozent der
Kinder besuchten. Da der Sprung zur höheren Schule für viele Arbeiter-
und Landkinder sozio-emotional wie finanziell zu groß war, lag es nahe,
Angebote zu machen, die am Volksschul-Abgang anknüpften. Insofern war
es - von der dahinterstehenden Ideologie einmal abgesehen - durchaus
einleuchtend, durch die Einführung der LBA den Volksschulabgängern
wieder den Weg zur Lehrerbildung zu öffnen. Rust versuchte dies durch
Zusatzangebote unter Beibehaltung der HFL als Norm zu erreichen und
reagierte damit wesentlich flexibler als die ideologisch orientierte
Parteikanzlei um Bormann; denn man konnte ja zumindest in Rechnung
stellen, daß der Mangel an Abiturienten demnächst behoben sein könnte,
so wie sich ja ab 1933 Überfüllung und Mangel schon einmal innerhalb
weniger Jahre abgelöst hatten. Auch die Einführung der Hauptschule war
unter dem Aspekt der Mobilisierung von "Begabungsreserven" so abwegig
nicht, wenn man bedenkt, daß damit
159 auch
das
Fachlehrerprinzip eingeführt und der Allroundlehrer abgelöst wurde, der
alle Fächer unterrichten mußte. Für die begabteren Volksschüler - man
rechnete etwa mit einem Drittel - bot diese Schule sicher eine bessere
Grundlage zur Vorbereitung auf eine solide Berufsausbildung im
gewerblichen Bereich. Dafür wiederum waren die Mittelschulen insofern
weniger geeignet, als ihre Absolventen in erster Linie
Berufsperspektiven im kaufmännischen und mittleren Angestelltenbereich
im Auge hatten.
Die Bildungspolitik der
Nationalsozialisten
begann unter dem Eindruck der Überfüllung mit einem radikalen
"Ausleseprinzip", das ihrer sozialdarwinistischen
Gesellschaftsvorstellung entgegenkam, aber schnell mußten sie erkennen,
daß die Berufswelt in einer modernen Industriegesellschaft nicht nur
"die Besten" benötigt, sondern auch die Zweit- und Drittbesten und
überhaupt möglichst viele Menschen mit einer möglichst hohen
Ausbildung. Nur eine hochentwickelte Allgemeinbildung - das wußte schon
Humboldt - befähigt zur beruflichen Flexibilität und Disponibilität.
5.
Der geistige Niedergang der Volksschullehrerbildung in den Kriegsjahren
war nicht nur eine Folge des anti-intellektuellen Affektes vieler
Nazi-Führer oder derer, die - wie Hitler selbst -
Animositäten
gegen den Lehrerberuf überhaupt hatten, sondern auch der permanenten
Inanspruchnahme der Lehrer, Schüler und Studenten durch den
inhaltslosen Aktivismus von Parteistellen. An und für sich mußte ein
solcher Niedergang mit der Konzeption der LBA nicht unbedingt verbunden
sein, und er ist um so bemerkenswerter, als der Bedarf der Wirtschaft
nach qualifizierten Facharbeitern ständig stieg. Über den Rückgang des
Niveaus der Volksschulabgänger gab es schon früh Klagen. So kam 1937
eine Untersuchung des NSLB zu dem Ergebnis, daß die Volksschulen "seit
vier Jahren von Jahr zu Jahr in ihren Leistungen zurückgehen". Ein Jahr
später war in einer weiteren Denkschrift davon die Rede, daß "das
Bildungsniveau der Schule nicht mehr dem Stand vor 1933 entspricht".
Bemerkenswert ist, daß als Gründe dafür die Beanspruchung der Schüler
durch die HJ und der Lehrer durch Parteiaufgaben genannt werden. Ende
1942 teilte die Industrie- und Handelskammer Münster mit, daß "54,37
Prozent der Berufsanfänger im Deutschen und 58,45 Prozent im Rechnen
den Anforderungen nicht genügen, die die Wirtschaft im Durchschnitt an
160
Lehrlinge
und Anlerninge stellen muß" (zit. n. Ottweiler 1980, 212).
Allerdings
spielte wohl auch eine Rolle, daß das Konzept der
Volksschullehrerbildung in sich selbst eine besondere Anfälligkeit für
ideologische Indoktrinationen enthielt. Bei der alten Seminarausbildung
vor dem Ersten Weltkrieg, wie sie Ernst Krieck noch erlebt hatte, war
das offensichtlich; denn sie wirkte obrigkeitlich disziplinierend auf
die angehenden Lehrer mit dem Ziel, diese Haltung und Gesinnung auch
auf die Schüler zu übertragen. In gewisser Weise fand sich dieser Geist
in den LBA wieder. Aber auch die "Pädagogische Akademie", wie sie in
Preußen in der Weimarer Zeit etabliert wurde, blieb ihrer ganzen
Konstruktion nach ideologisch anfällig. Diese Gefahr resultierte vor
allem aus der Verbindung des Unterrichts mit bestimmten
Erziehungszielen. Die Volksnähe und Heimatverbundenheit, die auch
damals schon vom Volksschullehrer erwartet wurden, war ja nichts
Naturwüchsig-Selbstverständliches oder ein Resultat wissenschaftlicher
Erkenntnisse, sondern wurde nur greifbar im Rahmen einer im Prinzip
beliebigen Definition, und die konnte nur eine ideologische bzw.
weltanschauliche sein. Und sie war leicht austauschbar. Die
"Pädagogische Akademie" war nur wissenschaftsorientiert, nicht,
wie das
Universitätsstudium der Studienräte, wissenschaftlich fundiert. Das
hieß im Klartext, daß die Wissenschaft im Rahmen dieser
Akademie-Ausbildung nur eine instrumentelle Bedeutung hatte, keine
intellektuell disziplinierende. Sie wurde gleichsam nur "abgemolken" im
Hinblick auf Erziehungs- bzw. Selbsterziehungsziele, um die es in der
Ausbildung eigentlich ging. Dieser Geist wurde dann auch auf den
Unterricht in der Volksschule übertragen, er diente nicht einfach der
Aufklärung des Kindes über seine Welt, sondern der Herausbildung eines
erwünschten Verhaltens, einer Gesinnung, einer Einstellung. Derartige
erzieherische Programmierungen sind aber austauschbar, und es gibt dann
- außer vielleicht einer moralischen - keine Instanz bzw. kein
Kriterium mehr, das zur Abwehr eines solchen Ansinnens geeignet wäre.
Räsonieren läßt sich dann nur noch über "bessere" und "schlechtere"
Erziehungsziele. Warum also sollte es auf diesem Hintergrund nicht als
plausibel erscheinen, daß die Nationalsozialisten nun die auch schon
vorher gewünschte "Volksnähe" weltanschaulich für die Volksschulen
präzisier-
161
ten, sie
auf Führer, Volk und Nation
bezogen und ihr einen Touch ins Heroische gaben, wie es in den
Richtlinien von 1939 zum Ausdruck kommt?
Die
wissenschaftliche
Ausbildung bietet immerhin die Möglichkeit der methodischen
Disziplinierung. Auch sie schützt nicht unbedingt vor Ideologisierung
und Indoktrination, wie gerade die Wissenschaft im Nationalsozialismus
allenthalben gezeigt hat. Aber sie vermag noch am ehesten eine
unmittelbare Instrumentalisierung von Sachen und Menschen zu
relativieren. Es ist also die erzieherische Intention als solche, die
Aufklärung durch Unterricht nicht als Selbstzweck zu sehen vermag,
sondern sie bestimmten Zwecken unterwirft, die das Tor öffnet für
ideologische Okkupationen. Welche das dann sind, ist eine reine
Machtfrage.
6. Wenigstens mit einem kurzen Hinweis
muß zum
Abschluß dieses Kapitels daran erinnert werden, daß die deutschen
Schüler jüdischer Abstammung Zug um Zug aus dem öffentlichen Schulwesen
verdrängt wurden. Ende 1938, nach dem Pogrom, durfte kein jüdischer
Schüler mehr eine deutsche Schule besuchen. Die jüdischen Gemeinden
wurden somit gezwungen, durchweg auf eigene Kosten ihr Privatschulwesen
entsprechend zu erweitern. "Im Jahre 1933 gingen von 60.000 jüdischen
Schülern 15.000, also 25 %, auf jüdische Schulen. Im Jahr der
Nürnberger Rassengesetze 1935 besuchten 45 % von insgesamt 44.000
jüdischen Schülern die ca. 130 jüdische Schulen. 1937 erreichte die
Schülerzahl in jüdischen Schulen ihren Höchststand mit 23.670
schulpflichtigen jüdischen Kindern (61 %)" (Scharf, 1). Am 1. Juli 1942
wurden die jüdischen Schulen auf Anordnung der deutschen Behörden
geschlossen - die "Endlösung" nahm Gestalt an.
162
5.
Der volksgemeinschaftliche Jugendstaat: Die Hitler-Jugend
Mehr
noch als die Schule sollte die HJ die neue Form einer NS-Erziehung
verkörpern. Dafür standen ihre Chancen 1933 insofern gut, also sie im
Unterschied zur Schule kaum an Traditionen und administrative Vorgaben
gebunden war, sondern ihr erzieherisches Konzept im Rahmen eines
verhältnismäßig großen Handlungsspielraumes entwickeln konnte. Dabei
war von vornherein keineswegs klar, daß sie zu dem werden würde, was
sie dann geworden ist, nämlich zu einem monopolistischen Jugendverband,
zu einem Jugend-Staat, der sich - anders als die Schule - dem Zugriff
anderer Parteiorgane und Parteiführer weitgehend entziehen konnte. So,
wie die HJ sich entwickelte, war sie das Ergebnis der bereits erwähnten
Tat-Philosophie, Resultat entschiedener Handlungen, wie Hitler es
liebte. Vor allem ein Mann hat ihre Idee und Gestalt geprägt: der
Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Bis zu einem gewissen Grade
läßt sich sogar sagen, daß die HJ die Erfüllung seines Traumes von
einer großen, harmonischen, Klassen- und Konfessionsunterschiede
integrierenden deutschen Jugendgemeinschaft war. Jedenfalls ist ohne
seine Person das Phänomen HJ nicht zu verstehen. Deshalb soll dieses
Kapitel sich zunächst mit ihm beschäftigen.
Baldur
von Schirach
Er
wurde am 9.5.1907 als jüngstes von vier Geschwistern in Berlin geboren.
Ein Jahr später übernahm sein Vater Carl die Leitung des
Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar, nachdem er zuvor im Königlich
Preußischen Garde- Kürassier-
163 Regiment
gedient
hatte, das er als Rittmeister verließ. Baldurs Mutter war Amerikanerin,
die zeitlebens die deutsche Sprache mehr schlecht als recht beherrschte
und deshalb Englisch zur Muttersprache ihrer Kinder machte, so daß
Baldur noch mit 6 Jahren kaum deutsch konnte.
Da die
Schirachs
über genügend privates Vermögen verfügten, konnten sie sich in Weimar
einigermaßen repräsentativ einrichten. Materielle Not war kein
Erlebnis, das den Sohn Baldur hätte prägen können, so daß er auch
später zu den sozial-revolutionären Tendenzen der HJ und des
NS-Studentenbundes von sich aus zunächst keinen Zugang fand.
Prägend
wurden für ihn aber zwei Schicksalsschläge innerhalb der Familie. Nach
dem Krieg wurde sein Vater aus dem Amt des Intendanten entlassen, und
im Oktober 1919 erschoß sich sein älterer Bruder Karl, an dem er sehr
gehangen hatte und der ihm in vieler Hinsicht Vorbild gewesen war. Als
Grund für seinen Selbstmord gab der Bruder das "Unglück Deutschlands"
an, das ihn persönlich insofern betraf, als ihm durch den Versailler
Vertrag die ersehnte Offizierslaufbahn verschlossen war. Beide
Ereignisse haben wohl Schirachs Republikfeindschaft wesentlich
mitbestimmt.
Das kulturelle Leben Weimars war damals
stark
antisemitisch orientiert, und als 17jähriger las Schirach die
entsprechende Literatur. Vor allem Hitlers "Mein Kampf` - 1925
erschienen -verschlang er in einem Zuge. Hitler selbst lernte er
ebenfalls im Jahre 1925 in Weimar kennen, er war von ihm fasziniert,
wurde von nun an sein kritikloser Gefolgsmann und trat im selben Jahr
in die NSDAP ein.
Für sein späteres Konzept der HJ
waren wohl
auch die Erfahrungen bedeutsam, die er einige Jahre als Schüler des
"Waldpädagogium" in Bad Berka machen konnte; diese Schule war nach den
pädagogischen Leitmotiven des Reformpädagogen Hermann Lietz gestaltet:
neben der Wissensvermittlung sollte die körperliche und charakterliche
Bildung zum Zuge kommen, den Schülern wurde Mitbestimmung zugestanden,
das Lehrer-Schüler-Verhältnis war kameradschaftlich gehalten, Lehrer
und Schüler verkehrten per Du miteinander - eine Anrede, die Schirach
später auch in die HJ einführte.
Im Frühjahr 1927
begann er sein Studium in München, um in Hitlers Nähe zu sein; er
interessierte sich unter anderem für
164
Germanistik,
Anglistik und Kunstgeschichte, aber zu einem Abschluß kam es nicht,
weil er sich sofort politisch betätigte. Er stieß zum
"Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund" und wollte mit ihm
die Studenten für Hitler gewinnen. Aber Hitler blieb zunächst
skeptisch, weil er nicht glaubte, daß diese "Intellektuellen" für seine
Bewegung im nennenswerten Maß zu gewinnen seien. Nur widerwillig und
nur unter der Bedingung, daß der Saal gefüllt sein müsse, gab er
Schirachs Drängen nach, vor Studenten in München zu sprechen. Nachdem
dieser erste Auftritt vor einem derartigen akademischen Publikum für
Hitler sehr erfolgreich verlaufen war, setzte Schirach seinen ganzen
Ehrgeiz daran, seinen Teil zur Machtergreifung beizutragen. 1928 trat
er an die Spitze des NS-Studentenbundes, und es gelang ihm, mit einer
Serie von Wahlerfolgen bis zum Sommer 1931 die Mehrheit im Rahmen der
deutschen Studentenschaft zu gewinnen. So wenig wie er selbst den
NS-Studentenbund gegründet hatte, war er der Initiator der HJ. Im Jahre
1931 gab es sie längst, ihr Führer hieß Kurt Gruber, aber sie fand in
der Gymnasialjugend wenig Resonanz. Kaum besser erging es dem 1929
gegründeten "NS-Schülerbund" unter Adrian von Renteln; auch er
stagnierte.
Am 30.10.1931 ernannte Hitler den -
nunmehr
24jährigen - Schirach zum "Reichsjugendführer der NSDAP", ein Jahr
später übernahm er auch persönlich die HJ und gliederte ihr den
Schülerbund ein. Sein Ziel war, möglichst rasch diese
Jugendorganisation auszubauen - immer im Hinblick auf die erwartete
Machtübernahme Hitlers.
Mit einem Schlage gelang es
Schirach,
die HJ aus ihrer Kümmerexistenz herauszuführen, als er sie am 1. und 2.
Oktober 1932 zum "Reichsjugendtag" nach Potsdam rief. Mit 40.000
Teilnehmern aus dem ganzen Reich hatten die Veranstalter gerechnet,
aber bis zum Abend des 1. Oktober - einem Sonnabend - kamen ca. 70.000,
zu denen Hitler in einer nächtlichen Kundgebung im Stadion sprach. Am
darauf folgenden Sonntag marschierten etwa 100.000 Jungen und Mädchen
siebeneinhalb Stunden lang an Hitler vorbei - dreimal mehr, als die HJ
damals Mitglieder zählte.
Die Idee, auf diese Weise
eine
Jugendorganisation öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen, stammte
nicht von Schirach. Erfunden und praktiziert hatte sie die Sozialisti-
165
sche
Arbeiterjugend (SAJ), die Jugendorganisation der SPD. Ihre
"Reichsjugendtage" standen jeweils unter einem Motto und fanden zum
ersten Male 1920 in Weimar ("Das Weimar der arbeitenden Jugend") und
1931 ("Gegen den Krieg") zum letzten Mal in Frankfurt statt. Mehr als
30.000 Teilnehmer konnte die SAJ allerdings nie mobilisieren.
Bis
zur Machtergreifung Hitlers ging es Schirach nur darum, zunächst die
Studenten und dann einen möglichst großen Teil der übrigen Jugend für
die "Bewegung" zu gewinnen. Irgendwelche darüber hinausgehenden
pädagogischen Ziele oder Konzepte sind in dieser Zeit nicht erkennbar.
Sie gewinnen vielmehr erst nach der Machtergreifung allmählich Konturen.
Schirachs
Bindung an Hitler war inzwischen auch privat enger geworden. Im Jahre
1932 hatte er Henriette Hoffmann geheiratet, die Tochter von Heinrich
Hoffmann, der als Hitlers "Leibfotograf" zu seiner engsten Umgebung
gehörte.
Am 17.6.33 - also nach der Machtübernahme -
ernannte
Hitler den jetzt 26jährigen Schirach zum Jugendführer des Deutschen
Reiches". Nun stand er an der Spitze aller Jugendverbände,
Neugründungen mußten von ihm genehmigt werden. Am 1.12.1936 wurde das
Hitlerjugend-Gesetz erlassen; es etablierte die HJ als eigenständige
Erziehungsinstanz neben Elternhaus und Schule, die
"Reichsjugendführung" wurde obere Reichsbehörde mit Schirach als
Staatssekretär und einigen wenigen weiteren Beamten. Dennoch wurde die
HJ nicht im strengen Sinne Staatsjugend, sondern blieb eine Gliederung
der Partei, Schirach wurde Hitler unmittelbar unterstellt. Die HJ stand
nun gewissermaßen auf zwei Beinen. Als Reichsbehörde war sie
eingebunden in den Staatsapparat und konnte in diesem Rahmen tätig
werden. Als Gliederung innerhalb der Partei blieb sie Parteijugend und
finanziell abhängig vom Schatzmeister der NSDAP.
Nach
Kriegsausbruch bat Schirach Hitler, sich freiwillig zur Wehrmacht
melden zu dürfen. Nach anfänglichem Zögern stimmte Hitler Anfang 1940
zu, aber schon im August dieses Jahres holte er ihn zurück und machte
ihn zum Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. Sein Nachfolger als
Reichsjugendführer wurde auf seinen Vorschlag hin Artur Axmann, der das
Sozialreferat der HJ geleitet und unter anderem den
"Reichsberufswettkampf" initiiert hatte; er war freiwillig zur
166
Wehrmacht
gegangen, aber mit einer Kriegsverletzung (Verlust eines Armes) wieder
an die "Heimatfront" zurückgekehrt. Schirach blieb aber der HJ
verbunden, insofern Hitler ihn zum "Beauftragten für die Inspektion der
gesamten HJ' ernannte.
In Wien gelang es ihm, eine
beachtliche
kulturelle Aktivität zu entfalten; er holte namhafte Künstler (wieder)
in die Stadt, die in seinem Hause ein- und ausgingen. Sein Verständnis
von moderner Musik und Kunst war weitaus liberaler und toleranter, als
es dem Geschmack der Parteigrößen und auch Hitler sonst entsprach. Als
er 1943 eine Kunstausstellung mit Arbeiten junger Künstler zuließ, von
denen einige den Maßstäben "entarteter Kunst" nahekamen, zitierte ihn
Hitler wütend zu sich. Er zeigte ihm eine Ausgabe der HJ-Zeitschrift
"Wille und Macht", die einige der Arbeiten reproduziert hatte;
besonders ärgerlich war Hitler über einen grün gemalten Hund. Die
Ausstellung mußte geschlossen werden. Schirach hielt irrtümlich den
Dissens zu Hitler in Kunstfragen für generationsbedingt, in Reden hatte
er mehrfach betont, daß Kunst mehr und anderes sei als das
Abfotografieren der Wirklichkeit.
Das Jahr 1943
brachte ihn auch
aus anderen Gründen in Ungnade bei Hitler. Schon bei Kriegsausbruch war
Schirach skeptisch im Hinblick auf den militärischen Erfolg. Der
Angriff auf die Sowjetunion bestärkte bei ihm diesen Eindruck.
Spätestens seit dem Kriegseintritt der Amerikaner war er davon
überzeugt, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Deshalb forderte
er eine Änderung der Besatzungspolitik in den Ostgebieten mit dem Ziel,
den dort lebenden Völkern eine relative Autonomie zu gewähren und sie
so zum Kampf gegen den Bolschewismus zu gewinnen; dafür sollten auch
die Amerikaner motiviert werden. Schirach hatte diese Überlegungen
Hitler in einem Brief mitgeteilt, sie aber auch im Kreise seiner
Vertrauten geäußert. Abgesehen von der Frage, ob solche Überlegungen -
jedenfalls im Hinblick auf die USA - politisch überhaupt eine Chance
gehabt hätten, wußte Schirach noch nicht, daß Hitler mit der längst
begonnenen Ermordung der europäischen Juden alle Brücken für
diplomatische Alternativen abgebrochen hatte. Insofern hatte Hitler
nicht unrecht, wenn er anläßlich einer Tafelrunde auf dem Berghof -
Ostern oder Fronleichnam 1943, das ist umstritten - Schirach
anherrschte, er solle sich nicht
167
um
Dinge kümmern,
von denen er nichts verstehe. Als seine Frau Henriette bei dieser
Gelegenheit auch noch die Judendeportationen zur Sprache brachte, die
sie aus einem Hotel in Amsterdam beobachtet hatte - in der Hoffnung,
Hitler würde für eine würdevollere Behandlung sorgen -, fragte Hitler
sie wütend, was sie denn diese "Judenweiber" angingen. Seit diesem Tag
entstand eine Distanz zwischen Schirach und Hitler, die sich zunehmend
vergrößerte.
Hitlers Völkermord an den Juden sollte
auch
Schirach zum Verhängnis werden. Als er Gauleiter von Wien wurde, gab es
dort noch etwa 60.000 Juden. Diese sollte er nach Hitlers
ausdrücklichem Willen in den Osten deportieren lassen, für das
Verfahren selbst sei Himmler zuständig. Schirach ging zunächst davon
aus, daß es sich dabei um eine Umsiedlung handele in Gebiete, wo die
Juden dann relativ autonom würden leben können. Diese Einschätzung ist
insofern glaubhaft, als Schirachs Antisemitismus - den er auch später
im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß nicht ableugnete - kein
rassistischer, sondern ein kultureller war, wie wir ihn bei Krieck
schon kennengelernt haben: wie das deutsche Volk so sollte auch das
jüdische einen eigenen Lebensraum haben, in dem es nach seinen eigenen
kulturellen Maßstäben leben konnte. Eine Vermischung der Völker jedoch
sei abzulehnen. Diese völkisch-nationalistische Position war auch vor
1933 unter normalen "gebildeten" Deutschen weit verbreitet. Der Gedanke
einer physischen Vernichtung war damit nicht verbunden, er konnte
vielmehr nur auf dem Hintergrund einer biologistisch-rassistischen
Grundannahme sich entfalten, wie sie Hitler vertrat und ernst meinte.
Von
solchen Vorstellungen war Schirach weit entfernt. Das zeigte sich u.a.
darin, daß er schon 1933 der HJ die Lektüre des "Stürmer" verbot - des
von Julius Streicher herausgegebenen antisemitischen Hetzblattes. Als
1938 - von Goebbels inszeniert - die SA den Pogrom gegen die in
Deutschland lebenden Juden beging, drohte Schirach jedem HJ-Führer den
Rausschmiß an, der sich daran beteiligte. Schirach hielt die ganze
Sache für ein Bubenstück von Goebbels und glaubte ernsthaft, daß damit
dessen Karriere beschädigt werde.
Was wirklich mit
den Juden
geschah, auch mit denen, die er aus Wien deportieren ließ, erfuhr
Schirach zum ersten Mal am 15. Mai 1942. Routinemäßig hatte er den
Gauleiter des
168
Warthegaues"
(das Gebiet um Posen, das
von deutschen Truppen erobert worden war und als deutsches Gebiet
reklamiert wurde) Arthur Greiser eingeladen, vor den oberen
Parteifunktionären Wiens über seine Arbeit zu berichten. Greiser
schilderte nun das Verfahren, die Juden auf abgedichteten Lastwagen zu
verladen und sie während der Fahrt zum Massengrab durch die
eingeleiteten Abgase zu töten. Endgültige Klarheit verschaffte ihm dann
die berühmt-berüchtigte Rede Himmlers vor den Gauleitern in Posen im
Oktober 1943, in der dieser das Programm der "Endlösung" ungeschminkt
vortrug und die Ermordung von Frauen und Kindern damit rechtfertigte,
daß man künftiger Rache entgegenwirken müsse. Nun war Schirach zum
Mordkomplizen geworden.
Als die Rote Armee Wien
besetzte, setzte
er sich ab und hielt sich unter falschem Namen als vorgeblicher
Schriftsteller versteckt; die Alliierten hielten ihn für tot. Als er
jedoch erfuhr, daß die Alliierten im Nürnberger Prozeß die HJ als
"verbrecherische Organisation" (wie die SS) anklagen wollten und
deshalb damit begannen, die höheren HJ-Führer zu verhaften, stellte er
sich den Amerikanern. Es gelang ihm, das Gericht davon zu überzeugen,
daß die HJ keine verbrecherische Organisation gewesen sei und auch
nicht kriegsvorbereitend gewirkt habe. Verurteilt zu zwanzig Jahren
Haft wurde er nicht wegen der HJ, sondern wegen "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit". Dazu zählte das Gericht seine Mitverantwortung an der
Deportation der Juden, vor allem aber einige antisemitische Reden, die
er in Wien gehalten hatte.
Schirach erklärte diese
Äußerungen
damit, daß er wegen seiner politisch angeschlagenen Position sich nach
Berlin hin habe absichern müssen. So hatte er im September 1942 - ein
halbes Jahr nach der Rede Greisers, die die Ermordung der Juden
beschrieben hatte - die Vertreter faschistischer Jugendorganisationen
aus dreizehn europäischen Ländern nach Wien eingeladen, um mit ihnen
einen europäischen Jugendverband zu gründen. Das Vorhaben stieß in
Berliner Parteikreisen auf Ablehnung und auch Hitler verhielt sich
reserviert. In Schirachs Eröffnungsrede am 14.9.42 findet sich nun
folgende Passage:
"Die Nachkriegszeit war für ganz
Europa eine Epoche skrupelloser jüdischer Geldgeschäfte, eine Hoch-Zeit
des jüdi-
169 schen
Schiebertums. Damals hat das Judentum mit allen ihm zur Verfügung
stehenden Mitteln versucht, die gesunde Jugend zu verderben. Alle
Ideale, die unserem Kontinent heilig sind, wurden öffentlich
beschmutzt, lächerlich gemacht und als unzeitgemäß verworfen. Durch die
korrupten Gazetten kursierte das jüdische Wort: 'Es gibt kein dümmeres
Ideal als das des Helden'. Der jungen Generation wurde dafür
schrankenlose Freiheit im sexuellen Genuß gepredigt. Je grauer der
Alltag wurde, um so strahlender entwickelte sich das Nachtleben. Der
amerikanische Film und die amerikanische Revue, drüben von Juden
geschaffen, hier von Juden importiert, appellierten immer von neuem an
die Sinne halbwüchsiger junger Menschen, diese verderbend und in den
Strudel des Chaos hineinziehend, aus dem sie nie mehr zu ihrer Nation
zurückgekehrt sind. Wo immer der Jude versucht hat, ein Volk in seiner
nationalen Substanz zu verletzen, hat er das durch die Erweckung der
niedrigsten Instinkte, durch die Propagierung einer ungezähmten
Geschlechtsgier und Verächtlichmachung jeder sittlichen und ethischen
Zucht getan ... . Jeder Jude, der in Europa wirkt, ist eine Gefahr für
die europäische Kultur! Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich
aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentums
gewesen ist, Zehntausende und Aberzehntausende von Juden ins Getto
abgeschoben habe, muß ich antworten, ich sehe darin einen aktiven
Beitrag zur europäischen Kultur" (Zit. n. Wortmann, 212).
Als
einziger Angeklagter in Nürnberg distanzierte er sich unmißverständlich
von Hitlers Nationalsozialismus und vom Antisemitismus; er hatte
nämlich durch den Zeugen Rudolf Höß - Kommandant des KZ in Auschwitz -
nun auch noch die technischen Details über die Massenmorde erfahren.
Unter dem Eindruck dieser Zeugenaussage erklärte er vor dem Gericht:
"Es
ist der größte und satanischste Massenmord der Weltgeschichte... . Es
ist ein Verbrechen, das jeden Deutschen mit Scham erfüllt. Die deutsche
Jugend trägt daran keine Schuld. Sie dachte antisemitisch, aber sie
wollte nicht die Ausrottung des Judentums. Sie wußte und ahnte nichts
davon, daß Hitler diese Ausrottung durch tägliche Morde an Tausenden
von unschuldigen Menschen durchführte. Die jungen Menschen, die heute
ratlos zwischen den Trümmern ihrer Hei- 170
mat
stehen, haben von diesen Verbrechen nichts gewußt und haben sie nicht
gewollt. Sie sind unschuldig an dem, was Hitler dem jüdischen und dem
deutschen Volk angetan hat... . Ich habe diese Generation im Glauben an
Hitler und in der Treue zu ihm erzogen. Die Jugendbewegung, die ich
aufbaute, trug seinen Namen. Ich meinte, einem Führer zu dienen, der
unser Volk und die Jugend groß, frei und glücklich machen würde. Mit
mir haben Millionen junger Menschen das geglaubt und haben im
Nationalsozialismus ihr Ideal gesehen. Viele sind dafür gefallen. Es
ist meine Schuld, die ich fortan vor Gott, vor meinem deutschen Volk
und vor unserer Nation trage, daß ich die Jugend dieses Volkes für
einen Mann erzogen habe, den ich lange, lange Jahre als Führer und als
Staatsoberhaupt als unantastbar ansah, daß ich für ihn eine Jugend
bildete, die ihn so sah wie ich. Es ist meine Schuld, daß ich die
Jugend erzogen habe für einen Mann, der ein millionenfacher Mörder
gewesen ist. Ich habe an diesen Mann geglaubt, und das ist alles, was
ich zu meiner Entlastung und zur Erklärung meiner Haltung sagen kann.
Diese Schuld ist aber meine eigene und meine persönliche. Ich trug die
Verantwortung für die Jugend. Ich trug den Befehl für sie und so trage
ich auch allein für diese Jugend die Schuld. Die junge Generation ist
schuldlos. Sie wuchs auf in einem antisemitischen Staat mit
antisemitischen Gesetzen. Die Jugend war an diese Gesetze gebunden, sie
verstand deshalb unter Rassenpolitik nichts Verbrecherisches. Wenn aber
auf dem Boden der Rassenpolitik und des Antisemitismus ein Auschwitz
möglich war, dann muß Auschwitz das Ende der Rassenpolitik und das Ende
des Antisemitismus sein" (Zit. n. Wortmann 13 f.).
Er
wurde aus
dem Spandauer Gefängnis als gebrochener Mann entlassen, das eigens für
die in Nürnberg Verurteilten von den vier Alliierten eingerichtet
worden war; er war auf einem Auge erblindet, das andere Auge war
geschädigt. Er diktierte für die Illustrierte STERN seine Memoiren, die
dann unter dem Titel "Ich glaubte an Hitler'' 1967 auch als Buch
herauskamen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem
bescheidenen Hotel in Kröv an der Mosel, das von zwei ehemaligen
BDM-Führerinnen betrieben wurde, die den fast Erblindeten pflegten.
Seine Frau hatte sich schon im Jahre 1950 von ihm scheiden lassen. Er
starb am 8.8.1974. Auf seinem Grabstein steht: "Ich war einer von Euch". 171 Das
politisch-pädagogische Konzept
Bis
zur Machtergreifung Hitlers ist kein besonderes pädagogisches Konzept
in den Handlungen und Äußerungen Schirachs zu erkennen. Die HJ war eine
jener zahlreichen Jugendverbände, wie sie in der Weimarer Zeit
entstanden. Jeder Erwachsenen-Verband, der etwas auf sich hielt,
versuchte, eine Jugendabteilung zu gründen, um seinen Nachwuchs zu
sichern. Auf diese Weise wurden die ursprünglichen Ideen des
Wandervogel, der seinen Höhepunkt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg
erreichte, popularisiert und zugleich für die Zwecke der jeweiligen
Erwachsenenorganisation instrumentalisiert. Wenn die HJ gerade nicht in
Wahlkämpfe und andere politische Aktivitäten verwickelt war, betrieb
sie wie die anderen Jugendorganisationen auch ein "Jugendleben", d.h.
ihre Mitglieder trafen sich auf Heimabenden, machten Umzüge zur
Eigenwerbung oder "gingen auf Fahrt".
Was sich nach
dem 30.
Januar 1933 aus der HJ entwickelte, beruhte zweifellos in erster Linie
auf den Ideen Schirachs, er war der führende Kopf. Allerdings verfügte
er, der ein unregelmäßiger Arbeiter war und bürokratischer Tätigkeit
lieber aus dem Wege ging, über einen Mitarbeiterstab, der ihn
offensichtlich gut ergänzte und seine Schwächen kompensierte. Die
weibliche HJ, also der BDM, wurde von den beiden "Reichsreferentinnen"
Trude Mohr und Jutta Rüdiger geprägt, letztere löste ihre Vorgängerin
1937 ab, als diese wegen Heirat ausschied. Sie waren die höchsten
Führerinnen des BDM, formell Schirach unterstellt, tatsächlich jedoch
weitgehend selbständig.
Schirachs Ziele, die nach
1933 offenbar werden, lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen: 1.
Die Jugend auf die Person Hitlers zu verpflichten. 2. Eine die
ganze deutsche Jugend umfassende Organisation aufzubauen. 3.
Das Prinzip der Selbst-Führung durchzusetzen ("Jugend muß von Jugend
geführt werden"). 4. Verbesserung der sozialen Lage der
Jugend. 5. Musische und kulturelle Differenzierung. Die
ersten vier Ziele sind von Anfang an erkennbar (vgl. Schirach 1934),
das fünfte kommt im wesentlichen erst nach 1936 dazu.
172
Verpflichtung auf die Person
Hitlers
Dieses
Ziel ist von heute aus gesehen wohl am schwersten zu verstehen, aber es
ist das ursprünglich erste und vielleicht das einzige, das in den
Jahren vor 1933 eine bedeutende Rolle gespielt hat. Es hat einen
biographischen und einen politischen Aspekt. Hitler war ja Schirach als
17jährigem wie eine Offenbarung erschienen, und zweifellos entstand
zwischen ihnen eine besondere persönliche Beziehung - auch von Hitlers
Seite aus. Vielleicht sah Hitler in ihm so etwas wie einen Sohn,
jedenfalls galt er noch bis in die Kriegsjahre hinein als Kronprinz -
bis zu jenem bereits erwähnten Auftritt auf dem Berghof 1943. Politisch
gesehen war ihm Hitler als Person wie als Symbol die schlechthin
unantastbare Integrationsfigur des deutschen Volkes, die garantieren
sollte, was er sich erhoffte: Wiederherstellung der "Ehre" des
deutschen Volkes, die durch den Versailler Vertrag verloren gegangen
sei, und die volksgemeinschaftliche Einigung des Volkes als Rettung aus
der erlebten inneren Zerrissenheit. Die Verpflichtung der Jugend auf
Hitler war - so gesehen - identisch mit ihrer Verpflichtung auf das
deutsche Volk überhaupt. Nationale Integrationsfiguren sind ja an sich
nichts außergewöhnliches, wenn man etwa an die Rolle des britischen
Königshauses oder auch des deutschen Kaisers vor 1914 denkt. Aber ihre
persönliche Unantastbarkeit ist normalerweise eingebunden in eine
komplexe politische Kultur von Regierung und Opposition, von
pluralistischen Normen und Organisationen, von liberalen
gesellschaftlichen Freiheitsspielräumen. Gerade diese politischen
Voraussetzungen aber hatten die Nazis außer Kraft gesetzt, so daß nun
das an sich legitime Bedürfnis nach einer personalen Repräsentanz das
Wir-Gefühl ins Kultisch-Mystische abdriften ließ. Gerade die
inszenierte Entrückung der Person Hitlers erwies sich später - vor
allem auch in den Kriegsjahren - als wichtiges Bindemittel, wenn es
galt, Kritik herunterzuschlucken oder gar die längst fällige
Distanzierung vom Regime dann doch wieder zu vertagen. "Wenn das der
Führer wüßte!" war bis in die letzten Kriegsjahre ein verbreiteter
Seufzer. Und auch im Führerkorps der Hitlerjugend war bis zum Schluß
die Idee im Schwange, nach dem Kriege gemeinsam mit Hitler unter den
Partei-Bonzen aufzuräumen. In der geschilderten Szene auf dem Berghof
1943 hatten auch die Schirachs noch entsprechende Illusionen im
Hinblick auf die Juden-Deportationen.
173 Daß
gerade Hitler der Täter, der millionenfache Mörder war - wenn auch
nicht allein - und eben nicht die Integrationsfigur, wofür man ihn
jahrelang gehalten und als den man ihn geradezu verehrt hatte, mußte
wie ein tiefer Schock wirken, dem ja Schirach auch vor dem Nürnberger
Tribunal Ausdruck verliehen hat. Nicht alle seine HJ-Kameraden sind ihm
da übrigens gefolgt. Manche haben das nicht wahrhaben wollen -
vielleicht, um auf solche Weise ihre Identität wie mühsam auch immer zu
retten. Auch Baeumler und Krieck sind ja - wenn auch weniger
leidenschaftlich als Schirach - dieser Faszination durch die
Integrationsfigur Hitler erlegen.
Von heute aus
gesehen - und
das heißt: gerade auch aufgrund der Erfahrungen mit der NS-Zeit - mag
es ganz unverständlich erscheinen, wie man ohne jede demokratische
Absicherung einen einzelnen Menschen in eine solche jeder Kritik und
moralischen Grenzsetzung enthobene Position nicht nur versetzen,
sondern ihn geradezu enthusiastisch immer wieder darin bestätigen kann.
Aber mit dieser katastrophalen Fehleinschätzung befand sich Schirach
damals sozusagen "in bester Gesellschaft", denn nicht wenige
Kirchenführer, Gelehrte, Industrielle und andere Personen des
öffentlichen Lebens taten es ihm gleich. Daß dieser Wunsch nach einer
"reinen" Integrationsfigur so massenhaft anzutreffen war, lag
einerseits sicher an der mangelnden politischen Erfahrung der meisten
Menschen, andererseits aber wohl auch daran, daß viele die Weimarer
Demokratie nach ihren Alltagserfahrungen für abgewirtschaftet hielten,
sich vor dem Kommunismus fürchteten und ihre Zukunftshoffnungen mit
emotionaler Intensität auf Hitler projizierten, von dem man sich
Rettung aus der Not versprach.
Jedenfalls
profitierte Schirach
von seiner besonderen persönlichen Beziehung zu Hitler insofern, als er
weitgehend freie Hand bekam, seine Konzeption der HJ zu realisieren und
alle Einmischungen von außen - Partei, Wehrmacht - abzuwehren.
Volksgemeinschaftliche
Einheitsorganisation
Dieses
zweite Ziel hing mit dem ersten aufs engste zusammen: Wollte Schirach
die deutsche Jugend auf Hitler verpflichten, so brauchte er dafür eine
einheitliche Organisa-
174
tion.
Aber dies war nicht der
einzige Grund. Eines der politischen Ziele, mit dem die Hitler-Bewegung
angetreten war, war die Herstellung der "Volksgemeinschaft", als deren
Garant und Symbol die Integrationsfigur ja dienen sollte. Auf diese
Weise sollte die parteipolitische, konfessionelle und klassenmäßige
Zerrissenheit des Volkes überwunden werden. Diese Sehnsucht war in der
Weimarer Zeit weit verbreitet, und der Begriff "Volksgemeinschaft"
findet sich im politischen Spektrum von rechts bis links - wenn auch
natürlich in unterschiedlichen politischen Versionen.
Nach
der
Machtergreifung ging Schirach sofort dazu über, die "Volksgemeinschaft"
in einer einheitlichen Jugendorganisation - seiner HJ - zu realisieren.
Dazu mußten aber die anderen Jugendorganisationen erst einmal beseitigt
oder eingegliedert werden. Zur Zeit der Machtergreifung hatte die HJ
etwa 100.000 Mitglieder. Das war nicht viel im Vergleich zu anderen
Organisationen. Etwa 600.000 waren in evangelischen, über 800.000 in
katholischen Verbänden organisiert, die meisten, nämlich etwa 1.5
Millionen, machten in Sportverbänden mit. Die Jugendverbände hatten
sich in der Weimarer Zeit im "Reichsausschuß der deutschen
Jugendverbände" auf Reichsebene zusammengeschlossen -dem Vorläufer des
heutigen Bundesjugendrings. Nach den Angaben des Reichsausschusses
waren 1927 etwa 40 Prozent der Jugendlichen, also etwa 3,6 Millionen
von insgesamt 9,1 Millionen, in den ihm angeschlossenen Verbänden
organisiert.
Am 5.4.33 ließ Schirach durch einen
Trupp
Hitlerjungen die Geschäftsstelle des Reichsausschusses in Berlin
besetzen, die Akten beschlagnahmen und den Geschäftsführer Maaß - einen
Sozialdemokraten - entlassen. Dieser Schritt war rechtswidrig, aber
Widerstand blieb aus. Am 22.7.33 löste er den Reichsausschuß offiziell
auf. Die beschlagnahmten Akten gaben ihm Einblicke in den
Mitgliederstand und die Führerschaft der Verbände. Gefährlich werden
für seinen Monopolanspruch konnten ihm jedoch nur drei Gruppen: die
rechten Bünde, die evangelische und die katholische Jugend.
Schirach
kam jedoch recht schnell ans Ziel. Nach dem Reichstagsbrand und dem
daraufhin beschlossenen "Ermächtigungsgesetz" ging der Kommunistische
Jugendverband in den Untergrund, die sozialistische Jugend wurde durch
die Polizei ausgeschaltet. Die rechten bündischen
175 Gruppen
- im wesentlichen Oberschüler und Studenten - schlossen sich Ende März
1933, um ihre Selbständigkeit zu erhalten, zum "Großdeutschen Bund"
zusammen und versuchten, die HJ mit Ergebenheitsadressen rechts zu
überholen. Ihr Führer war Admiral von Trotha, der über gute Beziehungen
zur Reichswehr verfügte. Aber das nutzte nichts, denn am 7.6.33, an dem
Tag, an dem Schirach zum Reichjugendführer ernannt wurde, löste er
diesen Bund auf. Das war wiederum rechtswidrig, Trotha protestierte
auch beim Reichspräsidenten von Hindenburg, aber Hitler konnte diesen
überzeugen, daß es dabei doch um eine gemeinsame nationale Sache gehe.
Noch reibungsloser verlief die Eingliederung der meisten evangelischen
Jugendverbände - einige lösten sich lieber auf -, die Anfang 1934 per
Vertrag erfolgte. Die rein religiöse Arbeit durfte weiter in den
Kirchengemeinden betrieben werden, für alle andere Jugendarbeit war nun
die HJ zuständig.
Mehr Schwierigkeiten bereitete die
katholische
Jugend. Im Frühjahr/Sommer 1933 verhandelte die Reichsregierung mit dem
Vatikan - erfolgreich - über ein Konkordat, das zunächst der
katholischen Jugendarbeit noch einen gewissen Schutz bot, aber
spätestens 1938 war auch sie wie die evangelische reduziert auf die
bloße kirchliche Unterweisung bzw. die Meßdiener-Schulung. Das schon
erwähnte Hitlerjugendgesetz von 1936 erhob die HJ in den Rang einer
dritten Erziehungsinstitution neben Elternhaus und Schule.
Von
heute aus gesehen mag überraschen, wie einfach es für Schirach war, die
anderen Jugendverbände auszuschalten bzw. einzugliedern. Gewiß gab es
auch Übergriffe von HJ-Kommandos gegen andere Jugendverbände, vor allem
gegen die katholische Jugend, und auch Polizei und Gestapo erzeugten
durch Verhaftungen, Hausdurchsuchungen usw. eine Atmosphäre des Terrors
und der Einschüchterung. Aber das reicht zur Erklärung nicht aus.
Vielmehr muß man den Eindruck gewinnen, daß Schirach gleichsam ein
morsch gewordenes Gebäude mit einigen Fußtritten zum Einsturz gebracht
hatte. Abgesehen von der katholischen Jugend zeigte sich kaum
Widerstand, und auch aus deren Reihen gab es Ergebenheitsadressen an
Hitler, die Zweifel aufkommen lassen mußten, warum sie sich eigentlich
noch gegen einen Übertritt zur HJ wehrte. Zudem hatte gerade die
katholische Kirche bzw. ihre politische Partei - das Zentrum - in der
176 Weimarer
Zeit nicht wenig zur "Zerrissenheit" des Volkes beigetragen, weil sie
ihre bildungs- und kulturpolitischen Eigeninteressen einigermaßen
rücksichtslos durchzusetzen trachtete. Aus nahezu allen
Jugendorganisationen liefen 1933 ohne jeden Zwang Scharen von
Jugendlichen zur HJ über, deren Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres
von 100.000 auf über 3 Millionen anstieg. Der Sog der "nationalen
Erhebung" war offensichtlich unwiderstehlich. Zudem muß man bei der
Betrachtung der Jugendverbände am Ende der Weimarer Republik den
Eindruck gewinnen, daß ihr Elan weitgehend erloschen war, daß sie sich
irgendwie überlebt hatten, jedenfalls stagnierten. Entweder waren sie
zu reinen Freizeitvereinen geworden, oder sie hatten sich wie die
politischen Jugendverbände bürokratisiert, oder sie schmorten - wie die
Bünde - im eigenen Saft.
Wollte die HJ nun eine
volksgemeinschaftliche einheitliche Jugendorganisation und insofern
eine wirklich integrierende Größe sein, so hätte sie eigentlich
politisch und weltanschaulich neutral bleiben müssen, um mit bestimmten
Gruppen der Bevölkerung nicht von vornherein im Konflikt zu liegen - so
wie heute etwa unsere Schulen parteipolitisch und konfessionell neutral
sind, um ebenfalls möglichst niemanden von vornherein auszuschließen.
Diesem Grundsatz blieb die HJ nach dem Willen Schirachs auch im Prinzip
treu -jedenfalls so, wie sie es selbst verstand. Sie sah sich nicht als
politische Jugendorganisation im Sinne etwa der NSDAP als Partei,
sondern als Jugendorganisation des gesamten deutschen Volkes. Politik
im Sinne von Außen- oder Innenpolitik sollte bei ihr keine Rolle
spielen. Was sie als "weltanschauliche Schulung" betrieb, bezog sich
auf die nationalsozialistische Weltanschauung, insofern sie als ideelle
Integration des ganzen Volkes gemeint war.
Besonders
deutlich
wird das im Umgang mit den christlichen Kirchen. Eigentlich hätten
diese - vor allem die katholische - im schroffen Gegensatz zur
NS-Weltanschauung stehen müssen, und Konflikte gab es auch genug. Aber
das, was von der NS-Weltanschauung in die Arbeit der HJ einging, war
gleichsam pädagogisch gefiltert. Rassenhetze, Agitation gegen bestimmte
Gruppen des Volkes - z.B. gegen die Kirchen - oder ähnliche
polarisierende Strategien wurden vermieden, so daß vor allem nach den
organisatorisch etwas chaotischen Anfangsjahren auch bei den Kirchen
der Eindruck ent-
177 stehen
konnte, die
Weltanschauung der HJ sei wirklich nur auf Integration der
Volksgemeinschaft angelegt, so daß auch der Widerstand der Kirchen
gegen die HJ immer weniger plausibel wurde.
Zudem
hatte Schirach
wiederholt betont, daß die HJ die kirchlich-religiöse Einstellung ihrer
Mitglieder respektiere und bereit sei, den Dienst so zu organisieren,
daß Teilnahme am Gottesdienst für jeden möglich sei, der es wolle.
Anläßlich
des Hitlerjugend-Gesetzes von 1936 wandte er sich "An deutsche Eltern"
und sagte unter anderem, daß er keine Konfession für die Jugend
verbindlich machen könne, "da wir nun einmal mehrere Konfessionen
besitzen, ... wie ich überhaupt alles vermeiden muß, was in die Jugend
Zwiespalt und Uneinigkeit hineintragen könnte. Ich überlasse es also
den Kirchen, die Jugend im Sinne ihrer Konfessionen religiös zu
erziehen und werde ihnen auch in dieser Erziehung niemals hineinreden.
Mein Auftrag wurde mir vom Deutschen Reich gegeben. Ich bin dem Reich
dafür verantwortlich, daß die gesamte Jugend im Sinne der
nationalsozialistischen Staatsidee körperlich, geistig und sittlich
erzogen wird. Für die Durchführung dieser erzieherischen Aufgabe wird
ein bestimmter Dienst angesetzt werden. Und ich habe nichts dagegen,
daß außerhalb dieses Dienstes jeder Jugendliche religiös dort erzogen
wird, wo das seine Eltern wollen oder er selbst will. An den Sonntagen
wird während der Kirchzeit grundsätzlich kein Dienst angesetzt werden,
so daß jedem Gelegenheit gegeben ist, die Kirchen seiner Konfession
besuchen zu können" (Schirach 1938, 62 f.).
Von
dieser
grundsätzlichen - keineswegs praktisch immer befolgten - Einstellung
hing die Glaubwürdigkeit der HJ als einer der "Volksgemeinschaft"
dienenden Organisation ab. Sie hätte es sich nicht leisten können, ihre
minderjährigen Mitglieder etwa in einen offenen Kirchenkampf zu
manövrieren. Selbst in den KLV-Lagern - von denen noch zu sprechen sein
wird -, in denen Kinder und Jugendliche weitab von ihren Eltern in den
Kriegsjahren untergebracht waren, hielt Schirach - nicht ohne Konflikte
mit anderen Parteigrößen wie Bormann - dieses Prinzip durch:
Gottesdienstbesuche wie auch persönliche Gespräche mit Priestern
sollten ohne Diskriminierung möglich sein.
178
Natürlich
lag diesem Konzept eine enorm reduzierte Vorstellung von Religiosität
bzw. Kirchenmitgliedschaft zugrunde, die die Kirchen eigentlich nicht
akzeptieren konnten und die schon beim Kampf gegen die kirchlichen
Jugendverbände erkennbar war: Religion als reine Privatsache bzw. als
seelische Tankstelle ohne jede kritische öffentliche Relevanz und
Konsequenz. Andererseits war natürlich auch bekannt, daß viele
HJ-Führer persönlich durchaus kirchenfeindlich eingestellt waren und
daraus keinen Hehl machten, und daß gelegentlich in der
Führerzeitschrift "Wille und Macht pointierte Angriffe gegen Maßnahmen
und Handlungen von Kirchenführern zu lesen waren.
Auf
der
politischen Ebene ging die HJ durchaus - auch mit Hilfe von Polizei und
SS - gegen die Kirchen bzw. gegen deren Jugendführer vor, wenn sie
ihren Monopolanspruch bedroht sah. Das galt vor allem für die
katholische Kirche, die zunächst nicht nur in begrenztem Rahmen weiter
Jugendarbeit betreiben, sondern auch weiterhin Zeitschriften für ihre
Mitglieder mit teilweise beachtlicher Auflage vertreiben durfte. Aber
in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen - z.B. in
dem dafür geschaffenen Schulungsmaterial - wurden religions- und
kirchenfeindliche Propaganda vermieden. Das wäre "Politik" gewesen, und
dafür waren die entsprechenden Organe der Erwachsenen zuständig.
So
jedenfalls war es im Prinzip, als offizielle Linie verkündet. Da aber
auch in der HJ die Tat-Philosophie galt, gab es auf der unteren Ebene
nicht selten Übergriffe, wurde z.B. "Dienst" zur Kirchgangszeit
angesetzt, aber immerhin konnten Eltern sich in solchen Fällen auf
Schirachs öffentliche Erklärungen berufen.
Aus dem
Konzept einer
einheitlichen, volksgemeinschaftlich gedachten Jugendorganisation
folgte aber noch ein weiteres Problem, das schwieriger zu lösen war und
das dann ab 1937 zur "kulturellen Wende" führte. In einer solchen
Einheitsorganisation, die für alle Jugendlichen gedacht war, konnte nur
das zum Veranstaltungsprogramm werden, was alle auch ohne besondere
Vorkenntnisse und Fertigkeiten zu tun in der Lage waren. Jeder, ob nun
Lehrling oder Gymnasiast, ob mit höherer oder nur mittlerer Intelligenz
ausgestattet, mußte also von vornherein einen chancengleichen Zugang
179
zum
Programm der HJ haben können. Die Möglichkeiten dafür waren jedoch
beschränkt auf Marschieren, Singen, sportliche Spiele und auf Themen in
den Heimabenden, die die anwesenden Oberschüler nicht sofort zu Lehrern
der ungelernten Jungarbeiter oder der Lehrlinge machte. Das Erlebnis
der Volksgemeinschaft ließ sich also nicht auf der
sachlich-intellektuellen, sondern nur auf der emotional-erlebnishaften
Ebene herstellen. Die dafür möglichen Inszenierungen wie Aufmärsche,
Feiern usw. verlieren jedoch durch ständige Wiederholung leicht ihre
Wirkung, und das Interesse an dem, was alle gleichermaßen können, geht
ebenfalls bald zurück. Ab etwa 1937 zeigte sich diese Entwicklung in
zunehmenden Klagen von Führern über Disziplinlosigkeit und Desinteresse
an den Angeboten der HJ.
Diese Schwierigkeit hatten
zumindest
diejenigen Jugendorganisationen vor 1933 auch erfahren, die wie die
politischen oder kirchlichen eine Massenorganisation sein, also
möglichst viele Jugendliche erreichen wollten. Sie mußten dafür mehr
bieten als nur ihr weltanschauliches oder politisches Credo, nämlich
davon im Prinzip unabhängige Freizeitangebote. Im übrigen hatten die
jungen Leute damals ja die Möglichkeit, einen Bund oder eine andere
Jugendorganisation ihres politischen, weltanschaulichen, kulturellen
oder sportlichen Standards zu wählen. Demgegenüber hatte die HJ als
monopolisierte Freizeitorganisation die Last sich aufgeladen, derartige
innere Differenzierungen im Rahmen einer Einheitsorganisation
anzubieten, was sie dann auch versuchte. Doch davon später.
Das
Prinzip der Selbstführung Vor
der Machtergreifung - bis 1932 - war die HJ der SA unterstellt und
wurde mit dieser auch von Fall zu Fall verboten. Sie war also eine
reine Parteijugend. Nach 1933 jedoch konnte Schirach in Übereinstimmung
mit Hitler, der in "Mein Kampf" festgestellt hatte, daß Jugend von
Jugend geführt werden müsse, die HJ zu einer von anderen Partei- und
Staatsinstanzen relativ unabhängigen Organisation entwickeln.
Allerdings
hatte dieses Prinzip vor 1933 - wie Schirach (1934) selbst eingestand -
auch einen praktischen Hintergrund. "Das fast gleichzeitige Entstehen
der großen nationalsoziali
180
stischen
Organisationen
band alle Führungskräfte in ihre eigenen Altersklassen. Politische
Organisation, SA und SS waren außerstande, Führer an die entstehende
Jugendorganisation abzugeben" (60).
Das Prinzip der
Selbstführung der Jugend war nicht neu. Seitdem die bürgerliche
Jugendbewegung in Gestalt des Wandervogel es mit Beginn des
Jahrhunderts für sich reklamiert und praktiziert hatte, war es selbst
dort zur Geltung gekommen, wo es sich um Jugendverbände von
Erwachsenenorganisationen wie etwa der politischen Parteien handelte.
In diesen Fällen jedoch war der Autonomiespielraum begrenzt durch die
jeweiligen Interessen des Erwachsenenverbandes. Aber gegen Ende der
Republik war bei großen Teilen der Bevölkerung alles verdächtig, was
nach "Partei" roch. Auch die HJ verdankte ihren Zulauf 1933 nicht der
Tatsache, daß sie eine Partei-Jugend war, sondern daß sie sich als Teil
einer weit darüber hinausgehenden völkisch-nationalen "Bewegung"
verstand, die Hitler in seiner Person repräsentierte. Mit einer
Partei-Jugend hätte Schirach keine öffentliche Legitimation gehabt,
andere Jugendverbände aufzulösen und eine einheitliche
Jugendorganisation zu fordern.
Unter Berufung auf
das Prinzip
der Selbstführung gelang es Schirach tatsächlich, fast bis zum Ende des
Krieges Einwirkungen anderer Parteidienstellen oder der Wehrmacht
zurückzuweisen. Dies wäre jedoch ohne die besondere persönliche
Beziehung, die Schirach zu Hitler hatte, nicht möglich gewesen.
So
konnte Schirach seine Idee eines eigenen Jugend-Staates realisieren:
Jugend gestaltet ein eigenes Jugendleben, nach eigenen Ritualen und
Regeln, durch Jugend geführt. Politik im Sinne von Außen- und
Innenpolitik hat dort nichts zu suchen, ist eine Sache der dafür
zuständigen Partei- und Staatsorgane der Erwachsenen. Jugend
organisiert sich in diesem Sinne selbst als pädagogische Provinz.
Zweifellos spielten hier Erfahrungen eine Rolle, die Schirach im
reformpädagogischen Waldpädagogium Bad Berka machen konnte. Für die
erwachsenen Mitglieder des Führerkorps galt die politische Abstinenz
natürlich nicht, wie ein Blick in ihre Zeitschrift "Wille und Macht"
zeigt. Hier wurden allgemeine politische Fragen durchaus diskutiert.
Die
Selbstführung wurde auch in zahlreichen Einzelheiten durchgesetzt. Es
gab Uniformen für verschiedene Ränge,
181 Rangabzeichen,
eine eigenständige Disziplinargewalt, die Verstöße gegen die
HJ-Disziplin ahndete - im schlimmsten Falle durch Ausschluß aus der HJ.
Ein "Streifendienst" überwachte, ob HJ-Mitglieder sich in der
Öffentlichkeit korrekt verhielten, ob die Jugendschutzgesetze z.B. in
Gaststätten eingehalten wurden usw. Polizeilich-exekutive Gewalt hatte
er jedoch nicht.
Die in HJ und BDM verbrachte
Lebenszeit sollte
sinnlich erfahrbar eine eigentümliche biographische Phase sein, bevor
dann die nächste begann. Dem diente auch die Aufteilung in
Altersgruppen. Für die Jungen gab es die Altersklassen "Jungvolk"
(10-13 Jahre) und "Hitler-Jugend" (14-18 Jahre), für die Mädchen deren
drei: "Jungmädel" (10-13 Jahre), "BDM" (14-18), und "Glaube und
Schönheit" (17-21 Jahre) als freiwilliges Angebot. Die Aufteilung in
Jahrgangsgruppen hatte die HJ nicht erfunden, sie geht auf die
Neupfadfinder in der Weimarer Zeit zurück. Ab 1936 wurden die
Mitglieder jahrgangsweise erfaßt, und analog einem schulischen Lehrplan
versuchte die HJ, das Aufwachsen der Jungen und Mädchen zu begleiten
mit altersmäßig gestaffelten Proben, Aufgaben und
Leistungswettbewerben, um so auch den Prozeß des "Älter- und
Größerwerdens" erlebbar zu machen. Wir haben es hier also zu tun mit
einem ausgeklügelten Konzept einer pädagogischen Provinz, die
gleichwohl kein Selbstzweck sein sollte; denn dieser Jugendstaat sollte
ja zugleich dem ganzen Volke dienen.
Dies geschah
durch
"Dienste", die die HJ leistete. Dazu gehörten in erster Linie
Sammlungen für unterschiedliche Zwecke - vor allem auch für das
"Winterhilfswerk", einen Wohlfahrtsfonds, der bedürftige
"Volksgenossen" unterstützen sollte. Aber auch Ernteeinsätze und
Sammelaktionen zur Wiedergewinnung wertvoller Rohstoffe - heute
Recycling genannt - standen auf dem Programm. Im Kriege erweiterten
sich solche Einsätze dann z.B. auf den Post-, Gesundheits- und
Sozialdienst.
Verbesserung
der sozialen Lage der Jugend Die
seit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zunehmende Verelendung breiter
Bevölkerungsschichten - nicht etwa nur der Arbeiterschaft, sondern auch
von Teilen der bürgerli-
182
chen
Mittelschicht
- traf nicht zuletzt auch viele Kinder und Jugendliche. Das spürte auch
die HJ, zumal sie als Jugendorganisation des ganzen deutschen Volkes
mit dem Ziel auftrat, die Klassen- und Standesunterschiede zu
überwinden. Vor 1933 hatte die HJ einen großen Mitgliederanteil aus der
Arbeiterschaft, so daß deren wirtschaftliche und soziale Verfassung
unmittelbar erfahrbar wurde. Schirach selbst stand von seiner sozialen
Herkunft her diesem Problem einigermaßen fremd gegenüber, anders als
Artur Axmann, der selbst aus diesem Milieu stammte. Unter seiner
Leitung entstand schon 1932 in der HJ ein "soziales Amt", das bis
Kriegsende bestehen blieb. Bereits 1933 begannen auf Axmanns Initiative
hin medizinische Reihenuntersuchungen, für die bereits detaillierte
Richtlinien ausgearbeitet waren (Schirach 1934, 199 ff.). Ziele dieser
Untersuchungen waren, den Gesundheitszustand der Jugend im ganzen zu
erfassen, eine vorbeugende Gesundheitsfürsorge zu betreiben, so daß
Krankheiten früh erkannt und entsprechend behandelt werden konnten -
sei es medizinisch, sei es im Sinne einer vorbeugenden
Erholungsfürsorge durch Kuraufenthalte oder durch Erholungsangebote auf
dem Lande, z.B. bei Pflegefamilien. Eine Rolle spielte allerdings auch
die Überlegung, solche Kinder zeitweise oder ganz aus der HJ
auszuschließen, die den Dienstanforderungen körperlich nicht gewachsen
waren. Zugleich sollte im Rahmen dieser Maßnahmen auch ermittelt
werden, welche körperlichen Anstrengungen Jungen und Mädchen eines
bestimmten Alters überhaupt zugemutet werden konnten, ohne sie
gesundheitlich zu überfordern. Daraus ergaben sich dann detaillierte
Anweisungen an die Führerschaft z.B. über die zulässige Länge von
Marsch- und Wanderstrecken. Bis 1938 wurden auf diese Weise jährlich
etwa eine Million Jugendliche untersucht, das Ergebnis wurde in einem
"Tauglichkeitspaß" festgehalten, der bei HJ-Veranstaltungen mitzuführen
war. Zum Konzept der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge gehörte auch die
Gesundheitserziehung in der HJ selbst, wofür Aufklärungsmaterial
entwickelt wurde, das dem jeweiligen Alter angemessen war. Das Jahr
1939 wurde zum "Jahr der Gesundheit" proklamiert und Schirach erfand
dafür im Rahmen von "10 Geboten" das Motto: "Du hast die Pflicht gesund
zu sein!". Die "10 Gebote" lauteten:
"1. Dein Körper
gehört Deiner Nation, denn ihr verdankst Du Dein Dasein. Du bist ihr
für Deinen Körper verantwortlich.
183 2.
Du mußt Dich stets sauber halten und Deinen Körper pflegen und üben.
Licht, Luft und Wasser helfen Dir dabei. 3. Pflege Deine
Zähne. Auf ein kräftiges, gesundes Gebiß kannst Du stolz sein. 4.
Iß reichlich rohes Obst, rohe Salate und Gemüse, nachdem Du sie
gründlich mit sauberem Wasser gereinigt hast. Im Obst sind wertvolle
Nährstoffe enthalten, die beim Kochen verloren gehen. 5. Trink
flüssiges Obst. Laß den Kaffee den Kaffeetanten. Du hast ihn nicht
nötig. 6. Meide Alkohol und Nikotin, sie sind Gifte und hemmen
Dein Wachstum und Deine Arbeitskraft. 7. Treibe Leibesübungen!
Sie machen Dich gesund und widerstandsfähig. 8. Du mußt jede
Nacht mindestens neun Stunden schlafen. 9. Übe Dich in der
"Ersten Hilfe" bei Unglücksfällen. Du kannst dadurch der Lebensretter
Deiner Kameraden werden. 10. Über all Deinem Handeln steht
das Wort: Du hast die Pflicht gesund zu sein!" (Rüdiger 1993, 201).
Im
selben Jahr wurde allen Führern und Führerinnen sowie den im
Gesundheitsdienst Tätigen zur Pflicht gemacht, das Rauchen aufzugeben -
getreu der von Schirach vertretenen Erziehungsmaxime, daß das Vorbild
das beste Erziehungsmittel sei. Ob diese "Pflicht" bei so manchem nicht
lediglich zur Heuchelei führte, darf nach unserer heutigen
Lebenserfahrung gewiß vermutet werden.
Wie die "10
Gebote"
zeigen, hatte dieses Gesundheitsprogramm eine ideologische und eine
praktische Komponente. Die ideologische war von Hitler vorgegeben,
indem er, wie schon erwähnt wurde, der körperlichen Ertüchtigung den
Vorrang vor anderen Erziehungszielen einräumte - nicht um des einzelnen
willen, sondern um des starken, wehr- und gebärtüchtigen Volkes willen.
Die
praktische Komponente hatte zwei Aspekte - aus der Sicht der
Veranstalter und aus der Sicht der Jugendlichen und deren Eltern. Wir
wissen heute, daß der NS-Staat eine umfassende gesundheitliche
Bestandsaufnahme der ganzen Bevölkerung angestrebt und zum Teil
verwirklicht hat. Vorrangiges Ziel war, diejenigen zu erfassen, die den
Vorstellungen der Rassereinheit bzw. der Erbgesundheit widersprachen,
um sie aus der "Volksgemeinschaft" auszugrenzen
184
oder
gar - wie im Falle der geistig schwer Behinderten - zu ermorden.
Nichts
spricht dafür, daß Schirach und Axmann solche Konsequenzen im Auge
hatten, als sie diese Reihenuntersuchungen begannen. Aber immerhin
verbanden sie von vornherein damit den Gedanken der Ausgrenzung. Wer
nicht in einem vorgegebenen Durchschnittstempo mitmarschieren konnte,
mußte draußen bleiben. Was aber ist von einer "volksgemeinschaftlichen"
Jugendorganisation zu halten, die z.B. körperlich behinderte junge
Menschen nur wegen dieser Behinderung von vornherein ausschließt?
Denkbar wäre doch auch gewesen, für solche Jugendlichen spezielle
Angebote zu machen, so wie dies etwa für die Motorrad- oder
Flugzeug-Interessierten auch geschah. Aber das für alle HJ- und
BDM-Mitglieder Gemeinsame war eben der regelmäßige "Dienst", der in
militärähnlicher Form betrieben wurde und eine bestimmte körperliche
Verfassung voraussetzte.
Aus der Perspektive der
Jugendlichen
und deren Eltern ergab sich jedoch ein anderes Bild. Vor allem in den
unteren sozialen Schichten herrschte damals weitgehend Unkenntnis über
gesundheitliche und hygienische Fragen. Hinzu kam oft Gleichgültigkeit,
die teilweise einfach aus der Überforderung durch den Lebenskampf
resultierte: aus Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Not, geringer
Bildung usw. Kinderkrankheiten, soweit sie nicht zur Bettlägrigkeit
führten und damit offensichtlich wurden, wurden oft nicht erkannt, und
die Folgen, z.B. bei der weit verbreiteten Rachitis, nicht behandelt.
Tuberkulose wurde vielfach erst in einem späten Stadium wahrgenommen.
Vor der Hitlerjugend hatte sich niemand öffentlich um diese Probleme so
nachhaltig und systematisch gekümmert. Deshalb mußte die
Gesundheitsfürsorge der HJ und des BDM bei vielen Menschen als ein
Fortschritt verstanden werden, der er ja insoweit auch war. Allerdings
galt das wohl weniger für diejenigen Familien, die als "asozial"
angesehen wurden; denn die hatten meistens gelernt, daß eine derartige
Fürsorge auch eine Form sozialer Kontrolle war, der man sich am besten
entzog.
Wir können heute überhaupt die Popularität
vieler
Maßnahmen nicht nur der HJ, sondern auch anderer NS-Organisationen
nicht verstehen, wenn wir uns nicht klarmachen, auf welche
sozial-ökonomische Situation sie damals trafen. So mag
185
uns
trivial erscheinen, wenn die NS-Frauenschaft Koch-, Näh- und
Hauswirtschaftskurse anbot, oder wenn ähnliche Themen beim BDM eine
Rolle spielten. Aber vor allem wiederum in den unteren sozialen
Schichten waren damals elementare Kenntnisse darüber, wie man Geld
einteilen muß, wie man sich richtig ernährt, wie man Kleidung pflegt
und repariert usw. keineswegs selbstverständlich. Und wenn beim BDM
oder im Rahmen von "Glaube und Schönheit" versucht wurde, durch
Handarbeiten, Basteln und Raumgestaltung kostengünstig eine bescheidene
Alltagsästhetik zu finden, so mag uns das heute folkloristisch
erscheinen, aber damals empfanden viele Menschen das als durchaus
nützlich und pädagogisch sinnvoll.
Das gilt auch für
die zweite
Aktion, die Axmann ins Werk setzte: den "Reichsberufswettkampf". Die
Sache selbst hatte er nicht erfunden, sondern schon in der Weimarer
Zeit der "Deutsche Handlungsgehilfenverband (DHV)", aber Axmann machte
daraus eine Massenveranstaltung. Das ganze beruhte auf einem
Ausscheidungssystem: die Besten kamen jeweils in die nächste Runde. Die
Anforderungen bestanden aus beruflicher Praxis, Berufstheorie, Deutsch,
Rechnen, Allgemeiner Staatskunde und Sport (bei Mädchen kam noch
Hauswirtschaft hinzu). Der Wettbewerb wurde in Zusammenarbeit mit der
DAF - die hatte das Geld dafür aus ihren Mitgliedsbeiträgen - erstmals
1934 mit ca. 500.000 Teilnehmein veranstaltet. Die Teilnehmerzahl nahm
von Jahr zu Jahr zu und erreichte 1937 1,8 Millionen. Höhepunkt war die
Endausscheidung auf Reichsebene, die Sieger wurden am 1. Mai Hitler in
der Reichskanzlei vorgestellt.
Auch hier läßt sich
eine
ideologische und eine praktische Komponente unterscheiden. Ideologisch
ging es sicher um die Inszenierung von "Volksgemeinschaft", vor allem
um die Mobilisierung der Arbeiterschaft (ab 1938 konnten auch
Erwachsene an dem Wettbewerb teilnehmen), deren Loyalität sich das
Regime nicht sicher sein konnte. Außerdem ging es um die Mobilisierung
von "Leistung" und "Einsatz".
Aber vieles spricht
dafür, daß der
junge Axmann solche Absichten allenfalls am Rande im Sinn hatte.
Vermutlich war ihm die praktische Seite der Sache zumindest zunächst
wichtiger; denn er wußte aus eigener Erfahrung, welch geringes
186
Ansehen
der Arbeiter und zumal der jugendliche damals hatte, wie egoistisch die
Betriebe mit ihm umgingen und vor allem, wie viele berufliche Talente
verkümmern mußten, weil niemand sie zur Kenntnis nahm oder förderte.
Noch nie zuvor war der arbeitenden Jugend so viel öffentliche
Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil geworden wie durch diese
jährliche Aktion. Und die praktischen Folgen blieben nicht aus. Viele
Betriebe fühlten sich unter Druck gesetzt, ihre Ausbildungs- und
Arbeitsbedingungen zu überprüfen. Begabungen wurden erkennbar, die dem
Betrieb bisher entgangen waren, in nicht wenigen Fällen zeigte sich,
daß junge Leute beruflich unterfordert waren, weil sie diejenige Arbeit
annehmen mußten, die ihnen den Lebensunterhalt sicherte.
Die
DAF, die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Gewerkschaften, konnte
keine Tarifverhandlungen führen, also keine Lohnforderungen stellen.
Deshalb verlegte sie ihre Aktivität darauf, das öffentliche Ansehen der
"Arbeiter der Faust" zu heben. Sie versuchte dies durch Verbesserung
der Arbeitsbedingungen ("Schönheit der Arbeit") und der
Freizeitbedingungen ("Kraft durch Freude"). In diese Ambitionen paßte
der Reichsberufswettkampf gut hinein. Sieht man sich nämlich an, was
die DAF unter dem Slogan "Schönheit der Arbeit" unternahm, dann gewinnt
man einen guten Eindruck davon, wie damals viele Betriebe ihre Arbeiter
behandelten und wie uninteressiert sie vielfach an deren
Arbeitsbedingungen waren. Daß eine Verbesserung keineswegs nur eine
Frage der Kosten war, zeigte die DAF mit ihren Vorschlägen: Wie man die
sanitären Einrichtungen verbessern, wie man die Beleuchtung am
Arbeitsplatz effektiver machen, wie man für mehr frische Luft sorgen,
mit ein wenig Farbe, ein paar Blumen die Pausenräume freundlicher
gestalten kann usw. Solche uns heute entweder banal oder
selbstverständlich erscheinenden Maßnahmen waren damals für das
Bewußtsein vieler Unternehmer neu. Nicht zuletzt am Widerstand der
Unternehmer war vor 1933 auch der Versuch gescheitert, den arbeitenden
Jugendlichen bzw. den Lehrlingen einen angemessenen bezahlten Urlaub zu
gewähren. Der schon erwähnte "Reichsausschuß der deutschen
Jugendverbände" hatte dafür im Jahre 1925 ein Programm vorgelegt, das
von allen wichtigen Wohlfahrtsorganisationen unterstützt wurde. Über
kaum ein anderes gesellschaftliches Pro-
187 blem
hatte es einen derartig großen Konsens gegeben. Aber eine entsprechende
gesetzliche Regelung kam in der Weimarer Zeit nicht zustande, die
Gewährung von Urlaub blieb in das Belieben des jeweiligen Arbeitgebers
gestellt. Eine gesetzliche Regelung war deshalb nötig, weil eine
tarifvertragliche Lösung für die Lehrlinge nicht möglich war, da
rechtlich der Lehrlingsstatus nicht als Arbeitsverhältnis, sondern als
Ausbildungsverhältnis galt.
Der "Reichsausschuß"
hatte u.a.
gefordert, jugendlichen Arbeitern und Lehrlingen unter 16 Jahren drei
Wochen und den 16-18jährigen zwei Wochen bezahlte Ferien zu gewähren.
Nach der Machtergreifung setzte die HJ die Betriebe unter Druck, von
sich aus für vernünftige Urlaubsregelungen zu sorgen. Die Resultate
waren durchaus beachtlich, denn schon 1934 konnten ca. 100.000 und 1936
ca. 560.000 Jungen an dreiwöchigen Zeltlagern teilnehmen. Da nach
Angaben der Reichsjugendführung 62,5 Prozent der Teilnehmer berufstätig
bzw. Lehrlinge waren, mußten sie dafür auch Urlaub bekommen haben. Das
Jugendschutzgesetz von 1938, an dessen Zustandekommen die HJ maßgeblich
mitgewirkt hatte, regelte nicht nur den Urlaub für Jugendliche, sondern
erfüllte praktisch auch alle anderen Forderungen, die der
"Reichsausschuß" seinerzeit gestellt hatte.
Diese
freizeitpolitische Aktivität der HJ läßt sich ebenfalls ideologisch und
praktisch deuten. Wollte die HJ eine Erziehungsinstitution für die
gesamte Jugend sein, so mußte diese Jugend auch Zeit haben, an
Veranstaltungen teilzunehmen - vor allem eben auch an den Sommerlagern,
die für die Jungen in Zeltlagern, für die Mädchen in Jugendherbergen
stattfanden; denn die Lagererziehung war ein Kernstück der NS-Erziehung
- nicht nur für die Jugend, sondern auch für die Erwachsenen. Nur im
Lager nämlich, nicht am Wohnort, ließen sich die Lebensbedingungen so
konsequent arrangieren und kontrollieren, wie es dem Ideal der
HJ-Erziehung entsprach.
Praktisch gesehen war eine
Urlaubsregelung für jugendliche Arbeiter und Lehrlinge längst
überfällig. Das hatte schon der hohe Konsens in dieser Frage in der
Weimarer Zeit bewiesen. Dagegen waren eigentlich nur die Arbeitgeber,
die nach 1933 ihren Widerstand auf so bemerkenswerte Weise aufgaben.
Hier konnte sich die HJ mit Recht rühmen, eine wich-
188
tige
soziale Frage gelöst zu haben, wozu "die Systemzeit" trotz des großen
Konsenses nicht im Stande war. Für viele Jugendliche standen sicher
nicht die Ideologie und das Erziehungskonzept im Vordergrund, das die
HJ zu der Freizeitaktivität motivierte, sondern das Erlebnis, oft zum
ersten Mal die häusliche Umgebung verlassen und in einer anderen
Umgebung Ferien machen zu können. Auch nach dem Kriege blieben viele
Jugendliche aus finanziellen Gründen noch auf öffentlich
subventionierte Zeltlager und andere Ferienmaßnahmen der Jugendverbände
angewiesen, wenn sie überhaupt verreisen wollten.
Im
September
1940 beauftragte Hitler Schirach mit der "Erweiterten
Kinderlandverschickung". Durch diese Maßnahme sollten möglichst viele
Kinder bis zum 14. Lebensjahr - später auch ältere - aus den
bombengefährdeten Großstädten in nicht vom Luftkrieg bedrohte Gebiete
verschickt werden. Eigentlich handelte es sich hier um eine
Evakuierung, aber um der Sache ein positives Image zu geben, schlug
Schirach vor, von "Erweiterter KLV" zu sprechen. Auch in den
Friedensjahren gab es bereits eine "KLV", in deren Rahmen z.B.
gesundheitsgefährdete Kinder zur Erholung aufs Land geschickt wurden.
Daran ließ sich im Bewußtsein der Bevölkerung anknüpfen.
Für
diese Kriegsmaßnahme gab es keinerlei Vorbereitungen, wie etwa für den
Luftschutz oder für andere Notmaßnahmen. Schirach wurde deshalb von
Hitler bevollmächtigt, die dafür nötigen Partei- und Staatsinstanzen zu
koordinieren.
Für Kleinkinder mit ihren Müttern
sowie für Kinder
von 6 bis 10 Jahren war die NSV - der nationalsozialistische
Wohlfahrtsverband - zuständig, die sie entweder in Heimen, Hotels oder
in Familien unterbrachte. Wer Verwandte auf dem Lande hatte, konnte
seine Kinder dort unterbringen.
Kernstück dieser
Maßnahmen, die
auf Freiwilligkeit beruhten, waren aber die KLV-Lager, in die ganze
Schulklassen mit ihren Lehrern einzogen. Der Aufenthalt dauerte
mindestens sechs Monate, und im Jahre 1943 waren in über 5.000 Lagern
über 1 Million Kinder und Jugendliche von 10 - 16 Jahren untergebracht.
Das größte wurde im Staatsbad Podiebrad in Böhmen mit fast 10.000
Jugendlichen eingerichtet, die sich dort auf Hotels und Pensionen
verteilten. Die Beschaffung geeigneter Unterkünfte wurde dadurch
erleichtert, daß wäh-
189 rend
des Krieges der Fremdenverkehr praktisch nicht mehr existierte.
Schwieriger
war die personelle Besetzung zu lösen. Die wehrfähigen Männer zwischen
18 und 40 Jahren standen nicht zur Verfügung. Zurückgreifen konnten die
Planer also nur auf Mädchen und Frauen sowie auf ältere Männer und
nicht wehrfähige Jungen. "Lagerleiter" waren die aus der Heimat
mitgekommenen Lehrer(innen) bzw. Schulleiter(innen).
"Lagermannschaftsführer" waren ausgesuchte Jungvolkführer, die meist
nicht älter als 16 Jahre waren. Die "Lagermädelschaftsführerinnen"
konnten etwas älter sein, da sie ja nicht wehrpflichtig waren.
Die
Lager waren also eine gemeinsame Veranstaltung von Lehrerschaft und HJ:
Die Lehrer waren für den Unterricht zuständig und natürlich als
Lagerleiter für rechtlich relevante Entscheidungen - schließlich galt
auch hier das "Führerprinzip" -, während die HJ für die Freizeit und
für die allgemeine Disziplin verantwortlich war. Die Zusammenarbeit
zwischen beiden Instanzen scheint im großen und ganzen funktioniert zu
haben, was sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß es
sich hier um eine Notsituation handelte, die für Kompetenzrivalitäten
wenig Raum ließ. Schließlich waren die Väter Soldaten und die Mütter zu
Hause an der "Heimatfront". Außerdem konnte die HJ ihre
Erziehungsprinzipien in den Lagern durchsetzen. In einer für alle Lager
gültigen Lagerordnung war festgelegt, daß es verboten war, schwere
Arbeiten verrichten zu lassen, körperlich zu züchtigen, Kinder und
Jugendliche in den Augen anderer herabzuwürdigen oder ihr Ehrgefühl zu
verletzen, sowie Strafexerzieren und Nahrungsentzug zu verhängen.
Sensibilität
war ohnehin geboten angesichts der relativ langen Trennung der Kinder
von ihren Eltern, zudem noch unter Kriegsbedingungen. Man mußte darauf
achten, die Eltern möglichst nicht zu beunruhigen. So bestand Schirach
gegen Bormann darauf, daß Gelegenheit zum regelmäßigen Besuch des
Gottesdienstes und zum seelsorgerischen Gespräch mit einem Geistlichen
möglich war, und er wehrte auch Versuche von Wehrmacht und SS ab, die
Lager zur vormilitärischen Ausbildung zu benutzen.
In
der Literatur findet sich gelegentlich die Behauptung, Schirach und die
HJ hätten die Lager zur besonders intensi-
190
ven
weltanschaulichen Agitation und Indoktrination benutzt. Nun war in der
Tat das Lager normalerweise das beliebteste nationalsozialistische
Erziehungs-Arrangernent. Aber die kriegsbedingten Randbedingungen der
KLV setzten hier enge Grenzen; denn "die HJ" in Gestalt junger, aber
erwachsener Führer war praktisch nicht vorhanden und allenfalls von den
Lehrern hätten entsprechende Einwirkungen ausgehen können; allein die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß dies von Fall zu Fall auch
geschehen ist, aber Schirachs verkündeten Absichten und Plänen
entsprach dies nicht.
Das KLV-Projekt, an dem
insgesamt etwa 4
Millionen Kinder und Jugendliche teilnahmen, dürfte vielen von ihnen
das Leben gerettet haben und war eine bemerkenswerte soziale Leistung
u.a. der HJ. Problematisch wurde die rechtzeitige Rückführung der Lager
angesichts des Vormarsches der Roten Armee. Ohne Hitlers ausdrückliche
Zustimmung durfte kein Lager zurückgeführt werden, aber Hitler war ab
Ende 1944 nicht mehr erreichbar für die Verantwortlichen. Sie mußten
auf eigene Faust handeln. Soweit bekannt ist es gelungen, die Kinder
und Jugendlichen rechtzeitig ins "Alt-Reich" zurückzuführen. Lediglich
in Ost-Brandenburg wurden zwei Lager von der Roten Armee überrollt.
Die
größten Schwierigkeiten entstanden nach der Kapitulation, weil die
Lager nun zum Beispiel im Hinblick auf die Verpflegung auf sich selbst
angewiesen waren. Viele Kinder machten sich selbständig auf den Weg
nach Hause, den geschlossenen Rücktransport mußten die Heimatgemeinden
organisieren, was wegen des zusammengebrochenen Verkehrs wochenlang
dauern konnte.
Die
musisch-kulturelle Wende Bis
etwa
1936, als das HJ-Gesetz erlassen wurde, hatte sich die HJ
organisatorisch einigermaßen konsolidiert. Nun aber tauchte das schon
erwähnte Problem auf, was man mit einer Millionen-Organisation wie
dieser nun eigentlich machen sollte, oder genauer: was diese Millionen
von Mitgliedern nun in dieser Organisation tun sollten. Die "Kampfzeit"
war längst vorbei. Zwar hielt sich die HJ für eine völkisch-nationale,
in diesem Sinne also für eine politische Organisation,
191 aber
aus der Sicht der Jugendlichen war sie eine Freizeitorganisation, und
die wird auf die Dauer eben an der Attraktivität ihrer Angebote
bewertet. Bisher beruhte der "Dienst" auf dem, was alle können,
nämlich
marschieren, singen, spielen und Sport treiben, aber das begann gerade
deshalb uninteressant zu werden, weil
alle es konnten, also für
individuelle Interessen kein Raum war - jedenfalls nicht im Rahmen der
Organisation. Damit war ein Dilemma entstanden. Blieb die HJ das, was
sie war, dann drohte die Gefahr, daß viele Jugendliche zwar mehr oder
weniger ihren "Dienst" versahen, mit ihren individuellen Interessen
aber aus der HJ auszogen, um sie anderswo zu befriedigen. Gab die HJ
aber solchen sachbezogenen Interessen nach, drohte sie zu einer
riesigen Freizeitorganisation mit jeweils individuell wählbaren
Angeboten zu werden und den Anspruch zu verlieren, eine einheitliche
nationale Organisation für alle Jugendlichen zu sein. Schirach
versuchte einen Kompromiß: Der für alle gültige gemeinsame "Dienst"
blieb bestehen; er sollte weiterhin dazu dienen, die Jugendlichen
"gemeinschaftsfähig" zu machen. Aber darüber hinaus sollten sie auch
die Möglichkeit erhalten, sich zur "gemeinschaftsbezogenen
Persönlichkeit" zu entwickeln.
Diese Wende zur
sachorientierten
Individualisierung, also zu dem, was eben nicht alle können oder
wollen, ist bis zum Kriegsausbruch nur in Ansätzen zum Zuge gekommen.
Speziell für die Jungen wurden über den normalen Dienst hinaus
Sondereinheiten wie die Motor-, Marine-, Flieger-, Nachrichten- und
Reiter-HJ geschaffen - gleichsam als zusätzliches Freizeitangebot.
Für
die älteren Mädchen sollten die Arbeitsgemeinschaften von "Glaube und
Schönheit" im freiwilligen Rahmen die individuelle Bildung fördern.
Dabei war die Thematik prinzipiell nicht begrenzt - z.B. auf sogenannte
"frauenspezifische" Themen. Es konnte sich auch um wissenschaftliche
oder spezielle kulturelle Interessen handeln. Zunächst war man davon
ausgegangen, daß die Mädchen mit 18 Jahren in die NS-Frauenschaft
eintreten sollten. Es zeigte sich jedoch, daß viele Mädchen dieses
Alters sich dazu noch nicht zugehörig fühlten, sich noch nicht als
"Frau" im Sinne jener zum Teil wesentlich älteren Frauen und Mütter
verstanden, die in der NS-Frauenschaft anzutreffen waren. Deshalb
sollte ihnen Gelegenheit gegeben werden, noch einige Zeit unter Gleich-
192
altrigen
individuellen Neigungen und Interessen nachgehen zu können - durchaus
verstanden im Sinne einer Bildung der Persönlichkeit.
H.
Lauterbacher berichtet in seinen Memoiren, Vorbild für "Glaube und
Schönheit" sei eine englische weibliche Jugendorganisation namens
"Health and Beauty" gewesen, die er bei einem Englandbesuch
kennengelernt und über die er Schirach berichtet habe.
Aber
die
"musisch-kulturelle Wende" - Schirach selbst spricht von einer "Wende
nach innen" - war grundsätzlicher gemeint, nämlich vom "soldatischen"
Typus hin zum "musischen und soldatischen Typus". Der Ausdruck "Wende"
könnte allerdings mißverstanden werden. Musisch-kulturelle Elemente
hatte die HJ von Anfang an schon im Rahmen ihrer Fest- und
Feiergestaltung aufzuweisen. Zudem war das Singen ein wichtiger
Bestandteil jedes Heimabends. Aber bis 1936 hatten diese Elemente eine
eher untergeordnete, instrumentelle Bedeutung, jedenfalls waren sie
nicht konstitutiv für das erzieherische Selbstverständnis zumindest der
männlichen HJ.
Anders allerdings bei den Mädchen:
Man muß
bedenken, daß die deutsche Jugendbewegung von Anfang an ein männliches
Phänomen war, zugeschnitten auf die männliche Pubertät. Die Leitbilder
des "Fahrenden Scholaren" - wie beim Wandervogel vor dem Ersten
Weltkrieg - oder des "Weißen Ritters" - wie bei einem Teil der
"bündischen Jugend" nach dem Ersten Weltkrieg - waren für Mädchen wenig
attraktiv. Das gilt auch für das "soldatische" Leitbild der männlichen
HJ, in dem Mädchen ebenfalls keinen rechten Platz fanden - ganz
abgesehen davon, daß im Gleichschritt marschierende Mädchen, die dann
im Geländespiel miteinander raufen, weder dem Frauenbild der Nazis noch
dem Geschmack der damaligen Mehrheit der Bevölkerung entsprachen. Auch
das Ideal der "Mutter", die den heimischen Herd umsorgt, möglichst
viele Kinder zur Welt bringt und aufzieht - das schon damals eher ein
männliches als ein weibliches NS-Leitbild war -, läßt sich schwerlich
in den Alltag von 10-14jährigen Mädchen umsetzen. In der Tat spielte
dieses Ideal in der Arbeit der Jungmädel und des BDM eine
untergeordnete Rolle und trat erst in der Altersphase von "Glaube und
Schönheit" deutlicher hervor. Wollte man damals vielmehr
193 den
Mädchen wie den Jungen ein eigentümliches Jugendleben arrangieren und
dies wieder unter dem Aspekt des chancengleichen Zugangs für jedes
Mädchen, dann blieb neben dem Sport und der damit verbundenen
Gesundheitserziehung nur der musisch-kulturelle Bereich übrig, der hier
tatsächlich von Anfang an eine größere Bedeutung hatte als bei den
Jungen. Während die Jungen noch die Marschlieder aus der Kampfzone
ertönen ließen, sangen die Mädchen eher Volkslieder, die der Jahreszeit
und den Festtagen entsprachen. Gemeinsame Spiele, Handarbeiten, Basteln
- z.B. Weihnachtsgeschenke für Kinder armer Familien - kamen hinzu.
Diesen
eher musischen als soldatischen Stil wollte Schirach ab etwa 1937 auf
die ganze HJ übertragen, und zwar im Sinne einer Spitzen- und
Breitenarbeit. Äußere Höhepunkte dieser neuen Entwicklung waren die
seit 1937 jeweils im Juni stattfindenden "Kulturtage" in Weimar.
Eingeladen wurden dazu das Führerkorps von HJ und BDM, die besten
Schülerinnen und Schüler und die Sieger des Reichsberufswettkampfes.
Auf dem Programm standen Theateraufführungen mit Werken der deutschen
Klassik, Meisterkonzerte, Lesungen und Leistungsschauen junger Künstler.
Schirach
nutzte diese Gelegenheit zu programmatischen Reden. Dabei stützte er
das neue musische Konzept vor allem auf Goethes Anschauungen über
Bildung und Erziehung mit dem Ziel, die HJ in der nationalen Tradition
der deutschen Klassik kulturell zu verankern. Seine Berufung auf Goethe
war nicht das Ergebnis wissenschaftlich-philologischer Analysen,
sondern - wie bei Schirach üblich - eher intuitiv und emotional, und
sie war insofern nicht ganz unproblematisch, als Hitler ein gespaltenes
Verhältnis zu Goethe hatte; er verübelte ihm seine weltbürgerliche
Haltung und sein Freimaurertum. Trotzdem ließ er Schirach gewähren.
Ab
1937 wurde auch die musisch-kulturelle Breitenarbeit forciert. Die
Jungen und Mädchen wurden aufgefordert, ein Instrument spielen zu
lernen. Zu diesem Zweck wurden ab 1937 in Zusammenarbeit mit KdF - der
Freizeitorganisation der DAF - "Musikschulen für Jugend und Volk"
eingerichtet, in denen im Unterschied zum teuren Privatunterricht der
Instrumentalunterricht relativ preiswert erteilt werden konnte. Bis
1939 gab es bereits 66 Schulen mit 700 Lehr-
194
kräften,
Mitte der 40er Jahre waren es 120 Schulen, aber nun gab es
kriegsbedingt auch einen Mangel an Lehrkräften. Zudem wurde ab Oktober
1943 die Herstellung von Musikinstrumenten aus kriegsbedingten Gründen
verboten.
Auch diese Musikschulen, die es bis heute
gibt, waren
keine Erfindung der HJ. Sie waren schon vor 1933 im Rahmen der
"Jugendmusikbewegung" gegen den starken Widerstand der Berufsmusiker
entstanden, die dadurch für sich wirtschaftliche Nachteile
befürchteten. Diese "Jugendmusikbewegung" stand in Frontstellung zum
offiziellen bürgerlichen Konzertbetrieb, der auf der Trennung von
Musikern und Publikum beruhte. Demgegenüber wollte die neue Bewegung
die Gemeinschaftsbezogenheit des Singens und Musizierens wieder zur
Geltung bringen. Ziel war nicht professionelle Perfektion, sondern das
gemeinsam geschaffene musikalische Erlebnis. Durch das sogenannte
"offene Singen" sollte die Distanz von Musikern und Publikum überwunden
werden. Bekannte und neugeschaffene, einfach zu singende Lieder konnten
von allen Anwesenden mitgesungen werden, die Chor- und
Instrumentalsätze wurden entsprechend komponiert - ähnlich wie die
Orgel den Gesang der Gemeinde in der Kirche begleitet. Eine ganze Reihe
von jungen Komponisten und "Liedermachern" - von denen Hans Baumann am
bekanntesten wurde - stellten sich für Schirachs Konzept zur Verfügung,
der sich im übrigen nicht scheute, sich auch mit fremden Federn zu
schmücken; so wurde etwa der berühmte Leipziger Thomanerchor zu einer
"Einheit" der HJ.
Das Ideal des "musischen Menschen"
war der
gemeinschaftsbezogene Mensch, der Körper, Geist und Seele harmonisch
ausbalancieren kann. Diese aufs Laientum setzende "Jugendkultur" der HJ
wurde von Fachleuten schon damals kritisiert, etwa mit der Begründung,
daß der rein erlebnishafte Zugang zum Dilettantismus führe und das
sachbezogene Verständnis von Kunst und Musik verhindere.
Es
wäre
jedoch einseitig zu sagen, die HJ sei in einer jugendspezifischen, von
der offiziellen Kunst strikt getrennten Kultur steckengeblieben. Bei
den "Spielscharen", die sie gründete - Theater- oder
Chor/Instrumentalgruppen -, waren die Übergänge fließend - je nach
künstlerischem Ehrgeiz. "Werktreue" war jedenfalls nicht verpönt. Im
Jahre 1942 gab
195 es
550 solcher Einheiten, in denen ca. 130.000 Jungen und Mädchen tätig
waren.
Eine
Brücke zur offiziellen Kunst-Kultur bildete ein "Veranstaltungsring"
der HJ, der den Mitgliedern preiswerte Besuche von Konzerten und
Theateraufführungen ermöglichte.
Mit der
Rückbesinnung auf die
eigene klassische nationale Tradition ging einher die Öffnung nach
außen, zu anderen Völkern, so auch zu den früheren Kriegsgegnern
Frankreich und England. Das Heft Nr. 6/1938 von "Wille und Macht" war
dem Thema England gewidmet und enthielt Grußworte von Premierminister
Chamberlain und von Lord Halifax.
Das Jahr 1938
steckte
bekanntlich voller außenpolitischer Krisen, die dann ein Jahr später
auch zum Krieg führten. So mag aus der Rückschau die Zuwendung der HJ
zu den ehemaligen - und auch wieder künftigen! - Kriegsgegnern als
taktisches Spiel erscheinen, ja, als Heuchelei. Nichts spricht jedoch
dafür, daß die HJ diese Kontakte nicht ehrlich gemeint hat. Schirach
glaubte tatsächlich an eine friedliche Zusammenarbeit mit der Jugend
anderer Völker. Die nationalsozialistische Weltanschauung verstand er
nicht imperial, vielmehr bezeichnete er sie öffentlich als eine rein
deutsche Sache, die auf andere Völker nicht übertragbar sei.
Daß
Hitler - wie wir heute wissen - 1938 bereits zum Krieg entschlossen
war, steht auf einem anderen Blatt und läßt die Vermutung zu, daß er
Schirachs Verständigungsversuche in sein taktisches Kalkül einbezogen
hat.
"Einheit
der Erziehung" Schirachs
pädagogischer
Ehrgeiz blieb nicht auf die HJ beschränkt, er wollte auch die Schule
verändern. Bis in die Kriegszeit hinein unternahm er Versuche, ein
Jugendministerium unter seiner Leitung zu etablieren, dem auch das
Schulwesen unterstehen sollte. In den Jahren von 1933 - 1939 war das
Verhältnis von HJ und Schule mehr oder weniger gespannt. In den Schulen
selbst entstanden Konflikte einfach schon dadurch, daß den Lehrern
vielfach HJ-Mitglieder und -Führer gegenübersaßen, die sich nicht mehr
als "Pennäler" behandeln ließen. Jugendliche Überheblichkeit 196 und
gesundes Selbstbewußtsein lagen dicht beieinander, und viele Lehrer
fürchteten, wegen ideologisch mißliebiger Äußerungen denunziert oder
zumindest vor der Klasse in unangenehme Diskussionen verwickelt zu
werden; beides kam vor.
Auf der oberen Ebene -
Reichsjugendführung und Erziehungsministerium - waren Konflikte schon
deshalb unvermeidlich, weil in Gestalt der HJ zum ersten Mal ein
außerschulischer Jugendverband den Anspruch erhoben hatte, neben der
Schule als eigenständiger Erziehungsfaktor anerkannt zu werden - was ja
auch im HJ-Gesetz zum Ausdruck gekommen war. Vor 1933 war ein solcher
Anspruch mit Blick auf die Schulen nie gestellt worden; Wandervogel und
bündische Jugend hielten ihre Veranstaltungen in der Freizeit der
Jugendlichen ab, und es konnte den Schulen ziemlich gleichgültig
bleiben, was sie dabei an pädagogischen Vorstellungen und Praktiken
entwickelten, solange die inneren Normen, Regelungen und pädagogischen
Grundsätze der Schule davon nicht berührt wurden.
Diese
klare
Trennung - Schule ist Schule und Jugendarbeit ist Freizeit - ließ sich
nun nicht mehr einfach aufrechterhalten, weil die HJ ja einen
völkisch-nationalen Erziehungsanspruch in einem gesamtpolitischen Sinne
erhob, sie wollte mehr als nur ein außerschulischer Freizeitverein
sein. Deshalb mußte die Frage auftauchen, ob und in welcher Weise auch
die Schule Grundsätze der nationalsozialistischen Erziehungskonzeption
übernehmen müsse, wie sie die HJ entwickelt hatte. Es ging "um die
Einheit der Erziehung", wie der Titel einer Rede hieß, die Schirach am
24. Mai 1938 vor der Führerschaft der HJ in Weimar gehalten hat. Diese
Rede löste eine breite öffentliche Diskussion gerade auch in der
Lehrerschaft aus. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie im
Unterschied zu anderen Reden Schirachs verhältnismäßig systematisch
aufgebaut, weniger sprunghaft und auch relativ unpathetisch ist. Zudem
galt sie in den Reihen der HJ als eine vielzitierte programmatische
Äußerung, so daß sie hier etwas ausführlicher dokumentiert werden soll.
Damals
- 1938 - gab es mehr oder weniger deutliche Kritik an der HJ.
Zunehmendes Desinteresse am "Dienst" und steigende
Disziplinschwierigkeiten wurden schon erwähnt. Gravierender aber war,
daß ein erheblicher Lehrermangel einge-
197 treten
war, was um so schwerer wog, als die seit 1936 erfolgende Aufrüstung
qualifizierte Facharbeiter erforderte, an denen es nun mangelte. Der HJ
wurde vorgeworfen, durch ihre schulfeindliche Haltung zu diesem Übel
beigetragen zu haben. Der pädagogische Wind begann sich zu drehen, und
die Erziehungsansprüche der HJ drohten zu einem Hemmnis zu werden. Wie
wir gesehen haben, begann auch Kriecks Stern ab 1936 nicht zuletzt
deshalb zu verblassen, weil seine pädagogische Konzeption für die
Effektivierung des Schulunterrichts und der beruflichen Qualifizierung
nichts hergab. Schirachs "musische Wende" kollidierte allmählich mit
der von Wirtschaft und Partei geforderten technokratischen Wende.
Auf
diesem Hintergrund bestimmte Schirach in seiner Rede das Verhältnis der
HJ zur Schule so:
"Die
Hitlerjugend will nicht der alleinige Erziehungsfaktor für die Jugend
unseres Volkes sein. Ihre sachlichen Auseinandersetzungen mit der
Schule sind nicht durch Machtstreben bedingt. Es ist notwendig, zu
erkennen, daß die Führerschaft unserer Jugend nicht aus Verwaltern von
Organisationsdienststellen besteht, sondern aus Trägern und Bekennern
einer erzieherischen Anschauung, die ohne weiteres auch im schulischen
Leben verwirklicht werden kann. Die Selbstverantwortung der Jugend ist
auch in der Schule denkbar" (Schirach 1938, 112).
Das
Prinzip,
Jugend solle von Jugend geführt werden, sollte also auch in die Schule
einziehen - nicht, um die Qualität des Unterrichts zu beeinträchtigen,
wie Schirach ausdrücklich beteuerte, sondern um den Geist der Schule,
das "Schulleben", zu verändern. Seine Kritik der bestehenden Schule
faßte er in folgenden Punkten zusammen:
Sie habe im
allgemeinen
die falschen Lehrer. "Was wir brauchen, ist eine Lehrerschaft, die eine
charakterliche Auslese bedeutet. Leider entscheidet sich mancher
Student für den Lehrberuf, weil er an die Versorgung denkt. Es liegt
auf der Hand, daß solche Naturen keine positiven erzieherischen
Fähigkeiten besitzen können, denn wer den Lehrberuf ausschließlich
wegen der späteren Pensionierung erwählt, dürfte kaum geeignet sein,
der heranwachsenden Generation eine idealistische Lebensauffassung zu
vermitteln. Das Amt des Erziehers verlangt nach Selbstlosigkeit und
völliger Hingabe
198
an ein
höchstes Ideal; der wahre
Erzieher wird zuletzt nach Versorgung fragen. Jener, leider nicht
seltene Typ des Lehrbeamten wirkt nach absolviertem Staatsexamen
gleichsam als Automat für wissenschaftliche Bildung, indem er seine
sämtlichen Dienstjahre hindurch seinen Lehrstoff, das geheiligte
'Pensum', in täglichen Dosen jahraus, jahrein verabfolgt. Wenn aus der
Klasse heraus, die das Objekt dieser sogenannten Erziehung darstellt,
ein leiser Widerspruch laut wird, wird sie mit dem in napoleonischer
Haltung verkündeten Satz 'Wissen ist Macht', zur Raison gebracht. Mit
diesem Schlagwort sind ganze Jahrgänge von Natur aus selbständiger
junger Deutscher in der Schule niedergeschmettert worden" (114).
"Gerade
die selbständigen Naturen" würden "in der Schule meist als störend
empfunden". "Oft wurde als Böswilligkeit und Trotz hart unterdrückt,
was in Wirklichkeit nichts anderes als die erste Offenbarung einer
wirklichen Führernatur war. Und leider wurde oft in frühester Jugend
diese Selbständigkeit einer erwachenden Persönlichkeit brutal
gebrochen, damit das Schema siege und mit dem Schema die brave
Mittelmäßigkeit" (115). Aber die Musterschüler dieser Art von Schule
seien keineswegs auch immer die gewesen, die dann den Aufgaben des
Lebens standgehalten hätten. Viel Wissen sei noch lange nicht Bildung.
"Wer
die Jugend erziehen will, muß sie ehrfürchtig machen und begeistern
können. Denn ohne Ehrfurcht und Begeisterung ist ebensowenig eine
Erziehung wie ein höheres menschliches Dasein denkbar. Wie weit aber
hat sich das humanistische Gymnasium von diesem Ideal entfernt! Livius
Geschichte Roms wird auf den lateinischen Satzbau hin wissenschaftlich
untersucht, und die ewige Dichtung Homers wird auf Befehl amusischer
Studienräte zergliedert und auswendig gelernt, statt erlebt. Gelingt es
doch, selbst die Deutschstunde zu einer im Sinne Lessings tragischen
Begebenheit, das heißt zu einem Mitleid und Furcht erweckenden
Schauspiel zu veröden. Wir wollen keine Einzelfälle verallgemeinern,
aber ist es nicht so, daß der Mehrzahl unserer höheren Schüler die
große klassische Dichtung ihrer Nation systematisch verekelt wurde? Muß
ein Nationalheiligtum wie der 'Faust' unbedingt so zerpflückt und
'erklärt' werden, daß er 18jährige deutsche Jungen mit einer
Angstpsychose vor ihrer Deutschstunde erfüllt? Ganz zu schweigen von
den belieb-
199 ten
Aufsatzthemen ,In wieweit
lassen sich Schillers Wilhelm Tell und Goethes Egmont vergleichen, und
worin unterscheiden oder ähneln sich die Freiheitsideen beider?'" (115
f.).
Da könne es nicht verwundern, wenn Schüler und
Lehrer sich
feindlich gegenüberstünden und wenn selbst gutwillige Lehrer davon
ausgingen, daß das Prinzip der Selbstführung nach aller pädagogischer
Erfahrung versagen müsse.
Aber "dieselbe Klasse, die
am
Vormittag einen verdienten Studienrat bei der Klassenarbeit
beschwindelte, in die Schulbänke vielerlei Unsinn schnitzte und sich
ganz allgemein rüpelhaft betrug, ist am Abend desselben Tages in einem
Heim der Hitlerjugend versammelt, um einen Schulungsvortrag anzuhören,
und gibt dabei ein Musterbeispiel jugendlicher Zucht und Disziplin. Das
Heim selbst, das von einem Gleichaltrigen verwaltet wird, befindet sich
in musterhafter Ordnung, und es ist ganz undenkbar, daß ein Angehöriger
der Gemeinschaft einen Einrichtungsgegenstand mutwillig beschädigen
würde. Dieselbe Klasse, die einem gereiften Mann inneren und äußeren
Widerstand entgegensetzt, wenn er sie zur Ordnung ruft und im Verfolg
des ihm vom Staat erteilten Auftrags disziplinieren möchte, folgt am
Abend mit innerer Bereitschaft und Freude dem Befehl eines jungen
Kameraden, der wesentlich höhere Ansprüche an ihre Disziplin stellt als
auch der strengste Lehrer" (117 f.).
In der Schule
jedoch kenne
die Klasse nur eine "Ehre: unbedingter Zusammenhalt gegen den Lehrer
als Feind und kompromißloser Kampf gegen jeden Verräter der
Klassengemeinschaft. Es ist dies nichts anderes als eine natürliche
Reaktion auf die dauernde Beaufsichtigung und Gängelung, zu der der
Lehrer verpflichtet ist. Die Stellung eines Ordnungsbeamten, eines
Polizisten in der Klasse, ist der Klasse genauso unwürdig wie des
Lehrers selbst".
Ganz anders wiederum bei der
Hitlerjugend: "In
den Führerschulen der Hitlerjugend ist der Vortragende ein Freund und
Kamerad seiner Zuhörer. Der Gedanke, daß diese Zuhörer während seines
Vortrags Schabernack üben oder es an der nötigen Ehrerbietung fehlen
lassen, erscheint jedem, der unsere Führerschulen kennt, lächerlich.
Das Bild einer solchen Unordnung würde gegen den Geist der Gemeinschaft
verstoßen, und die Gemeinschaft selbst würde einen Störenfried
200
zurechtweisen
und mit der Verachtung strafen. Es ist wunderbar und beglückend, daß
die Jugend nichts so sehr anspornt als das Vertrauen, das man in sie
setzt. Sobald sie empfindet, daß man ihr mehr Vertrauen schenkt, als
sie zu empfangen gewohnt ist, wächst in ihr der Trieb, sich dieses
Vertrauens würdig zu erweisen. Nun wird mancher Lehrer aus seiner
Erfahrung heraus hiergegen einwenden, daß sich doch in jeder Klasse
auch Elemente minderen Wertes befinden, eben jene Elemente, die ihm
fortgesetzt Schwierigkeiten bereiten. Ich erwidere hierauf. Diese
Elemente kann niemals der Lehrer überwinden, sondern nur die Klasse
selbst. Welcher vernünftige Mensch könnte annehmen, daß ein oder zwei
Böswillige auf die Dauer stärker sein könnten als dreißig Anständige?"
(119 f.).
Und schließlich die Quintessenz aus allem:
"Wenn man
ein Schulsystem aufbauen würde, innerhalb dessen die Jugend selbst für
die Schülerschaft verantwortlich ist, würde es zwischen Lehrerschaft
und Schülerschaft im allgemeinen keine Feindschaft mehr geben. Und der
Lehrer erhielte damit jene Freiheit und Würde, die mit seinem Amt
verbunden sein sollte, aber nicht verbunden ist" (120).
Die
HJ sehe im Lehrer keinen Feind, denn schließlich arbeiteten in ihr über
10.000 Lehrer freiwillig mit.
"Ich
bin nicht glücklich darüber, daß die Stellung des Lehrers schwindet und
die des Jugendführers steigt. Es befriedigt mich weder das eine noch
das andere. Ich will auch nicht die Jugend gegen die Schule
mobilisieren, wie sich mancher Lehrer vorstellen mag. Auch dieses
Führerkorps soll nicht mit Worten oder Handlungen gegen die bestehende
Einrichtung der Schule Opposition treiben. Ich spreche hier nur, um
Klarheit zu schaffen, nicht um zu opponieren" (123).
Klarmachen
wollte Schirach vor allem dies: Der hauptberufliche Jugendführer,
dessen Ausbildung an der "Akademie für Jugendführung" in Braunschweig
bereits geplant war, sollte einem Mangel aus dem Wege gehen können, der
dem Lehrerberuf so nachhaltig anhatte: der ausschließlichen Fixierung
auf eine bestimmte pädagogische Tätigkeit bis zur Pensionierung:
"Wir
glauben an die Sendung des nationalsozialistischen Jugendführers. Wir
glauben, daß eine unaufhaltsame Entwick-
201 lung
dahin treibt, daß der Erzieher der Zukunft während der verschiedenen
Stationen seines Lebens und Dienstes auch verschiedene erzieherische
Funktionen ausüben wird. So sehen wir ihn zunächst als Jugendführer,
der durch jährliche Übungen sich für seine spätere Funktion als
Volksschullehrer vorbereitet. Wir sehen ihn dann in diesem Amte, wie er
als Jugendlicher und durch Dienst und Rang mit der Jugend verbundener
Nationalsozialist im gleichen Gerste unterrichtet, in dem er bisher
geführt hat. Wir sehen ihn dann nach einigen Jahren auf der weiteren
Wanderschaft wieder im aktiven Dienst der Jugendführung, aber diesmal
mit höherer Verantwortung. Dann als Erzieher an einer
Adolf-Hitler-Schule, später in einer deutschen Schule des Auslandes
oder im Amt für weltanschauliche Schulung. Vielleicht begegnen wir
diesem Mann später auf einem Lehrstuhl der Akademie für
Jugendführung, ... ganz genau kann man den Weg dieses Mannes nicht
bezeichnen, weil wegen der ungeheuren Weite dieser Ausbildung der
Möglichkeiten so viele sind, daß sie sich gar nicht übersehen lassen.
Eines weiß ich ganz genau: Dieser Mann wird nicht bis zu seinem
vollendeten 65. Lebensjahr Tag für Tag auf dem Katheder sitzen! Er wird
nicht tagtäglich um 12.45 Uhr das Buch zuklappen, aus dem er zum
siebenhundertunddreiundvierzigsten Mal seine Lektion verkündet hat, um
nach Hause zu gehen, gut und reichlich zu essen, ein Mittagsschläfchen
zu halten, Kaffee zu trinken, seine Zeitung zu lesen, seine Zigarre zu
rauchen usw., kurz um mit dem Zeichen einer Glocke das für 24 Stunden
zu vergessen, was er niemals auch für eine Stunde seines Daseins
vergessen darf: die erzieherische Sendung." (124 f.)
Solche
Schulmeister-Kritik mußte natürlich die jungen Leute begeistern, und
sie konnte als dunkle Folie dienen, auf der sich um so strahlender das
eigene Konzept des neuen Allround-Erziehers projizieren ließ:
"Der
Jugendführer und Erzieher der Zukunft wird ein Priester des
nationalsozialistischen Glaubens und ein Offizier des
nationalsozialistischen Dienstes sein. Er wird aber auch Träger sein
jener weltweiten Bildung, die für alle Generationen und auch für alle
Völker jener große Deutsche verkörpert, der in dieser Stadt seine
irdischen Augen schloß, um seine ewigen für immer zu öffnen und auf uns
zu richten. Im Bannstrahl dieser Sterne wird der Erzieher der Zukunft
für die ihm anvertraute, nicht nach Wissen, aber Bildung hun-
202
gernde
Jugend jenes höchste Glück bringen, das nach Goethes ewigem Gesetz den
Erdenkindern nur durch die Persönlichkeit offenbart werden kann. Ich
sehe sie alle vor mir, diese körper- und geistgestählten Kameraden, die
nicht Schulmeister sein werden, sondern Meister des Lebens. Ihrer
Gemeinschaft angehören zu dürfen, wird so viel Ehre bedeuten, daß
zehntausend junger Menschen mit heißem Herzen kämpfen werden, um dieser
Ehre würdig zu werden. Diese Mannschaft von morgen wird nicht mit
erhobenem Zeigefinger vor die Jugend treten und sie mit lateinischen
Sprüchen ermahnen" (125).
Schirach schob den
"schwarzen Peter"
also an die Schule zurück: nicht die HJ sei für den Lehrermangel und
für das Desinteresse am Lehrerberuf verantwortlich; vielmehr sei die
Schule in ihrer gegenwärtigen pädagogischen Verfassung unattraktiv
geworden, und nur durch einen Lehrertypus, der über die HJ heranwachse
und dem später nicht die Fixierung auf eine bestimmte pädagogische
Tätigkeit drohe, sei Abhilfe möglich.
Schirach
konnte den Mund
nicht zuletzt deshalb so voll nehmen, weil er seit eineinhalb Jahren
selbst Schulträger geworden war. Nachdem er bis 1936 erfolglos über
eine Reform der Schule mit Erziehungsminister Rust verhandelt hatte,
gründete er gemeinsam mit Robert Ley am 17.1.1937 die
"Adolf-Hitler-Schulen" (AHS); Hitler hatte dieses Vorhaben zwei Tage
vorher genehmigt. Ley hatte deshalb ein Interesse daran, weil er mit
den sogenannten "Ordensburgen" bereits Erwachsenenbildungsstätten für
den Führernachwuchs eingerichtet hatte, denen aber der Unterbau fehlte.
Die
AHS unterstanden nicht Erziehungsminister Rust - der von diesem Projekt
überfahren wurde -, sondern der HJ als deren "Einheiten". Sie umfaßten
sechs Schuljahre, nahmen solche Jungen ab vollendetem 12. Lebensjahr
auf, die sich im Jungvolk bewährt hatten, und schlossen mit einer dem
normalen Abitur vergleichbaren Reifeprüfung ab, die allerdings erst
1942 von Rust als gleichwertig anerkannt wurde, nachdem im Lehrplan der
AHS einige Veränderungen vorgenommen worden waren. Dieser Schultyp galt
- im Unterschied zu den erwähnten NPEA - als leistungsschwach, und Rust
wollte - wie im vorausgehenden Kapitel erwähnt - den Leistungsstandard
der Oberschule unbedingt hochhalten. Den Absolventen
203 der
AHS sollten alle Laufbahnen in Partei und Staat offenstehen. Auch für
Mädchen waren solche Schulen geplant, aber ihre Realisierung wurde
durch den Krieg verhindert.
Anders als in den
staatlichen
Schulen ließ sich hier Schirachs "Einheit der Erziehung" zumindest zum
Teil verwirklichen. Der Lehrplan unterschied sich zwar nicht wesentlich
von dem der staatlichen Gymnasien. Aber die Beziehung zwischen Lehrern
(hier "Erzieher" genannt) und Schülern war von besonderer Art, es
sollte ein Führer-Gefolgschaftsverhältnis sein, der Pädagoge sollte
sich als Lehrer und Jugendführer in einer Person verstehen - ein
"Vorbild" sein, dem von der Seite des Jungen "Vertrauen"
entgegengebracht werden konnte. Äußerer Ausdruck dieser Art von
pädagogischer Beziehung war die für die HJ im ganzen charakteristische
Du-Anrede. Das Zusammenleben sollte erzieherisch gestaltet werden, und
zwar durch die Jungen selbst im Sinne einer "Selbsterziehungsschule".
Normativer Kern dieser Selbsterziehung sollte die "Ehre" sein. So
wurden die Klassenarbeiten ohne Lehreraufsicht geschrieben, "mogeln"
galt als unehrenhaft. Wichtige reformpädagogische Ideen aus der Zeit
vor 1933 wurden wieder aufgegriffen. Der Frontalunterricht wurde durch
das Arbeitsgespräch ersetzt, die starre, auf den Lehrer orientierte
Sitzordnung zugunsten einer Hufeisenform der Tische abgeschafft.
Gruppenarbeit wurde eingeführt. Der Unterricht sollte
"erlebnisorientiert", das Lernen in Form eines geistigen Wettbewerbs
gestaltet werden. Neben der intellektuellen Ausbildung und dem Sport
nahm die musische Bildung einen verhältnismäßig breiten Raum ein, der
HJ-Dienst und andere "Einsätze" fanden in den Einheiten außerhalb des
Internates statt, um eine soziale und geistige Isolierung der Schüler
zu vermeiden. Nicht der Typus des individuellen "Intellektuellen"
sollte aus der Schule hervorgehen, sondern ein harmonisch gebildeter,
dabei bescheidener und disziplinierter junger Mann, der selbständig,
verantwortungsbereit und kritisch zu denken und zu handeln gelernt
hatte. Die "Elite" für Partei und Staat, die aus diesen Schulen
hervorging, sollte nicht dogmatisch borniert sein, sondern
Führungsqualitäten erworben haben. Dazu gehörte auch die
Auseinandersetzung mit gegnerischen politischen und weltanschaulichen
Positionen; entsprechende Literatur, die sonst verboten war, stand den
Schülern dafür zur Verfügung.
204
Auch
im Falle
der AHS - die im übrigen einschließlich Unterkunft und Verpflegung
kostenlos war - gelang es Schirach, Parteieinflüsse weitgehend
auszuschalten. Mit Robert Ley, der die Schulen zunächst finanzierte und
formell auch zusammen mit Schirach Schulträger war - ab 1942 übernahm
das die Kasse der NSDAP - gab es zwar Anfangs Kontroversen über den
Lehrplan und das pädagogische Konzept, aber die RJF konnte sich
durchsetzen und Schirach ließ dem Erzieherkorps einen weiten Spielraum
dafür, Erfahrungen zu machen; denn für viele Einzelheiten gab es keine
rechten Vorerfahrungen, an die man hätte anknüpfen können. Zwar waren
fast alle pädagogischen Einfälle, die hier zum Zuge kamen, bereits in
der Reformpädagogik vor 1933 vorgedacht und teilweise praktiziert
worden - nicht zuletzt in den an Hermann-Lietz orientierten Schulen,
von denen Schirach eine als Schüler besucht hatte -, aber das Konzept
im ganzen war neu und bedurfte der allmählichen Konsolidierung und
Korrektur. Es war gewissermaßen ein schulpädagogisches Experiment.
In
späteren literarischen Äußerungen damals Beteiligter (z.B. Klüver,
Rüdiger 1983, 1984) wird unter anderem betont, daß die Erziehung zur
Kritikfähigkeit durchaus ernst gemeint gewesen sei. Dabei wird auf
folgendes Paradebeispiel hingewiesen:
Nach der
Abiturprüfung der
AH-Schüler 1941 in Sonthofen habe Ley zu einem Bierabend eingeladen.
Dabei sei er mit kritischen Fragen zu seiner Person konfrontiert
worden: Ob er wisse, daß er im Volk als Trinker gelte; ob es richtig
sei, daß er seine treue Gattin verlassen und eine jüngere Frau
geheiratet habe. Ley habe diese Fragen geduldig und offen beantwortet.
Am nächsten Morgen habe - vorher nicht geplant - ein Appell aller
AH-Schüler vor Ley stattgefunden. Bei dieser Gelegenheit habe er
erklärt, die vorangegangene Unterhaltung mit den Abiturienten habe ihn
erkennen lassen, daß er nicht mehr die charakterliche Integrität
besitze, um Vorbild für die AH-Schüler zu sein; er trete deshalb von
der Leitung der AH-Schulen zurück.
Dieser Vorfall
scheint
hinreichend verbürgt, unter anderem durch eine eidesstattliche
Erklärung eines Lehrers, der dabei war (Rüdiger 1983, Anhang S. 59).
Aber was sagt er über "Kritikfähigkeit" aus? Gewiß gehörte damals Mut
dazu, mit einer
205 Parteigröße
wie Ley derart zu
reden; das wird schon daraus deutlich, daß Ley am Ende jenes Bierabends
ausdrücklich erklärte, er verbitte sich jede Maßnahme gegen AH-Schüler
und deren Lehrer in dieser Sache. Andererseits war Gegenstand der
Kritik rein Privates, nichts Politisches, gemessen zudem an Maßstäben,
die "systemimmanent" waren: Wenn charakterlich einwandfreie "Führer"
die pädagogische Norm sein sollten, dann mußten eben auch solche
Personen zumindest aus erzieherischen Zusammenhängen zurücktreten, die
dieser Norm gerade auch in den Augen der Öffentlichkeit nicht
entsprachen; denn Leys Sauf- und Frauengeschichten waren kein
Geheimnis. Insofern zeigten die Abiturienten in dieser Szene nur, daß
sie den Anspruch, ein Führer müsse in jeder Hinsicht Vorbild sein,
ernstnahmen, eine darüber hinausgehende, zum Beispiel
sachlich-politische Kritikfähigkeit läßt sich daraus aber nicht
ableiten - was wiederum nicht heißen muß, daß es sie nicht etwa im
Arbeitsunterricht der Schule gegeben habe.
Diese
Szene läßt aber
vielleicht noch etwas anderes erkennen. Es ist bekannt, daß im
Führerkorps der HJ vor allem in den Kriegsjahren die Hoffnung zunahm,
man könne nach dem Krieg gemeinsam mit Hitler unter den "Bonzen"
aufräumen. Das in der HJ und vor allem auch in den AHS gezüchtete
Elitebewußtsein hätte sich auf Dauer also auch innenpolitisch bemerkbar
machen können, zumal auch darüber nachgedacht wurde, was eigentlich mit
dem NS-Staat geschehen solle, wenn Hitler einmal abgetreten sei; denn
wer immer sein Amtsnachfolger hätte werden sollen, die integrierende
charismatische Ausstrahlung und Bedeutung Hitlers hätte er nicht erben
können, so daß von daher schon strukturelle innenpolitische
Veränderungen notwendig geworden wären. Aber dazu ist es bekanntlich
nicht gekommen.
Für das ehrgeizige Projekt der AHS
wurde ein
Erziehertyp gebraucht, der nicht leicht zu finden war: eine Kombination
von Jugendführer, wissenschaftlich qualifizierter Lehrkraft und
überdurchschnittlich qualifiziertem Pädagogen. Aus dem normalen
Philologiestudiengang an der Universität war dieser Typ nicht zu
gewinnen. Deshalb wurde 1937 eine eigene "Erzieher-Akademie" gegründet.
Ausgesuchten
HJ- und DJ-Führern wurde eine zweiphasige Ausbildung angeboten. Die
ersten vier Semester wurden an
206
dieser
Akademie in Sonthofen. absolviert - mit Praxisorientierung vom ersten
Semester an. Für die Lehre wurden junge Dozenten gewonnen, die sich
bereits habilitiert hatten oder kurz davor standen, außerdem
Gastprofessoren vor allem von der benachbarten Universität München.
Diese erste Phase des Studiums konnte deshalb besonders intensiv und
effektiv sein, weil sie unter Internatsbedingungen stattfand und wegen
der vergleichsweise geringen Studentenzahlen - zu wenig z.B. für
Vorlesungen, so daß die dominante Lehrform das Seminar war.
In
der zweiten Phase konnten die Studierenden vier bis sechs Semester nach
eigener Entscheidung an einer Universität studieren mit dem
Abschlußziel der Lehrbefähigung und der Promotion.
Das
Beispiel
der "Erzieher-Akademie" verweist auf ein weiteres Charakteristikum der
HJ-Aktivitäten: die Schulungs- und Fortbildungsarbeit. Es gab so gut
wie keine Aktivität - vom normalen "Dienst" über die sachbezogenen
Spezialprojekte wie die "Spielscharen" bis hin zur KLV -, die nicht mit
einem derartigen Schulungsangebot bzw. mit einer entsprechenden
Verpflichtung verbunden waren. Noch nie zuvor hatte es in Europa eine
außerschulische pädagogische Mobilisierung solchen Ausmaßes gegeben.
Man arbeitete dabei nicht intuitiv, sondern nach Lehr- bzw.
Schulungsplänen, und da es für die meisten Projekte dieser Art keine
Vorbilder gab, mußte experimentiert werden, d.h. Schulungskonzepte
mußten immer wieder aufgrund neuer Erfahrungen revidiert werden. Da
solche offenen Handlungssituationen gerade für junge Menschen eine
gewisse Faszination ausstrahlen, weil sie Chancen eines persönlichen
Erfolges enthalten, die einem fest reglementierten System wie der
Schule weitgehend fehlen, kann es nicht verwundern, daß junge Erzieher,
Künstler und Wissenschaftler sich für solche Konzepte nicht ungern
ehrenamtlich oder nebenamtlich zur Verfügung stellten, zumal für
Schirach "Parteizugehörigkeit" eine untergeordnete Rolle spielte.
Natürlich
war dieser Aktivismus wie alle Aktivitäten während des Dritten Reiches
doppeldeutig. Einerseits wirkte er ideologisch bindend und
integrationsfördernd. Andererseits erhielten aber auch viele junge
Menschen Chancen, sich auf irgendeinem Gebiet außerhalb von Schule oder
Beruf weiter-
207 zubilden. Diese
unmittelbare Erfahrung
dürfte bei den meisten dominiert haben, weniger die Tendenz der
ideologischen Bindung, die man entweder kaum wahrnahm oder gegen die
man nichts einzuwenden hatte, solange die damit verbundenen Erlebnisse
positiv waren. Jedenfalls umgab die HJ zumindest in den wenigen
Friedensjahren eine Aura von "pädagogischem Reizklima", das die
Bereitschaft zum Lernen und zur Fortbildung animierte und honorierte.
Es
würde zu weit führen, diese Aktivitäten hier im einzelnen zu
beschreiben, zumal dies an anderer Stelle bereits geschehen ist
(Rüdiger 1983). Erwähnt sei nur noch eine im historischen Sinne weitere
Neuheit der HJ: der/die hauptamtliche Jugendführer(in).
Vor
1933
gab es wohl schon hauptamtliche Funktionäre in Jugendverbänden, aber
keine ausgebildeten pädagogischen Fachkräfte. Lediglich haupt- und
nebenamtliche, vom Staat eingestellte "Jugendpfleger" waren bereits
tätig, aber die hatten eine andere Aufgabe. Sie sollten dafür sorgen,
daß die von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten
Jugendpflegemittel vor Ort unter den verschiedenen Jugendverbänden
zweckmäßig verwendet wurden; denn vor 1933 veranstaltete der Staat
selbst keine Jugendarbeit, er unterstützte lediglich die staatsfreien
Jugendverbände (nach dem sogenannten "Subsidiaritätsprinzip"), insofern
diese pädagogische Ziele verfolgten, wobei das Angebot eines
Jugendlebens mit Heimabend, Fahrt und Lager schon als ein solches Ziel
galt. Das Verhältnis von Staat und Jugendverbänden war vor 1933 also im
Prinzip so geordnet wie heute auch. Heute allerdings verfügen die
Jugendverbände in der Regel über hauptamtliche pädagogische
Mitarbeiter, vor 1933 wären sie zumindest in der bürgerlichen
Jugendbewegung auf Unverständnis gestoßen, man hätte einfach nicht
gewußt, wozu sie gut sein sollten.
Schirach wollte -
davon war
schon die Rede - mit dem Typus des hauptamtlichen Jugendführers
Mobilität in die pädagogische Berufsstruktur bringen. Dazu bedurfte es
aber einer besonderen Ausbildung, für die die herkömmlichen
Ausbildungsstätten (Universität; HfL) nicht geeignet waren. Deshalb
wurde in Braunschweig eine "Akademie für Jugendführung" errichtet; der
Neubau sollte zugleich Vorbild für das architektonische
Selbstverständnis, das eigentümliche
208 "Raumerleben"
der HJ sein. Kurz vor Kriegsbeginn begann der erste Kurs in der nur
teilweise fertiggestellten Anlage, er mußte aber wegen des
Kriegsausbruchs abgebrochen werden, die Teilnehmer gingen zur
Wehrmacht. Erst ab 1942 wurden wieder Kurse abgehalten - nun mit
kriegsversehrten HJ-Führern. Wegen des Krieges blieb das Konzept ein
Torso. Erkennbar ist jedoch, daß Schirach hier einen Führertypus
heranbilden wollte, der - sportlich, musisch und geistig gebildet -
sich weltläufig verhalten konnte, der nicht nur sich beim Geländespiel
wohlfühlte, sondern sich auch im Frack auf dem Parkett zu bewegen
verstand - jeder gesellschaftlichen Situation gewachsen. Dabei hat er
offensichtlich auch an das Auftreten seines Führerkorps im Ausland
gedacht. Unverkennbar ist jedenfalls Schirachs Bemühen, den seit der
"Kampfzeit" überkommenen "soldatischen" Modus der HJ zu relativieren.
Für
die Mädchen war eine "Hochschule des BDM" geplant, die in Wolfenbüttel
errichtet werden sollte, wozu es nicht mehr kam. Da die Kurse für die
männliche HJ aber seit Kriegsbeginn ausfielen, benutzte der BDM
zunächst das leerstehende Haus in Braunschweig.
Während
die
Führerausbildung der Jungen - wie erwähnt - einen bestimmten Typus im
Blick hatte, scheinen entsprechende Erwartungen an die Mädchen nicht
gestellt worden zu sein. Deren Ausbildung war eher pragmatisch
orientiert: Vermittlung einer Reihe von praktischen Kenntnissen über
Gesundheitsfragen, Rechtsfragen, Feiergestaltung usw. Ferner standen -
wie auch schon bei "Glaube und Schönheit' - Angebote zur allgemeinen
historischen, musischen und literarischen Bildung auf dem Programm.
Emanzipation
durch den BDM?
Die
Aufmerksamkeit, die man bisher der Hitlerjugend entgegengebracht hat,
hat sich lange Zeit auf die männliche HJ bezogen, sehr viel weniger auf
die weibliche. Dabei galt der erwähnte freiwillige Zustrom zur
Hitlerjugend nach der Machtergreifung auch für die Mädchen. Ihr Anteil
am Gesamtverband betrug Ende 1932 mit 23.900 Mädchen nur 22,13 %, er
stieg bis Ende 1934 mit 593.232 Mitgliedern auf 25,88 % und
209 bis
Ende 1934 mit 1.334.261 Mitgliedern sogar auf 37,29 % an (Jürgens, 68).
Dieser Zuwachs ist deshalb bemerkenswert, weil bis dahin der Anteil von
Mädchen in Jugendorganisationen sehr gering war. Gleichwohl finden sich
selbst in manchen Forschungsarbeiten mehr oder weniger stark ausgeprägt
die verbreiteten Klischees: Entsprechend den bekannten
gegenemanzipatorischen "Männerphantasien" der Nazis habe die Frau
Gefährtin des Mannes zu sein, ihm möglichst viele Kinder zu schenken
und im übrigen ihren Horizont auf Familie und Haushalt zu beschränken.
Der BDM - so meist die Schlußfolgerung - müsse irgendwie die Mädchen
auf dieses Leitbild abgerichtet haben.
Wir haben
schon gesehen,
daß das so nicht zutrifft. Das "Mutterideal" spielte in der Arbeit von
JM und BDM eine untergeordnete Rolle, und der BDM propagierte eine
Berufsausbildung für möglichst jedes Mädchen. Das war damals vor allem
in der Arbeiterschaft keineswegs selbstverständlich, vielmehr war die
Erwartung eher die, daß die Tochter der Mutter im Haushalt hilft und
allenfalls bis zur möglichst schnellen Heirat eine ungelernte Arbeit
annimmt, um auf diese Weise zu einer kleinen Aussteuer zu kommen. In
den bürgerlichen Familien war eine solide Berufsausbildung der Mädchen
- vielleicht auch ein Studium - eher üblich geworden, aber meist auch
unter dem Aspekt einer künftigen "guten Partie". Auf seine Weise war
das bürgerliche Mädchen ebenso auf den künftigen Mann fixiert, für den
es unter der Obhut von Mutter, Tante und Großmutter "rein" bleiben und
attraktiv werden sollte.
Sicher ging die BDM-Führung
davon aus,
daß das Mädchen, wenn es heiratete, und vor allem, wenn ein Kind kam,
aus dem Arbeitsprozeß ausschied und sich dann der Familie widmete; und
gewiß hatte der BDM, wenn er eine Berufsausbildung propagierte, eher
"frauenspezifische" Berufe im Sinn, also solche, die im Erziehungs-,
Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich angesiedelt waren. Aber diese
Einstellung war nicht originell, sondern entsprach durchaus der
Tradition der bürgerlichen Frauenbewegung - mit der sich im übrigen der
BDM nur bedingt identifizierte -, die gerade im Hinblick auf die
Sozialarbeit "Mütterlichkeit als Beruf" propagiert hatte und der es nur
auf dieser ideologischen Schiene mühsam gelungen war, eine berufliche
Emanzipation der Frau durchzusetzen.
210
Im
übrigen hatte der Erste Weltkrieg eine wichtige Erfahrung hinterlassen.
Da viele junge Männer gefallen waren, gab es in den entsprechenden
Jahrgängen einen Frauenüberschuß, und nicht jede Frau, die vielleicht
gerne Mutter geworden wäre, konnte einen Partner finden. Schon aus
diesem Grund mußte es zweckmäßig erscheinen, möglichst jedes Mädchen
einen Beruf lernen zu lassen, was sich im Rahmen der Nazi-Ideologie
auch mühelos begründen ließ: wer nicht als Mutter seinem Volk dienen
konnte, konnte dies ebenso durch einen nützlichen Beruf tun.
Die
an sich mögliche Lösung durch ein uneheliches Kind wurde vom BDM nie
propagiert, und als gegen Kriegsende in Parteikreisen - vor allem auch
durch Bormann - die Idee aufkam, auf diese Weise die Kriegsverluste an
jungen Männern zu kompensieren, hat sich die BDM-Führung dem
widersetzt. Zwar wurde die ledige Mutter im Dritten Reich besser
behandelt und entschieden weniger diskriminiert als vorher, aber zum
Vorbild wurde sie nicht.
Überhaupt ist zu erkennen,
daß die von
Nazi-Männern propagierten Parolen über die Rolle der Frau, die wir
heute lesen und die unser Bild von der Sache weitgehend bestimmen, von
den NS-Frauenorganisationen, vor allem auch vom BDM weitaus
zurückhaltender aufgegriffen wurden. Schirach war jedenfalls kein
"Macho", und er hat in dieser Mädchenfrage offenbar einigermaßen
sensibel operiert und den dafür zuständigen weiblichen Mitgliedern in
der RJF weitgehend freie Hand gelassen. Die BDM-Führung versuchte eine
stärkere Mitbeteiligung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft
zu erreichen und strebte somit ein anderes Frauenideal an als die
NS-Frauenschaft. Der BDM wandte sich sowohl gegen die anfänglichen
Studienbeschränkungen für Frauen als auch gegen Benachteiligungen für
Mädchen auf den höheren Schulen, die durch die Neuordnung des höheren
Schulwesens von 1938 durchgesetzt wurden. Demnach mußten in allen
Schulformen für Mädchen Lehrstoffe aufgenommen werden, die der
praktischen hausfraulichen Bildung dienten. Zudem wurden die Mädchen
vom Lateinunterricht der Unter- und Mittelstufe ausgeschlossen, weshalb
sie die allgemeine Hochschulreife nur noch erreichen konnten, wenn sie
aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten Latein lernten. Diese
Regelung wurde erst 1940 für die Kriegszeit wieder außer Kraft gesetzt.
Weil der BDM seine Vorstel-
211 lungen im
staatlichen
Schulwesen nicht durchsetzen konnte, versuchte er, auch für Mädchen
Eliteschulen zu schaffen. Das gelang mit Hilfe der SS. Im Jahre 1939
wurde eine erste NPEA in Österreich und zwei Jahre später eine weitere
eröffnet. Seit September 1942 wurde auf Betreiben der Staatskanzlei
erwogen, Adolf-Hitler-Schulen für Mädchen zu eröffnen.
Die
männliche HJ gab zwar immer den Ton an, spielte eine Vorreiterrolle,
aber in ihrem Windschatten zogen die Mädchen mit. Der
Reichsberufswettkampf war in erster Linie für die Jungen organisiert,
aber die Mädchen waren auch dabei. Die AHS als Elite-Schulen wurden
zunächst nur für die Jungen eingerichtet, aber für die Mädchen waren
sie auch geplant, und selbstverständlich mußte die Berufsausbildung zum
Jugendführer auch für die Mädchen gelten.
Nach
meinem Eindruck
ist die weibliche HJ im Vergleich zur männlichen das interessantere
Phänomen und auch das relativ fortschrittlichere. Für Jungen war es
auch vor 1933 kein Problem, in irgendeinem Bund oder Verband ein
"Jugendleben" unter Gleichaltrigen zu führen. Die Frage war eigentlich
nur, ob sie es wollten. Für Mädchen dagegen war dies keineswegs
selbstverständlich. Zwar gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg im
Rahmen des Wandervogel Mädchengruppen, die unter Leitung von
erwachsenen Frauen - meist der eigenen Mütter - Wanderungen
unternahmen. Und die sozialistischen Jugendverbände - z.B. die der SPD
nahestehende Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) - nahmen prinzipiell
auch Mädchen auf, weil sie von der uneingeschränkten Gleichberechtigung
der Geschlechter ausgingen. Auch in der "bündischen Jugend" der
Weimarer Zeit waren Mädchen vertreten, bei der "Deutschen Freischar''
sollen es gar 15 Prozent gewesen sein. Aber das waren Minderheiten, die
fast ausschließlich aus bürgerlichen Familien kamen. Auch die Kirchen
hatten natürlich weibliche Jugendliche organisiert, aber weniger zum
Zwecke eines "Jugendlebens" als zum Zwecke der konfessionellen
Loyalitätssicherung. Die große Masse der Mädchen, vor allem aus der
Arbeiterschaft und aus der Landbevölkerung, blieb jedoch von einem
"Jugendleben" unter Gleichaltrigen ausgeschlossen. Die Mobilisierung
der Mädchen, und zwar im Prinzip jedes deutschen Mädchen vom 10.
Lebensjahr an, gelang erst der HJ. Sie bot diesen Mädchen einen
pädagogisch kontrollierten Lebens-
212 raum
an, der
durch eigene Regeln bestimmt war, die nicht aus dem Familienstatus
abgeleitet waren. Das war ein sehr wichtiger Schritt zur Emanzipation
von der eigenen Familie. Während für den Jungen diese Emanzipation auch
früher nicht nur erwünscht war, sondern auch gefordert wurde - sonst
blieb er ein "Muttersöhnchen" -, bestand das Leben des Mädchens im
wesentlichen darin, daß es von seiner Herkunftsfamilie an die Familie
weitergereicht wurde, die es dann mit seinem Mann selbst gründete. Eine
Erziehung zu öffentlichem Handeln und Verhalten war in dieser Tradition
nicht vorgesehen.
Nun aber verließ das 10- oder
12jährige
"Jungmädel" nachmittags das Elternhaus mit der Begründung, daß es zum
"Dienst" müsse. Vielleicht fragte es schon nicht mehr um Erlaubnis,
denn schließlich handelte es sich ja nicht um eine beliebige
Freizeitbeschäftigung, sondern um eine der Öffentlichkeit geschuldete
Pflicht, eben um "Dienst". Dort, wo es hinging, fand es Gleichaltrige
und eine um weniges ältere "Führerin". Es wurde gesungen, gespielt und
vielleicht etwas Nützliches getan, z.B. einfaches Spielzeug als
Weihnachtsgeschenk für andere, arme Kinder gebastelt. Paradoxerweise
war es gerade der Zwang, die "Dienstpflicht", die viele dieser Mädchen
aus dem Elternhaus holte, denn vor 1933 wäre den meisten von ihnen gar
nicht erlaubt worden, an einem Angebot der Jugendarbeit teilzunehmen,
weil sich dies für Mädchen eben nicht schicke. Obwohl Eltern nicht
befürchten mußten, daß ihre Töchter gewaltsam zum Dienst aus dem Haus
geholt wurden, wurden sie doch durch den Anspruch des "Dienstes" unter
Begründungszwang gesetzt - zumindest der eigenen Tochter gegenüber.
So
kann es nicht verwundern, daß sehr viele ehemalige Mitglieder von JM
und BDM gute Erinnerungen an diese Zeit haben, während ähnlich positive
Urteile ehemaliger DJ- und HJ-Mitglieder wesentlich seltener
anzutreffen sind. Im Kontext der deutschen Jugendbewegung seit dem
Beginn des Jahrhunderts bedeutete die männliche HJ eher einen
Niedergang, wenn man das doch relativ eintönige militärähnliche Ritual
vergleicht mit den Möglichkeiten, die die Jungen vor 1933 angesichts
der Fülle unterschiedlicher Jugendbünde und Jugendverbände hatten. Der
normale "Dienst" in der HJ begann für die Jungen unattraktiv zu werden
- für die 10 bis 14jährigen vielleicht weniger als für die älteren.
Inso-
213 fern waren
Schirachs Bemühungen, das ursprünglich rein soldatische Leitbild
musisch zu relativieren, durchaus notwendig.
Bei
den Mädchen gab es solche Probleme offenbar kaum. Ihr Vorbild sollten
die Frauen des Ersten Weltkriegs sein, die an der "Heimatfront" die an
der äußeren Front stehenden Männer vertraten und deren Arbeit
weitgehend übernommen hatten. Aber dieses Vorbild blieb schon deshalb
diffus, weil es schwer an einzelnen Personen zu symbolisieren und weil
es zu sehr auf eine bestimmte Generation bezogen war. Wichtiger war für
die Mädchen ohne Zweifel das Gemeinschaftserlebnis unter
Gleichaltrigen. Für sie waren die Angebote von JM und BDM also zu
diesem historischen Zeitpunkt deutlich attraktiver, im Sinne einer
neuen Erfahrung, die die meisten ihrer Mütter nicht hatten machen
können.
Um den damaligen Erfolg des BDM zu
verstehen, muß man
sich die fundamentale Bedeutung der Emanzipationsproblematik
vergegenwärtigen. Das Ideal der bürgerlichen Familie, an dem sich dann
auch die aufstrebende Arbeiterschaft orientierte, hatte sich erst im
Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Es beruhte auf der bekannten
Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau. Der Mann verläßt die Familie,
um ihr "draußen" den Lebensunterhalt zu verschaffen, bzw. um
öffentliche Aufgaben wahrzunehmen. Die Frau war zuständig für das Haus
einschließlich der Dienstboten, falls man sie sich leisten konnte, für
Stil und Kultur und vor allem für die emotionale Betreuung der Kinder.
Eine "öffentliche" Rolle spielte sie nicht, es sei denn, man würde ihre
Pflichten als Gastgeberin so verstehen. Diese Arbeitsteilung konnte so
lange befriedigend für beide Beteiligten sein, wie sie daraus ihre
gegenseitige Achtung und Anerkennung sowie soziales Ansehen in ihrer
Umgebung gewinnen konnten. Wenn aber diese Balance brüchig wurde,
geriet nicht nur die Frau z.B. wegen ihrer ökonomischen und rechtlichen
Abhängigkeit vom Mann in eine prekäre Lage, auch der Mann konnte leicht
an Selbstachtung verlieren, wenn er nämlich - aus welchen Gründen auch
immer - die Erwartungen nicht erfüllte, die an seinen beruflichen
Erfolg geknüpft waren. Der Arbeitsplatz konnte verloren gehen,
Karriere-Hoffnungen blieben vielleicht unerfüllt, oder ein Konkurs
stand gar ins Haus. Die Identität, die beide Seiten aus dieser
Familien- bzw. Ehe-
214
konstellation
bezogen, war also leicht auch ohne persönliche Schuld gefährdet.
Nur
auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Emanzipation der
Frau ein so schwieriger Prozeß bis auf den heutigen Tag gewesen ist.
Als die Frau bzw. die bürgerliche Tochter begann - teils zunächst aus
Langeweile oder aus Bildungshunger, vor allem aber zum Zwecke der
eigenen Existenzsicherung, weil eine Versorgung durch Heirat immer mehr
zu einem va-banque-Spiel wurde -, wie der Mann das Haus zu verlassen,
um ebenfalls einen Beruf wahrzunehmen, mußte sie sich einige
fundamentale Fragen stellen und beantworten, die aus ihrer
traditionellen weiblichen Erziehung erwuchsen: Was unterscheidet mich
gesellschaftlich noch vom Mann, wenn ich meinen Lebensunterhalt selbst
verdiene? Was ist mein besonderes weibliches "Wesen", und muß ich dies
in der Wahl meines Berufes ausdrücken oder in der Art und Weise, wie
ich ihn ausübe? Wie gehe ich zum Beispiel am Arbeitsplatz mit anderen
Frauen und vor allem mit Männern um? Und vor allem: Wie kann ich die
öffentliche und private Rolle (Beruf und Familie) miteinander verbinden?
Aber
auch für den Mann stellten sich entsprechende Fragen: Was macht meine
Rolle als Mann noch aus, wenn sich meine Frau ihren Lebensunterhalt
selbst verdienen kann und will? Wie gehe ich mit der Tatsache um, daß
meine Frau von mir unkontrolliert "draußen" mit anderen Männern umgehen
muß?
Manche dieser Fragen haben sich heute
historisch erledigt,
aber am Anfang berührten sie tiefe Schichten des persönlichen
Selbstverständnisses, also der Identität, und der Weg von der
"patriarchalischen" zur "partnerschaftlichen" Ehe bzw. Familie der
Gegenwart war ein mühsamer und schwieriger und mußte mit Ungewißheit,
Zweifeln und Desorientierung erkauft werden. Der Auszug der Frau aus
dem alten Leitbild der bürgerlichen Familie in die Öffentlichkeit
machte für beide Geschlechter neue Fundierungen ihrer Identität
notwendig. Wie schwierig dies für Männer sein konnte, haben wir schon
am Beispiel Baeumlers gesehen, dem die sich gleichberechtigt in der
Öffentlichkeit bewegende Frau als eine Zerstörerin des öffentlichen
Selbstverständnisses des Mannes galt. Nun ist Baeumler gewiß ein ex-
215 tremes
Beispiel, aber das Problem eines neuen Verhältnisses der Geschlechter
zueinander in der Familie wie in der Öffentlichkeit war ein wichtiges
Thema nicht zuletzt auch in der Jugendbewegung.
Aus
der Sicht
des Mädchens ging es unter anderem darum, neben familiären auch
öffentliche Verhaltensweisen zu lernen. Wie schwierig solche
Lernprozesse waren, zeigt das Beispiel der schon erwähnten SAJ, in der
Mädchen formal als gleichberechtigt angesehen wurden. Die SAJ verstand
sich aber als eine politische Organisation und eine ihrer wichtigsten
Verhaltenskategorien war deshalb "Solidarität". Diese Verhaltensnorm
war gegenüber jedermann geboten, der sich in derselben Klassenlage
befand, also Arbeiter war - gleichgültig, ob man ihn persönlich kannte
oder ob er ansonsten ein "mieser Typ" war; war er dies, dann konnte man
ihn ruhig verprügeln, ohne daß dabei die "Solidarität" aufs Spiel
gesetzt werden mußte.
Die Mädchen konnten diese
Trennung von
privat und öffentlich damals kaum nachvollziehen. Sie waren fixiert auf
das familiäre Denken und Fühlen, wozu sie ja auch erzogen worden waren.
Das äußerte sich z.B. darin, daß sie meistens versuchten, sich einen
Jungen aus der Gruppe zu angeln, und wenn dies gelungen war, erlosch
das Interesse an der Arbeit der Gruppe zugunsten privater Zweisamkeit.
Schon damals gab es deshalb in der SAJ Überlegungen, eigene
Mädchengruppen zu gründen, um dem ständigen Vergleich und der
Konkurrenz mit den Jungen zu entgehen. Aber die Koedukation von Jungen
und Mädchen galt als ein wichtiges sozialistisches Prinzip. Heute
finden wir eine spezifische Mädchenarbeit nicht nur in der
außerschulischen Jugendarbeit, auch in der Schule hat sich
herausgestellt, daß Mädchen vor allem in naturwissenschaftlichen
Fächern besser zum Zuge kommen, wenn sie unter sich bleiben.
Während
also die Männer traditionell dazu erzogen worden waren, öffentliche
Rollen zu lernen und sie strikt von privaten zu trennen, hatten die
Mädchen nur private gelernt, und deshalb neigten sie
verständlicherweise dazu, an öffentliche Situationen private
Erwartungen zu richten. Noch im gegenwärtigen Feminismus ist dies in
Gestalt einer "Intimisierung der Öffentlichkeit" oder einer
Moralisierung von Politik und Gesellschaft zu beobachten, wobei die
Maßstäbe
216 unverkennbar aus der
Privatheit stammen und deshalb oft die jeweilige Sache verfehlen.
Der
Erfolg der NS-Ideologie beruhte nun offensichtlich darauf, daß sie in
diesem Widerspruch von traditioneller Familienorientierung und moderner
Öffentlichkeitsorientierung eine Balance anbot. Die traditionelle Rolle
wurde wieder aufgewertet, zugleich wurde der Frau aber auch eine
öffentliche Bedeutung offeriert - beides aufgehoben in der Idee der
Volksgemeinschaft, wobei der Begriff des "Dienstes" für beide Rollen
wenn auch in unterschiedlicher Weise gleichermaßen Sinn ergab. Die
NS-Ideologie bot so eine Lösung für massenhafte Identitätskrisen an.
Für die Männer war dies natürlich auch eine Lösung; sie wurden in ihrer
alten, dominierenden Rolle beruflich wie als "politische Soldaten"
bekräftigt und konnten so auch akzeptieren, daß den Frauen nun eine
wenn auch begrenzte öffentliche Rolle zugestanden wurde. Wir
dürfen
diese "Lösung" des männlichen und weiblichen Identitätsproblems nicht
vom heutigen Stand der Emanzipation aus betrachten und beurteilen.
Abgesehen davon, daß der Prozeß der Emanzipation der Frau bis hin zu
radikal feministischen Positionen der Gegenwart Männer und Frauen nicht
eben glücklicher im Vergleich zu früher gemacht zu haben scheint, wäre
die Ansicht ganz irrig, die Nazis hätten ein frauenfeindliches,
machistisches Regime geführt. Im Gegenteil: Im Alltag des Dritten
Reiches wurde Frauen mehr Respekt und Achtung entgegengebracht als
vorher - was sich in den Kriegsjahren noch steigerte,
Über
Hitlers Ansehen bei den Frauen gibt es inzwischen viele Deutungen, auch
einigermaßen abwegige, die es als massenerotisches Phänomen
interpretieren, so, als hätten die Frauen damals kein wichtigeres
Problem gehabt, als sich diesen Herrn Hitler - und sei es nur unbewußt
- ins Bett zu wünschen. Die Sache war wohl viel trivialer. Die Frauen,
die Hitler um 1933 zujubelten, hatten meist ihre arbeitslosen Männer zu
Hause und mußten trotzdem - ohne unsere heutigen "sozialen Netze" -
ihre Familien über die Runden bringen. Und die ihm später zujubelten,
hatten die Erfahrung gemacht, daß es ihnen wirtschaftlich besser ging
und daß sie öffentliche Achtung genossen.
Im Kontext
dieser
langfristigen Emanzipationsproblematik muß auch die weibliche
Hitlerjugend gesehen werden. Sie bot den Mädchen neben Familie und
Schule einen öffentlichen Raum für ihr Aufwachsen an, der einerseits
durch die Intimität der Gleichaltrigkeit Geborgenheit ausstrahlen
konnte, andererseits aber mit der Kategorie des "Dienstes" an der
Allgemeinheit eine öffentliche Dimension bekam.
217
Stichworte
einer "Gebrauchspädagogik"
Schirach
hat seine pädagogischen Vorstellungen über die HJ nicht systematisch
ausformuliert. Dennoch fällt es nicht schwer, sein Konzept zu
rekonstruieren.
Die NS-Ideologie im ganzen war ja -
wie eingangs
am Beispiel der pädagogischen Ideen Hitlers schon gezeigt wurde - ein
Konglomerat aus allen möglichen Versatzstücken des
bürgerlich-kleinbürgerlichen "gesunden Volksempfindens". Schirachs
pädagogische Konzeption der HJ ist deshalb ebenfalls am besten dadurch
zu beschreiben, daß man diesen Populismus sinngemäß überträgt. Demnach
verkörperte die HJ im wesentlichen das, was das erwähnte
"Volksempfinden" für richtig hielt. Was war ein "anständiger" deutscher
Junge bzw. ein "anständiges" deutsches Mädchen? Wer den Verführungen
der Straße auswich und sich stattdessen in die Obhut von HJ bzw. BDM
begab, dort neben körperlicher Ertüchtigung - was ja nie verkehrt sein
kann - alle möglichen nützlichen Dinge lernte, jedenfalls "sinnvoll
beschäftigt" wurde und deshalb nicht auf Abwege geriet oder "auf dumme
Gedanken" kam. Auch gegen "Disziplin" und "Ordnung" sowie gegen für die
Allgemeinheit nützliche "Dienste" hatte das "Volksempfinden" nichts
einzuwenden, solange dies alles "maßvoll" blieb. Während Schirach - wie
wir sahen - an der damaligen Schule teilweise massive öffentliche
Kritik übte, versuchte er von Anfang an die Zustimmung der Eltern zu
gewinnen. Das aber wäre mit einem unverhüllten Indoktrinationsprogramm
auf die Dauer nicht erfolgreich gewesen.
Auf diesem
populistischen Hintergrund müssen die pädagogischen Leitmotive gesehen
werden, die immer wieder auftauchen: "Erlebnis", "Vorbild",
"Kameradschaft", "Ehre", "Dienst". Alle diese Stichworte spielten schon
vorher in der
218
Reformpädagogik
und in der
bürgerlichen, teilweise auch in der sozialistischen Jugendbewegung eine
Rolle, sie lagen sozusagen in der Luft.
Wie Krieck
und Baeumler
ging es auch Schirach im Kern um die Neufundierung eines
Gemeinschaftslebens und eines Gemeinschaftsbewußtseins - von den
unteren HJ-Einheiten bis hin zur Volksgemeinschaft im ganzen. Der junge
Mensch sollte sich erfahren als Mitglied solcher Sozialitäten, von
daher seine Identität erwerben und in diesem Rahmen auch seine
individuellen Fähigkeiten entwickeln. Wie schon bei Krieck und Baeumler
machte dieses Gemeinschaftskonzept Front gegen die
gemeinschaftsungebundene Individualisierung (polemisch
"Individualismus" genannt), wie sie bei Jugendlichen vor allem
erkennbar war in der Beliebigkeit des relativ unkontrollierten
Freizeitverhaltens. Die nun zu erörternden pädagogischen Stichworte
bekommen nur Sinn, wenn man sie im Rahmen dieses Gemeinschaftskonzeptes
sieht.
Die Bedeutung der Gemeinschaft kann man nicht
lehren, man
muß sie "erleben". Dieser Gedanke Schirachs war nicht neu. "Erlebnis"
war z.B. ein zentrales Motiv der Reformpädagogik. Der Reformpädagoge
Kurt Hahn etwa, der u.a. das Internat "Schloß Salem" gründete, nach
England emigrierte und dort seine pädagogische Arbeit fortsetzen
konnte, forderte ausdrücklich eine "Erlebnispädagogik". In kritischer
Distanz zur "verkopften" Schule, die ihren Bildungsauftrag auf die
Vermittlung abstrakten Wissens ohne Bezug zum Leben reduziert habe,
sollte die emotionale und ästhetische Dimension des Menschen wieder zur
Geltung kommen, der Mensch in seiner Ganzheit wieder in den Blick
treten können. Schirachs Schulkritik lag auf dieser Linie. Nur ging es
ihm primär nicht um die Schule, sondern um das außerschulische
Jugendleben. Die "weltanschauliche Schulung" sollte nicht im Stile des
Unterrichts erfolgen, sondern Gefühle wie Ehrfurcht, nationale
Zugehörigkeit, Freude und Trauer ansprechen. Diese Erlebnisorientierung
war - übrigens auch schon bei Kurt Hahn und anderen Reformpädagogen -
gegenaufklärerisch orientiert. Nicht rationale Aufklärung - z.B. über
historische oder politische Probleme - sollte ermöglicht werden,
sondern die gemeinsam-emotional erlebte Erfahrung sozialer
Zugehörigkeit. Die rationale Aufklärung wurde dagegen erlebt als
sozial-zersetzend.
219 Nun
kann man bekanntlich
Erlebnisse und bestimmte Gefühle nicht dadurch hervorrufen, daß man sie
verbal propagiert. Sie bedürfen bestimmter Situationen, in denen sie
zum Vorschein kommen können, und solche Situationen müssen hergestellt,
arrangiert werden. Auf diesem Hintergrund gewinnen die vielfältigen
Rituale ihre pädagogische Bedeutung: Aufmärsche mit entsprechender
"kultischer" Musik und den dazugehörigen mehrdeutigen bzw. inhaltlich
unbestimmbaren gesprochenen Texten; die Lageratmosphäre; die
Uniformierung sowie die an Rangabzeichen erkennbaren Führer-Karrieren
schon für "Pimpfe" und "Jungmädel"; die Feier- und Weihestunden; der
Fahnenkult; die Lagerfeuerromantik, das gemeinsame Singen und so fort.
Solche Inszenierungen vermochten Erlebnisse zu produzieren, die teils
durchaus individueller Natur waren, vor allem aber kollektive
Gestimmtheiten hervorrufen konnten, die etwa einen Satz wie: "Du bist
nichts, dein Volk ist alles!" unmittelbar erfahrbar werden ließen. Oder
ein anderes Beispiel: Was "Deutschland" ist, erfährt man nicht
hinreichend im Geographieunterricht, sondern dadurch, daß man durch das
Land wandert, mit den Menschen spricht und möglichst zeitweilig an
ihrem Alltagsleben teilnimmt - z.B. durch einen "Ernteeinsatz".
"Erlebnis" ist also ein Gegensatz oder zumindest eine notwendige
Ergänzung zur bloß verbalen Belehrung.
In diesem
Sinne ist
"Erlebnispädagogik" seit geraumer Zeit wieder aktuell, um nicht zu
sagen: zu einer "Mode" geworden. Auch dabei geht es um die Suche nach
Alternativen zur bloß verbalen, rationalen Kommunikation, auf der ja
sogar die therapeutischen Verfahren beruhen. So versucht man etwa, mit
dissozialen Jugendlichen Segel-Touren zu unternehmen, bei denen sie von
der täglichen Verpflegung bis zum Segelsetzen ihr Leben selbst in die
Hand nehmen müssen. Man setzt dabei auf positive Erlebnisse und
Erfahrungen z.B. im Hinblick auf die individuelle Leistungsfähigkeit
und auf das Gemeinschaftsleben. In der Jugendarbeit gibt es auch
weniger spektakuläre Beispiele, z.B. Alternativen zum üblichen
Komfort-Tourismus in Gestalt von Kanu- und Radtouren. Auch die Schule
bemüht sich um Erlebnisorientierung, indem sie z.B.
Schullandheimaufenthalte oder Studienfahrten organisiert, oder vor Ort
Dichterlesungen, Theater- und Museumsbesuche, Betriebsbesichtigungen
usw. ermöglicht.
220 Es handelt
sich hier
offensichtlich um ein pädagogisches Thema und Problem, das über die HJ
hinausreicht, und deshalb wollen wir uns diesem Aspekt später noch
einmal gründlicher zuwenden.
Im "Erlebnis" der
Gemeinschaft als
Inbegriff der sozialen Zugehörigkeit, verbunden mit entsprechenden
Rechten und Pflichten, sollte auch eingeschlossen sein die Erfahrung
des - fast altersgleichen - "Führers" als "Vorbild" Im Idealfall
repräsentierte der Führer in seiner Person und in seinem Verhalten
optimal das, was die Gemeinschaft an positiven Erwartungen über sich
selbst hegte. Führer sollte derjenige werden, der - ohne formal
demokratisch gewählt zu werden - dem "Geist" der Gemeinschaft am besten
entsprach. Wie "Erlebnis" war auch "Vorbild" anti-rational gemeint:
"Richtiges" Verhalten sollte nicht gepredigt, sondern vorbildhaft
vorgeführt und vorgelebt werden.
Nun ist in der
modernen
Pädagogik die Bedeutung von Vorbildern für Kinder und Heranwachsende
unbestritten; sie werden gebraucht als Orientierungen für die eigene
Lebensperspektive und für die Identitätsbildung. Im allgemeinen gehen
wir jedoch davon aus, daß die Vorbilder erwachsen sind, weil nur dann
die nötige Spannung und Differenz zur Lage des Jugendlichen entstehen
kann, die eine produktive Perspektive "nach vorne", also für den
Lebensentwurf herzugeben vermag. Die HJ jedoch erhob nun auch
Gleichaltrige in den Rang von Vorbildern - nämlich die Führer bzw. die,
die es wegen ihres vorbildhaften Verhaltens werden sollten. Diese
Vorstellung war in der vorhergehenden Jugendbewegung allenfalls in
ersten Ansätzen zu finden. Im allgemeinen jedoch blieb es dabei, daß
man Vorbildwirkungen von den wenn auch relativ jungen Erwachsenen
erwartete, nicht jedoch von den Gleichaltrigen, die sich eher als
untereinander gleichrangig ansahen. Die Idee des
Gleichaltrigenvorbildes wurde nun massenhaft propagiert, und sie
erwuchs aus der Idee des Jugendstaates, der eben auch von Jugendlichen
wenigstens auf der unteren Ebene geführt werden sollte. Schon damals
ist öffentlich diskutiert worden, ob eine derartige Erwartung nicht zu
einer massenhaften Überforderung führen müsse oder nicht gar zu einer
dem Alter nicht angemessenen Frühreife. Auch darauf wird noch näher
einzugehen sein, hier sei nur festgehalten: Die Vorbild-Erwartungen an
die Gleichaltrigen bezogen sich zunächst einmal lediglich auf
221 das
"Jugendleben" in der HJ, nicht auch auf die künftigen
Erwachsenen-Rollen.
Die
dienstliche Beziehung der HJ-Mitglieder untereinander - auch zwischen
Jungen und Mädchen - sollte "kameradschaftlich" sein. Der Begriff
"Kameradschaft"
hatte bei Schirach zwei Quellen: Einmal die
"Front-Kameradschaft" aus dem Ersten Weltkrieg, die unter den
"Stahlgewittern" (E. Jünger) der Materialschlachten die traditionellen
Standes- und Klassenunterschiede zusammenschmelzen ließ; zum anderen
die reformpädagogische Version einer neuen pädagogischen Beziehung
zwischen Lehrern und Schülern, wie sie Schirach in Bad Berka erlebt
hatte und deren äußerer Ausdruck das kameradschaftliche "Du" war. Im
Unterschied zur Freundschaft - Freunde muß man sich wählen können - war
kameradschaftliches Verhalten gegenüber jedermann angezeigt, der zur
eigenen Gruppe gehörte - also in diesem Falle zur HJ.
Die
öffentliche Beziehung von Jugendlichen und Erwachsenen war also nur
dann den Normen der "Kameradschaft" unterworfen, wenn sie wie bei der
HJ, der Wehrmacht oder beim Reichsarbeitsdienst zur dienstlichen
Beziehung wurde. Dann ging es im wesentlichen darum, den "Kameraden"
als Mitglied der Gruppe zu respektieren, ihn bei der Durchführung der
gemeinsamen Aufgaben (des "Dienstes") zu unterstützen, ihn vor
Angriffen von außen zu schützen und ihm innerhalb der Gruppe
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unbeschadet bestehender
Rangunterschiede hatte der "Kamerad" als gleichrangig zu gelten. Für
die HJ bedeutete Kameradschaft in Verbindung mit dem zu leistenden
"Dienst' eine nicht-private, öffentliche Verhaltensnorm, die jedem
Mitglied der HJ zustand - ob man ihn nun persönlich ausstehen konnte
oder nicht. Auch diese Verhaltensnorm war schon vorher in der
bürgerlichen Jugendbewegung anzutreffen, aber dort überwogen doch eher
introvertierte, auf persönliche Freundschaften gegründete
Gruppenbeziehungen. Diesen eher privatistisch-individualistischen
Normen setzte die HJ mit der Norm der Kameradschaft für die 10- bis
18jährigen eine nicht private, kollektive Norm gegenüber, was zumindest
in diesem Umfange neu in der modernen Jugendgeschichte war und ein
Gegengewicht bildete zur spontanen Freundes- bzw. Cliquen-Gruppe, wie
sie unter Jugendlichen im allgemeinen zu finden ist. Wie jede auf eine
bestimmte Gruppe begrenzte Verhaltensnorm grenzte auch diese an-
222
dere
Personen aus: Mit Juden und Kommunisten oder anderen von den
zuständigen Organen der Erwachsenen definierten Feinden konnte es keine
kameradschaftliche Beziehung geben, im Gegenteil: In solchen Fällen
wäre sie als Verrat bewertet und unter Umständen auch entsprechend
geahndet worden.
In diese Vorstellungen fügt sich
das Stichwort
"Ehre" zwanglos ein. "Ehre" gebührte dem Einzelnen, insofern er
Mitglied einer Gruppe war, aber auch der Gruppe selbst. Beide
- Einzelner wie Gruppe - konnten ihre "Ehre" verlieren. So hatte
angeblich das deutsche Volk durch den Versailler Vertrag seine "Ehre"
verloren.
Bis heute ist "Ehre" diskreditiert und
wird allenfalls
von Rechtsradikalen noch öffentlich verwendet. Damit ist die Sache
nicht verschwunden. Jede soziale Gemeinschaft braucht nämlich ein
Leitbild ihrer Integritätr eine Vorstellung von ihrer Vollkommenheit.
An diesem Selbstanspruch werden das einzelne Mitglied wie die
Gemeinschaft im Ganzen gemessen. "Vorbild" ist demnach der, der dieses
normative Leitbild optimal in seiner Person zu repräsentieren vermag.
Das Individuum als solches kann also keine Ehre haben, sondern nur,
insofern es einer Gemeinschaft angehört.
Zwei
praktische
Beispiele für die Ehre eines HJ-Mitgliedes sind uns schon begegnet: Es
galt in den Adolf-Hitler-Schulen als unehrenhaft, bei Klassenarbeiten
zu "mogeln". Andererseits war es gemäß der Rede von Schirach über die
"Einheit der Erziehung" nicht unehrenhaft, in der üblichen Schule
Widerstand gegen den Lehrer zu leisten und ihn auch bei Klassenarbeiten
zu beschummeln. Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch liegt
auf der Hand: Die normale Schulklasse war eben keine von der HJ selbst
geführte soziale Gemeinschaft und konnte deshalb auch nicht an deren
Ehrbegriffen gemessen werden; deren Ehre begründete sich vielmehr im
Widerstand gegen den Lehrer und seine Ansprüche.
Sieht
man die
erwähnten pädagogischen Stichworte im Zusammenhang, so zeigt sich, daß
die HJ-Erziehung im Sinne von Ernst Krieck eine "funktionale" war, d.h.
sie setzte nicht auf rationale Belehrung, sondern auf das Arrangement
von Erlebnis-Situationen, von denen sie sich eine bestimmte
Pädagogische Wirkung erhoffte, nämlich im Hinblick auf die
223 Stabilisierung
einer erwünschten sozialen Gemeinschaft. Nur aus der Perspektive dieser
Gemeinschaft ergeben die pädagogischen Einzelheiten einen Sinn.
Da
wir es hier jedoch nicht mit einer rational durchgeformten
pädagogischen Theorie zu tun haben, sondern mit intuitiv und emotional
fundierten Überzeugungen, läßt sich das Gemeinte auch nur in
Stichworten andeuten; einer rationalen Analyse ist es nur begrenzt
zugänglich, wie Baeumlers Versuch zeigt, den Begriff "Kameradschaft'
für das Lehrer-Schüler-Verhältnis als "Leistungskameradschaft" zu
präzisieren. Das Ergebnis weiterer Analysen dieser Art wäre eine
differenzierte soziale Beziehungsstruktur, die durch den Begriff der
"Kameradschaft" nur notdürftig auf einen Nenner zu bringen wäre. Was
heißt es dann beim Militär oder im Industriebetrieb?
Nun
bekommen Gemeinschaften ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung nur
dadurch, daß sie eine Funktion ausüben, daß ihre Mitglieder also im
Rahmen einer Aufgabe tätig werden können. Dafür stand bei der HJ der
Begriff "Dienst'.
Mit ihm sollte das "Jugendleben"
auf die
Volksgemeinschaft im ganzen bezogen werden. Einmal galt das
organisierte Jugendleben selbst als Dienst, insofern es ja im Sinne
einer allgemeinen Lebensertüchtigung der Vorbereitung der
Heranwachsenden auf ihre künftigen Aufgaben in Staat und Volk
diente. Zum anderen aber sollten die Jugendlichen darüber hinaus
bereits nützliche Dienste z.B. im Rahmen von Sammelaktionen und
Ernteeinsätzen für die Allgemeinheit leisten - auch dies in Konsequenz
der "Erlebnis-Pädagogik".
Der "Dienst" öffnete also
den
"jugendeigenen Raum" zur Öffentlichkeit hin, räumte dem Jugendlichen
einen öffentlichen Status ein. Ähnlich wie die Schulpflicht einerseits
dem Kinde die pädagogische Atmosphäre eines Schonraumes gewähren soll,
aber gleichzeitig schon ein Stück vom Ernst des Lebens in Gestalt der
Leistungserwartungen in sich enthält, sollte auch das außerschulische
Leben der Jugend sich in dieser Kombination von Schonraum und
allgemeiner Pflichterfüllung entfalten.
Der für die
gesamte,
entsprechend gesunde deutsche Jugend arrangierte Dienst war ein Novum
in der deutschen Jugendgeschichte. Vor 1933 gab es zwar auch schon die
Möglichkeit
224 für Jugendliche, sich für
öffentliche
Aufgaben zu engagieren, z.B. im Rahmen politischer Jugendverbände. Aber
dies geschah freiwillig und so, daß jeder dabei zwischen den
verschiedenen weltanschaulichen und politischen Positionen und
Organisationen wählen konnte.
Ich möchte Schirachs
pädagogisches
Konzept im Unterschied zu einer wissenschaftlich oder wenigstens
systematisch entwickelten und fundierten Pädagogik eine
"Gebrauchspädagogik" nennen. Das ist nicht von vornherein abwertend
gemeint. Die bürgerliche und die proletarische Jugendbewegung, die zu
Beginn unseres Jahrhunderts entstanden, verstanden sich ebenfalls
primär als Lebensformen und nicht als geplante pädagogische
Veranstaltung, erste Versuche einer erziehungswissenschaftlichen
Theorie der außerschulischen Jugendarbeit gab es erst in den sechziger
Jahren. Den Begriff der "Gebrauchspädagogik" kann man also getrost für
diese ganze Zeit verwenden - in Analogie etwa zur "Gebrauchsmusik". Er
weist auf den eher funktionalen Charakter dieser Pädagogik hin, auf
ihre eher sekundäre Bedeutung. Im Vordergrund steht immer die
Herstellung bestimmter Lebens- und Erlebnissituationen. Die HJ war
nicht primär eine pädagogische Veranstaltung, sondern eine Lebensform,
weshalb es eigentlich zutreffender wäre, von "HJ-Sozialisation" statt
von "HJ-Erziehung" zu sprechen.
Kritisches zur
HJ-Pädagogik
Ich
habe bisher versucht, Schirachs Konzept der HJ möglichst aus seiner
Sicht darzustellen - ohne die moralische Voreingenommenheit, die uns
die politische Kriminalität des NS-Regimes eigentlich abverlangt. Auf
diese Weise erscheint es auch zunächst plausibel, in sich schlüssig;
denn jeder Mensch, der handelt und die Wirklichkeit gestaltet, tut dies
mit einer für ihn sinnvollen und logischen Stimmigkeit.
Dieses
und das folgende Kapitel sollen nun dieses Programm kritisch erörtern.
Dazu sind aber einige Vorbemerkungen nötig, weil die Darstellung des
HJ-Konzeptes notwendigerweise idealtypisch erfolgen mußte - eher in der
Weise einer logischen als einer empirischen Rekonstruktion.
225 1.
Die Praxis der HJ entsprach keineswegs immer, vielleicht sogar nicht
einmal überwiegend den öffentlich geäußerten Intentionen Schirachs. Das
ist bei einer so großen Organisation nicht weiter verwunderlich, zumal
sehr junge Leute in ihr Führungspositionen übernommen hatten und die HJ
immer Probleme hatte, genügend Führer zu rekrutieren, so daß sie vor
allem auf dem Lande auf junge Lehrer zurückgreifen mußte. Von der
alltäglichen Praxis wissen wir nicht viel, weil sie eben von Ort zu Ort
unterschiedlich sein konnte. Berichte von Menschen, die damals dabei
waren, fallen - wie nicht anders zu erwarten - höchst unterschiedlich
aus, nämlich teils zustimmend, teils ablehnend. Verfälscht werden
solche Erinnerungen unter anderem dadurch, daß es nach dem Kriege nicht
opportun war, sich positiv an die HJ zu erinnern, zumal die
HJ-Generation ja auch diejenige war, die den Wiederaufbau in
Westdeutschland in Angriff nehmen mußte, da wären positive Erinnerungen
an die HJ-Zeit nicht gerade karrierefördernd gewesen. Für die
ehemaligen HJ-Mitglieder und HJ-Führer, die nach dem Kriege in der SBZ
bzw. DDR lebten, mochte es sogar lebensgefährlich sein, positive
Erinnerungen zu äußern.
Hinzu kommt, daß die wenigen
Friedensjahre bis 1939 überschattet wurden durch ebenso viele
Kriegsjahre, und für die meisten, die beides in jungen Jahren erlebt
haben, wird es in ihrem biographischen Erleben eine Einheit bilden,
wobei die Kriegsjahre wohl das Urteil über die Friedensjahre wesentlich
mitbestimmen dürften. So oder so müssen wir jedenfalls davon ausgehen,
daß die Praxis den Intentionen Schirachs keineswegs immer entsprochen
haben kann. Es. gab bornierte und arrogante Führer, es gab solche, die
ihre "Gefolgschaft" dazu aufforderten, politisch mißliebige Äußerungen
und Handlungen der Eltern oder anderer Erwachsener zum Zwecke der
politischen Verfolgung preiszugeben. Es gab Hitlerjungen, die
absichtlich oder unabsichtlich ihre Eltern denunzierten.
Die
bereits mehrfach erwähnte Tat-Philosophie gab es auch hier, nämlich
einen sich selbst genügenden Aktivismus, dessen Folgen um so prekärer
werden konnten, je länger der Krieg dauerte und z.B. Denunziationen als
vaterländische Pflicht erscheinen ließen.
2.
Überhaupt darf man Schirachs "Jugendstaat" nicht isoliert sehen; er
befand sich ja im Rahmen einer Staats- und Gesell- 226 schaftsverfassung,
die - wie uns das Kapitel über Hitler gezeigt hat - die Gestalt einer
Erziehungsdiktatur angenommen hatte bzw. annehmen sollte. Pädagogik und
Polizei waren da nur verschiedene Seiten derselben Medaille, und wenn
die HJ halbwegs "rein" bleiben konnte mit ihrem zweifellos vorhanden
gewesenen pädagogischen Idealismus, dann vor allem deshalb, weil die
"Drecksarbeit" von den dafür zuständigen Organen der Erwachsenen -
Polizei, Gestapo, SS - erledigt wurde. Der Vater, den sein HJ-Filius
denunzierte, wurde nicht innerhalb der HJ "behandelt", sondern unter
Ausschluß der Öffentlichkeit von der Gestapo. Ein unerwünschter
politischer Witz konnte da ausreichen. Vor allem in den Kriegsjahren
hat Schirach die Nähe der SS gesucht, und zwar nicht zuletzt wegen
deren polizeilicher Funktionen. Überhaupt reagierte die RJF sehr
empfindlich auf jede Art von jugendlicher Gruppenbildung außerhalb der
HJ. Sie fürchtete sogenannte "bündische Umtriebe", also das
Weiterbestehen ehemaliger Gruppen der "Bündischen Jugend" in einem
Maße, das die reale Bedeutung solcher Gruppen weit übertraf. Vor allem
während des Krieges bildeten sich Gruppen von Jugendlichen, die nicht
im engeren Sinne als "politischer Widerstand", sondern eher als
Auflehnung gegen das Freizeitmonopol der HJ bezeichnet werden können.
Bekannt geworden sind - vor allem aus Polizeiakten bzw.
Prozeßunterlagen - unter anderem die "Meuten", die "Edelweiß-Piraten"
und die" Swing-Jugend". Sie wurden von Gestapo und SS mit Unterstützung
der RJF mit unverhältnismäßiger Härte verfolgt.
3.
Je mehr die
HJ die Gemeinschaftsorientierung betonte, umso schlimmer wurde das für
diejenigen, die nicht dazugehören wollten oder durften. "HJ-Fähigkeit"
wurde zu einer Grenze der Selektion. Dazugehören durften schon die
nicht, die nicht oder nicht schnell genug marschieren konnten, weil sie
etwa körperlich behindert waren. Hinzu kamen die dissozialen
Jugendlichen, die in Fürsorgeerziehungsanstalten saßen oder im
Jugendgefängnis. Gewiß: Die HJ hat sich bemüht, im Bündnis mit
aufgeschlossenen Sozialpädagogen die Möglichkeiten der Resozialisierung
zu verbessern, um den im landläufigen Sinne "erziehbaren" Jugendlichen
eine bessere Chance zu geben. Aber "HJ-Fähigkeit" war die Grenze,
jenseits derer die RJF sich nicht mehr für zuständig hielt, und erst
jenseits dieser Grenze kann man studieren,
227 wes
Geistes Kind der biologisch-rassistische Nationalsozialismus wirklich
war - im Umgang mit Behinderten, Geisteskranken, Unangepaßten,
Andersrassigen. Wenn man den Nationalsozialismus insgesamt pädagogisch
würdigen will, dann muß man diese dunkle Seite mitsehen. Die HJ war nur
ein Teil der NS-Pädagogik, und gemessen an dem, was jenseits ihrer
Grenze lag, war sie in der Tat ein Paradestück, das sich international
vorführen ließ.
Ausgeschlossen waren
"selbstverständlich" auch
die Juden. Sie durften in den Friedensjahren noch eigene
Jugendorganisationen unterhalten, an ihrem bekannten weiteren Schicksal
ist auch Schirach mitschuldig geworden. HJ-Führer bzw. BDM-Führerin
konnte nur werden, wer seine arische Abstammung nachweisen konnte. Zu
welch absurden Konsequenzen das führen konnte, zeigt folgendes
Beispiel. In einem Interview im Jahre 1980 schilderte Trude
Bürkner-Mohr - bis 1937 Reichsreferentin des BDM, also höchste
BDM-Führerin - folgenden Fall:
"Ich entsinne mich
eines Falles
in Berlin, der sich ungefähr 1936 ereignete. Dr. Goebbels rief mich an,
weil ein Vater, der Parteigenosse war und in einem östlichen Vorort von
Berlin ein sehr bekannter und vermögender Geschäftsmann war, ihm
mitteilte, daß er beim Erbringen des Ahnennachweises auf eine jüdische
Urgroßmutter gestoßen war. Seine beiden Töchter waren begeisterte und
sehr tüchtige Mädel- und Jungmädelringführerinnen, die unter diesen
Umständen nicht hätten im BDM bleiben dürfen. Der Vater wagte überhaupt
nicht, seine Töchter von dieser Entwicklung zu unterrichten, und ich
schlug Dr. Goebbels und dem Vater vor - es waren noch etwa drei Monate
bis zur Versetzung -, die Mädchen ab Ostern in einem Internat in der
Schweiz anzumelden, ohne den Mädchen die näheren Umstände zu sagen. So
wurde dann auch verfahren. Die Mädchen blieben bis Kriegsende in der
Schweiz. In Einzelfällen konnte ähnlich geholfen werden" (Rüdiger 1984,
56). Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, ob Frau Mohr wenigstens
nachträglich die Absurdität dieser Geschichte klar geworden ist.
Diese
Zusammenhänge, die wir jetzt nicht weiter verfolgen können, müssen
immer im Blick bleiben, wenn wir Schirachs Konzept der HJ beurteilen
wollen. Dann läßt sich folgendes feststellen: 228
1.
Für die damalige Zeit war es nicht ungewöhnlich, eine nationale oder
auch nationalistisch orientierte Jugendorganisation zu schaffen. Alle
europäischen Länder waren mehr oder weniger nationalistisch orientiert,
und die Menschen bezogen aus dieser nationalen Einstellung ein
wichtiges Stück ihrer Identität. Den Nationalstaat übergreifende
Orientierungen konnten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht
zuletzt auf dem Hintergrund des "Kalten Krieges" durchsetzen. Als
Beispiel dafür mag der Prozeß der europäischen Integration dienen. Aber
bis heute schlummern in den meisten europäischen Ländern nationale
Gefühle, die nur eines Anlasses bedürfen, um sich zu artikulieren.
Lediglich in Deutschland sind nach dem Zweiten Weltkrieg als eine
seiner Folgen nationale Orientierungen weitgehend verschwunden, wie
sich bei der deutschen Vereinigung zeigte, bei der nationale oder gar
nationalistische Töne so gut wie gar nicht zu hören waren. Gleichwohl
müssen wir erkennen, daß andere Völker in diesem Punkte eine relativ
ungebrochene Tradition aufweisen.
Für die Zeit vor
und nach 1933
waren nationale Orientierungen bis weit in die Arbeiterbewegung hinein
selbstverständlich, und die anderen europäischen Völker hielten es für
verhältnismäßig normal, daß die Deutschen nach der Niederlage von 1918
wieder ihre nationale Identität suchten.
Ungewöhnlich
war nur,
daß die HJ sich eine Monopolstellung sicherte und alle anderen - auch
die national orientierten - Jugendverbände auflöste oder sich
einverleibte. Das wäre in den anderen westeuropäischen Ländern an ihren
demokratischen Traditionen gescheitert.
Diese
Monopolisierung in
Verbindung mit der späteren "Dienstpflicht" war die entscheidende
politische Vorgabe für die von der HJ betriebene Jugendarbeit; denn auf
diese Weise brach sie mit zwei Traditionen der bisherigen Jugendarbeit
in Deutschland, nämlich mit der pluralistischen Angebotsstruktur und
mit dem Prinzip der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft bzw. der
Teilnahme.
Diese Monopolisierung aber wurde schon in
den letzten
Friedensjahren zum Problem - in den Kriegsjahren traten spezielle
Aufgaben in den Vordergrund, was aber über den beginnenden Leerlauf
Ende der dreißiger Jahre nicht hinwegtäuschen kann. Trotz der von
Schirach eingeleiteten 229 "musischen
Wende", die auf
die Dauer, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, die HJ vielleicht zu
einem Freizeitverein mit differenzierten Angeboten hätte machen können,
stellte sich einfach heraus, daß die "Volksgemeinschaft" im
regelmäßigen "Dienst", der ja aus einer Mischung von Militärritual und
Pfadfinderei bestand, nicht zu repräsentieren war. Je öfter ein solcher
Dienst erlebt wurde, desto seltener konnte er zum "Erlebnis" werden. So
wurde der HJ gerade ihre Monopolstellung zum pädagogischen Verhängnis,
weil sie auf Dauer - wie die Jugendverbände vor 1933 auch schon - an
den sonst üblichen und zugänglichen Freizeitmöglichkeiten gemessen
wurde. Solange die HJ in diesem Punkte - also als Freizeitverein
-attraktiv blieb, konnte sie auf freiwilligen Zulauf hoffen. Und viele
Jungen und Mädchen waren, wenn sie ihre Ferien außerhalb der eigenen
Wohnung verbringen wollten, schon aus finanziellen Gründen auf die
Angebote der HJ angewiesen. Andererseits war die Monopolstellung
natürlich hilfreich bei der Durchsetzung jugendpolitischer Ziele wie
der Urlaubsregelung für jugendliche Lehrlinge und Arbeiter.
2.
Wie wir schon bei Ernst Krieck gesehen haben, war "Volksgemeinschaft"
eine soziale Fiktion, der keine Wirklichkeit entsprach. Es gab in der
damaligen Gesellschaft alle möglichen Gemeinschaften und
Organisationen, aber keine, die das ganze Volk zu repräsentieren
vermochte: die unterschiedlichen Generationen, Klassen, Berufe,
Einkommensgruppen, Religionszugehörigkeiten, landsmannschaftlichen
Teilkulturen und Traditionen usw.. Aber was war "Volksgemeinschaft" im
ganzen? So mußte nach dem Ende der "Kampfzeit" der normale und
regelmäßige Dienst Züge von wirklichkeitsfremder Spielerei, einer Art
von "Als-ob" annehmen, übrig blieben eigentlich nur
vordergründig-pragmatische Aspekte, wie daß es nicht verkehrt sein
kann, sich in frischer Luft zu bewegen. Lediglich die gemeinnützigen
Tätigkeiten wie Sammlungen abhalten konnten als sinnvoller "Dienst"
erfahren werden. Selbst das ursprüngliche Paradebeispiel von
"Volksgemeinschaft", nämlich der gemeinsame Dienst aller Jugendlichen
ohne Rücksicht auf Klassen- und Standeszugehörigkeit, fand seine
Grenzen. Da die Rekrutierung für die HJ nach Wohngebieten erfolgte und
damals die Wohngebiete sehr viel stärker als heute nach Stand und
Einkommen getrennt waren, blieb die Durchmischung auf der unteren Ebene
notwendigerweise beschränkt. Auf
230
der
Führungsebene war, mit zunehmendem Rang umso stärker, die
Oberschuljugend überrepräsentiert. Wie also sollte "vor Ort" im
normalen "Dienst" die "Volksgemeinschaft" "erlebbar" werden?
3.
Offensichtlich war das Programm der HJ ein generationsspezifisches.
Schirach und die anderen jungen Leute in der Reichsjugendführung hatten
als Kinder den Ersten Weltkrieg erlebt, der sie ebenso prägte wie die
politischen Wirren der Nachkriegszeit und ihre "Kampfzeit" vor 1933.
Diese Erfahrungen schlugen sich nieder in ihrem HJ-Konzept: Die
Anknüpfung an ein idealisiertes Frontsoldatentum (Beispiel
"Langemarck") oder beim BDM an die Frauen der "Heimatfront". Das waren
ihre Väter und Mütter, teilweise auch Brüder und Schwestern gewesen.
Aber die Generationserfahrungen wechseln schneller als die
Generationen, und schon Ende der dreißiger Jahre zeichnete sich ab, daß
sie nicht einfach übertragbar waren. Wer 1938 zum "Jungvolk" kam, hatte
den Krieg nicht mehr und die Weltwirtschaftskrise nur als Säugling oder
Kleinkind erlebt, und was die noch gar nicht so alten Führer der ersten
Stunde wie Schirach noch selbst erfahren hatten, war für den
Zehnjährigen von 1938 bereits "Geschichte".
Schirach
scheint
dieses Problem verstanden zu haben und reagierte darauf mit der
"Musischen Wende" und mit dem Versuch, der HJ in der Gestalt Goethes
und damit der deutschen Klassik eine generationsunabhängige Tradition
zu stiften. Für die Führungsgeneration der ersten Stunde um Schirach
bedeutete die HJ-Tätigkeit einen persönlichen Aufstieg - weniger im
materiellen Sinne, denn die Gehälter für die Hauptamtlichen waren
bescheiden, sondern eher im politisch-kulturellen Sinne. Sie erhielten
in relativ jungen Jahren - im Alter unserer Studenten! - Chancen für
eine selbständige, alle Fähigkeiten herausfordernde und zudem
öffentlich hoch angesehene Tätigkeit, wie sie Menschen dieses Alters
nur selten zuteil wird. In der Weimarer Zeit hätten sie eine derartige
Chance kaum bekommen, weil damals die Führungskräfte bis hin zur
Arbeiterbewegung ein hohes Alter hatten und jungen Leuten das
Nachrücken verwehrten. Während diese junge Führergruppe also diese Zeit
verständlicherweise als "erfülltes Leben" ansehen konnte, stellte sich
die Sache für die Jüngeren durchaus anders dar. Sie kamen zu einer
etablierten und durchaus schon bürokratisierten Or-
231 ganisation,
in der sie ihren "Dienst" ableisten sollten. Wenn sie Glück hatten,
trafen sie auf einen pfiffigen Führer, der die Sache einigermaßen
spannend machte, sonst konnte es recht langweilig werden.
Das
Schicksal der Generationsabhängigkeit eines pädagogischen Konzeptes
galt übrigens nicht nur für die HJ, das Problem stellte sich auch
vorher und nachher. Die "Wandervogel-Generation" vor dem Ersten
Weltkrieg z.B. war ganz anders geprägt und entwickelte andere
Bedürfnisse als die "Bündische Jugend" nach dem Krieg. Die Gegensätze
waren so groß, daß sich die Älteren und die Jüngeren kaum mehr
verstanden. Ein weiteres Beispiel ist die FDJ in der ehemaligen DDR,
die ja ebenfalls ein weitgehend monopolisierter Jugendverband war.
Gegründet und getragen zunächst von einer Generation, die im Widerstand
gegen die Hitler-Diktatur und damit auch gegen die HJ mit einem
"anti-faschistischen" Denk- und Handlungsmodell Politik und Staat in
Deutschland neu ordnen wollte, wurde diese Massenorganisation immer
mehr zu einer differenzierten Freizeitorganisation, in der die
ursprünglichen politisch-moralischen Ausgangswerte zu ritualisierten
Phrasen verkamen, weil sie die Generationserfahrung der Jüngeren nicht
mehr trafen.
Mit diesem Problem der wechselnden
Generationserfahrungen haben alle pädagogischen Berufe ihre Mühe, auch
die Schule; sie muß darauf z.B. mit neuen didaktischen und methodischen
Strategien reagieren. Aber für eine Jugendorganisation wie die HJ ist
es von existentieller Bedeutung, weil Programme und Methoden, die
zunächst "erfolgreich" waren, innerhalb weniger Jahre ins Leere laufen
können, eben weil sie auf einmal an einer neuen Generationsgestimmtheit
vorbeigehen.
4. Dieses Dilemma mußte sich
insbesondere für die
zentrale pädagogische Kategorie "Erlebnis" bemerkbar machen. Wie jemand
eine bestimmte arrangierte Situation, z.B. eine Feierstunde oder einen
Lageraufenthalt, "erlebt", kann man ihm nicht vorschreiben. Man kann es
durch emotional-kalkulierte Inszenierungen provozieren. Dennoch muß
aber immer wieder ein Funke überspringen, und das geschieht nur dann,
wenn eine entsprechende "Gestimmtheit" vorliegt. Eine emotional
ansprechbare Grundgestimmtheit ist aber abhängig von der erwähnten
grundlegenden Generationser- 232 fahrung.
Um das Jahr
1933, als viele Menschen geradezu in einen Rausch gerieten und in
Hitler und seiner Bewegung den Hoffnungsträger sahen, der sie aus ihrer
Notlage befreien würde, war die Stimmung auch bei jungen Menschen
anders als etwa im Jahre 1938. Nun war Alltag eingekehrt, die Menschen
gingen ihren Aufgaben und Pflichten nach und versuchten, ihre
Alltagsprobleme zu lösen. Jetzt war auch der HJ-Dienst zu etwas
Alltäglichem geworden, von dem keine besondere Faszination mehr
ausging. Die positiven Erlebnisse wollten sich nicht mehr so recht
einstellen.
Wer sein pädagogisches Konzept auf
"Erlebnis" baut,
macht sich abhängig von der Gestimmtheit seiner Partner. Trifft er
diese nicht, provoziert er Widerstand oder zumindest innere Distanz.
Das gilt nach wie vor. Heute allerdings muß sich die Jugendarbeit als
Teil eines komplexen Freizeitmarktes sehen, im Wettbewerb stehend mit
zahlreichen kommerziellen Angeboten. Insofern sind
"erlebnispädagogische" Angebote heute Versuche, sich marktgerecht zu
verhalten, Marktlücken wahrzunehmen und auf diese Weise Teilnehmer zu
gewinnen. Hier wird die Abhängigkeit der Pädagogik von ihren Partnern
im Ausmaß der Nachfrage erkennbar. Derartige regulierende Mechanismen
kannte die HJ nicht, sie mußte sozusagen im Rahmen einer pädagogischen
Planwirtschaft agieren, mußte versuchen, entweder die wirklichen
Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen zu antizipieren, oder sie
zu leugnen. Solange also der eher pflichtorientierte "Dienst" mit
subjektiven "Erlebnissen" verbunden blieb, entstand kein besonderes
Problem. Fielen beide aber auseinander, dann mußte zwangsläufig der
Pflicht- und Disziplinarcharakter des Dienstes stärker hervortreten.
Dies wurde in den letzten Jahren vor dem Kriege erkennbar, und der
Krieg hat hier möglicherweise einen pädagogischen Offenbarungseid
verhindert.
Mit dem Konzept der "Erlebnispädagogik"
ist aber
noch ein weiteres prinzipielles Problem verbunden. Wie weit tragen
solche Erlebnisse eigentlich? Üblicherweise sind pädagogisch
inszenierte Erlebnissituationen ja künstliche, d.h. sie werden gerade
deshalb pädagogisch arrangiert, weil sie sich im normalen Leben nicht
oder nicht im gewünschten Umfange ergeben. Sie beziehen sich zunächst
einmal nur auf diese jeweilige Situation. Wen also das
Gemeinschaftserlebnis einer HJ-Feier beeindruckte, der ging ja
anschließend
233 wieder
nach Hause, zu seiner
Familie, in die Schule, an den Arbeitsplatz. Mag sein, daß ihm eine
Weile das positive Erlebnis Mut und Motivation zur Alltagsbewältigung
gab, oder daß er die tristen Seiten seines Alltags besser ertrug unter
dem Aspekt der baldigen Wiederholung dieses positiven Erlebnisses. Aber
es blieben doch eben "Sonntagserlebnisse", die nicht ohne weiteres den
Alltag beeinflußten, der nach ganz anderen Regeln und Normen ablief. So
muß es doch auch nachdenklich stimmen, wenn Schirach die Disziplin in
seinem HJ-Heim preist, während dieselben Jungen am nächsten Morgen in
der Schule wieder zur üblichen Rasselbande und zu infantilen Pennälern
werden. Der Glanz des HJ-Heimes strahlte nicht auch in die Schulstube
hinüber; die Jungen verhielten sich in unterschiedlichen Situationen
jeweils nur angemessen. Das ist übrigens heute genauso. Zu Hause
verhalten sie sich anders als in der Schule und wieder anders in der
Disco. Diese Verhaltensdifferenzierung - sich an dem jeweiligen
sozialen Ort angemessen nach den dort üblichen Regeln und Erwartungen
verhalten zu können - ist ein bedeutsames Stück sozialen Lernens.
Man
kann also davon ausgehen, daß im allgemeinen die Erlebnisse der HJ auf
das Leben in der HJ beschränkt blieben. Anders verhielt es sich mit
vielem, was man praktisch lernte: Sport, Gesundheitsinformationen,
handwerkliche Techniken, künstlerische Fertigkeiten usw. Solche
Kenntnisse und Fähigkeiten waren durchaus auf den Alltag übertragbar.
Aber sie machten eben nicht den Kern dessen aus, was die HJ-Erziehung
eigentlich erreichen wollte.
5. Das Konzept des
"Vorbildes"
muß ähnlich gesehen werden. Das Vorbild des HJ-Führers war zunächst
einmal nur im Rahmen der HJ verwendbar. Schon beim Militär, dem die HJ
äußerlich so ähnlich war, galten ganz andere Regeln - von Schule und
Beruf ganz zu schweigen. Aber bezogen lediglich auf das HJ-Leben
vermochte der Appell, sich vorbildlich für andere Gleichaltrige zu
verhalten, sicher bei vielen Jungen und Mädchen Selbstbewußtsein und
Motivationen für sozial angemessenes Handeln freizusetzen. Bei Licht
besehen handelte es sich jedoch um partikulare
Vorbilder, die
keineswegs alle wesentlichen Probleme des jugendlichen Lebens
ansprachen. Von einem guten dreizehnjährigen Jungvolkführer konnte ein
zwölfjähriger Pimpf vielleicht lernen, wie man taktisch geschickt ein
Geländespiel gewinnt, wie man Diszi- 234
plin
durchsetzt, wie man Befehle erteilt, oder wie man einen Konflikt in der
Gruppe entschieden, aber auch kameradschaftlich löst. Aber schwerlich
konnte man von ihm lernen, wie man mit Mädchen umgeht, zu Hause einen
Konflikt löst, oder mit den Leistungserwartungen der Schule umgehen
soll; dies hätte die dienstliche Dimension überschritten. Und hätte
sich unser Pimpf wirklich nahezu total mit seinem jungen Führer
identifiziert, hätte ihn dies eher in seiner eigenständigen Entwicklung
behindern können.
Aber Schirach hatte mehr im Sinn
als ein
solches doch eher individuell orientiertes Vorbild-Konzept. Seine
Absicht war, einen kollektiven
Führer-Typus zu schaffen, mit einer
gemeinsamen Haltung, Lebenseinstellung, mit einheitlichem
Wertbewußtsein. Zur Ausprägung eines solchen Typus sollten nicht
zuletzt die Adolf-Hitler-Schulen und die Braunschweiger Akademie für
Jugendführung dienen. Die dahinterstehende Idee des "Ordens", die auf
ihre Weise auch die SS zu realisieren suchte, war schon in Teilen der
"Bündischen Jugend" der Weimarer Zeit zu finden - dort wie hier mit
einem unübersehbaren Elite-Anspruch. Soziologisch gesehen ging es
darum, erwünschte und idealisierte Lebenswelten und Lebensformen, die
in der modernen, arbeitsteilig organisierten und auf persönlicher
Konkurrenz beruhenden Gesellschaft nicht mehr von selbst sich
einstellten, mit pädagogischen Mitteln wieder einzuführen. Insofern
waren sie teilkulturelle Kunstprodukte, und es ist sehr fraglich, ob
sie in Friedenszeiten auf die Dauer eine wirkliche Chance gehabt
hätten; denn auch hier - wie schon beim "Erlebnis" - stellt sich die
Frage nach der gesellschaftlichen Brauchbarkeit. Wäre ein solcher
Führer-Typus, wie er Schirach vorschwebte, z.B. tauglich gewesen für
die in einem modernen Industriebetrieb erforderlichen Haltungen und
Einstellungen? Oder hätte er hier nicht eher weltfremd gewirkt?
Die
grundsätzliche pädagogische Frage ist, ob man überhaupt mit
pädagogischen Mitteln, also durch eine bestimmte Erziehung, eine
erwünschte gesellschaftliche Realität produzieren kann, die sich sonst,
nämlich im normalen gesellschaftlichen Leben - in Wirtschaft, Politik,
Verwaltung, Kultur - nicht mehr von selbst ergibt. Diese Frage ist
nicht nur an Schirach, sondern an die moderne Pädagogik überhaupt
235 bis
auf den heutigen Tag zu stellen. Gerade im deutschen Begriff von
"Erziehung" war immer der Gedanke virulent, man müsse Kinder und
Jugendliche in allgemeiner, sozusagen prinzipieller Weise sittlich und
moralisch erziehen, damit sie - mit diesem Fundus ausgestattet - als
Erwachsene die Welt nach solchen moralischen Maßstäben zu gestalten in
der Lage sind. Versittlichung der Welt durch richtige Erziehung war das
Programm. Aber spätestens seit Beginn unseres Jahrhunderts, mit dem
Einsetzen der Reformpädagogik, wurde dieses pädagogische
Weltverbesserertum auch weltfremd, stemmte sich gegen die dominierenden
gesellschaftlichen Tendenzen der Individualisierung, Pluralisierung,
Arbeitsteilung und Mobilität. Pädagogik wurde zur Zivilisationskritik
schlechthin. "Menschenbilder" als Wunschbilder entstanden in den Köpfen
von Pädagogen, die der gesellschaftlichen Realität, den in ihr
erforderlichen Denk- und Handlungsnotwendigkeiten immer weniger
entsprachen. Kriecks und Baeumlers Kritik an diesem Bildungsverständnis
war keineswegs unberechtigt. Gerade die Reformpädagogik liefert eine
Fülle anschaulicher Beispiele für den illusionären Versuch, die
gesellschaftliche Realität ausgerechnet z.B. durch zivilisationsferne
Landerziehungsheime verbessern zu wollen. In dieser Tradition steht
auch Schirachs Absicht, einen besonderen Führertypus auszubilden.
Welche Verhaltensweisen, Charakterzüge, Tugenden sollten in diesem
Typus zum Zuge kommen, und warum gerade diese und keine anderen? In der
gesellschaftlichen Wirklichkeit spielt sich das anders ab. Dort bilden
sich zum Beispiel Typen von Handlungskompetenz von selbst heraus, weil
sie gebraucht werden; sie werden jedenfalls nicht auf Ober- und
Hochschulen fabriziert. Darin ist Krieck zuzustimmen, daß der Anteil
der planmäßigen, absichtsvollen Erziehung an der menschlichen
Persönlichkeit eher gering ist; das meiste und wichtigste ergibt sich
durch soziales Tätigsein in den jeweils zugänglichen Handlungsfeldern,
also "funktional" im Sinne Kriecks. Eigentlich war die HJ wie auch die
Jugendbewegung vorher ein Freizeitarrangement für ein Jugendleben, mit
dem sich pädagogisch nicht viel verderben ließ. Der Einfluß dieses
Arrangements war begrenzt, weil seine Wirkung zeitlich recht begrenzt
war. "Dienst" fand höchstens ein- oder zweimal in der Woche statt, der
Rest der Zeit wurde zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz,
vielleicht in der Kirche, mit Freunden verbracht. Selbst die "Lager" in
den Fe-
236
rien
waren nach spätestens drei
Wochen wieder zu Ende. Die "Führer" an der Basis waren so, wie eben
junge Leute damals waren. Was sie in "Führerschulungen" an Nützlichem
und Praktischem für ihre Führungstätigkeit lernten, konnte das
"Jugendleben" unten bereichern und Spaß machen. Mit der Absicht jedoch,
über das Praktische und Nützliche hinaus mit pädagogischer
Planmäßigkeit einen Vorbild-Typus als eigenständige Lebensform zu
schaffen, erhielt die Sache eine neue Qualität, die allerdings wegen
des Krieges nicht mehr durchschlagen konnte. Dieser Führer-Typ wäre
nämlich auf die Dauer zu einer Art von "Berufs-Führer" geworden, der
die Naivität der üblichen HJ-Arbeit an der Basis zum Verschwinden
gebracht hätte zugunsten einer beruflichen Profilierung, die am ehesten
noch in Richtung Indoktrination und Agitation, jedenfalls auf der
ideologischen Ebene zu erwarten gewesen wäre. Es war nämlich gerade die
Nicht-Professionalität der unteren HJ-Führer, die solche Einwirkungen
in Grenzen hielt.
Spätestens an dieser Stelle wird
deutlich, daß
wir bei der pädagogischen Beurteilung der HJ unterscheiden müssen
zwischen dem, was unten an der Basis geschah, und den Ideen, Plänen und
Praktiken auf der Ebene der oberen Führer, des "Führer-Korps", von
denen hier die Rede ist. Solange unten die erwähnte Naivität Ton und
Stil angab, gab es zwar Übergriffe, Ungereimtheiten, auch mal
Unverschämtheiten, aber dies hatte noch kein System, sondern war eher
spontanen Ursprungs. Gerade das theoretisch und professionell
Imperfekte war das Humane daran.
Aber kehren wir zum
Problem des
Vorbildes zurück. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene vor Augen,
die etwas erreicht haben, was sie selbst anstreben. Das können Menschen
aus dem familiären Umfeld sein, aber auch solche Personen, die man
persönlich nicht kennt, die nur auf dem Fernseher oder in Büchern
auftauchen. Auch Erwachsene haben Vorbilder, sie gestehen es sich nur
selten ein. Sie orientieren sich ebenfalls an Menschen, die irgend
etwas besser können als sie selbst. Auch in der NS-Zeit haben junge
Menschen sich Vorbilder gesucht, mit denen sie sich identifizieren
konnten, und das waren sicher nicht nur HJ-Führer. Gleichwohl legt der
jeweilige Zeitgeist einen bestimmten Typus des Vorbildes nahe, damals
wohl nicht zuletzt den Typus des Offiziers.
237 Im
Einzelfälle ist die Wahl von Vorbildern ein kompliziertes Unterfangen,
hängt nicht nur vom jeweiligen Zeitgeist ab, sondern auch von dem im
jungen Menschen sich entwickelnden Lebensentwurf. Eine falsche Wahl
dabei zu treffen, gehört zu den Risiken des jugendlichen Lebens; auch
Terroristen haben ihre Vorbilder. Wer als junger Mensch in der NS-Zeit
sich der Nazibewegung zugehörig fühlte, suchte sich andere Vorbilder
als jemand, der in Distanz oder gar in innerem Widerstand zu ihr stand.
Kompliziert
wird die Vorbildsuche auch deshalb, weil ein einziges Vorbild nicht
mehr ausreicht für alle Aspekte des eigenen Lebensentwurfes. Vorbilder
müssen pluralisiert werden, das eine imponiert z.B. wegen seines
beruflichen Könnens, das andere als verläßlicher Ehepartner, ein
drittes wegen seines souveränen öffentlichen Auftretens (z.B. im
Fernsehen). Vorbilder zu finden ist kein einmaliger Akt, sondern ein
zeitlicher, also biographischer Prozeß, zu dem auch das Abstoßen oder
Wechseln von Vorbildern gehört. Es wäre also abwegig, Vorbilder für
andere pädagogisch einplanen zu wollen, wie es Schirach vorhatte. Junge
Leute montieren sich das, was sie zu brauchen glauben.
Keineswegs
abwegig jedoch war die Idee, Gleichaltrige zum vorbildhaften Verhalten
gegenüber ihresgleichen zu ermuntern; denn damals wie heute brauchen
Kinder und Jugendliche die Ermutigung durch diejenigen, die etwas
besser können als sie selbst, die aber nicht so weit entfernt sind wie
ein Erwachsener. Um ein Beispiel aus dem Sport zu nehmen: Ein Junge,
der ein guter Fußballer werden will, orientiert sich sicher an einer
Spielerpersönlichkeit wie Beckenbauer, aber auch an seinem
Mittelstürmer in der Jugendmannschaft, von dem er das Dribbeln lernen
kann.
Ähnlich muß man wohl urteilen über die
Leitmotive "Ehre"
und "Kameradschaft", die auch in Verbindung mit "Ritterlichkeit" die
Norm für den Umgang zwischen Jungen und Mädchen sein sollten. Für die
damaligen jungen Leute enthielten diese Worte Vorstellungen, die sowohl
zur inneren Stabilität wie zu einem angesehenen Sozialverhalten führen
konnten. Solange die damit verbundenen Erwartungen, Bilder und Mythen
auf das Jugendleben beschränkt blieben, handelte es sich um eine Art
von Pfadfinderei. Daß sie letztlich wie die Volksgemeinschaft auf
sozialen Fiktionen beruhten, kann dann außer acht gelassen werden.
238
Problematisch
wurden diese Attitüden erst, als sie auch die Vorstellungswelt von
Erwachsenen beherrschen konnten wie wir am Beispiel des "Germanismus"
von Baeumler gesehen haben. Problematisch war ferner, daß die soziale
Werthaltung, die in den Begriffen zum Ausdruck kam, nur in bezug auf
die eigene Gruppe galt und insoweit die Ausgrenzung anderer einschloß.
Die Frage ist jedoch, ob dies den Jüngeren bewußt geworden ist.
Folgenreicher jedenfalls war, daß diese auf die eigene Gruppe begrenzte
Moral auch das Wertbewußtsein von Erwachsenen bestimmte. Diese Moral
war nicht an der demokratischen Tradition der Menschenrechte
orientiert, die dem menschlichen Individuum vor jeder sozialen
Zugehörigkeit eine grundsätzliche Würde zubilligt. Die Folgen sind
bekannt.
6. Mit seiner scharfen Schulkritik sprach
Schirach in
seiner Rede über die "Einheit der Erziehung" sicher vielen jungen
Menschen aus der Seele. In der Tat traf diese Kritik insbesondere das
humanistische Gymnasium keineswegs unverdient.
Unsere
heutigen
pädagogischen Maximen, daß an den Bedürfnissen und Interessen der
Schüler angeknüpft werden müsse, daß der Unterricht zwar auch auf das
künftige Leben vorbereiten, zugleich aber auch das gegenwärtige Leben
der Schüler kritisch-fördernd begleiten müsse, waren damals weitgehend
unbekannt, obwohl die Reformpädagogik sie längst propagiert hatte. Zwar
bemühte sich eine jüngere Generation von Lehrern zumindest teilweise um
moderne Formen des Unterrichts und der Beziehung zu ihren Schülern,
dennoch waren die Schulen noch weitgehend Disziplinierungsanstalten
geblieben. Nicht von ungefähr war das Gymnasium ein beliebtes Motiv für
Spott und Satire, wie sie etwa in der "Feuerzangenbowle" von Spoerl
oder in "Professor Unrat" von H. Mann zum Ausdruck kommen. Jedenfalls
stand die erzieherische Disziplinierung der Schüler im Vordergrund, die
sich einmal aus der Sache und zum anderen aus der Institution
rechtfertigte. Die "Sache", also die Unterrichtsstoffe - gerade auch
die scheinbar weltfremden wie die alten Sprachen - sollten die Schüler
zwingen, ihre eigenen Interessen, Gefühle und Bedürfnisse für
bedeutungslos zu halten angesichts der Bedeutungsschwere der
sittlichen, kulturellen und ästhetischen Gehalte, die der Unterricht
präsentierte. Die Schule als Institution sollte dafür sorgen, daß der
Schüler sich diesen allgemeinen Prinzipien gemäß ver-
239 hielt
- nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Schule.
Paradoxerweise
war es aber gerade diese von heute aus gesehen "rückständige" und
teilweise auch "reaktionäre" pädagogische Grundhaltung, die dann
Möglichkeiten des Widerstandes oder zumindest der Distanz gegenüber der
NS-Ideologie eröffnete. Lehrer konnten streng bei ihrer Sache bleiben,
scheinbar ohne jede Rücksicht auf die aktuellen Zeitläufe, und doch
hier und da eine Bemerkung fallen lassen, die zum Nachdenken über die
Aktualität anregen konnte, ohne daß sie sich allzu gefährlich damit
hervorwagen mußten. Die Schuldisziplin andererseits vermochte bis zu
einem gewissen Grade Einflüsse von außen abzuwehren, weil der
Begründung schwer zu widersprechen war, daß Disziplin nun einmal nötig
sei. Nach allem, was wir heute wissen, scheint das traditionelle
Gymnasium weniger von der NS-Ideologie okkupiert worden zu sein als
etwa die Volksschule. Während das Gymnasium sich immer von seiner Sache
her verstand, also von den Inhalten des Unterrichts, verstand sich die
Volksschule primär vom Schüler her, und die Ideen der Reformpädagogik
hatten deshalb hier erheblich mehr Resonanz gefunden. Je weniger jedoch
in diesen Schulen der Eigenwert der Sache geltend gemacht werden
konnte, um so weniger Widerstandsmöglichkeiten bestanden gegen
ideologischen Druck von außen. Das führt zu der vielleicht
überraschenden Einsicht, daß gerade die "fortschrittliche" Pädagogik,
die sich um die Subjektivität des Schülers besonders bemühte, auch
besonders schutzlos war gegen ideologische Verführungen. Indem die
Reformpädagogik die Sachverhalte zu erzieherischen Zwecken
instrumentalisierte - was davon ist gut und nützlich für das Kind,
dient seiner sittlichen Entwicklung -, machte sie diese pädagogischen
Zwecke auch fast beliebig austauschbar. An die Stelle des
reformpädagogischen Ideals der optimalen individuellen Entwicklung
konnte mühelos das kollektive Ideal des "Volksgemeinschafts-Menschen"
treten. Dieses Problem stellt sich übrigens bis heute. Die
bildungspolitischen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren zum
Beispiel zwischen "Linken" und "Konservativen" beruhten schlicht
darauf, daß bestimmte pädagogische Zwecke im Hinblick auf ein
erwünschtes Verhalten der Schüler vorgegeben wurden, nach denen dann
die Stoffe des Unterrichts bzw. die Fragestellun- 240 gen
an diese Stoffe ausgewählt werden sollten. Mit anderen Worten: Es ist
die erzieherische Absicht selbst, die disponibel macht für ideologische
Einbrüche, weil sie nicht auf sachliche Aufklärung aus ist, sondern auf
die Herstellung eines erwünschten Verhaltens bzw. einer erwünschten
Gesinnung.
Schirach hielt sich jedoch nicht für
einen
ideologischen Verführer, sondern für einen pädagogischen Reformator.
Dabei hat er ein Dilemma der pädagogischen Berufe durchaus richtig
gesehen: Die professionelle Deformation, die geradezu unvermeidlich
dadurch eintritt, daß man auf einen in jungen Jahren gewählten
pädagogischen Beruf bis zum Ende seines Berufslebens im allgemeinen
fixiert bleibt. Wer heute offen mit älteren Lehrern oder
Sozialpädagogen sprechen kann, erfährt meist schnell, eine wie
schreckliche Perspektive das ist. Ein Hochschullehrer kann mit der
ständigen Erfahrung, daß seine StudentInnen immer jünger werden, die
andere verbinden, daß er durch seine Studien und Forschungen sich
selbst weiterbildet und dadurch vielleicht doch auch wertvoller für
seine Hörer werden kann. Ein Schullehrer hat es da weitaus schwerer,
weil er zwar auch seine zunehmende lebensgeschichtliche Erfahrung und
seine Weiterbildung in den Umgang mit Schülern einbringen kann, jedoch
in einem weit geringeren Maße, weil der Schulunterricht thematisch
relativ begrenzt ist. Der Typ des Lehrers, der Jahr für Jahr dieselben
Lektionen aus der Schublade zieht, sich nach Ferien und Freizeit sehnt,
möglichst keine Zeit investiert, die nicht unabweisbar dienstlich
gefordert ist, ist auch heute massenhaft verbreitet, und wer sich
darüber mokiert, möge bedenken, daß ein solches Verhalten von einem
bestimmten Zeitpunkt an schon aus Selbstschutz notwendig wird.
Gegen
Schirach muß deshalb klargestellt werden, daß diese Notwendigkeit in
das professionelle Selbstbild mit übernommen werden muß, um
Fehleinschätzungen oder gar psychosomatische Erkrankungen zu vermeiden.
Erzieherisches Dauer-Engagement, wie Schirach es sich vorstellte, ist
nur relativ kurze Zeit durchzuhalten, was darüber hinausgeht, droht
schnell neurotische Züge anzunehmen. Insofern ist der
"Unterrichtsbeamte", wie Schirach ihn karikierte, bis zu einem gewissen
Grade eine professionelle Notwendigkeit.
Trotz
solcher Einwände ist Schirachs Idee einer größeren Mobilität innerhalb
der pädagogischen Berufe keineswegs
241
von
vornherein abwegig. Es wäre sicher ein Glück für alle Beteiligten, vor
allem auch für die betroffenen Kinder, wenn die jahrzehntelange
Fixierung auf einen pädagogischen Teilberuf - bei den Lehrern noch
wieder unterteilt in Grundschul-, Hauptschul-, Realschul- und
Gymnasiallehrer - zugunsten einer gewissen Fluktuation verändert werden
könnte. Warum sollte - um Schirachs Beispiel zu variieren - nicht
jemand bis zum Abitur in einem Jugendverband mitwirken, mit 22 Jahren
Sozialpädagoge sein, nach fünf oder sechs Jahren Berufserfahrung in der
Jugendarbeit oder in einem Jugendgefängnis nach einem Zusatzstudium
Lehrer werden, nach weiteren fünf oder sechs Jahren in die
Erwachsenenbildung gehen, mit etwa 40 nach einem weiteren
Fortbildungsstudium wieder an die Schule - diesmal vielleicht in einer
anderen Schulform - und mit etwa 50 in die Verwaltung gehen oder als
Leiter einer pädagogischen Einrichtung tätig werden? Und dies nicht
etwa im Sinne einer behördlich festgeschriebenen Laufbahn-Karriere,
sondern einer individuellen freiwilligen, aber auch vom Dienstherrn zu
honorierenden beruflichen Mobilität.
Dagegen
sprechen heute
eigentlich nur die äußeren Bedingungen: die Laufbahn- und
Besoldungsvorschriften, das Interesse der Administration an
kalkulierbarem Personal und sicher auch das gewerkschaftliche Interesse
an klaren Dienststellenbeschreibungen und an einer eindeutigen Klientel
für Gehaltsforderungen. Gewiß gibt es solche Mobilität in
eingeschränkter Form auch heute: Ein Hauptschullehrer kann sich zum
Realschullehrer, dieser zum Gymnasiallehrer fortbilden, und einigen
wenigen gelingt es, in der Schulverwaltung tätig zu werden.
Jedenfalls
lehrt uns unsere Erfahrung, daß bestimmte pädagogische Tätigkeiten im
allgemeinen optimal in einem bestimmten Lebensalter erledigt werden
können. Aufgaben, die eines besonderen persönlichen Einsatzes bedürfen,
können eher von Jüngeren als von Älteren erfüllt werden. Es gibt heute
an unseren Schulen Kollegien, deren Mitglieder kaum jünger als 50 sind.
Es fehlen die Jüngeren, die z.B. engagiert und mit Spaß an der Sache
einen Schullandheimaufenthalt arrangieren würden. Fortbildung durch
Berufswechsel hätte jedenfalls eine andere Qualität als jene
Fortbildung, die der Dienstherr heute wünscht und die die Fixierung auf
den pädagogischen Teilberuf nur verstärkt. "Fortbildung" in diesem
242 Sinne
ist nämlich nicht, wenn ein Geschichtslehrer an einem
Historiker-Kongreß teilnimmt, sondern wenn er unter seinesgleichen
bleibt und mit ihnen über neue methodische Finten des Unterrichts
nachsinnt.
Schirachs Forderung nach einer
Mobilisierung der
pädagogischen Berufe, nach der Aufhebung ihrer bornierten
Arbeitsteiligkeit ist auch heute noch einer ernsthaften Diskussion
würdig. Aber unter dem Stichwort der "Einheit der Erziehung" wollte er
mehr, nämlich die Integration dieser Berufe mit Parteitätigkeiten unter
der leitenden Idee der übergreifenden nationalsozialistischen
Weltanschauung. Darin steckt wie in anderer Weise bei Hitler und Krieck
die Wunschvorstellung eines Erziehungsstaates, dessen Realität im
ganzen nach den gleichen weltanschaulichen Prinzipien gestaltet werden
soll. Die in der HJ entwickelten Erziehungsmaßstäbe sollten auch auf
die Schule übergreifen und dann über das in den Adolf-Hitler-Schulen
und der "Akademie für Jugendführung" geprägte Führerkorps im ganzen
Volk, in Staat und Gesellschaft wirksam werden. Das war nicht nur im
Sinne einer Anpassung gemeint, einer ständigen Reproduktion des
Bestehenden, sondern durchaus auch im Sinne einer Erneuerung bzw.
Verbesserung der in der Partei und ihren Organisationen anzutreffenden
Haltungen und Gesinnungen, in der Art eines "jungen
Nationalsozialismus" mit durchaus elitären Zügen. Ähnlich sah sich
damals die noch junge SS, mit der Schirach nicht zuletzt deshalb auch
zu kooperieren versuchte.
Der Krieg ließ - außer in
Ansätzen im
Rahmen der KLV-Lager - diese "Einheit der Erziehung" nicht Wirklichkeit
werden. Vieles spricht dafür, daß sie gescheitert wäre. Zum einen wäre
die Massenorganisation der HJ gar nicht in der Lage gewesen, einen
derartig hohen Anspruch einzulösen. Sie war eine Jugendorganisation,
und wollte sie als solche erfolgreich sein bzw. bleiben, mußte sie sich
im wesentlichen auf ihre eigenen Probleme konzentrieren. Zum anderen
beruhte die Anziehungskraft der HJ - wie auch der Jugendbewegungen vor
ihr - gerade darauf, daß sie weder Elternhaus noch Schule war, was in
Schirachs Rede ja auch unfreiwillig deutlich wurde, wenn er auf das
unterschiedliche Verhalten der Jungen in Schule und HJ-Heim hinweist.
Vermutlich hätte sich auf die Dauer auch in den Adolf-Hitler-Schulen
das übliche "Pennäler-Verhalten" eingestellt, wenn dieser Schultyp
243 sich
erst einmal bürokratisch auf Dauer gestellt hätte. Die Erziehungsutopie
von der "Einheit der Erziehung" ignorierte den arbeitsteiligen
Charakter der damaligen Gesellschaft. Verstand man in diesem
arbeitsteiligen Rahmen die Schule primär als Stätte des Unterrichts -
wofür auch Baeumler plädierte -, dann war auch das "Schulleben" auf
diese Aufgabe auszurichten, und ein demgegenüber gleichberechtigter
oder gar übergeordneter pädagogischer Anspruch, wie ihn die HJ vertrat,
hätte diese Aufgabe nur beeinträchtigen können. In den ersten Jahren
hat es derartige Konflikte auch wiederholt gegeben, aber im
wesentlichen hatte sich dabei die Schule gegen die HJ durchgesetzt. Als
nun am Ende der 30er Jahre die Schulleistungen gesunken waren, während
gleichzeitig der Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs zunahm, hatte
Schirachs Anspruch auf die Schule keine Chance mehr, zumal seiner HJ
und ihrer schul- und lehrerfeindlichen Agitation öffentlich eine
Mitschuld an dieser Entwicklung angelastet wurde.
Während
Baeumler zu Recht zwischen den Erziehungsfunktionen von Familie, Schule
und HJ strikt unterschied, weil sie nicht auseinander ableitbar seien,
plädierte Schirach im Gegenteil für eine Art von HJ-Pädagogisierung der
Schule. Dabei übersah er, was Baeumler ausdrücklich betonte, daß weder
dem Schüler noch dem Lehrer damit gedient ist, wenn die Lehrer sich als
"Freunde" oder "Kameraden" der Schüler verstehen und damit die nötige
Distanz aufheben, die nicht nur darin begründet liegt, daß die Lehrer
"das Pensum schon hinter sich haben", wie Baeumler es ausdrückte,
sondern daß der Lehrer auch über die Vergabe von Berechtigungen
entscheidet, auf die der Schüler angewiesen ist. Der Lehrer tritt also
dem Schüler nicht nur als Person gegenüber, sondern auch als
Repräsentant einer im Prinzip unpersönlichen Institution, die als
solche Forderungen an den Schüler stellt.
Die HJ im
Kontext der Jugendgeschichte
Bisher
habe ich das HJ-Konzept im einzelnen einer kritischen Würdigung zu
unterziehen versucht. Dieses Kapitel soll nun der Frage nachgehen, wie
die HJ im Zusammenhang
244
der
Jugendgeschichte
unseres Jahrhunderts zu sehen ist. Die Historiker diskutieren diese
Frage u.a. unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität bzw. der
Diskontinuität. War die HJ im wesentlichen eine plausible
Weiterentwicklung von Strömungen und Tendenzen, die längst vorher
eingesetzt hatten, die sich in ihr nur fortsetzten bis auf unsere Tage?
Oder bedeutet sie einen Bruch innerhalb einer solchen Kontinuität, so
daß diese erst nach 1945 wieder fortgesetzt werden konnte? Die
Beantwortung dieser Frage ist auch für die politisch-moralische
Beurteilung jener Zeit von großer Bedeutung. Die Problematik der
Mitschuld der Deutschen an der politischen Kriminalität des
Nazi-Regimes stellt sich anders dar, wenn wir die NS-Herrschaft als
einen Bruch mit der damaligen deutschen Tradition, vielleicht sogar als
einen Überfall auf politsch Ahnungslose ansehen, als wenn wir von der
Vermutung einer Kontinuität ausgehen, also davon, daß die NS-Zeit ihre
plausible Vorgeschichte hatte und in gewisser Weise Vorgeschichte für
die Entwicklung nach 1945 gewesen ist.
Ich will
dieses Problem
hier nicht im allgemeinen aufgreifen, sondern bezogen auf unser Thema,
die Organisation der Jugend. Schon an mehreren Stellen war deutlich
geworden, daß die HJ nicht einfach "vom Himmel gefallen" ist, sondern
das allermeiste, was für sie charakteristisch war, gar nicht selbst
erfunden, sondern vorgefunden hatte.
Das hängt mit
der Tatsache
zusammen, daß gegen Ende des vorigen Jahrhunderts "Jugend" als eine
eigenständige soziale Gruppe ins Bewußtsein der Öffentlichkeit trat -
ähnlich wie "die" Arbeiter oder "die" Frauen. Das 19. Jahrhundert
kannte nur Kinder und Erwachsene. Die pädagogischen Bemühungen waren
auf die Kinder konzentriert, vor allem auf die der unteren Schichten,
der Proletarier. Die des Bürgertums oder gar des Adels schienen keiner
besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit zu bedürfen, für ihr Aufwachsen
waren ihre Familien zuständig. Die Proletarierkinder aber hatten einen
solchen familären Rückhalt kaum, deshalb fielen sie auf. Sie gingen
nicht oder sehr unregelmäßig zur Schule, weil sie so früh, wie es ihre
körperliche Verfassung zuließ, zum Lebensunterhalt beitragen mußten.
Für diese Kinder die längst eingeführte Schulpflicht auch praktisch
durchzusetzen und die Kinderarbeit abzuschaffen, war ein wesentliches
sozialpolitisches und schulpädagogisches Ziel dieser Zeit.
245 "Die
Jugendlichen" traten erst gegen Ende des Jahrhunderts ins öffentliche
Bewußtsein. Die sich vergrößernden Industriestädte hatten eine
zunehmende Zahl jugendlicher Arbeiter angezogen, die mit ihren Eltern
oder allein in speziellen Wohngebieten wohnten. Die jugendlichen
Arbeiter wurden dadurch öffentlich auffällig, daß sie über eigenes Geld
verfügten, das sie in ihrer Freizeit ausgeben konnten, und daß sie in
ihren Wohnvierteln charakteristische Formen subkulturellen Verhaltens
entwickelten, die das Bürgertum als bedrohlich empfand, das durch die
immer größer und mächtiger werdende Arbeiterbewegung (Gewerkschaften
auf der einen Seite, SPD auf der anderen) sich ohnehin an die Wand
gedrückt fühlte; denn immerhin forderte diese Bewegung eine
revolutionäre Umgestaltung der "kapitalistischen" in eine
"sozialistische" Gesellschaft. Die relativ unkontrollierte Freizeit
dieser jungen Arbeiter in den Griff zu bekommen, wurde bis zum Ersten
Weltkrieg ein vorherrschendes pädagogisches Thema. Dabei wurden
gleichsam "Zuckerbrot" und "Peitsche" kombiniert: die "Peitsche" war
die Einführung der modernen Fürsorgeerziehung in Heimen, die seit 1900
in Preußen verhängt werden konnte, auch wenn der Jugendliche gar keine
Straftat begangen hatte, aber zu "verwahrlosen" drohte. Das
"Zuckerbrot" war die Einführung der "Jugendpflege" vor dem Ersten
Weltkrieg, also der Jugendarbeit im heutigen Sinne. Unsere moderne
Jugendarbeit geht also zurück auf Versuche des Staates, die Freizeit
der Arbeiterjugendlichen "sinnvoll" zu gestalten, sie von der Straße zu
holen, vor "Verwahrlosung" zu bewahren und vor allem auch von der
revolutionären Arbeiterbewegung fernzuhalten.
Bis
zum Ersten
Weltkrieg hatte sich die Arbeiterschaft - und das galt auch für die
jugendlichen Arbeiter - ausdifferenziert. Einem Großteil von
angelernten, kaum ausgebildeten Arbeitern stand eine zunehmende Zahl
qualifizierter und somit auch selbstbewußter Facharbeiter gegenüber,
die für ihre Betriebe wichtig geworden waren. Diese Gruppe der jungen,
aufstiegsorientierten Facharbeiter war es, die schon vor dem Ersten
Weltkrieg die Arbeiterjugendbewegung gründete und - wenn auch nur in
Minderheiten - bis 1933 in verschiedenen Jugendorganisationen der SPD
und der Gewerkschaften zu finden war.
Diese
Jugendbewegung war von ihrem Ursprung her eine Organisation zur
Durchsetzung wirtschaftlicher und Bildungs-
246 interessen
junger Arbeiter und Lehrlinge. Da sie einerseits möglichst viele
ihresgleichen für eine starke Organisation gewinnen, andererseits aber
auch die Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam machen wollte,
erfanden ihre Mitglieder bestimmte Formen der öffentlichen
Selbstdarstellung, nämlich Kundgebungen wie die schon erwähnten
"Jugendtage". Diese Formen der öffentlichen Präsentation hatte die
Arbeiterjugend natürlich von der Arbeiterbewegung der Erwachsenen
übernommen. Massenaufmärsche und Massendemonstrationen beruhten auf der
Erfahrung, daß nur so die Öffentlichkeit auf die eigenen Probleme und
Forderungen aufmerksam gemacht und daß zugleich das kollektive
Selbstbewußtsein in den eigenen Reihen gefestigt und gesteigert werden
konnte. Neu war also nicht die Massenkundgebung selbst, sondern daß
auch eine Jugendorganisation sich ihrer bediente, und Schirach übernahm
diese Form der Selbstdarstellung zum ersten Mal bei dem schon erwähnten
"Jugendtag von Potsdam" im Oktober 1932.
Nicht
minder bedeutsam
für unser Thema war aber die Entstehung der bürgerlichen
Jugendbewegung
zu Beginn unseres Jahrhunderts. Der "Wandervogel" - offiziell 1901
gegründet -entwickelte und praktizierte ein eigenständiges
"Jugendleben", wie es die HJ - zumindest im Hinblick auf die äußeren
Formen - dann aufgriff. Während bis dahin die Überzeugung herrschte,
daß "Erziehung" nur dort stattfinden könne, wo Erwachsene auf
Kinder
und Jugendliche einwirken könnten, und daß deren Aufwachsen möglichst
umfassend von Erwachsenen beobachtet und kontrolliert werden müsse -
deshalb auch das Unbehagen über die relativ unkontrollierte Freizeit
der Arbeiterjugend! -, erhoben nun junge Menschen aus bürgerlichen
Familien den Anspruch, zumindest bis zu einem bestimmten Ausmaße sich
selbst erziehen zu können und sogar zu müssen. Sie taten dies, indem
sie sich in Gleichaltrigen-Gruppen zusammenfanden, in Distanz zur
großstädtischen Zivilisation traten und statt dessen auf Wanderungen
und Fahrten die Natur in Gestalt von Wäldern, Wiesen, Seen und Bergen
entdeckten, indem sie in Distanz zur offiziellen Mode sich bequem
kleideten, eigene Lieder und einen eigenen Jargon entwickelten; bei den
Liedern handelte es sich im wesentlichen um alte, weitgehend unbekannt
gewordene Volkslieder, die Hans Breuer, einer der Wandervogel-Führer,
als Liederbuch unter dem Titel "Zupfgeigen-
247 hansl"
schon vor dem Ersten Weltkrieg herausgab. Dieses Buch wurde ein
Bestseller und bis 1933 über eine Million Mal verkauft.
Heute
nennen wir eine solche Gruppierung wie den Wandervogel eine "Subkultur"
oder "Teilkultur", deren vielfältige Erscheinungsformen sind uns
inzwischen selbstverständlich geworden. Damals handelten die
jugendlichen Gruppen aus ihrem spontanen Erleben heraus, nicht um eine
neue pädagogische Theorie zu verwirklichen, die Einflüsse von
Erwachsenen suchten sie möglichst fernzuhalten; gleichwohl fühlten sie
sich ein wenig elitär, weil sie auch lebensreformerische Forderungen
wie Alkohol- und Nikotinabstinenz zu realisieren trachteten. Sie
konnten jedoch nicht wissen, daß sie mit ihren relativ harmlosen
Freizeit-Erfindungen eine Entwicklung einleiteten - bzw. ihr Ausdruck
gaben -, die die Stellung der Jugendlichen in der Gesellschaft
nachhaltig verändern sollte. Diese Veränderungen sollen nun knapp
skizziert werden, wobei die besondere Rolle der HJ in diesem
historischen Prozeß im Blick bleiben soll; sie lassen sich mit den
Begriffen "Vergesellschaftung", "Pluralisierung" und
"lndividualisierung" darstellen.
Vergesellschaftung
der Jugendphase
"Die
Jugend" als besondere soziale Gruppe entsteht also um die
Jahrhundertwende. Vorher gab es natürlich auch schon jugendliche
Menschen, aber sie wurden nicht als besondere soziale Gruppe
klassifiziert. Das konnte vielmehr erst geschehen, als man "den"
Jugendlichen gemeinsame Merkmale zuschrieb, die sie von anderen
sozialen Gruppen unterscheidbar machte. Man kann diese Merkmale unter
dem Stichwort der "Pädagogisierung" zusammenfassen. Das Jugendalter
wird nun definiert als eine eigentümliche Lebensphase, die in
besonderer Weise produktiv und für die weitere Lebensgeschichte von
spezifischer Bedeutung ist, andererseits aber auch als eine Phase, die
besonders gefährdet ist. Die Gefährdung wurde vor allem in der
unkontrollierten Freizeit der Arbeiterjugend gesehen, die produktive
Seite in den Selbsterziehungsversuchen der bürgerlichen Jugendbewegung.
Die pädagogische Definition des Jugendalters enthielt also von
vornherein zwei Seiten: das Bemühen um eine
248
dem
Alter angemessene Förderung, aber auch um eine besondere soziale
Kontrolle. Solange sich die Jugendlichen in den von Erwachsenen
geprägten sozialen Feldern bewegten - in der Familie, am Arbeitsplatz,
in der Schule, beim Militär -, konnte diese besondere Kontrolle als
entbehrlich erscheinen. In der Freizeit jedoch waren die Jugendlichen
einer solchen Kontrolle nur noch begrenzt unterworfen. Hier entstanden
vielmehr Spielräume der Selbstbestimmung unter Gleichaltrigen.
Ausgangspunkt
der damals zum öffentlichen Thema werdenden "Jugendfrage" war also die
Freizeit. Als im Jahre 1891 der arbeitsfreie Sonntag eingeführt wurde,
gab es in bürgerlichen Kreisen - unter Professoren, Pfarrern, Lehrern,
Ärzten, Unternehmern - eine Diskussion darüber, ob die erwachsenen
Arbeiter diese freie Zeit nicht zu ihrem Schaden, nämlich zur
Trunksucht oder zur politischen Rebellion nutzen würden, und es gab
alle möglichen Programme, wie man sie dazu bewegen könne, ihre Freizeit
auch "sinnvoll" zu verbringen - nämlich im Sinne bürgerlich-kultureller
Leitvorstellungen. Diese Sorge galt natürlich erst recht den
Jugendlichen. Freizeit war nicht nur einfach ein Stück Zeit, mit der
man tun konnte, was man wollte. Sie wurde schnell auch zu einem
eigentümlichen Raum, in dem sich die Regeln des Marktes durchsetzten -
gegen die Regeln des Militärs, der Schule oder der Fabrik. Wie
bescheiden zunächst auch die finanziellen Möglichkeiten für die meisten
Menschen sein mochten, sie erlebten ihre Freizeit als Zeit persönlicher
Freiheit, in der man wählen
konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten
und Angeboten. Wählen konnte man aber nicht nur zwischen Konsumgütern,
sondern auch zwischen politischen und weltanschaulichen Positionen, und
für diese konnte man nun auch geworben werden. Der Zugriff auf die
Freizeit der anderen - auch und gerade der Jugendlichen - wurde schon
vor dem Ersten Weltkrieg und erst recht danach zu einem Hauptthema der
Öffentlichkeitsarbeit aller möglichen Verbände und Organisationen. Die
Freizeit der anderen rief nicht nur ökonomische, sondern auch
weltanschauliche und politische Interessen auf den Plan, und die
Monopolisierung der Jugendarbeit durch die HJ war eine Kombination von
Freizeitkontrolle, Ausschalten anderer Wettbewerber und des Versuches,
die Freizeitaktivitäten im gewünschten Sinne "sinnvoll" zu kanalisieren
- alles Absichten, die schon vor dem Ersten Weltkrieg erkennbar sind.
Rück-
249 blickend muß man sagen,
daß die zunehmende
Freizeit in Verbindung mit steigendem Wohlstand und mit der
Massenproduktion technisch hochwertiger Gebrauchsgüter - vom Auto bis
zum Fernseher - den Charakter einer kulturellen Revolution gehabt hat,
die unsere menschlichen Beziehungen, unsere Einstellungen und
Verhaltensweisen, unsere Normen und Werte entscheidend verändert hat.
Die
neue Aufmerksamkeit für das Jugendalter um die Jahrhundertwende zeigte
sich in verschiedenen Formen. Die sogenannte "Jugendgerichtsbewegung"
wollte den jugendlichen Straftäter anders behandeln als den
erwachsenen, nämlich "erzieherisch". Diese Bestrebungen fanden Ausdruck
im Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923, das in wesentlichen Punkten bis
1991 galt und dann durch das "Kinder- und Jugendhilfegesetz" (KJHG)
abgelöst wurde. In den schon erwähnten Fürsorgeerziehungs-Anstalten
versuchte man, sogenannte "verwahrloste" Jugendliche - die fast
ausschließlich aus der Arbeiterschaft kamen - nach den Prinzipien
bürgerlicher Wohlanständigkeit umzuerziehen. Die Reformpädagogik
richtete ihre Aufmerksamkeit auf die besonderen Bedürfnisse, Probleme
und Schwierigkeiten jugendlicher Menschen, und die Wissenschaft wollte
auch nicht zurückstehen und leistete ihren Beitrag zum Thema in Gestalt
einer zunächst vor allem psychologisch orientierten Jugendkunde.
Überwölbt
wurden alle diese Einzelbestrebungen durch eine Art von öffentlicher
Philosophie, den sogenannten "Jugendkult". Er entstand um die
Jahrhundertwende vor allem in Kreisen des protestantischen
Bildungsbürgertums. Das Jugendalter wurde gepriesen als Garant einer
besseren Zukunft. Während die Erwachsenen zu sehr verstrickt seien in
vordergründigem Materialismus, in wirtschaftlichen, finanziellen und
politischen Sonderinteressen, seien Jugendliche von solchen
"Verunreinigungen" des Charakters noch befreit; deshalb könnten sie
sich große und edle Ziele setzen, Ideen und Haltungen entwickeln, die
als sittliche Erneuerung später dem ganzen Volk zugute kommen könnten.
Kein geringerer als Nietzsche gehörte zu den Propagandisten einer
solchen Kulturkritik, die die bürgerliche Welt verdammten, zugleich
aber ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft auf die Jugend
projizierten.
250
Hintergrund
dieses
Jugendkultes waren die besonders vom Bildungsbürgertum als unangenehm
und bedrohlich empfundenen sozialen und kulturellen Veränderungen, die
seit 1870 wegen der rapiden Industrialisierung entstanden waren; sie
brachten den gesellschaftlichen Status aller Schichten der Bevölkerung
in Bewegung, was - wovon noch die Rede sein wird -zur massenhaften
Gefährdung von Identität führte. So verlor das humanistisch orientierte
Bildungsbürgertum mehr und mehr seine Position als moralischer
"Sinn-Lieferant" und wurde überrundet durch ein neues
Wirtschaftsbürgertum, das sich auch an den Hochschulen nicht mehr an
den humanistischen Idealen orientierte, sondern an der modernen Technik
und an den damit gegebenen kapitalistischen Erfolgschancen - ganz zu
schweigen von der als bedrohlich empfundenen, immer größer und
mächtiger werdenden Organisation der Arbeiterbewegung.
Im
Sog
dieser kulturkritischen Strömung etablierten sich spezifische Konzepte
der Jugenderziehung, z.B. in Gestalt der "Landerziehungsheime". Fernab
von der städtischen Zivilisation und den von ihr ausgehenden
"Gefährdungen" sollten junge Menschen sich geistig und sittlich bilden
können. Gustav Wyneken wollte gar in seinem Landerziehungsheim die
"schädlichen" Einflüsse der Erwachsenen weitgehend ausschalten und
setzte auf eine eigentümliche "Jugendkultur", gemäß der seine Schüler
in Gemeinschaft miteinander, mit ihren Lehrern und in
Auseinandersetzung mit den großen geistigen Ideen ihre Bildung in die
eigenen Hände und Köpfe nehmen sollten.
Nach dem
verlorenen
Ersten Weltkrieg bekam dieser Jugendkult neue Impulse. Nun setzten sich
auch politische Hoffnungen auf die "junge Generation", daß sie nämlich
das deutsche Volk wieder zu neuem Ansehen führen werde. Der Höhepunkt
dieses Jugendkultes verschmolz mit dem Aufstieg der Hitlerbewegung, und
ohne diese jugendzentrierte Grundstimmung ist der Enthusiasmus, der
zunächst von der HJ ausging und ihr zugleich entgegenkam, nicht zu
verstehen.
Der Jugendkult ging von Erwachsenen aus,
und er
bezweckte nicht etwa revolutionäre Neuerungen, sondern im Gegenteil die
im wörtlichen Sinne "Wieder-Herstellung" alter Verhältnisse. Das
Bildungsbürgertum wünschte sich die Wiederge-
251 burt
seiner alten humanistischen Werte und damit natürlich des Ansehens
derer, die diese Werte öffentlich verkündeten. Nach 1918 erwartete das
Bürgertum von der Jugend nicht etwa die unbefangene Gestaltung der
neuen demokratischen Möglichkeiten, sondern im Gegenteil die
Wiederherstellung jenes Deutschlands, wie es vor der militärischen
Niederlage war. Die HJ dagegen verstand sich als revolutionäre
Jugendbewegung, die zwar auch das Ansehen des deutschen Volkes
wiederherstellen wollte, aber eben nicht im Sinne der alten
humanistischen Werte oder jenes alten Deutschlands der
Klassengegensätze und der Adelsprivilegien, sondern mit einem neuen, in
die Zukunft weisenden Konzept - das allerdings wie auch bei Krieck
letztlich unklar blieb.
Nur am Rande sei vermerkt,
daß der
Jugendkult den Erziehungsberufen eine neue Bedeutung gab. Insofern
waren seine Erfinder zugleich auch seine Nutznießer. War der Lehrer
z.B. früher eher so etwas wie ein wenig angesehener "Steiß-Trommler",
der das ungebärdige Jungvolk in die Fußstapfen der Väter zu treiben
hatte, so arbeitete er nun an der großen Aufgabe der Zukunft des ganzen
Volkes. Die hohe Aufmerksamkeit, die den jungen Menschen
entgegengebracht wurde, ließ auch diejenigen im neuen Glanze
erstrahlen, die von berufswegen mit ihnen zu tun hatten.
Aber
in
unserem Zusammenhang ist etwas anderes wichtiger. Wir sehen um die
Jahrhundertwende das Jugendalter als eine besondere, pädagogisch
definierte soziale Größe entstehen, und wir sehen heute sein
Verschwinden. Diesen Prozeß möchte ich die Vergesellschaftung des
Jugendalters nennen, und er bedarf einer Erklärung.
In
dem Maße,
wie die Jugend ins Blickfeld der Öffentlichkeit trat, wurde sie dem
Zugriff von Erwachsenen und ihrer Organisationen ausgesetzt. Die andere
Seite der Fürsorge für die Jugend war ein ständiger "Kampf um die
Jugend". Schon der Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg war solchen
politischen, antisemitischen, pädagogischen oder lebensreformerischen
Ansinnen ausgesetzt, und ein Hauptzweck der staatlich subventionierten
Jugendpflege damals war, die Arbeiterjugendlichen von den
Organisationen der Arbeiterbewegung fernzuhalten. In der Weimarer Zeit
gab es kaum einen Erwachsenenverband, der sich nicht eine
Jugendabteilung zu halten versuchte. Die möglichst vollständige
Mobilisierung
252
der jungen
Generation für eigene Zwecke
war keine Erfindung der HJ, sondern längst vorher angelegt. Die HJ
trieb diese Entwicklung jedoch durch Massenmobilisierung und durch
weitgehende Monopolisierung auf den Höhepunkt, danach war eine
Steigerung nicht mehr möglich. Nach 1945 war der Jugendkult wegen
seiner Inanspruchnahme durch die HJ verbraucht, erhalten blieb jedoch
zunächst noch die Pädagogisierung des Jugendalters, d.h. die öffentlich
anerkannte und legitimierte Definition "der'' Jugend als einer
Lebensphase, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit und Kontrolle
bedürfe. Schon in den 50er Jahren vermischten sich die Verhaltensstile
von jungen Arbeitern und Bürgerkindern weitgehend, wie der Soziologe H.
Schelsky in seinem 1957 erschienenen Buch "Die skeptische Generation"
feststellte. Was die HJ pädagogisch zu organisieren und zu erzwingen
versuchte, die "Volksgemeinschaft" innerhalb der jungen Generation im
ganzen, setzte sich also in den 50er Jahren in anderer Weise von selbst
durch - nicht zuletzt durch die industrielle Massenproduktion von auf
die junge Generation zugeschnittener U-Musik und einschlägiger Moden.
Schelsky hatte in dem genannten Buch aber noch eine andere wichtige
Feststellung getroffen: daß nämlich das Jugendalter als besondere
soziale Gruppe im Verschwinden begriffen sei und daß es künftig nur
noch den Status der Kindheit und des Erwachsenen geben werde. In den
60er und 70er Jahren vollzog sich dieser Prozß dann schnell. Die
Jugendlichen eroberten sich die wichtigsten Erwachsenenprivilegien -
Freizeitautonomie und das Recht auf Sexualität -, die pädagogische
Definition des Jugendalters mußte Zug um Zug aufgegeben werden. Es war
ein Sieg des Marktes, vor allem des Freizeitmarktes über die
traditionelle Pädagogik. Die Jugendlichen sind heute kaum noch ein
Objekt von "Erziehung" im überlieferten Sinne - nicht einmal mehr in
den Schulen -, sie gelten als junge Erwachsene, die zwar noch ihrem
Alter entsprechende spezifische Probleme haben, aber nicht mehr in
erster Linie pädagogisch definiert werden. Man könnte sagen, daß sich
das Jugendalter von der Erziehung emanzipiert hat. Wie jeder
Fortschritt - wenn man ihn denn dafür hält - hat aber auch dieser seine
Schattenseiten. Verschwunden ist nämlich auch das öffentliche Interesse
an der Jugend. Galt z.B. noch nach dem Zweiten Weltkrieg
Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter allen Erwachsenen als eine
pädagogische Katastrophe, die mit allen verfügbaren Mitteln
253 und
so schnell wie möglich beseitigt werden müsse, so ist sie heute eher
ein statistisches Problem, - jedenfalls keines, daß die Pädagogen oder
gar die Politiker aus ihren Sesseln reißt. Noch bis in die 60er Jahre
galt die Altersstufe der Jugend als Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Davon ist längst keine Rede mehr.
Welche Rolle
spielte die HJ in diesem historischen Prozeß von der Entstehung des
Jugendalters bis zu seinem Verschwinden?
Die
Emanzipation der Jugend von ihren traditionellen Erziehungsmächten und
damit ihre Vergesellschaftung stellt sich uns heute dar als ein Prozeß,
der über Jahrzehnte im Rahmen einer pädagogischen Begleitung ablief,
die nun überflüssig geworden ist, weil die Sache zu ihrem historischen
Ende gekommen ist. Diese pädagogische Begleitung hatte immer die
doppelte Bedeutung von verständnissuchender Ermutigung einerseits und
Kontrolle andererseits. Hätte es diese Begleitung in Gestalt der
Jugendbewegungen, der Jugendpflege, der Jugendverbände einschließlich
der HJ nicht gegeben, so wäre die Emanzipation sehr abrupt und zu einem
Zeitpunkt - vor dem Ersten Weltkrieg - erfolgt, wo weder die
Erwachsenen noch die Jugendlichen noch die mit Jugend befaßten
Institutionen darauf vorbereitet gewesen wären. Über mehrere
Generationen hinweg konnten so Erfahrungen gesammelt werden, konnte in
den Gleichaltrigengruppen experimentiert werden.
Die
HJ ist in
diesem historischen Kontext zu sehen, sie trieb den öffentlichen
Zugriff der Erwachsenen auf die junge Generation durch Monopolisierung
und Verpflichtung auf die Spitze. Auch die Doppelbödigkeit von Fürsorge
einerseits und sozialer Kontrolle andererseits behielt sie bei, wobei
der Akzent in besonderer Weise auf der Kontrolle lag.
Das
Konzept des "Jugend-Staates" war jedoch nicht zukunftsträchtig, sondern
eine rückwärtsgewandte romantische Vision, eine soziale Fiktion wie die
Idee der Volksgemeinschaft, deren Ableger sie ja auch nur war.
Jedenfalls hatte sie nicht die Perspektive des Endes der Jugendphase im
Blick, sondern im Gegenteil ihre Dauerstellung.
254
Pluralisierung
Moderne
demokratische Industriegesellschaften sind pluralistisch verfaßt. Das
gilt nicht nur für die politische Ebene, für politische Parteien, die
sich in Parlamenten zusammenfinden, oder für vielfältige
Interessengruppen, die sich in einem System von Vereinen und Verbänden
ordnen. Vielmehr gilt der Pluralismus auch für das kulturelle
Alltagsleben im weitesten Sinne. Nicht nur Interessen, sondern auch
Werte und Normen, nach denen die Menschen ihr Leben ausrichten, dürfen
verschieden, also pluralistisch sein. Dies ist uns heute
selbstverständlich geworden. Aber es hat Jahrzehnte gedauert, bis der
kulturelle Pluralismus sich durchsetzen konnte, der parlamentarische
hat sich sehr viel früher etabliert. Insbesondere die christlichen
Kirchen, und hier besonders die katholische, hielten zäh an ihrer
historisch gewonnenen kulturellen Hegemonie fest, z.B. an
Konfessionsschulen und überhaupt an moralischen Alltagsnormen, die
religiös fundiert waren und deshalb eigentlich nur für die jeweiligen
Glaubensanhänger verbindlich sein konnten, gleichwohl aber z.B. per
Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft zur Geltung gebracht
wurden. Die gegenwärtige Diskussion um den § 218 ist noch ein Nachklang
davon.
Als die Nazis und damit auch die HJ nach 1933
diesen
Pluralismus eindämmten und eine Alltagskultur des "gesunden
Volksempfindens" propagierten, was ein Verbot der für "undeutsch"
gehaltenen Werte und Strömungen einschloß - erinnert sei u.a. an die
Bücherverbrennung -, da fand dies breite Zustimmung in der Bevölkerung.
Tatsächlich stand die Liste dessen, was nun erlaubt bzw. verboten sein
sollte, dem recht nahe, was die Kirchen und andere konservative Mächte
auch vorher schon gefordert hatten.
Insbesondere in
Fragen der
Erziehung war Pluralismus bis in die 60er Jahre verpönt. Man ging davon
aus, daß Kinder und Jugendliche erst einmal in einem normativ
geschlossenen System heranwachsen müßten, bevor sie dann als
Herangewachsene mit anderen normativen Lebensstilen konfrontiert werden
dürften. Man nannte diese Systeme "Grundrichtungen der Erziehung".
Schon in der Weimarer Zeit, erst recht aber nach 1945 erwies sich
jedoch die Erwartung, man könne ernsthaft inmitten einer normativ
pluralistischen Gesellschaft ein davon unberührtes normativ
einigermaßen ein-
255
deutiges
Aufwachsen arrangieren,
als Illusion. Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, die allen
alles mitteilen, eben auch die von den eigenen Normen abweichenden
Lebensstile, unterhöhlten solche pädagogischen Absichten von Jahr zu
Jahr mehr. Im selben Maße wurde ein dem sich entgegen stemmender
"Jugendschutz" etwa beim Fernsehen zur Farce. Man könnte diesen Prozeß
u.a. dadurch beschreiben, daß man überprüft, was zur
"Jugendschutz-Zeit", also vor 21 Uhr, im Fernsehen in den vergangenen
Jahrzehnten gesendet werden durfte.
Pluralität - das
wurde schon
erwähnt - wird vor allem in der Freizeit erfahrbar. Erst als die
Arbeiter mehr Freizeit erhielten, als sie zur bloßen Rekreation ihrer
Kräfte benötigten, konnten sie auch in die Lage geraten, andere
politische Positionen, Meinungen, Lebensstile und Werte zur Kenntnis zu
nehmen.
Ähnlich erging es den Jugendlichen, die nun
in ihrer
Freizeit in die Öffentlichkeit traten und dort dem Wettbewerb auch
normativ unterschiedlicher Lebensstile und Lebensperspektiven
ausgesetzt wurden. Da Jugendliche anders als Erwachsene im allgemeinen
weltanschaulich noch wenig festgelegt sind, erschienen ihnen solchen
Lebensstile als jeweils individuell wählbar. Das katholisch erzogene
Mädchen konnte Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes werden, ein
evangelisch erzogener Junge konnte zum Katholizismus übertreten usw.
Oder um ein Beispiel aus der Gegenwart zu nehmen: Beide - das
katholische Mädchen wie der evangelische Junge - könnten nolens volens
in die Drogenszene geraten, die ja auch ein Teil des - wenn auch
illegalen - Freizeitmarktes ist.
Damals wie heute
waren und sind
solche Karrieren nicht die Regel. Aber sie deuten die Gefährdung an,
die jedenfalls nach Meinung der Erwachsenen von der normativen
Pluralität von Lebensstilen und Lebensentwürfen ausgeht; sie liegt
nämlich in der Wählbarkeit und damit in der Möglichkeit, das eigene
soziale Herkunftsmilieu, die bisher in der Erziehung erworbenen
politischen, weltanschaulichen und religiösen Einstellungen zugunsten
anderer auf legale Weise aufzugeben. Da kann es nicht verwundern, daß
der pluralistische Charakter der Gesellschaft, der nun auch das
Jugendalter erfaßt hatte, von vielen Erwachsenen und ihren
Organisationen nicht gerade mit Freude begrüßt wurde.
256
Vom
Standpunkt des Jugendlichen aus gesehen forderte der Pluralismus der
Werte eine individuelle Lebensplanung heraus, im Rahmen dieser Angebote
- wozu nicht zuletzt die berufliche Perspektive gehörte - eine
subjektiv plausible Lebensvision zu riskieren und danach zu leben. Das
Herkunftsmilieu garantierte weder mehr noch bestimmte es ohne weiteres
die Zukunft. Das galt durchweg für die bürgerliche Jugend, für die
proletarische zunächst nur mit Einschränkungen, weil für diese teils
aus ökonomischen, teils aus bildungspolitischen Gründen derartige
Wahlmöglichkeiten begrenzt waren. Erst als bildungspolitisch die
"Chancengleichheit" durchgesetzt war, konnten sich solche
Wahlmöglichkeiten auch in großem Stile für diese Jugendlichen eröffnen.
Dieser Zustand ist heute im wesentlichen erreicht, jedenfalls kann kaum
noch ein Arbeiterkind behaupten, es habe aus finanziellen Gründen nicht
das Gymnasium besuchen können. Innerhalb der Emanzipation der Jugend
läßt sich also eine spezifische Teilemanzipation erkennen, nämlich die
der Arbeiterjugend; sie mußte erst einmal auf das Optionsniveau der
bürgerlichen Jugend gehoben werden. Und in diesem Prozeß hat die HJ
zweifellos eine fortschrittliche Rolle gespielt, indem sie in großer
Zahl auch Mädchen und Jungen aus der Arbeiterschaft und aus der
Landbevölkerung in ihr "Jugendleben" einbezog.
Im
Hinblick auf
die mit der normativen Pluralisierung auftretenden Probleme war die HJ
jedoch rückständig bzw. unmodern. Die Neigung zur Gruppenbildung mit
Gleichaltrigen, die mit dem Wandervogel begann, resultierte aus den mit
den neuen Wahlmöglichkeiten entstandenen Orientierungsproblemen. Man
suchte sich solche Gleichaltrigen aus, bei denen man Solidarität fand,
weil sie die gleichen Probleme hatten und zu einer ähnlichen Lösung
dieser Probleme tendierten.
Überblickt man die
Jugendszene in
der Weimarer Zeit, dann erkennt man eine bunte Vielfalt von
kirchlichen, politischen, bündischen, gewerkschaftlichen
Jugendverbänden, in denen Jugendliche nach ihrer Wahl mitwirkten. Diese
Vielfalt entsprach der pluralistischen kulturellen Gesamtsituation, so
wie ein Markt sich eben auf Bedürfnisse von Menschen einzustellen
pflegt. Und wer als junger Mensch glaubte, ohne solche "pädagogische
Begleitung" zurechtzukommen, konnte sich auch fernhalten, denn die
Teilnahme an diesen Angeboten war damals wie heute freiwillig.
257 Gemessen
nun an der bereits vor 1933 erreichten, der pluralistischen
Ausgangslage entsprechenden Ausdifferenzierung der Jugendszene brachte
die HJ eine enorme Verarmung hervor. Der Versuch, die moderne
Pluralität weitgehend abzuschaffen, war von vornherein zum Scheitern
verurteilt, weil sie für eine moderne, arbeitsteilige und dadurch
hochentwickelte Gesellschaft konstitutiv ist. Die Disfunktionalität
dieses Versuches wäre auch in der NS-Zeit deutlicher geworden, wenn der
Krieg mit seinen eigenen Gesetzen und Regeln dieses Problem nicht wie
so viele andere verdeckt hätte.
Als geradezu
pädagogisch
monströs muß aber in diesem Zusammenhang der Versuch erscheinen, die
mit der öffentlichen Mobilisierung der Jugend notwendig mitgegebenen
Wahlmöglichkeiten mit einer einzigen Jugendorganisation begleiten zu
wollen, die zudem im wesentlichen auf militärähnlichen Ritualen
beruhte. Dieses Manko wurde auch schon bald erkennbar, und Schirach
versuchte mit der "musischen Wende" darauf zu reagieren. Aber was dabei
zutage trat, war allemal ärmlich im Vergleich zu dem, was vor 1933
bereits vorlag. Nicht einmal die Kirchen durften einen eigenen Beitrag
zur Jugendarbeit mehr leisten. Schirach hatte die Pluralität, den
"Markt" der Lebensstile abgeschafft zugunsten einer eindimensionalen
"Jugendwelt", in der das Nachdenken über alternative Lebensentwürfe
kaum noch Platz hatte. Man könnte fast sagen, Schirach habe mit der
Pluralität auch die gerade erst entstandene "Kulturpubertät" wieder
abgeschafft, also jene jugendliche Lebensphase, die u.a. durch das
Durchspielen alternativer Lebensentwürfe geprägt ist und durch die
Notwendigkeit, sich für einen dieser Entwürfe dann auch zu entscheiden.
Aber richtiger wäre wohl zu sagen, die HJ habe sich für die Pluralität
und die daraus resultierenden Probleme gar nicht interessiert, weil ihr
ursprüngliches Ziel die politische Mobilisierung der Jugend für die
Hitlerbewegung war und weil sie dieses Image, als das Ziel der
Machtergreifung erreicht war, nicht wieder los wurde.
Individualisierung
Das
Aufwachsen unter den Bedingungen normativer Pluralität macht
individuelle Entscheidungsfähigkeit und entsprechende
Verantwortungsbereitschaft nicht nur möglich, sondern auch nötig.
258
Pädagogisch
gesehen muß diese Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit gelernt
werden, und das ist nur in dem Maße möglich, wie im Laufe des Kindes-
und des Jugendalters die erzieherische Stellvertretung durch die
zuständigen Erwachsenen zurücktritt. Dies aber war ein schwieriger
geschichtlicher Prozeß. Zäh hielten Elternhaus und Schule noch bis in
unsere unmittelbare Gegenwart hinein an ihren Erziehungsansprüchen
fest, aber seit dem Wandervogel wurden die außerschulischen
Gruppierungen der Gleichaltrigen Übungsfelder für individuell
verantwortliches Verhalten. Die Attacken der HJ gegen die Schule müssen
auch in diesem Zusammenhang gesehen werden, nämlich als Widerstand
gegen das von der Schule, vor allem vom Gymnasium verlangte
Unterwerfungsverhalten, das selbständiges Denken und Handeln schwer
aufkommen ließ.
Es wäre einseitig zu behaupten, die
HJ habe
generell individuelles Verhalten verhindert. Zwar hat sie durch die
Zerstörung der Pluralität normative Alternativen für jugendliche
Lebensentwürfe erheblich reduziert, aber innerhalb ihrer Angebote gab
es durchaus Möglichkeiten, individuelles Verhalten und vor allem
persönliche Verantwortung zu fördern. Das galt zunächst einmal für die
zahlreichen jugendlichen Führer vor Ort, die für ihre Gefolgschaft
verantwortlich sein sollten. Gewiß geschah dies nur in einem durch die
Rituale des "Dienstes" begrenzten Rahmen, aber eine solche Beschränkung
war auch nötig, wenn Überforderung vermieden werden sollte. In welchem
Umfange kann man einen 13jährigen für kaum Jüngere verantwortlich
machen? Ausdrücklich der individuellen persönlichen Entwicklung sollten
die Angebote von "Glaube und Schönheit" sowie für die männlichen
Jugendlichen die sachorientierten Angebote der Flieger-, Motor- usw. HJ
dienen. Im Vergleich zu den anderen damaligen Sozialisationsinstanzen
Familie, Schule, Arbeitsplatz und vor allem auch der Kirchen war die HJ
erheblich fortschrittlicher im Hinblick auf die Förderung individueller
Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit. Das zeigte sich nicht
zuletzt im Kriege, wo diese Fähigkeiten vielen Jungen und Mädchen
abverlangt wurden (das Beispiel KLV wurde schon erwähnt).
Zusammenfassend
läßt sich sagen: Sieht man die HJ im historischen Prozeß der
Emanzipation des Jugendalters, dann zeigt sie in eigentümlicher
Mischung fortschrittliche und
259 rückschrittliche
Momente.
Rückschrittlich unter dem Maßstab dieses Prozesses war sie vor allem im
Hinblick auf die weitgehende Ausschaltung der Pluralität. An deren
Stelle versuchte sie ein pädagogisches Milieu zu arrangieren, das von
allen als "erziehungsfeindlich" definierten Einflüssen freibleiben
sollte - auch von Streichers "Stürmer".
In den
Kriegsjahren
verfaßte die Reichsjugendführung eine Denkschrift über
jugendgefährdende Einflüsse z.B. von Filmen und Illustrierten, die
angesichts dessen, was der Krieg sonst für Kinder und Jugendliche mit
sich brachte, reichlich betulich wirkt.
Fortschrittlich
dagegen
wirkte die HJ im Hinblick auf die Mobilisierung auch solcher Teile der
Jugend - der Mädchen, der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen, der
Landjugend -, die bisher kaum eine Chance hatten, am "Jugendleben"
teilzunehmen, und erlaubte somit auch für diese Gruppen eine relative
Emanzipation von Elternhaus und Schule, und fortschrittlich war sie
sicherlich auch im Hinblick auf die im Vergleich zu den anderen
Erziehungsinstanzen durchaus sichtbare persönliche Entscheidungs- und
Verantwortungsfähigkeit für nicht wenige Jugendliche.
Allerdings
blieb dies alles beschränkt auf die eigene Gruppe. Dem einzelnen galt
sie nur, insofern er als nützliches und notwendiges Glied der
"Volksgemeinschaft" gelten konnte. Wer einer solchen Erwartung nicht
gerecht wurde, z.B. weil er behindert war, der traf auch nicht auf das
fürsorgerische Interesse der HJ. Die damals pathetisch beschworene
"Volksgemeinschaft" hatte also nicht nur ihre rassistischen Grenzen,
insofern z.B. für Juden darin kein Platz war, ihre Solidarität mit den
schwächeren Volksgenossen war ebenfalls nicht sonderlich entwickelt,
sofern es sich nicht um schuldlos Arbeitslose oder um Kriegsverletzte
handelte. Die in der HJ geprägte Sozialvorstellung bestand nicht nur in
der schon erwähnten Reduktion aller denkbaren Sozialformen auf das
militärische Modell. Hinzu kam vielmehr die Vorstellung von der
biologischen Determiniertheit nicht nur der physischen und psychischen
Konstitution, sondern auch der sozialen Zugehörigkeit. Diese
Vorstellung schloß im Grunde eine substantielle soziale Verantwortung
aus. Der Tatsache etwa, daß der eine Jude und der andere "arischer"
Deutscher war, ließ sich nur durch "Ausgliederung" begegnen, nicht
260 etwa
durch gemeinsames
soziales Handeln produktiv gestalten. Deshalb gab es
in einem strengen Sinne des Wortes auch kein solidarisches
Handeln.
Solidarität setzt voraus, daß die "Schwäche" des anderen, die es zu
mildern gilt, als das jedem Mitglied der Solidargemeinschaft jederzeit
mögliche eigene
Schicksal angesehen werden kann. Dies wiederum setzt in
irgendeiner Weise ein Verständnis des Menschen als "Selbstzweck"
voraus. Biologistisches Denken jedoch kann weder moralisch noch
praktisch eine solche Position einnehmen; gegenüber der "Natürlichkeit"
der sozialen Gegebenheiten gibt es vernünftigerweise nur Unterwerfung,
kein auf Änderung und Milderung zielendes Handeln. Selbst die
Wohlfahrtsaktivitäten der HJ beruhten nicht auf einer regulativen Idee
sozialer Verantwortung; denn derjenige, der heute noch eine Spende in
die Sammelbüchse gegeben hatte, konnte morgen von der Gestapo abgeholt
werden, ohne daß dies der Idee der "Volksgemeinschaft" irgendwie
Abbruch getan hätte. Sozialpolitischer Aktionismus und Enthusiasmus
führen also keineswegs per se schon zu einem substantiellen Konzept von
sozialer Verantwortung, auf das man sich verlassen könnte.
261
(Leerseite)
262
Teil
3: Fazit
263
(Leerseite)
264
6.
Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität
Zu
den bis heute beunruhigenden Aspekten der NS-Herrschaft gehören vor
allem zwei Phänomene: Das bis dahin in der modernen deutschen
Geschichte beispiellose und insofern nicht leicht voraussehbare Maß an
politischer Kriminalität einerseits und die hohe Akzeptanz dieses
Regimes in der deutschen Bevölkerung andererseits. Zur Erklärung beider
Phänomene gibt es bis heute keine schlüssige, lückenlose Deutung.
Möglich sind offenbar nur jeweils begrenzte Erklärungen aus ebenso
begrenzten wissenschaftlichen Perspektiven.
Als
Pädagoge möchte
ich in diesem ersten Fazit eine ebenfalls begrenzte Erklärung versuchen
für das Phänomen der Akzeptanz - und zwar mit einem Begriff, der schon
mehrfach aufgetaucht war: Identität. Exemplarisch für eine Vielzahl von
Menschen, die Hitler gefolgt sind, läßt sich dieses Problem beschreiben
an den drei Männern, die in dieser Arbeit auch biographisch
ausführlicher vorgestellt wurden: Krieck, Baeumler und Schirach. Was
hat sie, die in der NS-Zeit an herausragender Stelle tätig waren und
die doch gerade auch in ideologischen Fragen so wenig miteinander
gemein hatten, in die Arme der Hitler-Bewegung getrieben?
Vordergründig
liegt die Antwort auf der Hand: Schirach war mit 17 Jahren fasziniert
von Hitler und folgte ihm wie ein Jünger; Baeumler wollte - wie er
später sagte - nicht länger abseits stehen und hielt Hitlers Wahlsieg
für eine Volksabstimmung; Krieck war verbittert über seine Erfahrungen
in und mit der Republik und hoffte, zusammen mit der Nazi-Bewegung
seine völkisch-pädagogischen Vorstellungen realisieren zu können.
265 Wenn
wir aber etwas genauer hinsehen, zeigt sich, daß solche individuellen
Erklärungen nicht ausreichen. Schließlich gab es sehr viele Menschen,
die Hitler begeistert gefolgt sind. Dafür hatten sie manche
vordergründigen Anlässe, z.B. Hitlers Versprechen, die Arbeitslosigkeit
und andere Nöte der Zeit zu beenden. Aber das allein würde höchstens
einen Wahlerfolg oder die Bereitschaft zur Gefolgschaft erklären, nicht
aber die massenhafte, teilweise rauschhafte Emotionalität. Hitler muß
also seine Anhänger in einer tieferen Dimension angesprochen haben. Ich
wage dazu folgende These und möchte sie in diesem letzten Kapitel
begründen: Die Menschen, die Hitler folgten, waren auf der Suche nach
ihrer verlorenen Identität, und Hitler versprach, sie ihnen
zurückzugeben.
"Identität" meine ich nicht im Sinne
einer der
bekannten Identitätstheorien. Diese sind durchweg psychologischer
Herkunft, viel später entstanden und beziehen sich deshalb auf andere
historische Situationen. Ich folge hier überhaupt keiner besonderen
Theorie, sondern verbleibe im alltagssprachlichen Erfahrungshorizont.
Dann stellt sich Identität als ein bedeutsames soziales Phänomen dar,
das vom Individuum her gesehen aus der subjektiv befriedigenden Antwort
auf einige wenige existentielle Grundfragen resultiert, z.B.: Wer bin
ich? Zu wem gehöre ich? Wozu bin ich da? Holt man sich die Antworten
daraus aus der NS-Ideologie, dann bekommt deren konfuse, irrationale
und widersprüchliche Kontur einen Sinn. Wer bin ich? Ein Deutscher. Zu
wem gehöre ich? Zur deutschen Volksgemeinschaft. Wozu bin ich da? Um in
dieser Volksgemeinschaft meine Pflicht zu tun. Diese Antworten
schließen ein, daß der Betreffende mit einem sozial anerkannten Status
in der Volksgemeinschaft rechnen kann.
Sie hätten
damals auch
anders lauten können: Ich bin ein Kommunist. Ich gehöre zur
kommunistischen Internationale. Ich bin dazu da, im Rahmen meines
Parteiauftrages an der Weltrevolution mitzuwirken.
Die
Nazis
waren damals also nicht die einzigen Identitäts-Anbieter, und der
wechselseitige Haß von Kommunisten und Nationalsozialisten mag auch
darin begründet gewesen sein, daß sie gerade auf diesem Gebiet die
schärfsten Konkurrenten waren. Rationale Argumentationen, Versuche zu
einer kompromißorientierten Verständigung und Toleranz nicht
266
nur
zwischen diesen beiden Identitätslagern, sondern allgemein in der
politischen Auseinandersetzung der Weimarer Zeit, waren deshalb kaum
möglich, weil sie sofort die eigene Identität angegriffen hätten. Der
politisch-ideologische Fanatismus der Auseinandersetzungen hatte etwas
von psychosozialer Heimatverteidigung an sich, etwa nach dem Motto,
daß, wenn die andere Seite recht hat, die eigene soziale Heimat bedroht
ist.
Die rapiden sozialen Umwälzungen, die etwa seit
1870
einsetzten, rissen viele Menschen aus ihren sozialen Heimatbeziehungen.
Hunderttausende zogen aus den ostelbischen Agrargebieten in die neuen
Industriezentren, wo Großstädte entstanden und sich ausdehnten. Im
Rahmen der Arbeiterbewegung organisierten die Arbeiter ihre
wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Beeinflußt von marxistischen
Ideen gab sich diese Bewegung revolutionär, propagierte die Umwälzung
der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische. Parallel dazu
schuf sich die Wirtschaft mächtige Großverbände und Kartelle. Die
bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten fühlten sich von beiden
Seiten bedroht. Die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden gerieten
durch Großunternehmen, die kleinen Händler durch die nun entstehenden
großen Warenhäuser unter Druck. Der Fortschritt der
Produktionstechniken ermöglichte billige Massenware, die kleinere
Unternehmer oft in den Konkurs trieb. Vom Bildungsbürgertum, dem
sozialen Träger der "Kultur", das in seiner Bedeutung und in seinem
Ansehen vom neuen Wirtschaftsbürgertum überrundet wurde, war schon die
Rede. Die von ihm repräsentierte, an Klassik und Humanismus orientierte
Kultur geriet bis zum Ersten Weltkrieg in einen unübersehbaren
Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität, wurde immer mehr zur von der
politischen wie wirtschaftlichen Realität abgehobenen Sonntags- und
Feiertagskultur. Lokalisiert war diese Kultur vor allem in den
humanistischen Gymnasien und in den philosophischen Fakultäten der
Universitäten. Die inneren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen
Widersprüche und Krisen waren derart angewachsen, daß nicht wenige den
Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Erlösung empfanden, als könne
er alle diese Schwierigkeiten wegzaubern.
Im
Unterschied zum Bildungsbürgertum, das eine Verbesserung seiner Lage
durch Wiederherstellung alter Zustände
267 nicht
zuletzt von seiner Jugend erwartete, hatte die sozialistische
Arbeiterbewegung den Blick optimistisch nach vorne gerichtet; in ihrer
Vorgeschichte gab es nichts, wonach zurückzusehnen sich gelohnt hätte.
Die SPD fühlte sich nicht nur als eine politische Partei, sondern als
eine darüber hinausgehende Teilkultur. Es gab sozialdemokratische
Sportvereine, Gesangvereine usw. Die Partei machte ihren Mitgliedern
insofern ein Identitätsangebot, bot ihnen eine soziale und kulturelle
Heimat an.
Der Krieg hatte jedoch die bürgerliche
Identitätskrise nur aufgeschoben, nun wurde sie durch die Tatsache noch
verstärkt, daß der Krieg verloren war und die alten Ordnungen
weitgehend zerbrochen waren. Verletzt erschien nun auch noch die
"nationale Würde". Der nun aufbrechende zum Teil blinde Nationalismus
ist nur auf diesem Hintergrund verständlich, zumal der Krieg gerade das
Bürgertum besonders getroffen hatte - nicht nur in seiner
Selbstachtung, sondern auch materiell, indem er z.B. die Ersparnisse in
Gestalt von Kriegsanleihen oder durch die nachfolgende Inflation
verschlungen hatte, die viele zu ihrer Zukunftssicherung angesammelt
hatten. Die von ständigen Krisen geschüttelte Republik, zu denen auch
das neue Phänomen der Massenarbeitslosigkeit gehörte, konnte da keinen
Identitätsersatz anbieten.
Aber auch die
Arbeiterbewegung hatte
nach dem Krieg viel von ihrer identitätsstiftenden Bedeutung vor allem
deshalb verloren, weil sie sich während des Krieges gespalten hatte und
nun die Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten
unüberbrückbar geworden waren. Hinzu kam eine allgemeine
Kommunismusfurcht, die genährt wurde durch die Schreckensnachrichten,
die aus der Sowjetunion eintrafen: erbarmungsloser Bürgerkrieg,
Millionen von Hungertoten, Gewalt und Chaos allerorten. Am Ende der
Republik sah es für viele so aus, als gebe es nur noch die Alternative
zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, und da fiel die Wahl
gerade in den Reihen des Bürgertums nicht schwer.
Vielleicht
noch gravierender war die Freisetzung des kulturellen Pluralismus. Es
gab kaum einen kulturellen Wert, der nicht in Frage gestellt wurde. Die
traditionellen nationalen und militärischen Werte und Symbole wurden
von linken
268 und pazifistischen
Intellektuellen
verhöhnt und verspottet. Die Alltagsmoral wurde verunsichert. Es gab
eine umfangreiche Diskussion über Sexualität und sexuelles Verhalten.
Entsprechende Aufklärungsbücher für die Jugend wurden verbreitet.
Selbst Ehe und Familie waren nicht mehr das, was sie vorher waren.
Immer mehr Frauen traten in das öffentliche Leben, in Beruf und Politik
ein, die Männer gerieten zum ersten Mal in die Defensive und mußten
ihre traditionellen Rollen überdenken; die bürgerliche Familie wurde
zum unsicheren Ort. Die Konsumgüter-Industrie verkaufte alles, was
gekauft wurde und nicht ausdrücklich verboten war. Mit
Jugendschutzgesetzen gegen "Schmutz und Schund" und gegen
sittlich-verwahrlosende Filme sollte die Flut wenigstens im Hinblick
auf Jugendliche eingedämmt werden.
In einer seiner
schon
zitierten antisemitischen Reden aus der Wiener Zeit, denen Schirach
seine spätere Verurteilung in Nürnberg verdankte, kommt diese
kulturelle Verunsicherung deutlich zum Ausdruck.
"Das
Judentum"
habe versucht, "die gesunde Jugend zu verderben. Alle Ideale, die
unserem Kontinent heilig sind, wurden öffentlich beschmutzt, lächerlich
gemacht und als unzeitgemäß verworfen. Durch die korrupten Gazetten
kursierte das jüdische Wort: 'Es gibt kein dümmeres Ideal als das des
Helden'. Der jungen Generation wurde dafür schrankenlose Freiheit im
sexuellen Genuß gepredigt. Je grauer der Alltag wurde, um so
strahlender entwickelte sich das Nachtleben. Der amerikanische Film und
die amerikanische Revue, drüben von Juden geschaffen, hier von Juden
importiert, appellierte immer von neuem an die Sinne halbwüchsiger
junger Menschen, diese verderbend und in den Strudel des Chaos
hineinziehend, aus dem sie nie mehr zu ihrer Nation zurückgekehrt sind."
Natürlich
war "das Judentum" nicht die Ursache dieser kulturellen Entfremdung.
Auch
unter Juden wurden damals die Produkte der modernen
Unterhaltungsindustrie kontrovers diskutiert. Wenn sie z.B.
Bildungsbürger waren, standen sie der Sache nicht weniger kritisch
gegenüber als viele "arische" Bildungsbürger auch. Richtig ist nur, daß
zu den Protagonisten dieser modernen Industrie auch Juden gehörten. Das
Beispiel zeigt, wie kulturelle Entfremdungsgefühle bestimmten Personen
an-
269 gelastet
werden, anstatt sie aus der
gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären - z.B. als Konsequenz des
international gewordenen Marktes.
Jedenfalls kann
man ohne
Übertreibung sagen, daß zwischen 1919 und 1933 ein großer Teil des
deutschen Volkes auf einer teilweise verzweifelten Suche nach seiner
Identität war. Oft ist gefragt worden, warum gerade die Deutschen einer
Bewegung wie der Hitlers in die Arme gelaufen sind, während doch die
Weltwirtschaftskrise andere westliche Industrieländer nicht minder
schwer heimgesucht habe. Neben der Tatsache, daß diese anderen Länder
eine viel stärkere, auf gute wie schlechtere Zeiten zurückgehende
demokratische Tradition aufweisen - die Deutschen bekamen ihre erste
Demokratie als Resultat eines verlorenen Krieges -, dürfte eine
wichtige Rolle gespielt haben, daß in diesen Ländern keine derartigen
massenhaften Identitätskrisen ausbrachen, wobei gewiß das eine mit dem
anderen zusammenhängt: wo Nationalgefühl und demokratisches Bewußtsein
verbunden sind, entstehen vermutlich auch derartige Krisen des
kollektiven Selbstbewußtseins nicht so leicht. Jedenfalls beruhte der
Erfolg der Hitlerbewegung auf der Kombination der wirtschaftlichen und
sozialen Versprechungen, also die real vorhandenen Krisen zu lösen, mit
dem als "Volksgemeinschaft" formulierten Identitätsangebot.
Wenn
wir Schirachs Ausfälle gegen das Judentum, Baeumlers Germanismus und
Kriecks Streben nach allgemeinverbindlicher völkischer Weltanschauung
zusammennehmen, dann sind dies verzweifelte wie aggressive Versuche,
die entfremdenden und sozial zerstörerischen Wirkungen der
kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung aufzuhalten und die
ökonomischen und sozialen Prozesse wieder den alten Werten eines
völkisch gegliederten Gemeinschaftslebens oder eines
nationalorientierten, auf politisches Soldatentum gegründeten neuen
deutschen Reiches zu unterwerfen. Zum Feind wurde dabei alles, was den
zerstörerischen Kapitalismus bestärkte bzw. von ihm zu profitieren
schien: Das Judentum, weil Juden an herausragender Stelle zu den
Protagonisten im Bankwesen, im Handel, im Unterhaltungssektor, in der
Publizistik usw. gehörten; der Liberalismus, weil er als treibende
ideelle Kraft des kapitalistischen Wirtschaftens galt; der
Parlamentarismus, weil er als die der möglichst ungehemmten Ausbreitung
des Kapitalismus dienende Staats-
270 form
angesehen
wurde. So ergab sich scheinbar logisch die Feind-Koalition Judentum,
Liberalismus, Parlamentarismus. Hinzu kam der Sozialismus, weil er nach
der Lehre von Marx den Kapitalismus als Durchgangsstadium akzeptierte
und seine kämpferischen Massenorganisationen, denen nichts
"Organisches" im Sinne Kriecks eigen war, auf den Prinzipien moderner
Verbandorganisationen beruhten. Thomas Manns Warnung an die Deutschen
vor politischer Romantik nach der Lektüre von Baeumlers
Bachofen-Einleitung kam der Sache sehr nahe. In der Tat unternahmen
Baeumler und Krieck den Versuch, historisch überholten sozialen und
politischen Ordnungsvorstellungen wieder zur Realität zu verhelfen.
Die
Kapitalismuskritik ist bis auf den heutigen Tag ein epochales Thema
geblieben. Die warnenden Hinweise des Club of Rome auf die "Grenzen des
Wachstums" gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie gegenwärtige
ökologische Bewegungen, und der Zusammenbruch des stalinistischen
Sozialismus in den osteuropäischen Ländern hat das Problem keineswegs
aus der Welt geschafft, das letzten Endes auf die Frage zurückgeht,
welche Werte das Leben eigentlich lebenswert machen und wie man unter
kapitalistischen Bedingungen ein lebenswertes Leben gesellschaftlich
und sozial ermöglichen kann. Dabei geht es - damals wie heute - nicht
um vordergründige politische Meinungen, sondern um Fundamente der
menschlichen Existenz, um Identität.
Identität ist
primär ein
soziales Phänomen, das läßt sich aus der Betrachtung dieser Zeit
lernen. Sie stellt sich ein, wenn der Mensch sich sozial zugehörig weiß
und in dieser Zugehörigkeit auch anerkannt und geachtet wird. Als
soziale Tatsache ist Identität immer auch auf Abgrenzung aus. Soziales
unterschiedet sich von anderem Sozialen. Zu der Frage: "Wer bin ich"?
gehört die Gegenfrage: "Wer bin ich nicht"? Üblicherweise ist eine
solche Abgrenzung nicht mit Feindschaft verbunden. In besonderen
Situationen jedoch, wo das Selbstwertgefühl wie in den Jahren vor 1933
erheblich angeschlagen ist, wird Feindschaft gegen andere zu einem
wesentlichen Bestandteil des sonst zu schwachen Wir-Gefühls. Damals
beruhte die Idee der "Volksgemeinschaft" von vornherein auf der
Feindschaft zu anderen, vor allem zu Juden, Kommunisten oder linken
Intellektuellen, deren Bücher als Symbole dafür verbrannt wurden -
nicht weil sie eine an-
271 dere
Meinung vertraten, sondern weil diese Meinung als eine Bedrohung der
Identität empfunden wurde.
Toleranz,
Respekt vor anderen Überzeugungen und Lebensstilen und verhandelnde
Kompromißbereitschaft kann man im allgemeinen nur erwarten von
Menschen, die eine zumindest relativ stabile soziale Identität
aufweisen.
Im geschichtlichen Zusammenhang gesehen
war das
Identitätsangebot der "Volksgemeinschaft" jedoch nicht nach vorne,
sondern nach rückwärts orientiert, weil ihm die schon erwähnte
Pluralität fehlte bzw. weil es den Ausschluß der Pluralität zu seiner
Voraussetzung hatte. Das Problem der modernen Identitätsfindung und
Identitätsbewahrung besteht aber gerade darin, daß sie unter den
genannten Bedingungen der Pluralisierung und der Individualisierung
erfolgen muß, sonst ist sie objektiv eine Scheinidentität, mag sie
subjektiv auch anders, nämlich als gelungene soziale Integration erlebt
werden.
Die "Volksgemeinschaft" als
Identitätsangebot war also
ein rückwärts gerichteter Traum, und das wurde schnell deutlich, als
nach dem ersten Rausch der nationalsozialistische Alltag eingekehrt
war. Krieck bekam es sehr bald zu spüren, seine Enttäuschung ist ab
etwa 1936 unübersehbar. Statt des historisch gewachsenen Pluralismus,
der durch die Ausgrenzung des "Jüdischen" und durch die Reduktion der
Kirchen auf das rein Seelsorgerische und allenfalls
Sozialfürsorgerische unterbunden worden war, gab es nun den Pluralismus
des Macht- und Kompetenzgerangels der Parteiführer. "Volksgemeinschaft"
war bald zur Phrase verkommen, und Kriecks Versuche, durch seine sozial
orientierte Erziehungslehre und mit seiner Anthropologie ihr einen
theoretisch fundierten Gehalt zu verschaffen, waren parteioffiziell
nicht mehr gefragt. Kriecks und Baeumlers Bewunderung der
"Massenbewegung" Hitlers und der erfolgreichen Art und Weise, wie er
damit umging, verrät auch ein wenig den Neid derer, denen niemand
zuläuft. Was Krieck und Baeumler taten, war keine Unterwerfung unter
eine fremde Ideologie, sondern entsprang dem Wunsch dazuzugehören, in
diesem sozialen Rahmen tätig zu sein, gebraucht und anerkannt zu
werden. Dabei bekämpften sie den "Individualismus", den sie der
vergangenen liberalistischen Epoche zurechneten, obwohl sie selbst
geradezu Prototypen eines bildungsbürgerlichen Individualismus waren
und blieben.
272
Prinzipiell gibt
es zwei extreme
Möglichkeiten der Identitätsfindung: Entweder durch weitgehende
Anpassung an die vorgegebenen Normen und Regeln der sozialen
Gemeinschaft, etwa im Sinne eines "Typus", wie ihn Krieck in früheren
Gemeinschaften zu finden geglaubt hatte. "Ich bin einer von..." könnte
der so Angepaßte dann auf die Frage antworten, wer er sei. Für
individuelle Variationen wäre hier nur ein geringer Spielraum
vorhanden. Die Anerkennung würde durch Rückmeldungen der anderen
Gemeinschaftsmitglieder erfolgen: "Ja, du bist einer von uns!"
Das
andere Extrem wäre die totale Individualisierung. Die Bindekraft der
Gemeinschaften würde hier fehlen, ein "Typus" könnte nicht
herausgebildet werden, der dadurch entstandene Freiraum müßte durch
individuelle Entscheidungen bzw. Identifikationen gefüllt werden. Die
soziale Rückmeldung würde weitgehend entfallen, der Maßstab für das
Gelingen der Identität müßte in die je subjektive Innerlichkeit verlegt
werden.
Beide Extreme dürften in modernen
Gesellschaften
allenfalls in sozialen Sondersituationen vorkommen (z.B. beim Militär
unter Kriegsbedingungen, oder beim sozial isolierten Gefangenen).
Gleichwohl läßt sich - um wieder auf das Jugendalter zu kommen - seit
Beginn unseres Jahrhunderts die Tendenz feststellen, daß kollektive
Vorgaben immer brüchiger werden und die Notwendigkeit individueller
Entscheidungen immer mehr zunimmt. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es z.B.
noch kulturelle Milieus, deren Bindekraft stark genug war, die
Identitätsfindung für diejenigen, die darin aufwuchsen, zumindest zu
erleichtern. Ich denke dabei an das katholische, protestantische,
sozialistische und bildungsbürgerliche Milieu, das man zwar - weil
Jugend nun öffentlich wurde - gerade wegen des Prozesses der
Identitätsfindung auch verlassen konnte, das aber zumindest zunächst
einmal kollektive Orientierungen bot. Im Verlaufe der Weimarer Zeit
nimmt die Bindekraft dieser Mileus deutlich ab, die Nazis versuchten
dann mit der "Volksgemeinschaft" eine neue soziale und - was immer auch
dazu gehört - ideologische Bindung zu stiften. Sie taten dies nicht
ohne Geschick, z.B. mit zahlreichen öffentlichen Ehrungen und
Auszeichnungen, von denen das Mutterkreuz wohl am bekanntesten geworden
ist.
273 Nach dem Kriege schienen
zumindest die
kirchlichen Milieus wieder zu Ansehen und erzieherischem Einfluß zu
gelangen, das sozialistische konnte im Westen Deutschlands nicht mehr
zu Geltung kommen, sei es, weil die entsprechenden Traditionen der
Arbeiterbewegung durch die Nazis zerschlagen worden waren, sei es, weil
es durch die Konfrontation mit der Sowjetunion und der SBZ/DDR erneut
diskreditiert bzw. diffamiert wurde.
Im Rahmen der
schon
geschilderten Vergesellschaftung bzw. Emanzipation des Jugendalters
wurde jedoch die Bindekraft dieser Milieus schnell geschwächt und neue
entstanden nicht. Zu einem guten Teil wurde die entstandene Lücke
gefüllt durch die Identitätsangebote der Medien, die unter den
Gleichaltrigen in unmittelbare Einstellungen und Verhaltensweisen
umgesetzt werden. Allerdings darf man hier keine einseitige Kausalität
unterstellen. Auch die Umkehrung gilt, daß nämlich die modernen Medien
die Aushöhlung der traditionellen Milieus mitbewirkt haben. Eine im
hohen Grade industrialisierte Jugendkultur mit jugendspezifischer Musik
und Mode entstand, die offensichtlich für den Identitätsprozeß bei
vielen Jugendlichen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Gleichwohl
ist dieser Prozeß immer schwieriger geworden. Im Rahmen pluralistischer
Wahlmöglichkeiten und der nehmenden Individualisierung müssen
Identitätsbildungen in einem komplizierten Geflecht von
Teil-Identifikationen erfolgen, mit gleichsam immer nur partikularen
Vorbildern. Selbst wer z.B. seine Eltern für großartige Vorbilder hält
und ihnen nachzueifern trachtet, kann sich nur partiell an ihnen
orientieren, weil es sonst zu einer vorschnellen Typen-Bildung käme und
die notwendigen Individualisierungs-Leistungen nicht erbracht werden
könnten. Der Pop- oder Sport-Star kann ebenfalls eine Rolle spielen
oder jemand, der Vorbild für den angestrebten Berufserfolg sein könnte.
Und immer wieder die Gleichaltrigen: Bei ihnen sozial anerkannt zu
sein, kann als wichtiger erscheinen als z.B. gute Schulleistungen zu
erbringen.
Dies alles spielt sich zudem in einem
lebensgeschichtlichen Prozeß ab, dem die auf die Zukunft gerichteten
Orientierungspunkte wie Schuleintritt, Schulabschluß,
Berufsausbildung/Studium, Berufsbeginn, Heirat usw. weitgehend ab-
274
handen
gekommen sind, zumal zumindest bei Studenten der Berufseintritt sich
oft bis über das 30. Lebensjahr hinaus verschoben hat - wenn er
aufgrund der Arbeitsmarktlage überhaupt zustande kommt. Weil diese
Orientierungspunkte fehlen, schrumpft auch die Zeitperspektive: erst
einmal das Nächstliegende erreichen, dann wird man weiter sehen.
Von
der spezifischen Emanzipationsproblematik der Mädchen und Frauen war
schon die Rede. Die weibliche Identität war über lange Zeit familiär
definiert - zunächst durch die Herkunftsfamilie, später durch die
eigene Familie. Eine subjektiv befriedigende Balance zwischen
öffentlichen und familiären Rollen zu finden, war bis in unsere
Gegenwart hinein ein spezifisch weibliches Identitätsproblem.
Gegenwärtig hat es jedoch den Anschein, als seien die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Identitätsproblematik
relativ bedeutungslos geworden; beide Geschlechter müssen sich heute um
die erwähnte Rollen-Balance bemühen.
Der
Entscheidungsdruck, der
angesichts von Pluralisierung und Individualisierung auf dem Prozeß der
Identitätsfindung lastet, legt für diejenigen, die dem nicht gewachsen
sind, Fluchtbewegungen nahe. Jugendsekten, Rechtsextremismus,
"Autonome", Drogenmilieu sind Szenerien, in denen man diesen Druck
loswerden kann durch Unterwerfung, durch einen archaischen Rückzug auf
den Typus. In solchem Verzicht auf die Freiheit der Individualität
erfährt man als Lohn wieder die Rückmeldung der anderen: Du bist einer
von uns! Diejenigen, die solche Fluchtwege nicht betreten wollen, sind
wesentlich auf den Maßstab ihrer Innerlichkeit angewiesen, der aber
höchst unzuverlässig ist, weil er ständig von schwer zu durchschauenden
Gefühlen überschwemmt werden kann.
Sieht man auf
diesem
Hintergrund das Identitätsangebot des Nationalsozialismus, so wird
schnell deutlich, daß es eine Scheinlösung darstellte, die auf
künstlich arrangierten Sozialgebilden und Sozialideen fußte, die
historisch längst verloren gegangen waren. Deshalb kommt uns vieles
daran heute auch geradezu lächerlich vor. Historisch gesehen war die
NS-Zeit unter diesem Gesichtspunkt nur ein retardierendes Moment, weil
ihre Lösungsversuche trotz der dazu gehörenden kultischen
Inszenierungen der Appelle, Massenauf-
275 märsche,
der
Fahnen und Trompeten, der Feiern und heroischen Texte an der wirklichen
Problematik vorbeigingen. Wie allerdings der Hinweis auf die
jugendlichen Fluchtszenen gezeigt hat, sind solche Lösungsversuche
damit keineswegs historisch erledigt, weil die dahinter stehenden
Probleme nicht nur weiter bestehen, sondern sich noch verschärft haben. Und
dies noch aus einem anderen Grund. Gemeinhin gehen wir davon aus, daß
das Problem der Identitätsfindung spezifisch für das Jugendalter sei,
nach seiner Lösung und durch diese sei man erwachsen geworden und
deshalb davon befreit. In diesem Zusammenhang wird nun der
Generationsunterschied zwischen Schirach einerseits und Baeumler und
Krieck andererseits interessant. Schirach fand seine Identität als
17jähriger durch die Identifikation mit Hitler - in einem Alter also,
wo üblicherweise auch damals schon alternative Lebensperspektiven
durchgespielt und vielleicht zumindest teilweise probiert wurden. Nicht
einmal gegen seine Eltern mußte er seine Option für Hitler durchsetzen,
die hatten - untertrieben gesagt - nichts gegen ihn. Schirach
hat
eine Reihe von Gedichten Hitler gewidmet bzw. über ihn verfaßt, in
denen das Identitätsthema mit Händen zu greifen ist. Dafür ein Beispiel:
"Dem
Führer. Das ist die Wahrheit, die mich Dir verband: Ich
suchte Dich und fand mein Vaterland. Ich war ein Blatt im
unbegrenzten Raum,
Nun bist Du Heimat mir und bist
mein Baum. Wie weit verweht, verginge ich im Wind, Wärst
Du nicht Kraft, die von der Wurzel rinnt. Ich glaub an Dich,
denn Du bist die Nation, Ich glaub an Deutschland, weil Du
Deutschlands Sohn". (Schirach: Die Fahne der Verfolgten,
Berlin 1933, 38)
Vielleicht lag es an dieser frühen
Festlegung, daß Schirach den Eindruck erweckte, er sei nie richtig
erwachsen geworden. Überraschenderweise
hat man diesen Eindruck teilweise auch bei den beiden Älteren. Baeumler
war 1933 46 Jahre alt, Krieck sogar schon 51. Im Unterschied zu
Schirach waren sie also beide längst aus dem Alter heraus, in dem man
nach her-
276
kömmlichen
Vorstellungen noch seine
Identität sucht. Sie waren schon erheblich in die Jahre gekommene
Erwachsene mit einem jugendlichen Problem. Baeumlers anti-feministische
Marotten und sein schwadronierender Heroismus wirken wenn nicht
peinlich, so doch zumindest seinem Alter unangemessen, zumal er
immerhin Philosophieprofessor war. Krieck scheute zwar keine
Auseinandersetzung, wenn es ihm um wichtige Fragen ging, aber für einen
Mann seines geistigen Formats war es schon eigenartig, von Hitlers
Fähigkeiten der Massenmobilisierung weit über ein wissenschaftliches
Interesse hinaus fasziniert zu sein. Zu erklären ist das alles nur,
wenn man davon ausgeht, daß es sich hier um Versuche handelt, eine
soziale Heimat zu finden - natürlich möglichst an der Seite der
Erfolgreichen. Opportunismus und Eitelkeit mögen dabei auch eine Rolle
gespielt haben, aber es wäre sicher falsch, diese Faktoren
überzubewerten. Das Gefühl dazuzugehören, anerkannt zu sein, neue
Aufgaben von hohem Rang und Ansehen übernehmen zu können, war schon
eher ausschlaggebend. Heute wissen wir, daß Identitätskrisen keineswegs
nur mehr ein Problem des Jugendalters sind, sondern einen Menschen zu
jedem Zeitpunkt seines Lebens treffen können. Identitätsfindung und
-behauptung sind zu einem lebenslangen Prozeß geworden.
Damals
jedoch war eine solche Einsicht noch nicht möglich, sie wäre auch nicht
akzeptabel gewesen. Wer als Erwachsener - vor allem als Mann! - sich
sozial unbehaust und entfremdet fühlte, führte das auf Feinde zurück -
Kapitalisten, Kommunisten, Juden, Parteibonzen -, die ihm das angetan
hatten. In diesen Zusammenhang gehört auch das vorhin erwähnte
Schirach-Zitat. Konnte man diese Feinde ausschalten, würden sich auch
die ersehnten sozialen Geborgenheiten wieder einstellen. Ganz in diesem
Sinne hoffte Krieck darauf, daß das durch Hitlers Revolution in
Bewegung geratene Volk die revolutionären Ziele schon finden werde. So
erklärt sich auch ein guter Teil des Hasses, der den inneren
Auseinandersetzungen anhaftete. Personen oder bestimmte Personengruppen
trügen Schuld an der eigenen Entfremdung. Identitätskrisen, die als
solche nicht wahrgenommen wurden, konnten sich so in innen- und
außenpolitische Feindschaften verwandeln. Baeumler und Krieck stehen
exemplarisch für dieses Problem, obwohl sich ihre Feindseligkeit gegen
andere in Grenzen hielt.
277 Die
Einsicht, daß auch
Erwachsene noch Identitätskrisen verarbeiten müssen - Krisen, die sich
folgerichtig aus der Pluralisierung und Individualisierung unseres
öffentlichen und privaten Lebens ergeben -, hat sich erst sehr spät
durchgesetzt. Und jetzt erst treten entsprechende psychologische
Konzepte und Therapien auf den Plan, die zwar keine neuen sozialen
Geborgenheiten anbieten können, wohl aber versuchen, dem Einzelnen zur
Stärkung seiner Entscheidungsfähigkeit zu verhelfen. Die
Individualisierung des Problems hat eine am Individuum orientierte
Hilfe in Gestalt von Beratung oder Therapie zur Folge.
Gleichwohl
suchen nicht wenige Menschen unter den Bedingungen des normativen
Pluralismus nach neuen sozialen Geborgenheiten; denn die psychologische
Hilfe kann dafür kein Ersatz sein. Das Individuum als solches kann
keine Identität haben. Auch heute suchen die Menschen nach sozialen
Beziehungen, die ihnen Rückmeldungen zur Bestätigung der Identität
anbieten. Die Soziologie spricht z.B. von "Bezugsgruppen" und meint
damit, daß wir alle in irgendwelchen informellen Gruppen leben -
Freunde, Bekannte, Kollegen -, die keineswegs beliebig und zufällig
zustandekommen, sondern normative Gemeinsamkeiten aufweisen, in diesem
Sinne also den Pluralismus für sich selbst einschränken. Die Mitglieder
vertreten bestimmte gemeinsame politische, feministische, religiöse
usw. Grundüberzeugungen, der Toleranzspielraum ist weit, aber doch auch
begrenzt, weil sonst die Funktion dieser informellen Gruppen in Frage
stünde. Wir müssen uns also heute einen Kreis von Menschen suchen,
deren Urteil uns wichtig ist, um unsere Identität sozial stabilisieren
zu können.
Dabei können wir ähnliche Fehler machen
wie die
Generationen derer, die auf Hitlers Identitätsangebot hereingefallen
sind, indem wir nämlich die falschen sozialen Rückmelder wählen, z.B.
extremistische Gruppen, autoritäre Sekten oder die sogenannte
"Psychoszene" mit all ihren Merkwürdigkeiten. "Falsch" sind solche
Lösungen in dem Sinne, daß sie nur innerhalb solcher Gruppen und
Organisationen von Wert, für das Leben außerhalb aber kaum brauchbar
sind. Ähnliches war auch bei der HJ zu beobachten, deren Tugenden und
Verhaltensstile galten auch zunächst einmal nur in den eigenen Reihen,
schon weniger in der Schule oder gar im Beruf.
278 Unter
dem Gesichtspunkt der Identitätssuche lassen sich auch die
pädagogischen Konzepte beurteilen. Eine NS-Pädagogik, die sich von
anderen weltanschaulichen pädagogischen Theorien abgrenzen ließe, ist
nicht zustande gekommen. Die pädagogischen Vorstellungen der drei
NS-Pädagogen sind unübersehbar Teil ihrer lebensgeschichtlichen
Erfahrung und Befindlichkeit. Schirach bot der HJ seine eigene
Identitätserfahrung als Hitlers Gefolgsmann an in der falschen
Erwartung, daß sich diese persönliche Erfahrung auf Serie legen lasse.
Krieck entdeckte die typenbildende erzieherische Kraft der
Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als sie längst brüchig geworden war,
und er meinte, sie in den massenbewegenden "Formationen" der Nazis
wieder zur Geltung kommen zu sehen. Baeumler wandte sich vom
Bildungsbürgertum und seinen humanistischen Idealen ab, die ihm keine
soziale Identität mehr bieten konnten, und versuchte, mit einer
Tat-Philosophie des Mitmachens sich in die Hitler-Bewegung einzufädeln
- was ihm nicht recht gelang, weil er von seinem Naturell her
offensichtlich ein Einzelgänger war und blieb.
Als
Fazit läßt
sich vielleicht festhalten, daß die Suche nach sozialer Identität und
der Wunsch, diese zu stabilisieren, offensichtlich einem tiefen
menschlichen Bedürfnis entsprechen. Massenhafte Identitätskrisen, wie
wir sie z.B. jetzt in den neuen Bundesländern erleben, enthalten immer
einen unkalkulierbaren politischen Sprengstoff. Der Haß gegen die
moderne parlamentarisch verfaßte Industriegesellschaft, die einerseits
den Menschen erhebliche persönliche Entscheidungsspielräume und damit
Freiheiten verschafft, andererseits aber auch deren soziale
Geborgenheiten ständig bedroht, war ein wichtiger Motor der
Hitler-Bewegung und kann jederzeit neu ausbrechen. Anzeichen dafür sind
unübersehbar. Die Ausländerfeindlichkeit ist auch ein Signal dafür, daß
Identität zur Not gegen andere erprügelt wird.
Wir
wären gut
beraten, wenn wir bei der Lösung sozialer und ökonomischer Probleme
nicht nur an finanzielle Kosten-Nutzen-Rechnungen denken, sondern auch
daran, daß die Menschen eine soziale Heimat brauchen. Die meisten
Menschen schaffen sie sich, indem sie die durch Pluralisierung und
Individualisierung gebotenen Freiheitsräume nutzen zur Herstellung
entsprechender sozialer Felder - sei es in Form verläßlicher Familien-
und Freundschaftsbeziehun-
279 gen,
sei es im Rahmen von informellen Beziehungen unter Gleichgesinnten.
Es
gibt aber auch eine nicht geringe Zahl von Menschen, die dies nicht
schaffen, die z.B. den modernen Arbeits- und Leistungserwartungen nicht
gewachsen sind, die randständig werden und sich soziale Nischen in der
Gesellschaft suchen, wo sie eine wenn auch noch so labile Identität
finden können. Wir sehen sie unter anderem in der radikalen
Jugendszene. Bei der Beurteilung dieser Szenen und im Umgang mit ihr
sollten wir deren psycho-soziale Funktion bedenken. Wenn wir z.B. eine
neo-nazistische Jugendorganisation verbieten, haben wir die Probleme
derer noch nicht gelöst, die sich dorthin geflüchtet haben.
280
7.
Fazit II: Kriminelles Arrangement und die Ohnmacht der Erziehung
Wenn
wir uns die politische Kriminalität des NS-Regimes vor Augen führen,
dann drängt sich die Frage auf, welchen Anteil die Erziehung daran
gehabt haben mag. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bilanzierung des
Entsetzlichen unausweichlich wurde, ist darüber nach allen möglichen
Richtungen hin diskutiert worden. Man hat praktisch die gesamte
deutsche Bildungstradition dafür verantwortlich gemacht: die politische
und soziale Weltfremdheit des humanistischen Gymnasiums; den
undemokratischen Aufbau des Schulwesens; das autoritäre Milieu der
deutschen Schule ebenso wie ihre militaristisch-nationalistischen
Traditionen. Nun läßt sich mit derlei Recherchen vielleicht manches
erklären, z.B. eine kollektive Tendenz zu bestimmten Ideologien,
Einstellungen oder Verhaltensweisen, zu nationalistischen und
militaristischen Grunddispositionen.
Angesichts des
Ausmaßes der
hier zur Debatte stehenden Kriminalität gehen jedoch solche
Rekonstruktionen ins Leere, ja, sie verniedlichen nur das Schreckliche.
Die - meinetwegen bornierte - preußische Kadettenerziehung oder das -
meinetwegen weltfremde - Gymnasium als Ursache des Holocaust? Da wären
die Möglichkeiten von Erziehung weit überschätzt.
Und
wie steht
es mit der NS-Erziehung selbst? Das Nürnberger Tribunal hat die
HJ-Erziehung freigesprochen von dem Verdacht der Kriegsvorbereitung;
Schirach mußte nicht wegen seiner HJ ins Spandauer Gefängnis. Und die
Richtlinien für die Schulen im Nationalsozialismus zielten zwar auch
auf Selbstrechtfertigungen des Regimes, auf mancherlei Indoktrination,
auf rassische Verfälschung von Sachverhalten, aber eine Anleitung zur
politischen Kriminalität läßt
281 sich
daraus nicht
ablesen. Weder die Schule noch der außerschulische kultische
Mummenschanz haben vermocht, das deutsche Volk kriegslüstern zu machen.
Selbst das verbreitete antisemitische Ressentiment konnte nicht von
selbst und folgerichtig in die neue Qualität des planmäßigen
Völkermordes umschlagen. Der Glaube, durch Erziehung könne so etwas
verhindert werden, mag denen schmeicheln und sie wichtig machen, die
diesem Geschäft ihre Profession verdanken, aber er führt am Kern des
Problems vorbei.
Nicht mit dem Begriff der
Erziehung, wohl aber mit dem Begriff der Sozialisation können wir uns
diesem Kern nähern.
Die
Verbrechen wurden nicht durch eine bestimmte Erziehung vorbereitet,
sondern durch das Arrangement von Handlungssituationen, die kriminelles
Handeln nicht nur möglich machten, sondern auch positiv bewerten ließen
und in denen dem entgegenstehende Bedenken kaum soziale Resonanz mehr
erhielten.
Der Soldat oder SS-Mann, der sich am
Morden
beteiligen sollte oder auch nur Zeuge wurde, geriet in eine tiefe
soziale Isolierung, wenn er auch nur Bedenken geäußert, geschweige sich
verweigert hätte. Das Morden setzte voraus ein dafür passendes soziales
Milieu, das sich in der Heimat nicht herstellen ließ, sondern des
Krieges und der Besetzung anderer Länder bedurfte. Im europäischen
Osten ließen sich - pädagogisch gesprochen - Sozialisationsbedingungen
arrangieren, die denjenigen, der nicht mitmachen wollte, schon wegen
der militärischen Befehlsstrukturen wenn nicht physisch, so doch mit
dem Entzug von Identität bedrohte.
Die Menschen, die
diese
Verbrechen begangen haben, waren nicht nationalsozialistisch erzogen
worden, sie hatten ihre Kindheit und Jugend ganz überwiegend vor 1933
verbracht, waren aufgewachsen in mehr oder weniger "normalen" Familien,
hatten "normale" bürgerliche Schulen besucht. Die Erziehung in der Zeit
zwischen 1933 und 1943 betraf eine Generation, die schon aus
Altersgründen kaum Gelegenheit bekam, sich innerhalb der NS-Zeit an
solchen Untaten zu beteiligen. Die meisten der in dieser Zeit Erzogenen
wurden nach 1945 erst erwachsen und mußten den Wiederaufbau nach dem
Kriege in die Hand nehmen. Sie taten dies bekanntlich mit erheblicher
Energie und gliederten sich dabei in eine demokratische Staats- und
Gesellschaftsverfassung
282
ein,
die sich als relativ
stabil erwiesen hat. Welche Bedeutung dabei die in der NS-Zeit erlebte
Erziehung hatte, ist kaum zu beurteilen. Wie aber hätte sich diese
Generation verhalten, wenn Hitler den Krieg gewonnen und sie z.B. als
imperiale Unterdrücker im osteuropäischen Raum eingesetzt hätte? Die
entscheidende Frage ist nämlich nicht, welche Erziehung diese Menschen
genossen haben, sondern welche Bewährungssituationen sie anschließend
vorfanden, was dort als gut und richtig galt. Dieselben Schutzmänner,
die sich an der Ermordung der europäischen Juden beteiligten, hätten
unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, die andere moralische
Rückmeldungen zur Folge gehabt hätten, auch anders gehandelt. Viele
dieser Täter haben sich ja auch erfolgreich in den Wiederaufbau nach
1945 eingeschaltet und normale bürgerliche Berufe ausgeübt - wie die
späteren KZ-Prozesse immer wieder gezeigt haben.
Der
Blick auf
die Erziehung darf den Blick auf die Politik nicht trüben. Zu lernen
aus der NS-Zeit ist nicht, wie man Erziehung verbessern könne, um
Ähnliches für die Zukunft zu vermeiden; zu lernen ist vielmehr, daß
politische Verhältnisse verhindert werden müssen, in denen nur noch
Helden moralische Prinzipien durchhalten können. Die politische
Kriminalität des NS-Regimes offenbarte sich den Menschen erst
allmählich und schleichend: "Röhm-Affäre", Boykott jüdischer Geschäfte,
Nürnberger Gesetze, "Reichskristall-Nacht". Die Aktionen gegen die
deutschen Juden fanden während der Friedensjahre in der Bevölkerung
ebensowenig Resonanz wie der Kriegsbeginn, nicht einmal die
Reichsjugendführung jubelte damals. Der von Hitler mutwillig
provozierte Krieg, der - an klassischen politischen Maßstäben gemessen
- keinerlei Interessen der deutschen Bevölkerung diente, brachte jenes
politisch-moralische Milieu hervor, in dem die politische Kriminalität
nicht nur gedeihen, sondern sogar teilweise einen Schein von
Rechtfertigung gewinnen konnte. Erpreßt durch die scheinbare
Notwendigkeit der Landesverteidigung und der Sicherung des Überlebens
des eigenen Volkes wurden mehr und mehr Deutsche in die Verbrechen als
Mittäter involviert - gleichgültig, wie und nach welchen Maßstäben sie
vorher erzogen worden waren. Schirach ist da nur ein Beispiel von
vielen.
Aus pädagogischer Sicht stellt sich dabei
die Frage, ob und in welchem Maße Erziehung und Sozialisation normativ
über
283 einstimmen.
Deckt sich das, was die jeweils zuständigen Erzieher (Eltern, Lehrer)
an normativen Leitmotiven übermitteln, mit dem, was das Kind außerhalb
dieser pädagogischen Einflüsse - nämlich im Rahmen seiner allgemeinen
gesellschaftlichen Teilhabe - an Einwirkungen erfährt? Für die Kindheit
und Jugendzeit der vor 1933 zur NS-Bewegung gestoßenen Erwachsenen traf
das wohl im großen und ganzen noch zu. Ein Bruch wird jedoch sichtbar
nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Ergebnis unter anderem die im
vorhergehenden Kapitel beschriebene normative Pluralisierung der
Gesellschaft war. Nun traten Erziehung und Sozialisation auseinander,
und was die zuständigen Erzieher in Familie und Schule an Werten
vermittelten, wurde außerhalb dieser pädagogischen Felder zumindest
relativiert, wenn nicht gar verhöhnt (wie das Heroische durch
Pazifisten). Mit der Idee des Erziehungsstaates haben die
Nationalsozialisten die Einheit von Erziehung und Sozialisation
wiederherstellen wollen.
Das Problem des
Verhältnisses von
Erziehung und Sozialisation stellt sich jedoch nicht nur für die Phase
der Kindheit und Jugend, sondern auch für die spätere Phase des
Erwachsenseins. Wenn man als "erfolgreiche" Erziehung die Tatsache
versteht, daß die in Kindheit und Jugend vermittelten Werte auch für
das Leben des Erwachsenen zumindest prinzipiell gültig bleiben, dann
setzt das voraus, daß in den Lebenssituationen, in denen sich der
Erwachsene bewähren muß, diese Werte auch "nachgefragt" werden, also
auf soziale Resonanz treffen können. Die Bewährungssituationen müssen
also den früheren Erziehungs- und Sozialisationserwartungen
einigermaßen entsprechen, biographische Kontinuität muß hinreichend
gesichert sein.
Dies traf nun für viele Männer der
Kriegsgeneration nicht mehr zu, die sich nach dem Ersten Weltkrieg an
die gewandelten Verhältnisse nicht gewöhnen konnten. Die "verlorene
Generation", zu der auch Hitler und seine "alten Kämpfer" gehörten,
erlebte, daß den Versprechungen der Kindheit nun keine angemessene
Realität entsprach. Einen vielleicht noch radikaleren biographischen
Bruch verursachte der Zweite Weltkrieg. Er bewirkte für nicht wenige
Menschen eine Art von "Gegen-Sozialisation" zu den in Kindheit und
Jugend erworbenen Normen. Da das Töten des von der Politik definierten
Feindes in dieser Ausnahmesituation auch
284
moralisch
selbstverständlich wird - was das Getötetwerden einschließt -, gelten
hier andere Maßstäbe, als sie in der Erziehung gelernt wurden.
Spätestens dann, als die politische Führung - also Hitler - zumindest
im Osten nicht den Sieg über den Gegner - mit der Chance eines
anschließenden Friedens -, sondern seine Vernichtung anstrebte und zu
diesem Zweck den Feind als "Untermenschen" definierte, war die Grenze
zur politischen Kriminalität überschritten, und jeder Deutsche war nun
in mehr oder weniger direkter Weise darin verwickelt, ein Mittäter
geworden. Die Ermordung der europäischen Juden war nur möglich unter
den Ausnahmebedingungen des Krieges - als in den Kriegshandlungen
versteckte Maßnahme, in Friedenszeiten wäre sie trotz des Machtmonopols
der Nazis in Deutschland kaum möglich gewesen.
Man
kann in
Friedenszeiten nicht für den Krieg erziehen und im Krieg nicht für den
Frieden danach, weil die Sozialisationsbedingungen als Summe der realen
sozialen Erwartungen und Zwänge weder hintergangen noch antizipiert
werden können. Möglich wäre dies nur dann, wenn Erziehung lediglich die
Formung eines von allen konkreten sozialen Bezügen losgelöst gedachten
"Charakters" wäre. So ähnlich hat sich Hitler dies wohl vorgestellt,
wenn er von "Erziehung des Charakters" sprach und ein boxerisches
Härtetraining favorisierte. Aber gerade die NS-Zeit hat bewiesen, wie
bedeutungslos Erziehung wird, wenn später diejenige soziale und
gesellschaftliche Kultur nicht mehr vorhanden ist, für die sie gedacht
war. Dann bleibt nur übrig ein Repertoire von angeborenen und
angelernten Verhaltensmöglichkeiten, die im Hinblick auf die neue
Situation um des Überlebens willen bzw. um einer erfolgreichen Karriere
willen neu kombiniert werden müssen. Das Ergebnis konnte sein der
mordende SS-Mann, dessen brave Kindheit vergessen war. Weder die Schule
der preußischen Armee, noch das humanistische Gymnasium, noch die
katholische Konfessionsschule haben die Barbarei verhindern können.
Dies
ist eine bittere Erkenntnis, wenn man daran denkt, mit wieviel
Hartnäckigkeit und Kampfeseifer für diese Erziehungsformen gestritten
worden ist, weil doch ohne sie der Mensch nicht zum Menschen werden
könne. Adornos Hoffnung, daß eine bessere Erziehung künftig so etwas
wie Auschwitz verhindern möge, wird nur dann nicht trügen,
285 wenn
dies in erster Linie politisch verhindert werden kann, nämlich durch
die rechtzeitige Klärung der Machtfrage.
Wohl
zu ihrer eigenen Überraschung hatten die Nazis schon sehr bald, nämlich
etwa ab 1935 keinen innenpolitischen Gegner mehr zu fürchten, der sich
noch hätte machtvoll organisieren können. Übrig blieben mutige
Einzeltaten, die so wenig politische Relevanz hatten, daß die Nazis
nicht einmal zum offenen, im Alltag jedermann erkennbaren Terror
greifen mußten, sondern sich darauf beschränken konnten, einzelne
Mißliebige in den Morgenstunden "abzuholen".
Erziehung
allein
kann also die Barbarei nicht verhindern, wenn nicht zugleich die
Politik dafür sorgt, daß die Alltagsverhältnisse die Menschen nicht zur
Inhumanität zwingen oder diese ermutigen. Jedenfalls gilt dies für die
Ebene des erkennbaren Verhaltens, die ja das Ergebnis der Erziehung am
ehesten manifest werden läßt. Bewußtsein und Phantasie jedoch können
die Sozialisationsbedingungen, die dem Verhalten vorgegeben sind,
transzendieren; das gilt auch für die Ausnahmesituation des Krieges.
Erziehung im Krieg für den Frieden ist nicht möglich, wohl aber
Bildung. Aus den Zeugnissen vieler Menschen geht hervor, daß sie die
Zeit der politischen Barbarei nur dadurch geistig zu überleben
vermochten, daß sie auf den Fundus ihrer Bildung zurückgreifen konnten,
auf Literatur und Kunst z.B., was ihrem Bewußtsein ermöglichte,
künftige, bessere, friedliche, humane Zeiten zu antizipieren. Als die
Zeit dann dafür gekommen war, das Verhalten von den Fesseln der
politischen Kriminalität befreit war, konnte dieses Bewußtsein auch
praktisch werden. Aber es war auch hier die politische Macht, in diesem
Falle die der alliierten Sieger, die diese Wende ermöglichte.
286 Betrachten
wir auf diesem Hintergrund die pädagogischen Gedanken und Konzepte
Kriecks, Baeumlers und Schirachs, so sind daran spezifisch
nationalsozialistisch zunächst nur bestimmte politische
Implikationen:
ihr antidemokratischer, antiliberaler und antipluralistischer Affekt.
Der aber schlägt nicht unbedingt durch auf die pädagogischen
Vorstellungen und Praktiken im engeren Sinne. Die HJ z.B. war ein
monopolistischer Jugendverband, das war politisch gewollt.
Aber was
dann im einzelnen an pädagogischen Maßnahmen innerhalb dieser
Monopolorganisation geschah, unterschied sich wenig von dem, was auch
vorher in der Jugendarbeit geschehen war - wenn man von der
Jugenddienstpflicht absieht, die aber wiederum eine politische
Entscheidung war und die pädagogisch nur insofern relevant
war, als sie
von denjenigen als Zwang zur Teilnahme wahrgenommen wurde, die
eigentlich nicht mitmachen wollten. Immer wieder treffen wir auf
politische
Eigentümlichkeiten, wenn wir nach dem spezifisch
Pädagogischen des Nationalsozialismus fragen. Das gilt auch
für den
von den drei Pädagogen favorisierten Begriff der "Gemeinschaft", dem
keine soziale Wirklichkeit mehr entsprach. Die damalige Gesellschaft
bestand nicht aus Gemeinschaften, sondern aus nach rationalem Kalkül
und für unterschiedliche Zwecke strukturierten Organisationen und
Verbänden. Im Unterschied zu den früheren bündischen Gruppen bestand
nicht einmal die HJ aus Gemeinschaften. Wer wie Schirach eine
monopolistische Massenorganisation schaffen will, kann als Ergebnis
nicht eine Summe von Gemeinschaften erwarten. Dem widersprach auch der
militärähnliche regionale Rekrutierungsmodus. Paradoxerweise hat die
HJ, die sich angeblich der Gemeinschaft so verpflichtet fühlte, die
Versuche jugendlicher Gemeinschaftsbildungen, wie sie etwa in der
bündischen Jugend zu finden waren, zerschlagen, ohne etwas
Gleichartiges an deren Stelle setzen zu können; bei Baeumler war
"Gemeinschaft" kaum mehr als eine ideologische Phrase (die
Volksgenossen sollten sich bitte so fühlen), bei Krieck eine vernarrte
Fiktion. Faktisch glich Schirachs Leitmotiv der
"gemeinschaftsgebundenen Persönlichkeit" weitgehend dem, was wir heute
als "soziales Lernen" propagieren. Sieht man ab von dem
eigentümlichen politischen
Hintergrund, so kann das, was Krieck und
Baeumler über pädagogische Fragen geschrieben haben, durchaus als
diskutable Auseinandersetzung mit der deutschen Erziehungs- und
Bildungsgeschichte verstanden werden. Die Erkenntnis, daß die
"Formationen" der Nazis eine eigentümliche Wirkung - von heute aus
gesagt: eine Sozialisationswirkung - hatten, die zu erforschen durchaus
lohnenswert wäre, ist nicht begrenzt auf NS-Organisationen, sondern
kann auf den Kommunistischen Jugendverband ebenso angewandt werden wie
auf jede andere relativ dauerhafte gesellschaftliche Organisation.
Wesentlich ist die Einsicht, daß alles soziale Leben eine erzieherische
Implikation in sich enthält. Baeumlers anthropologi-
287 sche
"Wende" zum Menschen als handelndem
Wesen lag in der Luft und wäre wohl
auch ohne die Nazi-Bewegung früher oder später formuliert worden. Diese
Betrachtungsweise, wie auch Kriecks weit ausgreifender
Erziehungsbegriff waren eine Konsequenz des modernen
sozialwissenschaftlichen Denkens, dessen wahre Tragweite beide wegen
ihrer völkischen bzw. germanisierenden Befangenheit nicht verstanden
haben, die vielmehr erst nach 1945 durch die sich allmählich
etablierende Soziologie allgemein bekannt und akzeptiert wurde.
Weder
aus der Tatsache, daß bestimmte pädagogische Gedanken in der NS-Zeit
geäußert wurden, noch aus der anderen Tatsache, daß die Autoren sich
politisch zum Nationalsozialismus bekannt haben, lassen sich diese
pädagogischen Gedanken hinreichend als spezifisch nationalsozialistisch
qualifizieren.
Folgern läßt sich daraus, daß die
moralische
Qualität eines politischen Systems nur aus der angemessenen politischen
Analyse sichtbar werden kann, nicht vom Ansatz der Erziehung her.
Erziehung und Bildung haben ihre eigenen Erfolgskriterien: der Schüler,
der durch Unterricht zu Wissen gelangt, der Verwahrloste, der wieder
lernt, legal und sozial angepaßt zu leben. Gelungenes Lernen ist also
das Erfolgskriterium. Das pädagogische Handlungsrepertoire, das dafür
zur Verfügung steht, ist begrenzt und kann deshalb auch nur begrenzt
der politischen Zensur unterworfen werden. Insofern alle
politisch-ideologischen Systeme der Moderne zumindest im Prinzip auf
dieses pädagogische Erfolgskriterium angewiesen sind, wenn sie ihren
Nachwuchs gesellschaftlich integrieren wollen, ist das pädagogische
Handlungsrepertoire in hohem Maße systemunabhängig. Es ist also jedem
System dienstbar zu machen - dem demokratischen ebenso wie dem
faschistischen oder kommunistischen. Aus dieser Tatsache läßt sich nun
Verachtung ableiten, als sei das pädagogische Handwerk per se ein
gesinnungsloses. Andererseits aber setzen die pragmatischen
pädagogischen Erfolgskriterien, auf die auch die Nazis angewiesen
waren, Grenzen für die politisch-ideologische Instrumentalisierung. Die
erlebnishaft-emotional und anti-intellektuell orientierte HJ-Pädagogik
kam an ihre Grenzen, als die Lehrer und die qualifizierten
Schulabgänger zu fehlen begannen.
288 Das
Verhältnis von Politik und Pädagogik ist immer kompliziert. Die
Pädagogik - also die Organisation von Lernprozessen - bedarf eines
Mindestmaßes an politischen Randbedingungen, um überhaupt tätig werden
zu können. So müssen z.B. die Institutionen, in denen sich Pädagogik
vollzieht, politisch im Hinblick auf ihre Stabilität wie im Hinblick
auf ihre Zwecksetzung vorgegeben und garantiert sein. Was z.B. eine
Schule und wozu sie da ist, muß mit einem hinreichenden Konsens allen
Beteiligten klar sein, sonst könnte man dort ja auch Gemüse verkaufen,
statt zu unterrichten. Ferner muß die Pädagogik einigermaßen genau
wissen, wie das spätere Leben der Kinder und Jugendlichen aussieht,
welche Bewährungen dann erwartet werden. Schon diese beiden
Gesichtspunkte reichen aus zu erkennen, daß die Pädagogik der Politik
bedarf, um erfolgreich handeln zu können, daß sie aus sich heraus nicht
existieren könnte. Deshalb sind politische Einflüsse auf die
pädagogischen Handlungsfelder im Prinzip unvermeidlich, die Frage ist
nur, in welchem Umfang, in welcher Weise und mit welchen Zielen sie
wirksam werden. Am Beispiel irgendeiner beliebigen Schulklasse läßt
sich das verdeutlichen. Die Einwirkungsmöglichkeiten liegen
grundsätzlich
1. auf der Ebene der symbolischen und
faktisch-administrativen Einbindung der Schule in das politische
System, in der NS-Zeit z.B. in Gestalt von Fahnenappellen, Feiern und
Ansprachen;
2. auf der Ebene der Lernzielbestimmung,
z.B. in Gestalt von Lehrplänen;
3. auf der Ebene der
Zensur des pädagogischen - z.B. methodischen - Handlungsrepertoires;
4.
auf der Ebene der Beeinflussung der "pädagogischen Beziehung" zwischen
Lehrern und Schülern.
Von
der ersten Eingriffsmöglichkeit haben die Nazis ausgiebig Gebrauch
gemacht, von der zweiten nur begrenzt - vor allem im Hinblick auf die
sogenannten "Gesinnungsfächer". Die dritte Interventionsmöglichkeit
haben sie kaum genutzt - im Gegenteil versuchte die HJ z.B. in ihren
Adolf-Hitler-Schulen das damals übliche methodische Repertoire zu
erweitern. Da waren im Vergleich die Eingriffe viel erheblicher, die
das Bildungswesen in der DDR auf der zweiten
289 und
dritten
Ebene hinnehmen mußte. In den Schulen z.B. war die methodische
Variationsbreite beschränkt auf den Frontalunterricht (der Lehrer
doziert, die Schüler nehmen auf). Der Lehrstoff war bis in Einzelheiten
ex cathedra vom zuständigen Ministerium vorgegeben, Unterrichtsmethodik
folgerichtig auf die Techniken des Beibringens reduziert. Eine derart
rigide Steuerung auf der zweiten und dritten Ebene hat es während des
Nationalsozialismus nicht gegeben. Im Gegenteil hat sich z.B. Baeumler
nachdrücklich für die Individualisierung des Unterrichts eingesetzt.
Auf der vierten Ebene, der "pädagogischen Beziehung", waren die
politischen Einwirkungen nicht leicht faßbar, aber durchaus zumindest
mittelbar vorhanden. Schon aus unserer Lebenserfahrung wissen wir, daß
für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit in der Schule oder in einem
anderen pädagogischen Feld ein bestimmtes menschliches "Klima"
unentbehrlich ist, das vor allem durch Vertrauen, Höflichkeit, Respekt
und Toleranz zu kennzeichnen ist. Deswegen bedarf das jeweilige
pädagogische Feld - z.B. die Schulklasse - eines gewissen Schutzes,
einer Art von Autonomie.
Man muß z.B. auch etwas
Falsches sagen,
mit Gedanken und Argumenten experimentieren können, ohne dafür gleich
zur Rechenschaft gezogen zu werden. Meinungs- und Gesinnungskontrolle
vertragen sich damit nicht. Die drei NS-Pädagogen haben das auch nicht
ausdrücklich propagiert, aber faktisch hing das Damokles-Schwert der
Denunziation als Variante der allgemeinen politischen Repression über
jedem pädagogischen Handeln.
Wie intensiv die
politischen
Einwirkungen auf die Erziehungseinrichtungen auch jeweils sein mögen,
eine einfache und direkte Deduktion ist nicht möglich, ohne das
pädagogische Erfolgskriterium außer Kraft zu setzen und damit
pädagogisches Handeln wirkungslos zu machen. Der politische Wille ist
dem pädagogischen nicht vollständig aufzwingbar, er kann immer nur
Rahmenbedingungen setzen. Im Unterschied zu Krieck und Schirach hatte
Baeumler das erkannt, wenn er betonte, daß der Lehrer "frei", also
pädagogisch relativ autonom sei, wenn er den Auftrag des Führers
verstanden habe.
Neben den Einwirkungsmöglichkeiten
in das
pädagogische Feld selbst sind natürlich die Personalentscheidungen von
herausragender Bedeutung: Wer darf als Lehrer in das päd-
290 agogische
Feld eintreten und wer wird dafür gar nicht erst zugelassen? Jüdische
Lehrer und Hochschullehrer wurden von den Nazis ebenso entlassen wie
andere, die Mitglieder der kommunistischen oder der
sozialdemokratischen Partei gewesen oder aus anderen Gründen als
politische Gegner angesehen waren. Die richtige Gesinnung sollte
garantiert sein nicht zuletzt auch durch eine stark an der
Lagererziehung orientierte Lehrerbildung. Die irrige Idee, daß auch die
politisch-ideologische Gesinnung zum pädagogischen Erfolgskriterium
gehöre, hat die NS-Zeit überlebt und ist bis heute z.B. im Umgang mit
DKP- und neuerdings mit SED-Lehrern eine offenbar unausrottbare Fiktion
von Politikern.
Alle diese politischen Einwirkungs-
und
Behinderungsmöglichkeiten reichen jedoch nicht aus, eine spezifisch
nationalsozialistische Pädagogik zu rekonstruieren. Die hat es nicht
gegeben, es gab nur pädagogische Theorien und Praktiken im
Nationalsozialismus. Und die waren durchaus kontrovers. Baeumlers
Polemiken gegen Veröffentlichungen der "Geisteswissenschaftler" wie
Litt, Nohl, Blättner, Weinstock waren in der Sache durchaus
ernstzunehmen, ärgerlich und wohl auch nicht ungefährlich für die
Betroffenen wurden sie nur dadurch, daß sie mit der Anmaßung der
"richtigen" politischen, nämlich nationalsozialistischen Gesinnung
vorgetragen wurden, die den Kritisierten abgesprochen wurde - was
zumindest von der Wirkung her eine Denunziation sein konnte.
Solange
das pädagogische Erfolgskriterium angewendet werden konnte, gab es
dadurch auch einen gewissen Schutz für die betroffenen Kinder und
Jugendlichen. Ein verwahrloster oder krimineller Jugendlicher, der noch
als "erziehbar" angesehen wurde, hatte auch eine Chance zur
Resozialisierung. Wer als "unerziehbar" galt, wurde der pädagogischen
Verantwortung entzogen, galt als erblich minderwertig und wurde
entsprechend "behandelt" - z.B. in den "Jugenschutzlagern" Moringen
(für Jungen) und Uckermark (für Mädchen), die faktisch Jugend-KZ waren.
Was die Pädagogik nach ihren eigenen Erfolgskriterien - nämlich Lernen
zu ermöglichen - nicht mehr sanieren konnte oder wollte -
"Unerziehbarkeit" ist ja eine Frage der Definition -, übernahm die
rassenbiologisch orientierte Medizin und Psychiatrie als "erbkrank".
Wer aber der Pädagogik entzogen bzw. von dieser abgegeben wurde, wurde
auch weitgehend der Öffentlichkeit entzogen - mit den bekannten Folgen.
291 Wer
sich zur Distanz zum NS-Regime entschloß oder gar zum Widerstand,
konnte dabei durchaus auf die moralischen Maximen seiner früheren
Erziehung zurückgreifen. Man könnte sagen, daß diese Menschen jene
Bewährungssituationen einforderten, die ihnen ihre Erziehung
versprochen hatte und die sie nun nicht vorfanden.
Diejenigen,
die die Nazis unterstützten, hatten im wesentlichen dieselbe Erziehung
erfahren wie diejenigen, die sich zu widersetzen versuchten. Die Art
und Weise der erlebten Erziehung erlaubt also keinerlei Prognose für
das künftige Handeln und Verhalten. Deshalb sind alle Versuche
illusorisch, mit Hilfe der Erziehung und durch deren Verbesserung
Einfluß auf die Zukunft nehmen zu wollen. Ihre Möglichkeiten sind sehr
viel bescheidener anzusetzen: sie kann über Natur und Gesellschaft
aufklären, sozial bedeutsame Tugenden und Verhaltensweisen fördern, zur
Identifikation mit positiven Vorbildern ermutigen. Was die so Erzogenen
und Gebildeten später mit dieser Ausstattung anfangen werden, ist nicht
antizipierbar, zumal damit kein Glücksversprechen verbunden werden
kann. Aufklärung z.B. über die politisch-gesellschaftlichen
Zusammenhänge entfremdet auch, kann Geborgenheiten und Loyalitäten
brüchig werden lassen. Das ist ein Teufelskreis, in dem wir uns immer
noch befinden.
Spezifisch nationalsozialistisch war
nicht die
öffentliche Erziehung, sondern das Arrangement des öffentlichen Lebens:
die geradezu kultischen Selbstinszenierungen der Machthaber; das Fehlen
jeder politischen Kontrolle und Gegenmacht; die Gleichschaltung der
veröffentlichten Meinung; die kulturelle Zensur auf allen Ebenen; das
allgemeine Klima von Drohung und Einschüchterung. Das waren schon zu
Friedenszeiten Sozialisationsfaktoren, die ihre Wirkung auf alle
Generationen gewiß nicht verfehlten. Der Krieg schließlich akkumulierte
diese Wirkungen und fügte hinzu die Notwendigkeit des Überlebens - im
wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Aber diese Wirkungen können nicht
allgemein beschrieben werden, sie lassen sich nur festmachen an
einzelnen Biographien und Autobiographien, von denen es inzwischen
einige gibt.
Zu lernen ist also, daß Auschwitz nicht
pädagogisch, sondern nur politisch verhindert werden kann, aber die
Pädagogik könnte diese Einsicht verbreiten.
292 Literatur
Literatur-Hinweise
zu den einzelnen Kapiteln
Zur NS-Herrschaft
allgemein:
Bracher; Erdmann; Höhne 1984, 1991;
Mosse; Schoenbaum; Prinz/Zitelmann.
Zur Entwicklung
der Pädagogik vor 1933:
Langewiesche/Tenorth;
Tenorth; Wilhelm. Über die Weimarer Republik allgemein: Peukert (1987).
Zur
Pädagogik in der NS-Zeit allgemein:
Berg/Ellger-Rüttgardt;
Herrmann; Herrmann/Oelkers; Horn; Kanz; Keim (1995 u. 1997); Klafki
(1990); Tenorth (1985); Scholtz (1985); Wilhelm.
Zu
Kapitel I (Hitler)
Eine
gründliche Analyse der pädagogischen Vorstellungen und Ziele Hitlers
findet sich bei Steinhaus. Zum Phänomen der hohen Loyalität der
Deutschen zu Hitler siehe Eitner. Zum historischen Hintergrund von
Rassismus, Eugenik und Euthanasie: Schmuhl; Weingart u.a. Zum
antisemitischen Milieu in Wien vor dem Ersten Weltkrieg: Hamann.
Zu
Kapitel II (Krieck)
Vertiefende
Studien zu Krieck ermöglichen Lingelbach, Prange, Hoyer und vor allem
Müller. Tradition und Hintergründe des völkisch-konservativen Denkens
sind dargestellt bei Krockow und Sontheimer.
Zu
Kapitel III (Baeumler)
Die Kontroverse zwischen Th.
Mann und A. Baeumler ist dokumentiert durch Baeumlers Frau Marianne
Baeumler. Dort
293 sind
auch Briefe und Aufzeichnungen abgedruckt, in denen Baeumler sein
Verhalten während der NS-Zeit nachträglich zu erklären versucht.
Entsprechende Notizen aus der Internierungszeit finden sich auch in
Baeumler (1991). Lingelbach, Dickopp und Joch setzen sich mit Baeumler
ausführlich auseinander. Die umfangreiche Untersuchung von Bollmus
enthält nur wenige Einzelheiten über Baeumlers Tätigkeit im "Amt
Rosenberg". Über die Lage der Philosophie in der NS-Zeit allgemein
siehe Lungerten. Zur "Bücherverbrennung": Zimmer.
Zu
Kapitel IV (Schulwesen)
Zur Vorgeschichte: Herrlitz
u.a.; Kraul; Langewiesche/Tenorth.
Zur Schulpolitik
allgemein: Eilers; Fricke-Finkelnburg; Scholtz (1985).
Zu
Einzelaspekten: Breyvogel (1977); Breyvogel/Lohmann; Dithmar; Flessau;
Götz; Höck; Nath (1981, 1988); Ottweiler (1979, 1980); Zymek.
Die
erwähnten Richtlinien für die Volks- bzw. Oberschulen sind
veröffentlicht in: Erziehung und Unterricht ... (1938 bzw. 1939).
Zum
Widerstand von Lehrern: van Dick; Klewitz; Schnorbach.
Zum
NS-Lehrerbund: Feiten.
Zur Berufsausbildung:
Seubert; Wolsing.
Zur jüdischen Schule im
Nationalsozialismus: Röcher; Scharf, Walk; Weiss.
Zu
Kapitel V (Hitlerjugend) Über
B. v. Schirach, seine Person und sein Wirken informieren ausführlich
von Lang und Wortmann. Eine knappe Skizze hat Fest (1980) angefertigt. Zur
HJ allgemein: Brandenburg; Klemme (1982); Koch; Schubert-Weller. Veröffentlichungen
ehemaliger HJ-Führer (z.B. Griesmayr/ Würschinger) bieten zwar
teilweise interessante Insider-Informationen, sind aber nicht frei von
nachträglicher Rechtfertigung. Hervorzuheben ist aber die auf
Information und sachliche Dokumentation bedachte Arbeit von Rüdiger
(1983). Die erwähnte Jugendschutz-Denkschrift der RJF ist wieder
abgedruckt in Klönne (1982). Zur Vorgeschichte der HJ:
Giesecke; von Hellfeld 1987; Kater (1975 u. 1977). Über den BDM
informieren die Arbeiten von
294
Klaus,
Jürgens, Kauz und Reese. Gegen einige Interpretationen von Klaus, der
für seine Arbeiten Trude Bürkner-Mohr und Jutta Rüdiger, die beiden
höchsten ehemaligen BDM-Führerinnen, interviewt hat, hat J. Rüdiger
(1984) "eine Richtigstellung" veröffentlicht.
Zur
Jugendopposition: Breyvogel; Klönne 1981 und 1982; Muth; Peukert 1980
und 1982; Peukert/Reulecke.
Zur
"Kinderlandverschickung": Dabel; Hermand; Kock 1997; Larass.
Zu
den "Adolf-Hitler-Schulen": Orlow; Scholtz (1972, 1985); kritisch dazu
als "Ehemaliger" Klüver.
Zur "Akademie für
Jugendführung": Schultz.
Zu dem, was jenseits der
"HJ-Fähigkeit" geschah: Jureit; Kuhlmann; Otto/Sünker; Scherer; Peukert
(1982); Wolff 1985 und 1992.
Zur Jugendgeschichte
allgemein: Giesecke; Roth; von Trotha; Schelsky.
Autobiographische
Darstellungen
Böll;
Brückner; Finckh; Hannsmann; Henningsen; Klafki (1990); Kruges;
Maschmann; Reich-Ranicki; Steinbach; Sternheim-Peters; Stolze; Walb.
295 Literatur
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304
die
23
gleiche Aufgabe der
"Volkserziehung", und
Hitler sprach dies im Jahre 1937 auch aus: "Wir können deshalb auch nicht
zugeben, daß
irgendein taugliches Mittel für diese Volksausbildung und
Erziehung von
dieser Gemeinschaftsverpflichtung ausgenommen werden könnte.
Jugenderziehung - Wehrmacht, sie sind alle Einrichtungen dieser
Erziehung und Ausbildung unseres Volkes. Das Buch, die Zeitung, der
Vortrag, die Kunst, das Theater, der Film, sie sind alle Mittel dieser
Volkserziehung." (Zit. n. Steinhaus, 48) Auf diesem Hintergrund ist
jene bekannte Rangordnung der Erziehungsziele zu verstehen, die Hitler
formulierte: "Der
völkische Staat hat ... seine
gesamte
Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen
Wissens
einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder
Körper. Erst in
zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten.
Hier
aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die
Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der
Erziehung
zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die
wissenschaftliche Schulung" (452). Auf den ersten Blick ist an
diesem
Programm für jene
Zeit nichts außergewöhnliches. Es gab damals auch in der
bürgerlichen
Reformpädagogik eine breite Diskussion über die sogenannte
"Verkopfung"
der Schule, daß den Schülern zu viel totes Wissen
eingetrichtert würde,
daß dabei die Charakterbildung zu kurz komme und daß die
Erziehung
überhaupt zu lebensfern sei. Daß zudem die Schule
körperfeindlich sei
und vor allem in den Großstädten die Leibeserziehung
vernachlässige,
gehörte ebenfalls zu den häufig zu hörenden Klagen. Wenn
Hitler also
die damals herrschende Rangfolge der Erziehungswerte umkehrte, die
körperliche Erziehung an die erste Stelle, die Charakterbildung an
die
zweite und die wissenschaftliche Schulung an die dritte Stelle setzte,
dann sprach er damit eine weit verbreitete Stimmung an. Aber das Bild
vom "Heranzüchten kerngesunder Körper" verweist schon darauf,
daß hier
nicht die Leibeserziehung im Interesse der Bildung des einzelnen
Menschen gemeint war, sie sollte vielmehr den rassistischen Zwecken des
neuen völkischen Staates dienen. 24
"Die körperliche
Ertüchtigung
ist daher im
völkischen Staat nicht eine Sache des einzelnen, auch nicht eine
Angelegenheit, die in erster Linie die Eltern angeht, und die erst in
zweiter oder dritter die Allgemeinheit interessiert, sondern eine
Forderung der Selbsterhaltung des durch den Staat vertretenen und
geschützten Volkstums ... . Der völkische Staat ... hat seine
Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper schon
in ihrer
frühsten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die
notwendige
Stählung für das spätere Leben erhalten" (453). Geradezu enthusiastisch
äußerte er sich in diesem Zusammenhang über das Boxen.
"Es gibt keinen Sport, der
wie dieser den
Angriffsgeist in gleichem Maße fördert, blitzschnelle
Entschlußkraft
verlangt, den Körper zu stählerner Geschmeidigkeit erzieht
... . Vor
allem aber, der junge, gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen
lernen.
Das mag in den Augen unserer heutigen Geisteskämpfer
natürlich als wild
erscheinen. Doch hat der völkische Staat eben nicht die Aufgabe,
eine
Kolonie friedsamer Ästheten und körperlicher Degeneraten
aufzuzüchten.
Nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten
Jungfer sieht
er sein Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung
männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt
zu bringen
vermögen" (454). Hart
sein und leiden können soll der
ideale
Nationalsozialist. Darauf zielt auch die Charakterbildung im neuen
Staat. "Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit sind Tugenden, die ein
großes Volk nötig braucht, und deren Anerziehung und
Ausbildung in der
Schule gewichtiger ist als manches von dem, was zur Zeit unsere
Lehrpläne ausfüllt. Auch das Aberziehen von weinerlichem
Klagen, von
wehleidigem Heulen usw. gehört in dieses Gebiet. Wenn eine
Erziehung
vergißt, schon beim Kinde darauf hinzuwirken, daß auch
Leiden und
Unbill einmal schweigend ertragen werden müssen, darf sie sich
nicht
wundern, wenn später in kritischer Stunde, wenn einst der Mann an
der
Front steht, der ganze Postverkehr einzig der Beförderung von
gegenseitigen Jammer- und Winselbriefen dient" (461).
Ferner komme es darauf an,
die Willens-
und Entschlußkraft sowie die Verantwortungsfreudigkeit
auszubilden. Mit Ver- 25
antwortung war aber nicht
gemeint, eine
Entscheidung
zu treffen, nachdem man alle Umstände erörtert und die
Konsequenzen für
andere Menschen bedacht hat - im Gegenteil: Wille und
Entschlußkraft
des fanatischen Menschen waren gemeint, der im
blinden
Glauben,
nicht ruhig analysierend handelt. Höhnisch rechnet Hitler mit
denjenigen ab, die nur handeln, nachdem sie sich gewisse
Wahrscheinlichkeiten des Erfolges ausgerechnet haben:
"Wer vom Schicksal erst die
Bürgschaft für den
Erfolg fordert, verzichtet damit von selbst auf die Bedeutung einer
heroischen Tat. Denn diese liegt darin, daß man in der
Überzeugung von
der Todesgefährlichkeit eines Zustandes den Schritt unternimmt,
der
vielleicht zum Erfolg führen kann" (463). Verantwortung ist hier keine
Kategorie
des normalen
bürgerlichen Handelns, sondern an Grenzsituationen orientiert: das
fast
Aussichtslose zu wagen. Für Hitler gab es keine mittlere zivile
Ausgewogenheit, sondern nur extreme Haltungen, Gesinnungen und
Tatsachen: gesund - krank; Freund - Feind; rein - unrein, entweder -
oder. "Die
deutsche Jugend wird dereinst
entweder der
Bauherr eines neuen völkischen Staates sein, oder sie wird als
letzter
Zeuge den völligen Zusammenbruch, das Ende der bürgerlichen
Welt
erleben" (450). Wenn
wir also den
rassistisch-biologistischen
Ausgangspunkt außer acht lassen, waren Hitlers
Äußerungen über
Erziehung zu einem guten Teil nicht ungewöhnlich, aber es sollte
sich
bald herausstellen, daß es ein Fehler vieler Zeitgenossen war,
gerade
diese rassistischen Vorgaben nicht ernstzunehmen; denn wenn sie Hitlers
Kapitel über Erziehung gelesen haben, dann haben sie auch folgende
Stelle gelesen, in der sich Rassenhaß und Sozialneid zu einer
unerträglichen Borniertheit verbinden. "Von Zeit zu Zeit wird in
Illustriertenblättern dem
deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da und dort
zum ersten Mal ein
Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen
geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine
solche
Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt für
dieses
fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst versteht der Jude sehr
schlau daraus 26
einen neuen Beweis für die
Richtigkeit seiner den
Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen
zu
konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt
nicht
auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde an
jeder
Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen
geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm
einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen
Angehörige der
höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen
verbleiben
müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen
Schöpfers ist,
wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen
im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt,
während man
Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert. Denn
um eine Dressur handelt es sich dabei, genauso wie bei der des Pudels,
und nicht um eine wissenschaftliche Ausbildung. Die gleiche Mühe
und
Sorgfalt auf Intelligenzrassen angewendet, würde jeden Einzelnen
tausendmal eher zu gleichen Leistungen befähigen" (478).
Der deutsche Bauernjunge
kann - weil
arisch -
grundsätzlich zu Höherem fähig sein, ein Negerjunge -
weil nicht arisch
- auf keinen Fall. Es sollte sich bald herausstellen, daß dieser
Rassismus nicht nur ernst gemeint war, sondern sogar zum Leitmotiv des
politischen Handelns wurde.
Politisch-pädagogisches Resümee
Zusammenfassend
läßt sich
über Hitlers Erziehungsvorstellungen folgendes sagen:
1. Ihre
rassistisch-biologistische
Grundlage ist
unbezweifelbar; nur in diesem Zusammenhang sind alle
Äußerungen über
pädagogische Einzelheiten zu verstehen. Dieser radikale und
fanatische
Rassismus, der sich, wie das Zitat zeigt, keineswegs nur gegen die
Juden richtete, wurde von den anschließend vorzustellenden
Pädagogen
nicht geteilt. Charakteristisch für ihn war die
Unmöglichkeit, darüber
zu verhandeln. Die Tatsache, daß jemand einer anderen Rasse
angehörte,
schloß ihn von vornherein aus dem deutschen Volkszusammenhang
aus.
Diese Vorstellung implizierte zumindest die Unterdrückung wenn
nicht
die Vernichtung anderer Ras- 27
sen; jedenfalls sah Hitler
die
verschiedenen Rassen
nicht als gleichwertig an, die arische galt ihm als Herrenrasse, die
das Recht habe, über die anderen zu herrschen. Die
mörderischen
Konsequenzen aus diesem anthropologischen Wahn konnte er allerdings
erst im Kriege ziehen, als er die Loyalität der Deutschen durch
die
scheinbare Notwendigkeit der Landesverteidigung erpreßte und sie
mißbrauchte zum Massenmord an den Juden wie auch zum barbarischen
Umgang mit den zu "Untermenschen" herunterdefinierten Völkern
Polens
und der Sowjetunion. Hitlers
Menschenbild beruhte also nicht
auf der
Gleichheit der Menschen, sondern auf ihrer angeblich naturbedingten
Ungleichheit. Deshalb galten für ihn auch die allgemeinen
Menschenrechte nicht, die hielt er - wie im Zitat über den Neger
zum
Ausdruck kommt - für eine jüdische Erfindung. In der Pädagogik der NS-Zeit
wirkte
sich dieser
Rassismus besonders in der Behandlung derjenigen Kinder und
Jugendlichen aus, die, obwohl deutsch und "arisch", nicht
"HJ-fähig"
waren, wie im Kapitel 5 zu zeigen sein wird. Die als fremdrassig definierten
Kinder
und
Jugendlichen - z.B. die jüdischen - waren nach dieser Logik
ohnehin
nicht "erziehbar" im Sinne einer Anpassung ihres Verhaltens an die in
Deutschland gültigen sozialen Regeln und Normen, weil es nur auf
das
als rassisch determiniert angenommene genetische Potential ankam, das
weder durch Politik noch Erziehung verändert werden könne.
Sachlich gesehen ist das
Unsinn. Bisher
haben sich
signifikante genetische Unterschiede zwischen sogenannten "Rassen"
nicht nachweisen lassen, sondern nur zwischen Individuen, und diese
Unterschiede verteilen sich offensichtlich einigermaßen gleich
unter
den sogenannten "Rassen". Die bisherige "Rassenforschung", wie sie in
der NS-Zeit ihren berüchtigten Höhepunkt erreichte, hat
bezeichnenderweise immer eine "Rasse" - nämlich die "weiße"
bzw.
"arische" - als den anderen "überlegen" "erwiesen". Auf diese Weise
ließen sich imperiale Ansprüche der "Weißen"
gegenüber anderen Völkern
als naturbedingt, also als durch soziales Handeln nicht
veränderbar,
begründen. Vom
Rassismus übrig bleibt die
Tatsache kultureller Fremdheit, wie wir sie heute auch zum Teil im
Umgang mit Asylbe- 28
werbern erleben, die aus uns
fremden
Kulturen
kommen. Kulturelle Fremdheit aber bereitet vielen Menschen Angst, und
diese ist politisch mobilisierbar, weshalb Rassismus wohl auch in
Zukunft eine Gefahr bleiben wird, obwohl er wissenschaftlich nicht
gestützt werden kann. 2.
Aus der Annahme, daß die
Bedrohung des Volkes in
erster Linie eine rassische sei, folgte das Konzept des totalen
Erziehungsstaates. Erziehung war nun nicht mehr wie in der bisherigen
pädagogischen Tradition ein bestimmtes und begrenztes Einwirken
von
Erwachsenen auf noch nicht Erwachsene, das sein Ende mit dem Status des
Erwachsenseins findet, vielmehr sind nun alle lebenden Generationen
gleich mündig bzw. unmündig. Die mit den Aufgaben des
völkischen
Staates gegebenen prinzipiellen Erziehungsziele gelten für alle
Generationen, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht. Während
die
Kinder und Jugendlichen von vornherein in diesem Sinne erzogen werden
können, müssen die bereits anders erzogenen Erwachsenen
umerzogen
werden. Dazu dienten dann in der Praxis die zahllosen Schulungslager.
Ferner folgte aus diesem totalen Erziehungskonzept eine Umkehrung des
Generationenverhältnisses. Die Jungen hatten nun die Chance, eher
nationalsozialistisch erzogen zu werden als die Älteren. Ein
entsprechendes Selbstbewußtsein entwickelte die HJ dann auch z.B.
gegenüber der Schule. 3.
In diesem Erziehungskonzept werden die
Grenzen
von Erziehung, Bildung, Indoktrination, Agitation und Propaganda
fließend. Angewendet wird das Verfahren, das bei bestimmten
Menschen in
einer bestimmten Situation am meisten Erfolg verspricht. Dadurch wird
aber ein kritisches, theoretisch fundiertes Nachdenken über
pädagogisches Handeln erschwert und als Folge davon das berufliche
pädagogische Selbstverständnis unterhöhlt. Erziehung und Bildung sind nun
nicht mehr
allein
Sache eines bestimmten Berufsstandes, der eine eigene Berufsethik
entwickelt und nach deren Normen seine Aufgaben erfüllt. Vielmehr
wird
jeder zum Erzieher der anderen, der sich im Besitz der rechten
Gesinnung glaubt. Die pädagogischen Berufe sind nun nicht mehr
orientiert am Wohl des einzelnen Kindes, sondern treten dem Kind
gegenüber als Übermittler der offiziell propagierten
NS-Ideologie. Alle
Berufe, die auf 29
Menschen bezogen sind,
werden in diese
völkische
Erziehungs-Agitation eingespannt. Das galt z.B. auch für die
Ärzte, die
- wie wir heute wissen - bei der Durchsetzung des Rassismus
gegenüber
gesundheitlich und sozial abweichenden Menschen eine
verhängnisvolle
Rolle gespielt haben. 4.
Normalerweise geht es in der Erziehung
darum,
Kinder und Heranwachsende zu befähigen, selbständig am Leben
der
Gemeinschaft teilnehmen zu können. Wenn dies mißlingt,
kommen
schlimmstenfalls in diesem Sinne schlecht erzogene Kinder dabei heraus.
Hitlers Erziehungsziele sind jedoch nicht am einzelnen Menschen
orientiert, sondern an dem, was er für die Entwicklungsgrundlage
des
völkischen Staates hält. Eine scheiternde Erziehung
gerät nun in die
Nähe der Staatsgefährdung. Daraus wiederum ergibt sich
gleichsam
zwangsläufig ein Bündnis von Pädagogik und Polizei. Wer
sich nicht als
"richtig erzogen" erweist, der muß mit polizeilichen Reaktionen
rechnen. Polizeiterror und Erziehung verschmelzen hier zu zwei Seiten
einer Münze. Die auf den ersten Blick enorme Aufwertung der
Erziehung
erweist sich als deren Unterwerfung. So verwundert es nicht, daß
Hitler
die Lehrer im Grunde verachtete und lieber auf die Techniken der
Massenbeeinflussung setzte, also auf Propaganda. Auch damit
beschäftigt
er sich in "Mein Kampf' ausführlich. 5. In unserem Eingangszitat
beschreibt
Hitler
triumphierend eine Bilderbuch-Sozialisation im Rahmen der
nationalsozialistischen "Formationen"
(HJ-Arbeitsdienst-Wehrmacht-SA-SS). Bei dieser Aufzahlung fehlen jedoch
einige wichtige Sozialisationsinstanzen: Familie, Kirche und vor allem
die Arbeitswelt. Bei
den Erwachsenen hielten sich die
Möglichkeiten
des Erziehungsstaates in Grenzen. Im Zentrum ihres Lebens stand nicht
die SA, die ohnehin weitgehend zu einem männerbündischen
Kameradschaftsverein verkam, sondern die Erwerbsarbeit und die
Sicherung der materiellen Existenz. Auch im Dritten Reich galt der
kapitalistische Grundsatz weiter, daß für möglichst
wenig Lohn
möglichst viel geleistet werden sollte. Die Erwerbsarbeit hatte
also
ihre eigenen Gesetze, man konnte sie zwar mit politischen Appellen
anheizen und mit Nazi-Symbolen umstellen, die Arbeiterschaft als
"Gefolgschaft" bezeichnen und den Hitler-Gruß verordnen, aber
30 die
Arbeit sozialisierte die Menschen
nicht von diesen Symbolen her. Für das Aufwachsen der Kinder
jedoch
darf Hitlers
Vision des Erziehungsstaates nicht unterschätzt werden.
Entscheidend
war damals nicht allein, was der Lehrer in der Schule den Kindern
sagte, sondern daß das Kind, wenn es die Schule verließ,
draußen in der
Öffentlichkeit und im Rundfunk auf die gleichen Parolen und
Gestimmtheiten traf. Es ist den Nationalsozialisten zu einem
erheblichen Teil gelungen, eine Art von eindimensionaler, geschlossener
Sozialisation für Kinder und Jugendliche zu arrangieren, in der
alternative Denk- und Verhaltensweisen kaum zur Erfahrung werden
konnten. Lediglich die Familie und gegebenenfalls eine
Religionsgemeinschaft konnten unter Umständen gegenläufig
wirken. Trotz
des rassistischen Radikalismus
ließen sich aus
Hitlers Vorstellungen wenig praktisch-pädagogische Konsequenzen
ziehen.
Diese Lücke bot nun Pädagogen, die sich für
Nationalsozialisten
hielten, einen verhältnismäßig breiten Spielraum
für eigene Initiativen
an, um sich zum pädagogischen Chefideologen zu profilieren. Einer
von
ihnen war Ernst Krieck. 31
2.
Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)
Leben und Werk
Ernst Krieck wurde 1882 als
Sohn eines
unselbständigen Maurers und Kleinbauern in Vögisheim in
Südbaden
geboren. Er besuchte die Realschule, anschließend das
Lehrerseminar,
war mit 18 Jahren Junglehrer und blieb mit Unterbrechungen bis 1928 als
Volksschullehrer tätig. Für
einen Jungen, der lernwillig
war, aber das Geld
für den Besuch des Gymnasiums oder gar für ein Studium nicht
aufbringen
konnte, war der Weg über die Lehrerausbildung damals - vor dem
Ersten
Weltkrieg - nahezu der einzige, um zu einer höheren Bildung zu
gelangen. Dieser Weg war bedrückend und demütigend, denn der
Volksschullehrer sollte nichts weiter als gesinnungstreue, der
Kulturtechniken halbwegs kundige Untertanen produzieren, und
entsprechend wurden die Lehrer behandelt. Die Volksschule kannte damals
noch keine moderne Pädagogik, sie war eine Drill- und Paukschule.
Für seinen Beruf war Krieck
"überqualifiziert" - wie
man heute sagen würde; er fühlte sich unterfordert und
kompensierte
dies durch Fortbildung und autodidaktische Studien. Ferner engagierte
er sich publizistisch für die liberale Berufsorganisation der
Volksschullehrer, den Deutschen Lehrerverein. Er redigierte eine
Badische Lehrerzeitung und schrieb zahllose Artikel, mit denen er in
die bildungs- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer
Zeit eingriff. Dabei
ging es vor allem um zwei Fragen:
um die
Konfessionalität der Volksschule und um den chancengleichen Zugang
der
Arbeiterkinder zur höheren Bildung. Das Volksschulwesen lag
traditionell in
der Hand der Kirchen. Zwar hatte im 19. Jahrhundert der Staat formell
die 33
Schulaufsicht übernommen,
sie aber
den Kirchen
wieder zur Ausübung übertragen, weil die Volksschulen
konfessionell
waren und dies auch nach dem Willen des Staates bleiben sollten. Diese
kirchliche Schulaufsicht, die nicht von pädagogischen Fachleuten,
sondern von Geistlichen ausgeübt wurde, wurde von den im Deutschen
Lehrerverein organisierten Volksschullehrern bekämpft. Sie
forderten
die staatliche, von pädagogischen Fachleuten auszuübende
Schulaufsicht,
aber erst 1918 wurde diese Forderung realisiert. Ferner wurde in diesem
Zusammenhang die nationale - also konfessionell neutrale -
Einheitsschule gefordert - eine Vorläuferin der heutigen
Gesamtschule.
Alle Kinder sollten in eine Schule gehen und dort je nach ihren
Fähigkeiten einen Abschluß auf der Höhe der Volks-,
Real- oder
Gymnasialstufe machen. Die "Einheitsschule" sollte also eine
Stufenschule sein. Nun
wurde zwar 1918 die geistliche
Schulaufsicht
abgeschafft, nicht jedoch die Konfessionsschule. Sie wurde sogar in der
Weimarer Verfassung ausdrücklich wieder verankert, allerdings mit
der
Einschränkung, daß auf Wunsch der Eltern auch weltliche
Schulen
eingerichtet werden könnten. Die Einzelheiten sollten durch ein
"Reichsschulgesetz" geregelt werden, das aber nicht zustande kam, so
daß weltliche Schulen wegen fehlender rechtlicher Grundlagen
verhindert
werden konnten, die Konfessionsschule aber Regelschule blieb.
Eine Konsequenz der Idee der
"Einheitsschule" war
die einheitliche Lehrerbildung, also die Universitätsausbildung
auch
für Volksschullehrer. Beides konnte jedoch nicht realisiert
werden,
verwirklicht wurde 1920 nur die vierjährige gemeinsame Grundschule
für
alle Kinder; vorher wurden diejenigen Kinder, die ein Gymnasium
besuchen sollten, auf sogenannten "Vorschulen" darauf vorbereitet. Das
bedeutete, daß die Volksschüler und die Gymnasiasten vom
ersten
Schultag an getrennte Schulen besuchten. Die bildungspolitischen
Vorstellungen der
erwähnten
Volksschullehrerorganisation wurden von der SPD unterstützt, weil
sie
geeignet erschienen, das "Bildungsprivileg" des Bürgertums zu
brechen
und den entsprechend begabten Arbeiterkindern einen Aufstieg durch
höhere Bildung zu ermöglichen. Auch Ernst Krieck setzte sich für
diese Forderungen publizistisch ein, zumal er an sich selbst erfahren
hatte, wie 34
schmerzlich es ist, aus
finanziellen
Gründen auf den
Besuch des Gymnasiums und auf ein Studium verzichten zu müssen.
Sein
Hauptgegner wurde dabei das Zentrum, die politische Partei des
Katholizismus. Sie spielte während der Weimarer Zeit insofern eine
problematische Rolle, als ihr Hauptziel die Erhaltung und wenn
möglich
die Vermehrung des Einflusses der katholischen Kirche auf das
Bildungswesen und auf das kulturelle Leben überhaupt war. Für
dieses
Ziel war die Partei bereit, jede nur denkbare Koalition einzugehen -
ohne Rücksicht auf andere politische Sachfragen. So hatte sie in
Bayern
1924 durch ihren dortigen Ableger, die Bayerische Volkspartei, ein
Konkordat durchsetzen können, das ihren Vorstellungen über
die
konfessionellen Volksschulen und die Lehrerausbildung weitgehend
entsprach. Krieck nahm dies zum Anlaß einer öffentlichen
Auseinandersetzung. Ohne die katholische Religion anzugreifen, forderte
er die uneingeschränkte staatliche Trägerschaft des
Bildungswesens. "Der
Anspruch der Kirche auf die
Vorherrschaft in
der öffentlichen Erziehung ist eine durch gar nichts
gerechtfertigte
Anmaßung. Die Kirche ist nicht imstande, aus ihren Mitteln, ihrem
geistigen Besitz den Lehrplan auch nur einer Volksschule zu
füllen. Es
gibt keine katholische Erdkunde, keine protestantische Raumlehre, keine
jüdische Sprachwissenschaft, keine freireligiöse Chemie... .
Der Staat
ist verloren und verkauft, der die Staatsbürgerbildung nicht aus
eigener Machtvollkommenheit und eigenen Machtmitteln leisten kann"
(Zit. n. G. Müller, 66). Auf
diesen Artikel reagierte die Presse
des Zentrums
mit einer zentral gesteuerten Kampagne gegen Krieck. Gerhard
Müller,
dem wir die bisher umfangreichste Untersuchung über Krieck
verdanken,
beurteilt diese Kampagne so: "Man wird sich heute bei
Durchsicht der
Pressestimmen der Meinung Kriecks anschließen können,
daß die
Argumentation der Zentrumspresse größtenteils 'bis zur
Hirnerweichung
blödsinnig' war. Die Pressefehde des Zentrums offenbart auf
verschiedenen Ebenen einen unglaublichen geistigen Tiefstand der
Argumentation, die um der eigenen Sache willen vor keiner demagogischen
Verfälschung des Krieckschen Anliegens, das in seinem Kern nicht
berührt wurde, zurückschreckte . . ." (Müller, 66 f.).
35 Seine
entschiedene Haltung zum Zentrum
entfremdete
Krieck aber allmählich auch seiner Standesorganisation, dem
Deutschen
Lehrerverein. Er griff nämlich nicht nur das Zentrum heftig an,
sondern
auch alle diejenigen, die mit ihm paktierten und Kompromisse schlossen,
was ja auch die Lehrerverbände, die liberale Deutsche Volkspartei
und
die Sozialdemokraten taten. Er durchlebte in den 20er Jahren einen
mehrfachen Entfremdungsprozeß. Seine wissenschaftlichen Arbeiten
entfremdeten ihn seinem Beruf und seinem sozialen Herkunftsmilieu; mit
seiner entschiedenen, kompromißlosen Haltung distanzierte er sich
auch
von denjenigen Verbänden, die ihm eigentlich nahestanden. Ihm
fehlte
das Verständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen; er
dachte
zunehmend im Entweder-Oder-Schema und beurteilte schließlich alle
politischen Organisationen danach, ob sie sich dem Zentrum konsequent
widersetzen oder nicht. Diese starre und nicht selten auch
rechthaberische Argumentationsweise ist sicherlich gefördert
worden
durch die autodidaktische Weise des Studierens. Im Unterschied zum
üblichen Hochschüler mußte er sich nicht ständig
mit anderen Menschen
auseinandersetzen. Schroff ging er auch mit seinen Fachkollegen um, den
Erziehungswissenschaftlern in der Weimarer Zeit, denen er schlicht
Unwissenschaftlichkeit vorwarf. Krieck hat ein umfangreiches
publizistisches Werk
hinterlassen, auf das wir hier nicht im ganzen eingehen können.
Vielmehr müssen wir uns auf seine wichtigsten pädagogischen
Schriften
konzentrieren. Sein Hauptanliegen war allerdings ein politisches. Er
versuchte, durch eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte und
Geistesgeschichte die "deutsche Eigenart" herauszufinden und daraus
entsprechende Vorschläge für die Neuformierung von Volk und
Staat zu
entwickeln. Für unseren Zusammenhang ist daran bedeutsam,
daß er
pädagogische Fragen, wenn er sich damit beschäftigte, immer
im
Zusammenhang seiner darüber hinausgehenden politischen Ambitionen
sah. "Philosophie
der Erziehung" Im
Jahre 1922 erschien sein
erziehungswissenschaftliches Hauptwerk unter dem Titel "Philosophie der
Erziehung", das ihn mit einem Schlag berühmt machte und ihm die Eh-
36 rendoktorwürde
der Universität
Heidelberg eintrug.
Die Thesen dieses Buches waren damals ungewöhnlich. Nicht das, was
einzelne Personen wie Eltern und Lehrer mit Kindern absichtsvoll - also
intentional - tun, sei das entscheidende an der Erziehung, sondern die
Art und Weise, wie Kinder in den sozialen Gemeinschaften aufwachsen.
Diese Gemeinschaften erziehen "funktional", also durch ihre bloße
Existenz, und einzelne Personen, z.B. die Eltern oder Lehrer, sind nur
Funktionsträger solcher Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde,
Kirche,
Volk. Und die Gemeinschaften formen keine Individuen, sondern Typen,
d.h. sie versuchen, den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild zu
prägen. Diesen Prozeß der kollektiven Assimilierung des
Menschen nannte
er Zucht. Das war nicht biologisch gemeint, etwa im Sinne von
Tierzüchtung, sondern einer Prägung durch Sitten und Normen
der
jeweiligen Gemeinschaft. Die Gemeinschaften jeder Art seien
"überindividuelle und ursprüngliche geistige Organismen,
nicht aber
Zweckverbände aus freier Wahl und Summierung Einzelner"; Erziehung
sei
"eine Urfunktion im Gemeinschaftsleben, genauso, wie Sprache, Religion,
Recht, Kunst, gemeinsame Arbeit Urfunktionen des Gemeinschafts- oder
Geisteslebens sind" (45). Mit
dieser These wendet sich Krieck gegen
die
Beschränkung der modernen Pädagogik auf die rational
veranstaltete
Erziehung in Schulen und Hochschulen; diese sei nur die oberste von
drei Schichten, in denen sich "funktionale" Erziehung ereigne. "Die
unterste Schicht erzieherischer Faktoren besteht aus den
unbewußten
Wirkungen, Bindungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch. Sie bilden
den Untergrund des Gemeinschaftslebens, die unmittelbarste und
stärkste
Bindung im organischen Gefüge... ." (47). Die zweite Schicht der
funktionalen
Erziehung sei zu
finden auf der Ebene des bewußten sozialen Handelns in der
Familie, am
Arbeitsplatz usw. "Von jeglicher Verständigung zwischen Menschen,
von
jeglicher Gemeinsamkeit wie von jedem Gegensatz, von allem gemeinsamen
oder gegenwirkenden Tun, mit einem Wort: von jeder Wechselwirkung gehen
auf die Beteiligten erzieherische Wirkungen aus, auch wenn diese
Wirkungen weder beabsichtigt sind noch auch bewußt werden. Die
Menschen
werden sich darin zu gegenseitig bildenden Mächten: sie
müssen sich
nacheinander richten, auf- 37
einander einstellen,
ineinander
fügen, und das Maß,
das Ergebnis der dabei beteiligten Wirkungskräfte bestimmt die
innere
Form, die Bildung, die Richtung des geistigen Werdens bei allen
Teilnehmern. Wenn zwei Menschen an einem Geschäft oder an einer
Arbeit
teilnehmen, so wirken sie beständig durch Übereinstimmung
oder
Gegensatz erzieherisch aufeinander" (48). Erst auf der Ebene der rational
organisierten
Erziehung finden wir Erziehungsabsichten, Zwecke und Methoden; aber
auch sie "besteht niemals abgelöst und für sich allein; sie
ist stets
verknüpft mit irrationalen Lebenskräften, die sie tragen und
dem Ganzen
organisch verbinden. Ohne sie würde jede höhere Bildung und
Kultur
rasch austrocknen, verdorren und absterben" (49).
Diese drei Schichten der
funktionalen
Erziehung
seien gleichrangig zu sehen, als aufeinander angewiesen, und auch die
rational organisierte Erziehung könne man nicht verstehen, wenn
man die
anderen beiden Schichten nicht berücksichtige. Erziehung finde aber nicht nur in
einer
solchen
"Tiefengliederung", sondern auch in einer "Breitengliederung" statt.
"Die Pole sind die Selbsterziehung der Gemeinschaft und die
Selbsterziehung der Einzelnen. Dazwischen spannt sich das weite Gebiet
der Fremderziehung, und zwar der wechselwirkenden Fremderziehung der
Glieder, also des Ich und des Du, ferner die Fremderziehung jedes
Gliedes durch die Gemeinschaft und endlich die Fremderziehung der
Gemeinschaft durch die Glieder. Dazu tritt dann noch die Erziehung der
Gemeinschaft durch andere Gemeinschaften, also durch die
Wirkungsbeziehungen kultureller, wirtschaftlicher und politischer Art
nach außen" (50 f). Erziehungswirkungen
ergeben sich demnach
also nicht
nur in pädagogischen Einrichtungen wie in der Schule, und nicht
nur
dadurch, daß Einzelne auf Einzelne einwirken; auch Gemeinschaften
wirken aufeinander, auch eine Korporation wie z.B. die Ärztekammer
hat
eine erzieherische Bedeutung nicht nur im Hinblick auf ihre Mitglieder,
sondern auch in Bezug zu anderen Korporationen, z.B. den Kirchen. Im
Grunde hat nach Krieck das gesamte soziale und gesellschaftliche Leben
eine erzieherische Implikation, und in dem Maße, wie der einzelne
Mensch Mitglied von Gemein- 38
schaften und Korporationen
ist, wird er
auch nach
deren jeweiligen Typenerwartungen erzogen und trägt von sich aus
im
Rahmen seiner sozialen Teilhabe zur Erziehung anderer bei.
Eine Sonderstellung nimmt in
diesem
Konzept die
Familie ein. Sie ist die Urzelle des Gemeinschaftslebens, trägt
als
Keim die Grundlagen der größeren Gemeinschaften in sich. Die
höchste
Form der Gemeinschaft ist das "Volk". Zu ihm stehen alle anderen
Gemeinschaften im Verhältnis der "Gliedschaft", wie auch die
Individuen
"Glieder" ihrer Gemeinschaften sind. Das Verhältnis der Glieder
zum
jeweiligen "Ganzen" ist so zu sehen, daß - wenn dieses System
funktioniert - die Glieder trotz vorhandener Spannungen in das
größere
Ganze eingebunden bleiben. In diesem Verständnis gibt es keine
einseitige Abhängigkeit oder gar Unterdrückung der Glieder
durch das
höhere Ganze, vielmehr wird den Gliedern im Rahmen ihrer Funktion
für
das Ganze auch relative Autonomie zugestanden. Allerdings setzen die
Gemeinschaften auch Grenzen für den Spielraum des abweichenden
Verhaltens, weil sie sonst ihre Zerstörung zulassen würden.
"Was aber immer den
Grundgesetzen und
Existenzbedingungen einer solchen Gemeinschaft zuwiderläuft, wird
erbarmungslos unterdrückt, auch wenn es an sich, rein menschlich
genommen, noch so wertvoll wäre. Setzen sich dann solche Menschen
und
Werte trotzdem durch, hat die Gemeinschaft nicht mehr Gewissen und
Kraft zur Normierung des Nachwuchses, dann ist eben sie ihrerseits vor
die revolutionäre Probe auf Existenzrecht und Lebenskraft
gestellt"
(19). Im
Klartext heißt das: Im
äußersten Konfliktfalle
wird entweder der einzelne ausgeschlossen - auf welche Weise immer -,
oder die Gemeinschaft zerbricht an seiner Abweichung.
Erziehung erweist sich als
ein
höchst komplexes
Zusammenspiel von Wirkungen und Gegenwirkungen. Krieck unterscheidet
also vier gleichberechtigte Formen der Erziehung:
1. Die Gemeinschaft erzieht
die Glieder.
2. Die
Glieder erziehen einander. 3. Die Glieder erziehen die Gemeinschaft. 4.
Die Gemeinschaft erzieht die Gemeinschaft. 39
Um diese Argumentation zu
verstehen
muß man sich vor
Augen halten, daß Krieck nicht jede soziale Formation als
Gemeinschaft
versteht. Zweckverbände wie die Gewerkschaften, in die man
eintreten
und aus denen man jederzeit wieder austreten kann, zählen dazu
nicht,
weil sie nicht über die erste Stufe der "funktionalen" Erziehung,
nämlich den irrationalen gemeinsamen Untergrund verfügen.
Überhaupt ist
schwer zu ermitteln, wo Krieck die Grenze setzt, ob z.B. die Schulen
dazugehören. Gemeint ist mit den vier Erziehungsformen etwa
folgendes:
Die Ärzteschaft beispielsweise als Korporation erzieht durch die
Regeln
ihres Standesethos ihre einzelnen Mitglieder; die erziehen zugleich
auch einander, indem sie etwa gegenseitig auf die Regeln achten. Die
einzelnen Ärzte erziehen aber umgekehrt auch ihre eigene
Gemeinschaft,
nämlich die Korporation, indem sie darauf achten, daß diese
die Regeln
einhält, oder indem sie darauf drängen, daß sie
modifiziert werden,
weil sie etwa neuen Zeitumständen angepaßt werden
müssen. Als
Gemeinschaft erzieht die korporierte Arzteschaft aber auch andere
Gemeinschaften, etwa die Kirchen, indem sie z.B. in Fragen der
Abtreibung einen entsprechenden Druck ausübt. Einleuchtender ist
vielleicht das Beispiel der Familie: Die Familie als Gemeinschaft
erzieht die Glieder, z.B. die Kinder, die sich wiederum untereinander
erziehen, zugleich erziehen sie wiederum die Familie als Gemeinschaft,
indem sie deren Normen etwa auch gegenüber den Eltern zur Geltung
bringen. Als Gemeinschaft erziehen sie andere Gemeinschaften, etwa die
Nachbarfamilien. Diese
Formen der "Fremderziehung" werden
ergänzt durch zwei Formen der "Selbsterziehung". 1. Die Gemeinschaft erzieht sich
selbst.
2. Der Einzelne erzieht sich selbst. Unklar bleibt hier, wie
Gemeinschaften
sich selbst
erziehen sollen, wenn nicht durch entsprechende Aktivitäten ihrer
Mitglieder, also durch eine der eben genannten Formen der
"Fremderziehung". Zu verstehen ist das nur unter der Voraussetzung,
daß
Gemeinschaften wie einzelne Menschen lebende Organismen seien.
"Selbsterziehung" könnte man sich vorstellen als Leistung des
Individuums, sich in diesem Komplex unterschiedlicher
Erziehungsansprüche eine eigene, persönliche Version zu
verschaffen,
indem es die dafür 40
vorhandenen Spielräume
nutzt. So
ähnlich sieht es auch Krieck: Im allgemeinen werde der Einzelne
durch
"Selbstformung und Selbsterziehung" sich an den erwarteten Typus
anpassen, ihm seine individuelle Version geben. Aber schöpferische
Menschen können auch den kollektiven Typus verändern,
"umschaffen,
erhöhen oder erweitern". Selbst Genies allerdings seien nur in
einer
begrenzten Hinsicht originell, im übrigen aber blieben auch sie am
Durchschnitt ihres sozialen Typus gebunden. Krieck nennt diesen komplexen
Zusammenhang der
Erziehung "organisch", und diese Kennzeichnung verweist auf sein
politisch-gesellschaftliches Grundverständnis. Auf den ersten
Blick
könnte man meinen, hier handle es sich um eine soziologische
Erziehungstheorie, denn schließlich spielen die sozialen
Gemeinschaften
dabei die zentrale Rolle. Das trifft aber zumindest im Sinne der
modernen, empirisch arbeitenden Soziologie nicht zu. Es geht ihm nicht
nur um die empirisch feststellbaren Wirkungen, sondern auch um die
irrationalen Untergründe, die er in den Gemeinschaften vermutet.
Die
Gemeinschaften sind keine Zweckverbände, deren Mitglied man je
nach
Interesse werden kann oder nicht, in ihnen sind die Menschen nicht
"gleich", wie sie vor dem Gesetz oder als wahlberechtigte
Staatsbürger
gleich sind. Sein Begriff der Gemeinschaft ist ausdrücklich als
Gegenkonzept gedacht zu den modernen liberalen Vorstellungen, die auf
der Gleichheit der Menschen basieren, was ja zur Voraussetzung hat,
daß
das Individuum prinzipiell als losgelöst von seinen konkreten
sozialen
Kontexten gedacht wird, als ein Wesen, das sich von solchen
traditionellen Eingebundenheiten emanzipiert. Auch die modernen
Massenorganisationen der Arbeiterbewegung widersprechen diesem
"organischen" Weltbild. Insofern verbindet sich mit Kriecks Begriff der
Gemeinschaft von vornherein eine anti-liberale und anti-sozialistische
Gegenposition, das politische Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung.
Wenige Jahre später wird er die NS-Bewegung als diejenige
politische
Kraft verstehen, die diese Neuordnung zustandebringen könne.
Krieck glaubte, mit diesem
prinzipiellen
Konstrukt
eine grundlegende "Philosophie" der Erziehung gefunden zu haben, die
Erziehung zu allen Zeiten und für alle Kulturen zu
41 erforschen erlaube. Er nannte
sein
Konzept "autonome
Erziehungswissenschaft" und versuchte es durch weitere Arbeiten
historisch zu untermauern ("Menschenformung", 1925; "Bildungssysteme
der Kulturvölker", 1927). Besonders eindrucksvolle historische
Beispiele für Typenbildung durch Einwirken der Gemeinschaften fand
er
im griechischen Männerbund, im römischen Staat, in der
germanischen
Gefolgschaft und in der mittelalterlichen Handwerksgilde.
Seine wichtigste These war
also,
daß Erziehung ein
soziales Phänomen sei, immer schon vorhanden, wo Menschen leben.
Sie
ist keine von außen an die Gemeinschaften herangetragenene
zusätzliche,
künstliche Institution, auch keine kulturelle Erfindung der
Menschheit.
Lediglich die Formen, in denen die Gemeinschaften die Erziehung
organisieren, sind kulturell geprägt, also auch veränderbar.
Die "Autonomie" der
Erziehungswissenschaft sah
Krieck darin, daß sie nun einen eigenen Gegenstand bekam,
nämlich das,
was sich in jeder Gemeinschaft an erzieherischen Wirkungen abspielt;
sie sei nun weder abhängig von der Ethik, von der die
Pädagogen die
Normen ihres Handelns bezogen, noch von der Psychologie, die die
Techniken des Umgangs mit Kindern bereit stellten.
Seine Argumentation traf in
mancherlei
Hinsicht den pädagogischen Nerv seiner Zeit. 1. Während die damals
tonangebende
geisteswissenschaftliche Pädagogik im "pädagogischen Bezug",
also im
persönlichen Verhältnis von Erzieher und Zögling, den
Ausgangspunkt
aller planmäßigen Erziehung und Bildung sah, hielt Krieck
die Erzieher
und Lehrer vor allem für Funktionäre der sozialen
Gemeinschaften,
spielte also deren Bedeutung wie die Bedeutung ihres
"pädagogischen
Verhältnisses" zu den zu Erziehenden erheblich herunter.
2. Die Reform-Pädagogik
seiner Zeit
verstand sich
als Individualpädagogik; sie strebte danach, die individuelle
Autonomie
des Kindes zu fördern und zu unterstützen. Jedenfalls sah sie
das Kind
nicht als "Typus" irgendeines Kollektivs oder einer Gemeinschaft,
sondern als Einzelwesen, dessen eigentümliche Persönlichkeit
zur
Entwicklung und Entfaltung kommen müsse. Demgegenüber betonte
Krieck,
daß Erziehung zur Individualität gar nicht möglich sei,
diese ent- 42
stehe vielmehr im Rahmen der
Assimilation
an den
Typus durch Selbsterziehung, indem das Individuum sich in diesem
Prozeß
eine persönliche Version des allgemeinen Typus schaffe. Die
Individualität des Kindes stehe der planenden Pädagogik gar
nicht zur
Verfügung, die könne vielmehr nur das gemeinschaftlich
Typische im
Blick haben. 3.
Die Pädagogik seiner Zeit
konzentrierte sich auf
die rationelle Planung von Bildung und Erziehung und war dabei durchweg
normativ orientiert, dachte also - vereinfacht gesagt - über das
Wesen
des Menschen nach, wie er in seiner Vollkommenheit sein sollte, um dann
zu erörtern, wie die Erziehung ihn zu einem solchen Menschen
machen
bzw. sich entwickeln lassen könne, wobei sie den konkreten
sozialen
Kontexten kaum Bedeutung schenkte, in denen die Kinder lebten und
handelten. Diese
Absicht hielt Krieck nicht nur
für eine
Illusion, er macht darüber hinaus auch die unbewußten,
irrationalen
Dimensionen geltend, die beim Aufwachsen von Kindern in den
Gemeinschaften - bei der Familie beginnend - eine Rolle spielen.
4. Die neuzeitliche
Pädagogik ging
davon aus, daß
Erziehung - was immer im einzelnen darunter zu verstehen sei - sich nur
auf Unmündige, also Kinder und Jugendliche beziehen könne,
nicht jedoch
auch auf Erwachsene. Zwar war in der Umgangssprache darüber hinaus
etwa
von der erzieherischen Bedeutung des Militärdienstes die Rede;
abgesehen davon, daß die Rekruten in der Regel minderjährig
waren, also
unter den Erziehungsbegriff paßten, sprach man in der
wissenschaftlichen Pädagogik jedoch im allgemeinen von
"Erwachsenenbildung", wenn man pädagogische Arbeit mit Erwachsenen
meinte. Bei
Krieck nun verliert der Begriff der
Erziehung
diesen begrenzten Sinn, er dehnt sich aus auf alle lebenden
Generationen: "Alle erziehen alle jederzeit". 5. Seiner autonomen
Erziehungswissenschaft ging es nicht mehr darum, die Absichten
irgendwelcher
Erzieher zu untersuchen, sondern die Wirkungen, die
tatsächlich von den einzelnen Gemeinschaften ausgehen. Diese These
traf
die geisteswissenschaftliche Pädagogik insofern zentral, weil
diese
sich gerade in der Tradition der pädagogischen Klassiker ver-
43 stand,
also von Praktikern bzw. Autoren,
die im Kern
über ihre Absichten und die Möglichkeiten der Realisierung
geschrieben
hatten. Kriecks
Einsprüche gegen die
traditionelle Pädagogik
bedrohten also in zentralen Punkten deren Selbstverständnis, und
so ist
nicht verwunderlich, daß die Universitätspädagogik der
Weimarer Zeit
ihn weitgehend zu ignorieren versuchte, zumal Krieck deutlich
aussprach, daß er diese Pädagogik für
unwissenschaftlich und historisch
rückständig hielt. "Die
Pädagogik hat der
geistesgeschichtlichen
Wendung des 19. Jahrhunderts von der Idealkonstruktion zur
geschichtlichen, völkerkundlich und soziologisch begründeten
Erfahrungswissenschaft standhaft Widerstand geboten und ist darum
jederzeit über die Wirklichkeit, statt sie zu erforschen und sie
zu
gestalten, mit Wünschbarkeiten, mit Weltverbesserungsplänen
und
Menschheitsvervollkommnungsversprechen hinweggeflogen ... . Die
Rückständigkeit der Pädagogik mußte notwendig in
ihrem Bereich eine
besonders tiefgehende Krise auslösen, sobald das
Mißverhältnis der von
ihr ausgehenden Verheißungen zur Wirklichkeit deutlich
hervortrat"
(Zit. n. Müller, 243). Krieck
reagierte auf seine
Außenseiterrolle mit
Polemik und bezeichnete die Universitätspädagogen
öffentlich als
"Professorenkonzern" und als "Auflobungsgesellschaft auf
Gegenseitigkeit". Im
Jahre 1928 berief der preußische
Kultusminister
Becker Krieck an die Pädagogische Akademie Frankfurt am Main; sie
war
die einzige simultane Pädagogische Akademie in Preußen, d.h.
die
einzige, auf der katholische und evangelische Volksschullehrer
gemeinsam ausgebildet wurden. Im Juli 1931 hielt er auf einer privaten
Sonnenwendfeier eine Rede, die in dem Schlußruf endete: "Heil dem
Dritten Reich!" Ein sozialdemokratischer Student denunzierte ihn, und
der neue sozialdemokratische Kultusminister Adolf Grimme verfügte
seine
Strafversetzung an die Pädagogische Akademie Dortmund.
Diese Maßregelung war
rechtlich
höchst problematisch
und entfachte in Presse und Hochschulen eine heftige öffentliche
Diskussion. Fast alle Hochschullehrer für Pädagogik schlossen
sich
diesem Protest an. Die Solidarität galt aber nicht nur
44 der
Person Kriecks, sondern vor allem den
jungen
pädagogischen Akademien im ganzen, die die alten
Lehrerbildungsanstalten in Preußen abgelöst hatten. Aus der
Erfahrung
mit diesen ehemaligen Anstalten reagierte man sehr sensibel auf
obrigkeitsstaatliche Eingriffe. Es ist nicht ganz geklärt, ob
Krieck
mit diesem Ausruf die Hitler-Partei gemeint hat. Gerhard Müller
beurteilt in seinem Buch über Krieck den Vorfall so:
"Die kurze Rede war auf die
Situation der
Lehramtskandidaten eingestimmt, denen als Folge der Wirtschaftskrise
mit großer Sicherheit eine ihrer Vorbildung adäquate
Berufslaufbahn
nach Abschluß des Studiums versperrt war. Dieser
bedrückenden Situation
Rechnung tragend sollte die Rede Optimismus, Hoffnung auf bessere
Zeiten und Mut zum Durchhalten wecken. Politisch gesehen war der
Schlußruf eine Naivität, subjektiv wird man Krieck glauben
dürfen, daß
er nicht für das Dritte Reich der nationalsozialistischen Partei
war,
sondern das alte Symbolwort ... als Ausdruck des Namens auf eine
bessere Zukunft in die gesellige Runde warf" (88).
"Nationalpolitische Erziehung"
Krieck
tritt am 1. Januar 1932 in den
nationalsozialistischen Lehrerbund ein, womit die Mitgliedschaft in der
NSDAP automatisch verbunden war. Zu diesem Zeitpunkt kannte er von den
Naziführern nur Alfred Rosenberg - von dem er wenig hielt - und
den
Volksschullehrer Hans Schemm, den Führer des NS-Lehrerbundes.
Schemm,
der vor allem unter Junglehrern Ansehen genoß, propagierte damals
aus
persönlicher Überzeugung, daß der Nationalsozialismus
die Forderungen
der Lehrerbewegung nach einheitlicher Schule und einheitlichem
Lehrerstand erfüllen werde. Für Kriecks Freunde kam der
Eintritt in die
NSDAP überraschend, denn bis dahin zeigte er kaum Sympathien
für die
Hitlerbewegung. Der sozialistische Pädagoge Paul Oestreich meinte,
Krieck sei historisch derart gebildet, daß er daran krank
geworden sei.
Es ist müßig, über persönliche Motive zu
spekulieren. Vielleicht hat
die Verärgerung über seine Strafversetzung eine Rolle
gespielt, die
nicht die einzige persönliche Diskriminierung war, die er in der
Weimarer Zeit erleiden mußte. 45
Deutlich erkennbar ist aber
die Rolle,
die er für sich im Rahmen der Nazibewegung sah. Bis zur Machtergreifung war diese
Bewegung
ideologisch und vor allem in Hinblick auf ihre kulturellen Ziele wenig
festgelegt. Sie hatte kaum kulturell bedeutsame Persönlichkeiten
in
ihren Reihen vorzuweisen. In dieser Lücke sah Krieck offenbar eine
Chance, seine Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Dabei setzt er auf
die Dynamik der Bewegung, von der er annahm, daß sie auch nach
der
Machtergreifung fortwirken und das ganze gesellschaftliche und
kulturelle Leben revolutionieren werde. Er sah die Nazis nicht als eine
partikulare politische Partei, sondern als die Führer einer
völkisch-revolutionären Bewegung, deren Ende offen schien und
die
insofern der Gestaltung durch eine neue kulturelle Elite bedürfe.
So ganz abwegig schien diese
Perspektive
damals
nicht zu sein, denn die NS-Bewegung hatte einen linken,
sozialrevolutionären Flügel, dem z.B. der schon erwähnte
NS-Lehrerbund
um Hans Schemm, die SA und Teile der HJ zuzurechnen waren, der auf eine
umfassende Revolution setzte, die nach der Machtergreifung erst richtig
beginnen sollte. Angesichts
der kulturellen
Dürftigkeit der
NS-Bewegung wurde Kriecks Übertritt freudig begrüßt,
schließlich galt
er als bedeutender Wissenschaftler. Er beteiligte sich an
Wahlveranstaltungen für die Juli-Wahlen 1932 und nannte diese
Tätigkeit
später die schönste Zeit seines Lebens. Im selben Jahr veröffentlichte er
das Buch
"Nationalpolitische Erziehung", das für die nächsten Jahre zu
einer
politsich-pädagogischen Bibel für nationalsozialistisch
orientierte
Studenten und Lehrer werden sollte. Krieck schien Recht zu behalten mit
seiner Vermutung, daß die Bewegung sich für seine Ideen
benutzen ließe.
Immerhin erreichten seine Schriften hohe Auflagen. Bis 1941 wurden etwa
300.000 Exemplare - ohne Übersetzungen - verkauft. Die
"Nationalpolitische Erziehung" brachte es auf 80.000 verkaufte
Exemplare. Dieses Buch
beginnt mit dem folgenreichen Satz: "Das
Zeitalter der
'reinen Vernunft', der 'voraussetzungslosen' und ,wertfreien'
Wissenschaft ist beendet". (1) Sie
sei eine Fiktion gewesen, weil kein Wissenschaftler
davon absehen könne, daß er seinen Gegenstand, sein For-
46 schungsthema
immer von seiner
gegenwärtigen
Befindlichkeit her in Anspruch nehme und deute. Angesichts der Notlage
des deutschen Volkes müsse die Wissenschaft "politisch" werden,
d.h.
sich für die Behebung dieser Not und für den Entwurf
produktiver
Perspektiven einsetzen. "Die
in den Grund der Existenz
vordringende Not des
deutschen Volkes ist die Gegebenheit, die Überwindung dieser Not
in
neuen Lebensordnungen und einem neuen deutschen Menschentum die
Gesamtaufgabe, an der Politik, Wirtschaftsgestaltung, Wissenschaft,
Kultur und Erziehung gemeinsam Anteil haben" (8).
Der politische Träger für
diese
Perspektive sei die nationalsozialistische Bewegung.
"Der symbolische Name des
Kommenden
heißt: Das
Dritte Reich. Sein Sieg schreitet fort im Maße, als der Gegner
auf
allen Gebieten überwunden und das revolutionäre Prinzip in
Bewußtsein,
Haltung und Lebensordnung durchdrungen ist. Dieser Gegner aber
verteidigt seine Positionen zäh auf allen Lebensgebieten: als
Liberalismus in Wirtschaft, Staat und Recht, als Individualismus in der
Kultur, als Mechanismus in den Lebensordnungen, als reiner
Rationalismus in der Wissenschaft, als einzelmenschlicher Autonomismus
in Haltung und Erziehung, als Humanismus in der Bildung, als Pazifismus
im Zusammensein der Völker, als Kollektivismus, d.h. als die
summenhafte, massenhafte mechanisch zusammengefügte und
zusammengehaltene Einzelmenschlichkeit im Marxismus, dem Sohn und Erben
des Liberalismus. Dem Dritten Reich aber ist zugeordnet das organische
Weltbild, der organische Staat, die organische Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung, die das Gesetz des Ganzen über dem Gesetz
des
Teils und Gliedes errichten, zugleich aber die Eigengesetzlichkeit des
Gliedes in seiner Teilhabe am Ganzen anerkennen und zur Entfaltung
kommen lassen: Die Gegenseitigkeit und Wechselwirkung zwischen Glied
und lebendigem Ganzen, die dazu führt, jedes Glied seiner
Vollendung
entgegenzuführen im Gerade, als es das Ganze in sich aufnehmen und
zur
Darstellung bringen kann - in seiner Besonderheit, an seinem Ort und
nach seinem Eigengesetz. Darum: nicht allen das Gleiche, sondern jedem
das Seine" (9). Im
Unterschied zur "Philosophie der
Erziehung" von 1922 war dies nun unverkennbar eine politische
Kampfschrift. 47
Und das Zitat benennt auch
die
politischen Gegner:
Individualismus, Liberalismus, Kollektivismus, Pazifismus - Stichworte,
mit denen Krieck die parlamentarische Weimarer Demokratie und die ihr
zugrunde liegende Gesellschaftsverfassung nicht mehr kritisiert,
sondern verwirft. Seine Hoffnung war, daß die NS-Bewegung die
Gesellschaft so ordnen werde, daß das Volk wieder als organische
Ganzheit in Erscheinung treten könne, in sich durchaus
differenziert,
aber so, daß der Einzelne sich als "Glied" verstehen, darin einen
seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz finden könne. Es war
also ein
Programm zur Überwindung der "Entfremdung", deren Ursache Krieck
in der
"liberalistischen" Gesellschaftsordnung sah, die den einzelnen Menschen
aus seinen gemeinschaftlichen Bezügen gerissen, ihn als Teil einer
rein
numerischen Masse definiert habe: als absolutes Individuum.
Mit dem weltanschaulichen
Widerwillen
gegen
Liberalismus und Individualismus ist ein Ton angeschlagen, den wir auch
von Baeumler und Schirach hören werden und der einen Kern der
gesellschaftskritischen Ausgangsposition des Nationalsozialismus
ausmacht, wie wir es schon in Hitlers "Mein Kampf' gefunden haben.
Primär geht es gar nicht um bestimmte politische Ziele, es geht um
die
Stellung des Menschen in der Gesellschaft; er soll aus der isolierten
und einsamen Subjektivität, in die ihn die liberalistische
Parteiendemokratie gezwungen habe, befreit und wieder in die
natürlichen Gemeinschaften, deren höchste das Volk ist,
heimgeholt
werden. Von daher erklären sich die ideologischen Feindpositionen
fast
zwangsläufig: Das humanistische Bildungsideal? Ein Teil des
kulturellen
Individualismus. Die demokratisch gewählten Parteien? Eine
mechanistische Struktur, um partikulare Ziele auf Kosten des Ganzen
durchzusetzen. "Das
Weimarer zwischenstaatliche System
hat mit
seinen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten die
Auflösung
geschichtlich gewachsener Formen und Bindungen, die das kapitalistische
Zeitalter kennzeichnen, auf Rechtsform und Scheinorganisation gebracht.
Dem Staat gehört fortan nur die Summe der einzelnen mündigen
Staatsbürger an: er kennt als Volk bloß die Masse der
Einzelnen, nicht
aber Sozialgebilde. Den Einzelnen ist ein möglichst weiter Raum
willkürlicher Bewegung zugebilligt, und auf dieser Freiheit ge-
48 nannten
Willkür und Auflösung
sollen sich Familie,
Staat, Partei, Wirtschaftsgesellschaft, Wirtschaftsordnung und Kirche
gründen: alles ist Zusammenschluß nach subjektivem Wollen,
individuellen Zwecken und Bedürfnissen, nach Belieben, Neigung und
Wahl" (60). Von
daher seien alle kulturellen
Mißstände zu erklären, z.B. auch die "Entartung der
Familie" (59). "Das
Wahlrecht der Frauen erkennt die
Familie nicht
mehr als Einheit und Zelle politischer Willensbildung an, sondern nur
als Sammlung autonomer Einzelmenschen, die Jugend ist in ihren
Entscheidungen, vorweg der religiös-kirchlichen, schon denkbar
früh
emanzipiert" (61). Besserung sei nur zu erhoffen, wenn die Familie im
Volksganzen wieder ihre "natürliche" Funktion erhalte.
"Die Urdreiheit von Vater,
Mutter und
Kind,
bekanntlich das Urbild göttlicher Dreieinigkeit, ist von der
Familie in
Form gefaßt, und in dieser Ordnung fällt dem Mann und der
Frau je eine
volle Hälfte des Daseins als besondere Lebensphäre und
Herrschaftszone
zu. Das hat der Feminismus der modernen Kultur so lange verwischt, bis
sie selbst, innerlich ausgehöhlt, verfiel. Das Bestreben von
Mannweibern, in die Sphäre der Männer erobernd einzudringen,
wäre aber
selbst gegenüber einem Geschlecht von Weibmännern nicht
gelungen - und
es hat ja auch nur zu Zerrbildern geführt -, wenn nicht der
Kapitalismus den Menschen nur noch als Mittel seines Erwerbsstrebens
angesehen, Weib wie Mann als bloße Nummern in den Betrieb der
öffentlichen Wirtschaft hineingerissen hätte, indem er die
Naturgegensätze einfach übersprang" (63). Die Frau gehöre in die Familie.
"Die Frau ist aus der
öffentlichen
Lebenssphäre in
Privatkreis und Familie zu führen, wo sie die geborene Herrscherin
ist,
und wo ihr auch keinerlei geistige Entfaltung verwehrt sein soll. Im
öffentlichen Leben hat sie nichts verloren und bleibt subaltern:
die
politische Amazone, das Symbol femininer Zeitalter, ist Karikatur auf
Mannheit und Weibheit gleichzeitig" (63). Auch mit der Reformpädagogik geht
er
hart ins Gericht, deren Individualismus kritisierend:
49 "Das
Gesetz dieses Subjektivismus lautet:
Die
zufälligen und privaten Bedürfnisse der einzelnen
Schüler zu erfüllen,
diesen Bedürfnissen nachzugeben und sie frei ausleben zu lassen.
Vorausgesetzt ist dabei, daß diese Bedürfnisse die inneren
Anlagen und
Vorbestimmungen des Schülers auf der jeweiligen Entwicklungsstufe
zum
Ausdruck bringen, und daß der Schüler zur Reife seiner
Anlagen, zu
seiner humanen Bestimmung komme, wenn Schule und Lehrer einfach diesen
Bedürfnissen nachgeben" (134). Dabei werde unterstellt, daß die
Menschheit eine
Summe von Einzelmenschen sei. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel
für diese pädagogische Grundhaltung sei die Erfindung des
"freien
Unterrichtsgesprächs". "Das
freie Unterrichtsgespräch wird
gekennzeichnet
mit dem stets wiederkehrenden Wort des Schülers: 'ich meine'. Nach
dem
Vorbild des Lehrers pflanzt der Schüler großspurig sein Ich
und sein
zufälliges Meinen, das in der nächsten Stunde ganz anders
sein kann,
vor dem Werk auf und sieht seine Aufgabe nicht in Hingebung, nicht im
Aneignen und Durchdringen eines Notwendigen, nicht im wirklichen
Erarbeiten eines autoritativen Gehaltes, sondern in einem höchst
privaten Richtertum über alles und jedes. Das kleine Ich
könnte
vielleicht verloren gehen, wenn es sich nicht von vornherein vor jedem
Problem, jedem Gut wie ein Stehaufmännchen aufrichtet und gegen
jede
objektive Forderung zur Wehr setzt. Das Ergebnis nennt sich dann:
Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit entfaltet der Mensch aber
seine
Anlagen nur in Hingebung an ein Höheres, im Einfügen unter
eine
Autorität, in Arbeit, Kampf und Bewährung vor den
vorgefundenen
Wirklichkeiten, im Wachsen an der schicksalhaft auferlegten Aufgabe"
(135 f.). Der
Erfolg des Buches beruhte wohl
einerseits
darauf, daß es die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der
Weimarer
Republik aufgriff und politisch-philosophisch zu erklären
versuchte,
andererseits aber auch Hoffnung darauf anbot, daß mit Hilfe der
NS-Volksbewegung die Lage sich grundlegend verbessern werde. Ein
Programm dafür hatte Krieck allerdings nicht anzubieten, das
sollte
sich vielmehr durch die weitere revolutionäre Umwälzung erst
ergeben.
Die Antwort auf alle Probleme sollte die national-revolutionäre
Bewegung selbst finden, und er wollte dabei an führender Stelle
50 mitwirken.
Sein Politisches Denkmuster
war, wie
schon die "Philosophie der Erziehung" gezeigt hatte, organologisch. Er
hielt also das deutsche Volk wie jede seiner Gemeinschaften für
einen
überindividuellen, lebenden Organismus, der nur dann "gesund" sein
könne, wenn "das Ganze" mit seinen Gliedern in produktiver
Harmonie
lebte. Nun aber sei der Organismus des Volkes "krank" geworden. Die
Parteien der Weimarer Republik repräsentierten nicht das Ganze,
sondern
nur partikulare Interessen; die profitorientierte Wirtschaftsgesinnung
und der Individualismus zerstörten die Gemeinschaften; alle diese
Mängel sollte die völkische Revolution überwinden.
In diesem Buch vollzog Krieck eine folgenreiche
Wendung. Hatte
er bisher von der
Erziehungswissenschaft
verlangt, sie solle die Erziehungswirkungen der Gemeinschaften auf die
Mitglieder beschreiben, so verkündete er nun die erzieherische
Bedeutung der nationalsozialistischen Massenbewegung
einschließlich
ihrer sogenannten "Formationen" wie HJ, SA, SS und der Schulungslager.
Besonders beeindruckt war Krieck von der Fähigkeit der Nazis, die
Massen in Bewegung zu bringen. "Als Massenbewegung setzt (der
Nationalsozialismus)
voraus die Kunst der Massenerregung: Masse muß flüssig
werden, wenn sie
gestaltbar sein soll. Die von Hitler meisterhaft geübte Kunst der
Massenerhebung hat nicht etwa nur die Agitationen und
Parteiführungstechnik des Parteienstaates in seine letzten
Folgerungen
gesteigert, sondern wesentlich neue Elemente und Wege der
Massenerregung und Massenführung gefunden. Es ist Hitler gelungen,
auf
eine unterirdische Ader des völkisches Lebens vorzustoßen
und den
springenden Quell in ein Bett zu fassen ... . Zum Beispiel 'diskutiert'
und 'argumentiert' der Nationalsozialist nicht mit dem Marxisten
über
Marxismus, sondern 'widerlegt' diesen damit, daß er ihm den
Anhang
wegnimmt durch neue Methoden der Erregung und Bewegung" (36 f.).
Und die pädagogische
Nutzanwendung
lautet nun: "Der
Nationalsozialismus hat also die aus
den
Instinkten seiner Führer in Anwendung gebrachten Elementarmittel
und
Methoden der Massenerregung und Massenbewegung auszubauen zu einer
allgemeinen Zuchtform, einem Übungssystem, das im ganzen Volk und
in
den einzelnen Volksgenos- 51
sen die Rassewerte weckt,
die
Rasseeigenschaften und
das Rassebewußtsein zum Höchstmaß entfaltet, womit
nicht nur die
einzelnen Volksgenossen geformt, sondern auch die Volkseinheit ins
Bewußtsein gehoben, also die gemeinschaftlichen Querverbindungen
gefestigt werden: aus Masse wird Volk, aus Volk rassebewußte
Nation mit
geschlossener Macht, mit einheitlicher politischer Haltung und
Willensrichtung" (11). Das
Führerprinzip erscheint ihm als
Garantie dafür,
daß die durch den völkischen Aufbruch entstehenden
unvermeidlichen
Spannungen durch Hitler so weit gebändigt werden können,
daß die
Bewegung nicht auseinander bricht mit der Folge, daß die innere
Zerrissenheit der Weimarer Zeit sich nur wiederholen würde.
Im Jahre 1933 versuchte
Krieck, sein
Erziehungskonzept zu präzisieren in der kleinen Schrift
"Nationalsozialistische Erziehung, begründet aus der Philosophie
der
Erziehung". Im
Unterschied zur schwer lesbaren
"Philosophie der
Erziehung" und der stellenweise agitatorischen "Nationalpolitischen
Erziehung" ist diese knappe Arbeit geschrieben wie ein Studienbuch.
Offensichtlich ist Krieck hier bemüht, wieder zur
wissenschaftlichen
Sachlichkeit zurückzufinden, worauf schon der Untertitel hinweist,
der
an die Arbeit von 1922 erinnert, die ihn berühmt gemacht hatte.
Bemerkenswert ist u.a., daß
die
"Formationen" der
"Bewegung" hier nicht besonders herausgehoben werden. Vielmehr betont
Krieck noch einmal die sozialstrukturelle Differenzierung der
Typen-Bildung. Der Einzelne wachse auf und lebe im Rahmen
unterschiedlicher Teilbereiche des völkischen Gesamtlebens:
Familie,
Berufsstand, Religionsgemeinschaft usw. Und insofern die sozialen
Gebilde und Organisationen bestimmte Teilaufgaben am Volksganzen
erfüllen, haben sie auch das Recht, in diesem Sinne ihre
Mitglieder zu
erziehen. Auch den Religionsgemeinschaften wird dieses Recht
ausdrücklich zugebilligt. "Die
erzieherischen Einflüsse, die
ein Mensch im
Verlauf seines Werdens erfährt, sind recht mannigfaltig: er
muß zum
Staatsbürger, zum Glaubensgenossen, zum Berufsmenschen erzogen
werden;
die religiöse, die wirtschaftliche, die staatsbürgerliche und
politische, die sittliche und rechtliche Seite 52
seines Wesens und seiner
Anlagen
muß entfaltet
werden. Es gibt jedoch keine Instanz und keine Gemeinschaftsart, die
das alles auf einmal leisten könnte; es gibt vor allem kein
Sozialgebilde, das die erzieherische Funktion zum alleinigen Inhalt
haben könnte, da die erzieherische Funktion unlöslich mit
allen anderen
Lebensfunktionen und Sozialgebilden verflochten ist" (14).
Nach meinem Eindruck bringt
diese Schrift
Kriecks
pädagogische Konzeption am klarsten zum Ausdruck, und
möglicherweise
wäre ihm eine bis heute brauchbare sozialphilosophische Theorie
der
Erziehung gelungen, wenn er in diesem Rahmen weiter gearbeitet
hätte.
Aber sein Interesse ging über Erziehungsfragen weit hinaus, galt
der
Formulierung einer umfassenden völkischen Philosophie, und damit
scheiterte er politisch wie wissenschaftlich.
Völkisch-politische Anthropologie"
Nach der Machtergreifung
wurde Krieck
Rektor der
Universität Frankfurt, 1934 erhielt er einen Lehrstuhl an der
Universität Heidelberg und wurde dort ebenfalls Rektor - ohne
einen
einzigen Tag an einer Universität studiert zu haben und ohne
überhaupt
das Abitur zu besitzen. Aber
schon 1934, nach der sogenannten
Röhm-Affaire,
die faktisch zur Zerschlagung des linken, sozialrevolutionären
Flügels
führte, begann sein Einfluß zu schwinden. 1936 erschien der
erste Band
seiner dreibändigen "Völkisch-politischen Anthropologie".
Diese Arbeit
verstand er als Grundlage für eine nationalsozialistische
Wissenschaftstheorie, die die Einzelwissenschaften sinnvoll integrieren
sollte unter der leitenden Fragestellung, wie die Menschen
tatsächlich
in ihren Gemeinschaften leben und sich mit ihrer Umwelt
auseinandersetzen. Krieck
griff damit ein Problem auf, das
viele
Wissenschaftler damals beschäftigte und das im Grunde bis heute
noch
aktuell ist. Die Universität hatte sich seit Ende des 19.
Jahrhunderts
vor allem unter der Expansion der Naturwissenschaften ausdifferenziert
in zahlreiche Einzeldisziplinen, die unverbunden nebeneinander
bestanden und keinen gemeinsamen Sinn mehr ergaben. Der Bildungssinn
der Universität, 53
wie er etwa Wilhelm von
Humboldt
vorgeschwebt hatte,
war zerbrochen. Nach diesem Konzept sollte jedes Studienfach durch die
Ideale der Humanität mit jedem anderen dadurch verbunden bleiben,
daß
die Philosophie bzw. überhaupt die Geisteswissenschaften als
sinnintegrierende Instanzen fungierten. Aber inzwischen war auch die
Philosophie zu einer bloßen Teildisziplin wie alle anderen
geworden.
Krieck versuchte nun, mit seiner "Völkisch-politischen
Anthropologie"
eine neue, alle Einzelwissenschaften integrierende Philosophie zu
präsentieren und machte diesen Anspruch auch im Vorwort geltend.
"Dieses Buch erhebt den
Anspruch, die
neue, durch
die nationalsozialistische Weltanschauung gegebene Wesensmitte für
sämtliche Wissenschaften und für alle Hochschulen und
Fakultäten zu
umreißen. Es könnten alle einzelnen Behauptungen des Buches
abgelehnt
werden, und dieser Anspruch bestünde dennoch zu recht. Einst
besaßen
die Wissenschaften und Universitäten eine gemeinsame,
verpflichtende
Grundlage in der Humanitätsidee. Mit dem Verfall dieser tragenden
Idee
setzt jener Prozeß der Auflösung ein, der durch
beständige Verzweigung
der Wissenschaften und Verselbständigung der Zweige fortschritt,
bis
die Hochschule nur mehr ein organisatorischer Rahmen für einen
formlosen Haufen unzusammenhängender Einzelheiten war ... Durch
die
nationalsozialistische Weltanschauung, die berufen ist, das deutsche
Volk einer neuen Erfüllung entgegenzuführen, ist eine neue
bindende
Grundlage für alle Wissenschaften, Fakultäten und Hochschulen
gegeben.
Aus ihr entsteht ein neues Bild von Welt und Mensch, das anstelle der
Humanitätsidee in den Mittelpunkt tritt ... . Das vorliegende Buch
erhebt den Anspruch, diese neue Wesensmitte zu umreißen, ihren
Ort und
ihre Art zu kennzeichnen: es ringt um ein Bild vom deutschen Menschen,
das in die Zukunft führt" (Bd I, VI). Aber damit rief er seine
ideologischen Konkurrenten auf den Plan. Alfred Rosenberg, dessen "Amt
Rosenberg" seit 1934 zuständig für die weltanschauliche
Überwachung der
Partei war, hatte mit seinem Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts"
selbst eine ideologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt, sie
aber als nicht parteioffiziell erklären lassen müssen.
Gleiches
verlangte er nun auch von Krieck. Der fühlte sich zu Recht
mißverstanden, weil er ja lediglich eine Wissenschaftstheorie und
kein
parteioffizielles 54
Werk vorlegen wollte, und
bot die
Rückgabe seiner Parteiämter an. Viel bedeutsamer war jedoch eine
andere
Polemik, weil sie an die Substanz der Rassenlehre ging.
Krieck war zwar Antisemit,
aber kein
Rassist. Über
"Die Judenfrage" schrieb er 1933 einen Artikel in seiner Zeitschrift
"Volk im Werden", in dem er die religiöse und kulturelle Eigenart
der
Juden als Volk respektierte, ihnen in Deutschland einen
Minderheitenstatus mit eigenen Schulen und Hochschulen einräumen
wollte, obwohl ihm die zionistische Lösung - ein eigener
Judenstaat,
wie er dann später in Gestalt des Staates Israel auch realisiert
wurde
- am liebsten gewesen wäre. Zugleich warf er den deutschen Juden
vor,
mit ihrem angeblichen Anti-Germanismus und Internationalismus die
deutsche Volkwerdung zu behindern bzw. derartige Bestrebungen zu
zersetzen. Zudem hätten die Juden im Vergleich zu ihrem
Bevölkerungsanteil zu viele Machtpositionen inne. Diese
Argumentation
lief auf ein "Deutschland den Deutschen!" hinaus, aber nicht im Sinne
der Staatsbürgerschaft - die Juden in Deutschland waren ja
durchweg
deutsche Staatsbürger mit allen damit zusammenhängenden
Rechten und
Pflichten -, sondern im Hinblick auf ihre völkische
Zugehörigkeit. Zwei
Jahre später werden die "Nürnberger Gesetze" diese
Ungleichheit der
Staatsbürgerschaft rechtlich verankern, indem zwischen
"Staatsangehörigen" und "Reichsbürgern" unterschieden wird.
"Reichsbürger" konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder
artverwandten Blutes" sein. An Kriecks Antisemitismus ist also nichts
zu verharmlosen, aber mit Hitlers Rassismus hatte er wenig zu tun.
Was Krieck über "Rasse"
schrieb,
beruhte nicht auf
biologistischer Determiniertheit. Rasse war für ihn so etwas wie
ein
allgemeiner biologischer Urgrund, der in den Gemeinschaften zur
Entfaltung kommt. Schon in seiner "Philosophie der Erziehung" hatte er
den Sozialdarwinismus attackiert: "Nun trägt der Darwinismus mit
seinem 'Kampf ums
Dasein' und 'Überleben der Geeignetsten' sichtbar die Praktiken
des
brutalsten Kapitalismus in die Natur hinein, und seine
menschenzüchterischen Adepten übertragen sie von da wieder
ins
geschichtliche Leben". Durch eine solche Auslese würden nicht die
Besten übrigbleiben, sondern gerade die 55
anderen: "Was aber als
'survival of the
fittest'
übrigbliebe, das ist zu sehen an den triumphierenden Schiebern,
Börsianern, Schlotbaronen, Parteiagitatoren, Advokaten und
Journalisten. Neben dieser Aristokratie des Kapitalismus . . . bleibt
die entselbsteste und proletarisierte Masse als Objekt ihrer
Herrschaft" (121). Bei
dieser Grundposition blieb Krieck
auch jetzt,
und seine "Völkisch-politische Anthropologie" setzte sich deutlich
ab
von der sich nun breitmachenden biologistischen Rassentheorie.
Grundlage seiner Anthropologie war dagegen eine "universale Biologie",
in die er sowohl die Naturwissenschaften wie die Geistes- und
Sozialwissenschaften einbinden wollte. Sein Hauptgegner wurde Wilhelm
Hartnacke, der schon 1930 ein Buch mit dem Titel "Naturgrenzen
geistiger Bildung" veröffentlicht hatte. Hartnacke, der nach 1933
eine
Zeit lang sächsischer Kultusminister war, übertrug in diesem
Buch
biologische Vorstellungen auf das politische und soziale Leben. In
bildungspolitischer Hinsicht führte dies zur Konsequenz, daß
die
Tüchtigen und Begabten sich ohnehin durchsetzen, es also keine
Veranlassung gebe, in diesen Naturprozeß etwa durch Schulreformen
einzugreifen. Schon 1935, also ein Jahr vor Erscheinen der
"Völkisch-politischen Anthropologie", hatte Krieck in seiner
Zeitschrift "Volk im Werden" diese Konzeption scharf angegriffen:
"Das Besitzbürgertum nimmt
hier
wieder seinen
Monopolanspruch auf Bildung, Hochschule und Wissenschaft auf und
begründet diesen Anspruch mit seinem 'Erbgut'... . Das ist eine
sehr
einfache und einleuchtende Lösung des Problems der Rasse, des
Aufstiegs, der Auslese. Ihr Kernpunkt sitzt im Geldbeutel, und ihre
Lösung heißt: haltet die Unteren darnieder. Der Knecht soll
Knecht
bleiben. Und das wäre Nationalsozialismus?" (Zit. n. Müller,
117). Nun
kam es zu einer scharfen Kontroverse
bis hin zur
Verleumdungsklage zwischen Hartnacke und Krieck. Für Krieck
ergriffen
öffentlich Partei der NS-Dozentenbund, der NS-Lehrerbund und der
NS-Studentenbund. Hinter Hartnacke stellten sich jene
Naturwissenschaftler, die - wie Krieck es formuliert hatte - die
Gesetze des Kapitalismus erst in die Natur hineindeuteten, um sie dann
auf die Gesellschaft zu übertragen: die biologistischen Rassisten.
Diese Interpretation vertritt jedenfalls Gerhard Müller, wenn er
schreibt: 56
"Tatsächlich war in dieser
von
Krieck mit Vehemenz
betriebenen parteiinternen Weltanschauungsdiskussion die, wie wir heute
wissen, zentrale wissenschaftliche Position der politischen Biologie im
Dritten Reich angegriffen, die einer durch Erbbiologen,
Rassetheoretiker und Rassehygieniker legitimierten inhumanen Praxis mit
den bekannten Folgen der Ausmerze rassisch oder erbbiologisch
Minderwertiger das Wort redete" (137). Auf Vorschlag des
rassepolitischen Amtes
der Partei
verbot Reinhard Heydrich mit der Autorität des Sicherheitsdienstes
der
SS im November 1937 die öffentliche Diskussion und die
Presseberichterstattung über diesen Fall, und zwar "im Interesse
der
Staatssicherheit und der Geschlossenheit der Bewegung". Ob Heydrich
damit auch in der Sache Partei ergreifen wollte, ist nicht
geklärt. Für
Krieck bedeutete dies das endgültige Scheitern seiner
früheren
Hoffnung, die NS-Bewegung als Vehikel seiner eigenen
politisch-pädagogischen Vorstellungen benutzen zu können. Er
tritt 1938
aus der SS aus und wurde, wie es heißt, "ehrenvoll verabschiedet".
Krieck war 1934 in die SS
eingetreten und
als
Gutachter für den "Sektor Wissenschaft" im "Sicherheitsdienst des
Reichsführers SS" (SD - RFSS, genannt SD) tätig. Mit diesem
Amt konnte
er durch seine Gutachten Einfluß nehmen z.B. auf Berufungen.
Einzelheiten dieser Tätigkeit sind bisher kaum bekannt.
Der SD war damals ein
Nachrichtendienst
ohne
exekutive Befugnisse. Er hatte zwei Aufgaben: Zum einen sollte er wie
eine Art von demoskopischem Institut durch Analysen des Volkswillens
Planungsunterlagen für politische Entscheidungen erarbeiten. Zum
anderen sollte "Gegnerforschung" betrieben werden, durchaus auch mit
dem Ziel, auf Mißstände in der Partei hinzuweisen. Daran
aber waren die
zuständigen Stellen nicht sonderlich interessiert. Krieck hatte
engen
Kontakt mit den Führern des NS-Studentenbundes in Heidelberg, die
nach
der "Röhm-Affäre" von der SA zur SS übergewechselt
waren. In der
Tätigkeit im Rahmen des SD sah Krieck offenbar eine Chance, mit
jungen,
sozialrevolutionär orientierten Männern seine schon vor 1933
entwickelte Idee der "Elitenzirkulation" zu realisieren. Er ging davon
aus, daß seine Vorstellungen von völkischer Erneuerung mit
den alten
bürgerlichen Eliten in Wissenschaft und 57
Politik nicht zu
verwirklichen seien. In
den jungen
intellektuellen SS-Männern, die auch bei den wissenschaftlichen
Kontroversen zu ihm hielten, sah er die Chance eines Wechsels, zumal
die SS sich ja auch selbst für einen Elite-Orden hielt.
Verabschiedet
wurde er 1938 im Rang eines Obersturmbannführers.
Nach dem Machtwort von
Heydrich stellt er
auch sein
Amt als Rektor der Universität Heidelberg zur Verfügung.
Aller
öffentlicher Ämter ledig wendet er sich nun wieder seiner
wissenschaftlichen Arbeit zu. Aber sein Austritt aus der SS
hatte ihn
nun auch
schutzlos gemacht, so daß andere Parteidienststellen, vor allem
das
Propagandaministerium, seine Arbeit mehr und mehr behindern konnten. So
wurde ihm in seiner Zeitschrift "Volk im Werden" die Berichterstattung
über naturwissenschaftliche und kulturpolitische Fragen verboten.
Im
Jahre 1937, als er noch für den SD tätig war, schrieb er in
"Volk im
Werden" über die Anwendung des Führerprinzips auf die
Universität, das
er 1933 grundsätzlich begrüßt hatte: "Die Übertragung des
Führerprinzips auf die Rektoren
wurde so aufgefaßt, als könne nun von staatlicher
Sphäre her irgendein
geeignet erscheinender Mann, ein guter Parteigenosse, oder wenn ein
solcher gerade nicht greifbar war, ein der Bewegung nahestehender
Professor herausgegriffen werden, mit einer Art von Diktaturgewalt und
höherer Autorität von oben ausgestattet und damit zum
Führer ernannt
werden" (Zit. n. Müller, 416). Es habe Mißgriff auf
Mißgriff gegeben,
weil die parteipolitische Gesinnung höher bewertet worden sei als
die
fachliche Qualifikation. In
einer Rede, aus der das Zitat am
Beginn des
Hitler-Kapitels stammt, betonte Hitler 1938 noch einmal die
erzieherische Bedeutung der NS-Bewegung. Krieck nahm dies zum
Anlaß,
die zahlreichen reaktionären kleinen Führer zu kritisieren,
"die ihre
gewonnene Führungsstellung für persönliche Zwecke ...
und
größenwahnsinnige Willkür mißbrauchen. Die
Revolution hatte nicht den
Sinn, einen Haufen von Interessenten und Kriegsgewinnlern durch einen
Haufen derselben Gattung zu ersetzen" (Zu. n. Müller, 425).
Unterstützung fand er jedoch
immer
noch, vor allem beim Reichswissenschaftsministerium, das 1939 als
Geburtstags- 58
gabe für Hitler einen Band
mit
Kurzreferaten über
den Forschungsstand der Einzelwissenschaften herausgab. Über die
Philosophie enthielt der Band zwei Beiträge, einen von Alfred
Baeumler
und einen von Krieck. In seinem Beitrag beschrieb Krieck die Lage der
Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus sehr kritisch - nicht ohne
seine eigene Leistung und die seiner Schüler gebührend
hervorzuheben.
Das Amt Rosenberg, in dem Baeumler für den Bereich Wissenschaft
tätig
war, wollte diesen Beitrag verhindern, fand aber weder beim
Wissenschaftsministerium noch bei Hitlers Parteikanzlei Gehör.
Zum 60. Geburtstag im Jahre
1942
richteten die
Badische Gauleitung und der NS-Lehrerbund Krieck eine öffentliche
Feier
aus, wie sie in dieser Größenordnung für einen
Gelehrten durchaus nicht
üblich war. Gegen starken Widerstand vor allem wieder vom Amt
Rosenberg
wurde ihm auch die Goethe-Medaille verliehen, die zweithöchste von
Hitler verliehene wissenschaftliche Auszeichnung - "in Würdigung
seiner
Verdienste für die deutsche Wissenschaft", wie es offiziell
hieß. Zu
dieser Zeit unterlag er bereits seit zwei Jahren der Vorzensur des
Propagandaministeriums. Der
Fall Krieck zeigt besonders deutlich
den
notorischen Kompetenzwirrwarr im Dritten Reich am Beispiel des
Wissenschaftsbetriebes. Die Zuständigkeit des
Wissenschaftsministeriums
wurde ständig überlagert durch rivalisierende
Parteidienststellen. Noch
einmal erhält Krieck vom Wissenschaftsministerium eine
Auszeichnung,
das Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse. Er mußte aber erkennen,
daß
die Hoffnung, die er in die völkische Bewegung des
Nationalsozialismus
gesetzt hatte, Illusion war. Das Dritte Reich brachte keinen Neuanfang,
und diejenigen, die 1933 an die Macht kamen, dachten nicht daran, diese
Macht durch das Weitertreiben der völkischen Revolution wieder
aufs
Spiel zu setzen. Sie waren hinreichend damit beschäftigt, ihre
Machtsphäre in Rivalität zueinander zu vergrößern
oder zumindest zu
verteidigen. Da blieb kein Raum für geistige Besinnung, wie sie
Krieck
immer wieder anstrebte. Er
wurde 1945 von den Amerikanern
entlassen und
starb 1947 in einem amerikanischen Internierungslager. Einige Jahre
später wurde er als Mitläufer entnazifiziert, was wohl so zu
verstehen
ist, daß ihm persönlich keine Unrechtstaten 59
nachgewiesen werden konnten.
Leider
wissen wir
bisher nicht, ob und wie er in der Zeit seiner Internierung sich mit
der NS-Zeit und mit seiner Rolle in ihr auseinandergesetzt hat.
Politisch-pädagogisches
Resümee: Die völkische
Sackgasse Krieck
hat wie ein Besessener
geschrieben, als habe
er damit die Hoffnung verbunden, umso besser verstanden zu werden, denn
die Thematik war im Grunde immer dieselbe, und irgendein Fortschritt -
sei es im thematischen Sinne, sei es im Hinblick auf größere
Präzision
- ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil läßt sich seine
Entwicklung von
der "Philosophie der Erziehung" bis zur "Völkisch-politischen
Anthropologie" eher als Rückschritt verstehen. Gleichwohl hat er
pädagogische Themen aufgegriffen, die in der Luft lagen, und die
uns
teilweise heute noch beschäftigen. Im einzelnen sollen folgende
Aspekte
noch einmal kritisch hervorgehoben werden.
Revolutionärer Dynamismus Üblicherweise wird politisches
Handeln mit Zielen
gerechtfertigt, die es realisieren soll, so daß es an dem
Maße, in dem
dies gelungen ist, auch beurteilt werden kann. Kriecks politisches
Engagement war nicht von dieser Art. Er kämpfte für die
völkische
Revolution als solche in der Hoffnung, daß, wenn diese lange
genug
fortschreite, schon etwas Vernünftiges dabei herauskommen werde.
Diese
Hoffnung gründete sich darauf, daß das Volk ja ein lebender
Organismus
sei, der schon wieder gesund werde, wenn man politisch zerschlage, was
ihn krank gemacht habe. Diese Vorstellung war deshalb problematisch,
weil sie kein Kriterium des politischen Handelns abgab, weder moralisch
noch sachlich-zielorientiert. Die Folge war das, was das Dritte Reich
dann darstellte: ein nihilistischer, an keinen Werten und gemeinsamen
Zielen orientierter Machtkampf aller gegen alle, dessen Regeln der
unpolitische Krieck nicht beherrschte. 60
Dieser inhaltsleere
politische Dynamismus
gab den
Nazis die Möglichkeit, unter reinen Machtgesichtspunkten zu
agieren,
ohne sich am Maßstab versprochener Ziele verantworten zu
müssen. Dies
wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn die NSDAP eine Partei
unter
anderen geblieben wäre, die auch nach 1933 sich im Rahmen eines
einigermaßen ausbalancierten Parteien- und damit auch
Machtpluralismus
hätte bewegen müssen. Da die Macht der Hitlerbewegung sehr
schnell eine
totale war, mußte sie sich auch nicht mehr öffentlich
verantworten. Was
immer sich Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution
erhofft
haben mochte, jede Realität, die nun entstand, war nicht das
Ergebnis
einer "organischen" Selbsterneuerung des Volkes, sondern des Willens,
der Taten und der Entscheidungen der Nazi-Führer, die in einen
weitgehend offen gewordenen Handlungsraum hinein agieren konnten. Als
völkischer Ideologe trug Krieck also dazu bei, diese Taten als der
Gesundung des Volkes dienende zu rechtfertigen, während sie
tatsächlich
willkürlich erfolgten, genauso gut eine andere Richtung
hätten nehmen
können - wenn man von der Tendenz der Machterhaltung absieht. Die
politische Perspektive konnte sich nicht auf eine Zukunft richten,
sondern versank in einer endlosen Summe von Gegenwärtigkeiten.
An dieser Inhaltsleere ist
Krieck mit
seiner
"Völkisch-politischen Anthropologie" auch wissenschaftlich
gescheitert.
So einleuchtend seine These war, daß man die Menschen in ihren
tatsächlichen sozialen Zusammenhängen und in ihrer
Auseinandersetzung
mit der Natur betrachten müsse, so gab doch im Unterschied zur
Familie,
zum Jugendbund, zur Gemeinde, das "Volk" keine soziale Kategorie ab,
sondern blieb eine Fiktion. Was denn nun das Völkische am Volk
sei,
konnte Krieck nie erklären.
Illusion des Erziehungsstaates
Die Idee des
Erziehungsstaates, die wir
schon bei
Hitler gefunden haben, wird auch von Krieck propagiert. Bei Hitler war
diese Vorstellung eine Konsequenz seines Rassismus: die rassische
Erneuerung des Volkes sei nur möglich, wenn alle
gesellschaftlichen
Institutionen - nicht nur die für Kinder bestimmten - an einem
Strang
zogen. 61
Bei Krieck erwuchs diese
Vorstellung
einerseits aus
der Sicht des völkischen Organismus; wenn dieser sich erneuern
solle,
so konnte es nicht genügen, die Erziehung sozusagen als ein
besonderes
Glied des Organismus zu betrachten, vielmehr mußte der ganze
Organismus
pädagogisiert werden. Das gesellschaftliche Leben sollte so
eingerichtet werden, daß es selbst wieder erzieherisch im
gewünschten
Sinne wirkt. Andererseits
erwuchs dieser Gedanke aus
seiner in
der "Philosophie der Erziehung" entwickelten "funktionalen" Erziehung;
denn schon damals ging es ihm nicht nur um Beschreibung von
Erziehungswirkungen, sondern auch um die Hoffnung, das öffentliche
Leben wieder nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalten zu
können. Das
ist die Vision eines
Erziehungsstaates, der so
eingerichtet werden soll, daß gleichsam das Leben selbst wieder
durch
intakte Gemeinschaften erziehen kann. Schon 1922 hatte er an der
Weimarer Republik beklagt, daß ein zerrüttetes Volk wie das
deutsche
nach 1918 seinen Nachwuchs nur ungenügend erziehen könne.
Ich vermag in Kriecks
Hinwendung zum
Nationalsozialismus also keinen Bruch zu erkennen. Schon 1922, als er
mit den Nazis noch nichts im Sinn hatte, plädierte er für
eine
pädagogisierte Staatsordnung, und so war es nur konsequent,
daß er sich
ab 1932 dafür einsetzte, als die NS-Bewegung ihm die Chance
dafür zu
bieten schien. Allerdings mußte Krieck dafür sein
Wissenschaftsverständnis ändern; 1922 betrieb er eine
beschreibende
"autonome" Erziehungswissenschaft, die sich im wesentlichen
historischen Phänomenen zuwandte, ab 1932 eine
handlungsorientierte
"völkisch-realistische" Erziehungswissenschaft. Die Idee des Erziehungsstaates
ist ein
verführerischer pädagogischer Gedanke. Seine bislang letzte
Ausprägung
hat er im SED-Staat erlebt. Arbeit, Freizeit, Massenkommunikation
sollten so organisiert und geregelt sein, daß der Mensch, wo
immer er
sich in der Öffentlichkeit aufhielt, stets sich "sozialistisch"
verhalten sollte und konnte. Selbst die Sicherheitsorgane -
einschließlich Stasi - hatten die Aufgabe, bei nonkonformem
Verhalten
auch zu belehren. Da eine solche Gesellschaft zumindest
äußerlich frei
von gravierenden Widersprüchen ist, kommt sie dem
Harmoniebedürfnis
vieler Menschen entgegen. Warum soll man nicht das, was alle
62 oder
zumindest die meisten Menschen
für schlecht
halten, nicht gleich von Staats wegen verbieten? Verbote und
Repressionen sowie die Ausgrenzung von Menschen, die in ein solches
harmonisches Bild nicht hineinpassen, sind die notwendige Kehrseite des
Erziehungsstaates, der also zwangsläufig autoritäre Tendenzen
hat. Die
innere Zerrissenheit und Polarisierung am Ende der Weimarer Zeit war
der Boden, auf dem Kriecks Sehnsucht - und nicht nur seine - nach einem
harmonischen Volk erwuchs, in dem es zwar innere Variationen und
Differenzierungen, aber keine massiven Interessenwidersprüche mehr
gibt. Die
Idee des Erziehungsstaates resultiert
aus einer
pädagogisch formulierten, aber politisch gemeinten Kritik
gesellschaftlicher Erscheinungen. In der pädagogischen Form ist
diese
Kritik plausibler und spricht manche Gruppen der Bevölkerung
leichter
an, weil sie sich auf weithin anerkannte Werte beruft und scheinbar
interessen- und selbstlos daherkommt. Die pädagogische
Politikkritik
ist eine typisch bildungsbürgerliche Strategie, die sich aufs
moralisch
verstandene Gemeinwohl beruft und eben nicht auf partikulare Interessen
etwa der politischen Parteien oder Gewerkschaften. Der deutsche
Bildungsbürger mahnte das Gemeinsame an, das über den
Parteien und
Interessen Stehende, und Krieck befindet sich ganz in dieser Tradition,
wozu auch die politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung
gehört:
nur ein Bildungsbürger konnte so viel Selbstlosigkeit von den
neuen
Herren erwarten, daß sie die Revolution weiter trieben, bis das
Völkische am Volk im Sinne Kriecks seinen Höhepunkt erreicht
hätte. Der
Traum vom Erziehungsstaat, in dem
sich Kinder
überall bewegen können, ohne Schaden zu nehmen, in dem sie
überall den
gleichen normativen Erwartungen begegnen, der dafür sorgt,
daß die
Maximen des Lehrers auch die des Fernsehens sind - und umgekehrt -, ist
ein anti-pluralistischer und in modernen Industriegesellschaften
entweder nur als Fiktion oder nur mit Gewalt realisierbar. Solange er
noch nicht verwirklicht ist, führt er zu einer illusionären
Gesellschaftskritik. Pädagogen
haben immer wieder
geeifert gegen
Phänomene der modernen Gesellschaft wie Kino, Fernsehen, Schmutz
und
Schund und gegen die Konsumgesellschaft überhaupt,
63 und
manches davon hätten sie am
liebsten verboten.
Teilweise ist das ja auch mit den sogenannten Jugendschutzgesetzen
gelungen. Alles dies steht in der Tradition der
bildungsbürgerlichen
pädagogischen Politikkritik. Erst in der jüngsten Zeit
vollzieht sich
ein Perspektivenwechsel, insofern die Pädagogik es immer mehr als
ihre
Aufgabe betrachtet, Kindern und Jugendlichen Lernhilfen dafür zu
geben,
auch mit den unerfreulichen Erscheinungen der Gesellschaft
selbständig
und souverän umgehen zu können. Wir erwarten also nicht mehr,
daß die
Gesellschaft sich so formiert, daß sie nur noch im positiven
Sinne auf
Kinder und Heranwachsende erzieherisch einwirkt.
Faszination der "bewegten Masse"
Kriecks politische
Fehleinschätzung
der
Hitler-Bewegung beruhte also zu einem guten Teil auf einer
bildungsbürgerlichen Fehldeutung von Politik überhaupt.
Politisch
scharfsinnig und teilweise brillant geschrieben sind nur seine
bildungspolitischen Beiträge vor, teilweise auch noch nach 1933 -
wenn
er sich auf Gegner konzentrieren konnte. Sein Ehrgeiz jedoch,
darüber
hinaus politische Philosophie zu betreiben, brachte ihn an die Grenze
seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten. Sobald er jedenfalls von der
Kritik zur
philosophischen Konstruktion wechselte, wurde seine Sprache unklar und
diffus. Je mehr er sich in seine völkische Philosophie
verbiesterte, um
so weltanschaulicher, d.h. mit wissenschaftlicher Argumentation kaum
mehr nachvollziehbar wurden seine Ergebnisse. Das läßt sich
erkennen in
seiner "Völkisch-politischen Anthropologie": eine unsystematische
Arbeit, die irgendwie anfängt und irgendwie aufhört, die
jedenfalls
nicht geeignet ist, die Einzelwissenschaften zu integrieren.
Aber diese Fehleinschätzung
des
Politischen ist
nicht der einzige Grund, weshalb Krieck auf die Hitler-Bewegung
hereinfiel. Mit vielen Intellektuellen seiner Zeit teilte er die
ästhetische Faszination, die vom Massenkult der Hitler-Bewegung
ausging. Die jubelnden oder ergriffenen Massen schienen eine
zukunftsträchtige Vitalität auszustrahlen, die
Volksgemeinschaft wurde
scheinbar zur sinnlichen Erfahrung. Was vor allem von Goebbels kalt und
zynisch insze- 64
niert wurde zur
Volksverhetzung und zur
Eroberung
der politischen Macht, gewann für viele Intellektuelle, deren
kluge
Köpfe ihre Herzen nicht wärmen konnten, mystische
Qualität. In einem
Essay über Ernst Krieck kennzeichnet Klaus Prange diese
Faszination
treffend: "Es
scheint kein Zweifel, daß die
nationalsozialistische Bewegung hier einen Nerv berührt hat, der
wie in
anderen Massenbewegungen dem Bedürfnis nach gestalthafter
Gegenwärtigkeit gerecht wird, nach konkreter Anschauung eines
allgemeinen und verbindlichen Sinns. Masse in Bewegung, die
Aufmärsche
und Disziplin bei den Reichsparteitagen, die kultische Inszenierung von
Veranstaltungen, die monumentale Gegenwärtigkeit der Macht: das
alles
befriedigt den Sinn nach sinnfälliger Praxis und löst einen
Affekt der
Mitbewegung aus, dem sich gerade auch Intellektuelle nicht haben
entziehen können. Es ist schwer, gegen den Strom einer allgemeinen
organisierten Stimmung zu schwimmen, sich dem ,Schicksalsrausch' zu
entziehen. Wenn überhaupt, dann sind die Nationalsozialisten in
diesem
Punkte erfinderisch gewesen: in der kultischen Inszenierung von
Politik" (229). Prange
nennt auch das Stichwort, das am
ehesten die
Verführbarkeit dieser Intellektuellen zu erklären vermag: die
Suche
nach Identität. Seinen
eigentlichen Beitrag zur
Aufwertung der
NS-Bewegung leistete Krieck durch sein Konzept der
"Formations-Erziehung". SA, SS, HJ und die anderen "Formationen" der
Partei konnten sich demnach als Erziehungs-Gemeinschaften verstehen -
und zwar im doppelten Sinne einer Selbsterziehungsgemeinschaft und als
Träger für die Erziehung anderer. Damit gab Krieck sowohl der
Lagererziehung als auch der nun einsetzenden Schulungsarbeit nicht nur
eine Legitimation, sondern auch eine scheinbare
erziehungswissenschaftliche Grundlage. Das war nur möglich auf dem
Fundament seines erweiterten Erziehungsbegriffs, vorher hätte die
Pädagogik gar keine Kategorien dafür gehabt, z.B. einem
Verband wie der
SA, der ja als politischer Kampfverband gegründet worden war,
außer
vielleicht im metaphorischen Sinne eine erzieherische Funktion
zuzuweisen. Krieck unterschied nicht - wie wir heute - zwischen
Sozialisation und Erziehung, sondern subsumierte beides unter seinen
ausgedehnten Begriff von Erziehung. Erst diese begreifliche Unter-
65 scheidung
macht jedoch möglich, die
"Formationen"
als Sozialisationsfaktoren für die ihr zugehörigen Menschen
zu
verstehen - unabhängig davon, wie diese Verbände sich sonst
definieren
mögen -, indem man die Wirkungen untersucht, die sie auf die
Persönlichkeit ihrer Mitglieder ausüben. Eine
pädagogische Legitimation
ihrer Existenz - wie bei Krieck - wäre damit aber nicht verbunden.
Die
pädagogische Legitimation dieser Formationen kommt also dadurch
zustande, daß Krieck in diesem Zusammenhang den positiv besetzten
Begriff Erziehung verwendet.
Grenzen der Gemeinschaft Kriecks Einsicht in die soziale
Funktion
aller
Erziehung ist sicher zutreffend, und sie ist uns heute unter dem
Stichwort der "Sozialisation" selbstverständlich geworden. Mit dem
Begriff der "Sozialisation" bezeichnen wir alle Wirkungen, die die
Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, aber auch von
Erwachsenen
beeinflussen, ob sie nun von einzelnen Menschen, von Gruppen,
Gemeinschaften oder von den Massenmedien ausgehen. Wir wissen
inzwischen, daß die geplante Erziehung - z.B. durch Lehrer in der
Schule - nur einen kleinen Teil der gesamten Sozialisation ausmacht.
Sehr viel lernt das Kind auch dadurch, daß es an dem ihm
zugänglichen
sozialen Leben handelnd teilnimmt. Allerdings trennen wir dabei nicht
von vornherein wie Krieck zwischen Gemeinschaften und anderen Formen
sozialer Zusammenhalte. Zutreffend ist auch, daß
Individualität nicht
erzieherisch geplant werden kann, und daß sie auch nicht durch
die
Wirkungen der Sozialisationsmächte zustandekommt, sondern eine
Leistung
des jeweiligen Individuums ist - in der Sprache Kriecks: ein Ergebnis
der "Selbsterziehung". Indem das Kind sich mit den
widersprüchlichen
Erfahrungen seiner sozialen Umwelt tätig auseinandersetzt, formt
es
seine Persönlichkeit heraus. Die planmäßige Erziehung
kann
Individualität nicht herstellen, sie kann sie fördern oder
behindern. Aber
um solche pädagogischen
Einsichten und um
weitere Forschung in deren Rahmen ging es Krieck nicht in erster Linie.
Am Herzen lag ihm die völkische Weltanschauung, und deshalb zog er
aus
seinen pädagogischen Entdeckungen falsche Schlüsse.
66 Krieck
konnte sich eine pluralistische
Sozialisation
nicht vorstellen, obwohl sie in seinem Konzept insofern angelegt war,
als ja jede Gemeinschaft (einschließlich der Kirchen!) das Recht
haben
sollte, ihre typenbildenden Ansprüche an den Einzelnen zur Geltung
zu
bringen. Dann aber mußte das Erziehungsergebnis eine gewisse
Bandbreite
von Widersprüchlichkeit aufweisen, denn es ist z.B. kaum
anzunehmen,
daß die katholische Kirche denselben Typus hervorbringt wie die
Hitlerjugend. Krieck betonte sogar, daß keine Instanz das
Geschäft der
Erziehung allein vollbringen könne. Dann aber kann die Konsequenz
doch
nur lauten, daß die Individuen diese Widersprüche in sich
ausbalancieren und in einem gewissen Maße individuell gestalten
müssen.
Diese so naheliegende Konsequenz hat Krieck jedoch vielleicht deshalb
nicht gezogen, weil er damit liberalen Vorstellungen zur Rolle der
Individualität zu nahe gekommen wäre. Jedenfalls hätte
er den Prozessen
der Individualisierung eine eigenständige Bedeutung beimessen
müssen,
nämlich als eine Leistung, die gerade der Distanz zu den
typisierenden Erwartungen der Gemeinschaft bedarf. Individualität
könnte dann aber nicht mehr aus den funktionalen Prägungen
durch die
Gemeinschaften erklärt werden. Krieck entdeckte die
erzieherische
Bedeutung der
sozialen Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als ihre prägende
Kraft im
Entschwinden begriffen war. Die herausragenden Faktoren der modernen
Gesellschaft, die Trennung von Privatsphäre und
Öffentlichkeit, die
rationale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die
radikale Individualisierung der Menschen zu Rechtssubjekten gerade
unter Ignorierung ihrer konkreten sozialen Kontexte, der von Marx
vorausgesagte Siegeszug der Prinzipien des Marktes überall im
gesellschaftlichen Leben und schließlich die Massenmedien haben
notwendigerweise zur Emanzipation des Menschen - inzwischen auch der
älteren Kinder - von jenen Erziehungsgemeinschaften geführt,
die Krieck
im Sinne hatte. Die historische Unausweichlichkeit dieser Prozesse,
ihre Notwendigkeit im Rahmen sich entwickelnder Industriegesellschaften
hat er nicht verstanden. 67
Grenzen der Brauchbarkeit
Man kann Kriecks
Überlegungen
fortsetzen und fragen,
ob es noch sinnvoll ist, von "Erziehung" zu sprechen, wenn die
typisierende Kraft der sozialen Gemeinschaften derart
zurückgegangen
ist, wie wir das heute erleben. Jedenfalls verstehen wir heute den
Prozeß der Erziehung anders als Krieck. Wir sehen das Kind als
lernendes Subjekt, nicht nur als Objekt von Erziehung. Das Kind bildet
seine Persönlichkeit selbst aus, indem es die Herausforderungen,
die
ihm das Leben stellt, aktiv und tätig bewältigt. Ein
großer Teil dieser
Lemprozesse erfolgt durch das Leben selbst, ein anderer Teil wird
absichtsvoll pädagogisch inszeniert (z.B. in Kindergarten und
Schule).
Dort bieten professionelle Pädagogen "Lernhilfen" an.
Nun ist bemerkenswert, das
der Begriff
"Lernen" bei
Krieck gar nicht auftaucht, obwohl er doch die subjektive Seite der
Typenbildung beschreiben würde. Wenn man nämlich wie Krieck
meint, daß
Erziehung dadurch stattfindet, daß die Gemeinschaften den
Einzelnen
nach ihrem kollektiven Leitbild formen, dann heißt das doch
umgekehrt,
daß der Einzelne in diesem Prozeß etwas lernt, z.B.
bestimmte soziale
Verhaltensweisen. Vermutlich wäre ihm der Begriff "Lernen" zu
subjektivistisch gewesen, er spricht ja von "Selbsterziehung", um zu
verdeutlichen, daß Lernprozesse nur erfolgen im Rahmen der durch
die
Gemeinschaften vorgegebenen Spielräume. Abgesehen davon, daß
diese
pädagogische Theorie auf reine soziale Anpassung hinauslaufen
kann,
traf sie auch die damalige Realität nicht mehr. Der im Dritten
Reich
sozialisierte Mensch war nicht einfach die Summe der sozialen
Prägungen, die er erfahren hatte, er war mehr, und dieses Mehr ist
nicht durch den Terminus der Selbsterziehung zu beschreiben, sondern
nur durch den darüber hinausgehenden Begriff des Lernens. Was auch
damals schon Schule und Hochschule an Bildung und Ausbildung leisteten,
war mit Kriecks Erziehungstheorie nicht zu greifen. Und genau an diesem
Punkte war sein Denken für die pädagogische Praxis
unergiebig; denn
diese Praxis hatte schließlich mit lernenden Individuen zu tun.
Was
sollten z.B. Lehrer damit anfangen oder diejenigen, die Lehrer
ausbildeten? So
wurde neben der schon erwähnten
innerparteilichen Kritik auch fachliche Kritik an ihm laut, und dies um
so mehr, 68
als im Zuge der seit 1936
einsetzenden
Aufrüstung
der Schule und der Berufsausbildung im weitesten Sinne eine neue,
qualifizierende Bedeutung beigemessen wurde. Es gab auf einmal einen
Mangel an Facharbeitern wie auch an Lehrern. Da war Kriecks Meinung
wenig hilfreich, eine Reform des Bildungswesens werde so schnell nicht
möglich sein, weil dafür der Prozeß der völkischen
Erneuerung noch
nicht weit genug fortgeschritten sei. Damit zusammen hängt ein weiteres
praktisches
Problem, das Zeitgenossen ebenfalls schon erkannten. Krieck hatte seine
erziehungswissenschaftliche Konstruktion ja an historischen Beispielen
entfaltet. Dafür brauchte er nicht unbedingt kritische
Maßstäbe, um
diese vergangenen Formen der "Typenbildung" zu bewerten, er konnte sich
mit deren Beschreibung begnügen. Indem er jedoch handelnd und
erklärend
sich seiner Gegenwart zuwandte, mußte er irgendwelche
Bewertungsmaßstäbe entwickeln, wenn er nicht der
bloßen sozialen
Anpassung das Wort reden wollte. Konnte man denn die Ergebnisse der
sogenannten Formationserziehung einfach hinnehmen? Konnte nicht z.B. in
der HJ der Typus des äußerlich korrekten und
angepaßten Duckmäusers
entstehen? Oder der Typus des sportlich glänzenden Feiglings oder
Denunzianten? Und wäre nicht denkbar, daß in den
Religionsgemeinschaften, deren Recht auf Erziehung Krieck unterstrich,
der Typus des verklemmten Heuchlers heranwuchs? Gerade weil Krieck
forderte, daß diese einzelnen Typenbildungen "Glieder" des
Volksganzen
zu sein hatten, also von dort her auch ihr Maß und ihre Ordnung
erhalten sollten, hätte er dafür wissenschaftlich
objektivierbare
Maßstäbe der Beurteilung entwickeln müssen. Das hat er
nicht versucht,
und es wäre ihm auch von seinem Denkansatz her gar nicht
möglich
gewesen - ganz abgesehen davon, daß er dann die Formationen der
Hitler-Bewegung einer pädagogischen Kritik hätte unterziehen
müssen. Er
ging einfach davon aus, daß Gemeinschaften bzw. Korporationen,
solange
sie existieren, auch den ihnen angemessenen Nachwuchs "züchten";
im
übrigen sei das eine Frage der völkischen Erneuerung: wenn
diese einmal
gelungen sei, sei auch dieses Problem gelöst. Diese Vertröstung auf die Zukunft
half jedoch denen
nicht, die in der Gegenwart Verantwortung trugen. Wir werden sehen,
daß
die HJ-Führung sich im Unterschied zu Krieck sehr
69 wohl
Gedanken darüber machte,
welchen Typus sie in ihren Reihen eigentlich produzieren wollte.
Auch den Berufspädagogen -
den
Lehrern und
Sozialpädagogen etwa - stellte sich das Problem der Verantwortung
ihres
Handelns, und auch dafür hatte Krieck keine Antwort parat.
Dem inhaltsleeren
politischen Dynamismus
entsprach
eine eigentümliche pädagogische Ziellosigkeit, ein ratloses
Warten auf
die völkische Erneuerung. Aber was sollte bis dahin geschehen?
Weil
Krieck diese Frage nicht beantworten konnte, wurde das Feld frei
für
pädagogische Technokraten, die auf handgreifliche und relativ
ideologiefreie Qualifikationen und Ausbildung setzten, die aber auch -
wie Krieck zu Recht befürchtet hatte - rein instrumentell
vorgingen,
also ohne Bindung an ein auf das Volksganze bezogenes Ethos.
Markt, Massenmedien und Gemeinschaft
Bezeichnenderweise
kommen in Kriecks
Überlegungen
zwei moderne Phänomene kaum vor: Der Markt, hier insbesondere zu
verstehen als Konsumgütermarkt, und die Massenmedien. Die
Massenmedien
sind nicht einzuordnen in das Konzept der sozialen Gemeinschaften, sie
sprengen das Bild vom organischen Volkskörper. Sie zerstören
die
Identität der Gemeinschaften, indem sie allen dasselbe sagen, den
Kindern wie den Erwachsenen, den Christen wie den Atheisten. Der
Versuch der Nazis, die Massenmedien in den totalen Erziehungsstaat
einzubauen, konnte - abgesehen von den Strafandrohungen für
"Feindsender-Hörer" - nur solange Erfolg haben, wie der
massentechnologische Standard - man denke an den "Volksempfänger"
mit
seiner geringen Reichweite - entsprechend niedrig war. Heute kann keine
politische Ideologie die Kommunikationsreichweite der modernen
Informationsmedien mehr auf Dauer abblocken. Insofern war die Idee des
Erziehungsstaates
illusionär, selbst die Agitation und Propaganda von Goebbels war
auf
einen relativ unterentwickelten kommunikationstechnischen Standard
angewiesen. Gerade die Massenmedien, vor allem das spätere
Fernsehen,
haben einen entscheidenden Anteil daran, daß der Einfluß
der
klassischen Erziehungsmächte 70
(Elternhaus, Schule) auf die
Sozialisation sich mehr
und mehr verringerte. Rundfunk und Fernsehen zerstörten das
Informationsmonopol der Pädagogen, beschnitten ihre
Möglichkeit, das
für pädagogisch wertvoll Gehaltene den Kindern
zugänglich zu machen und
das andere ihnen vorzuenthalten. Der Konsumgüter- und
Dienstleistungsmarkt wiederum
richtete sich von vornherein nicht nach pädagogischen
Maßstäben. Er
fragt nicht danach, was gut für Kinder ist, sondem danach, was er
an
Kinder oder über sie an die Eltern verkaufen kann.
Pädagogisch
entscheidend ist dabei nicht, ob das eine oder andere Konsumgut zu
beanstanden ist, wesentlich ist vielmehr die implizite Moral, die der
Markt verbreitet: daß die Menschen Recht daran tun, wenn sie es
sich
gutgehen lassen wollen, daß sie im Recht sind, wenn sie Dinge
haben
wollen, die ihnen gefallen; daß sie, wenn sie etwas haben wollen,
dafür
nur Geld brauchen, aber keine Vormünder, die ihnen dabei Gebote
und
Verbote erteilen. Diese Moral lag von Anfang an, seitdem es einen
nennenswerten Konsumgütermarkt gibt, mit der pädagogischen
Moral im
Konflikt. Äußerer Ausdruck dafür sind unsere
Jugendschutzgesetze, die
schon in der Weimarer Zeit entstanden und den Versuch darstellen,
Kinder und Jugendliche von einem als besonders gefährdend
angesehenen
Teil des Marktes ("Schund und Schmutz-Literatur"
"jugendgefährdende
Filme") fernzuhalten. Massenmedien und Markt haben mit den ihnen
eigentümlichen Regeln inzwischen die pädagogische Provinz
zerstört, in
der Kinder früher relativ behütet aufwachsen konnten; um
wieviel
geringer wäre da auf Dauer die Chance gewesen, eine moderne
Industriegesellschaft im ganzen nach Art einer pädagogischen
Provinz zu
etablieren. Kriecks völkischer Erziehungsstaat war eine Illusion -
allerdings eine gefährliche, weil viele Menschen über diese
Illusion an
Hitler gebunden wurden. "Integration"
als Sinnstiftung Kriecks Bemühungen, dem
völkischen Staat Hitlers,
wie er ihn sich vorstellte, eine philosophisch-weltanschauliche Basis
zu geben, erschöpfte sich nicht nur darin, in Gestalt der
"Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue Philoso-
71 phie
zu formulieren, die den einzelnen
Wissenschaften wieder eine gemeinsame Basis geben, sie also zum Wohl
des völkischen Staates integrieren sollte. Krieck wollte die Idee
auch
organisatorisch umsetzen, indem er in Heidelberg eine
interdisziplinäre
Arbeitsgemeinschaft einrichtete, in der sich Vertreter verschiedener
Disziplinen trafen, um gemeinsam fächerübergreifende Probleme
der
einzelnen Wissenschaften zu erörtern. Schon in seiner
Rektoratsrede
hatte er zu einer tiefgreifenden Wissenschaftsreform aufgefordert.
Gerhard Müller hat diese Bemühungen ausführlich
vorgestellt, die im
übrigen bald wieder einschliefen, als Krieck von seinen
Ämtern
zurückgetreten war. Hinzu kam, daß die
nationalsozialistische
Wissenschaftspolitik im Zuge der Aufrüstung an begrenzter
Fachausbildung interessiert war - auch auf der Hochschulebene. Krieck
jedoch war der Ansicht, daß auf diese Weise nur Menschen mit
Fachborniertheit ausgebildet würden - die Studentenbewegung Ende
der
60er Jahre wird sie "Fachidioten" nennen -, die nicht in der Lage
seien, den Sinn ihrer besonderen beruflichen Kompetenz im Rahmen der
völkischen Gesamtaufgabe zu reflektieren und zu verstehen. Da
entsprechende Überlegungen zur Überwindung des begrenzten
Fachstudiums
und für fächerübergreifende Projekte auch in den
Debatten zur
Hochschulreform seit den sechziger Jahren eine Rolle spielen,
könnte
man geneigt sein, Kriecks Vision in dieser Sache als fortschrittlich,
in die Zukunft weisend zu betrachten. Nach den bisher vorliegenden
Erfahrungen scheint jedoch Skepsis angebracht. Krieck hat eigentlich nur
bewiesen,
daß derartige
Bemühungen geradezu zwangsläufig zur wissenschaftlich nicht
mehr
gedeckten Politisierung bzw. zu weltanschaulichen Gemeinplätzen
führen.
Alfred Baeumler übrigens, von dem im nächsten Kapitel zu
sprechen sein
wird, hatte in dieser Frage eine andere Position als Krieck. Er vertrat
zwar nachdrücklich eine "weltanschauliche Schulung" für alle,
auch für
Professoren, aber das sei nicht Aufgabe der Universität, sondern
der
speziell dafür eingerichteten Schulungslager. Krieck hätte mit dem Ansatz
seiner
"autonomen
Erziehungswissenschaft" damals eine neuartige pädagogische
Forschung in
Bewegung setzen können. Seine These, daß Erziehung ein
ursprünglich
soziales Phänomen sei, war ja richtig, und auch seine Wende zur
"Völkisch-realistischen Erziehung" in der NS-Zeit hätte
durchaus
entsprechende 72
Forschungen in Gang setzen
können,
z.B. über die
Formationserziehung" etwa in der HJ. Aber das hat ihn nicht
interessiert. Es ging ihm auch nicht darum, die Chancen und Grenzen der
planmäßigen Erziehung etwa in der Schule zu ermitteln,
seinem Ansatz
entsprechend etwa die tieferen, unbewußten und kollektiven
Elemente des
Schulehaltens zu erkunden. Seit der "Völkisch-politischen
Anthropologie" verrannte er sich immer mehr in weltanschauliche Fragen
mit der Folge, daß sein Denken spekulativ wurde mit immer
geringer
werdender wissenschaftlicher Stringenz. Die "Völkisch-politische
Anthropologie" beruhte auf einer "universalen Biologie", die zwar
nichts mit dem sozialdarwinistischen Biologismus der Rassefanatiker zu
tun hatte, diesen aber insofern mittelbar eine Rechtfertigung
verschaffte, als Krieck für seine Version der Biologie das Verdikt
der
Unwissenschaftlichkeit hinnehmen mußte. An der Biologie
interessierte
ihn der komplexe Zusammenhang alles Lebendigen, nicht die bloß
naturwissenschaftliche Betrachtung, die er in seiner Zeit vorfand; sie
reduzierte den Gegenstand auf chemische und physikalische
Gesetzmäßigkeiten. In diesem Punkte war er wieder sehr
modern, dem
gegenwärtigen Verständnis der Biologie jedenfalls näher
als seine
Gegner. Der entscheidende Denkfehler lag darin, auch soziale
Phänomene
biologisch zu deuten. Dies war eine weltanschauliche Prämisse, die
durch nichts gedeckt war als durch ein Wunschbild des Autors, und
diesem Wunschbild sollten die einzelnen Wissenschaften verpflichtet
werden. Mit diesem Konzept konnte jedoch niemand etwas anfangen: die
NS-Ideologen nicht, weil Krieck ihrem Rassismus nicht folgte; die
Hochschulpolitiker nicht, weil sie an fachlichen, in möglichst
kurzer
Zeit zu absolvierenden Studiengängen interessiert waren, die
Lehrer und
Sozialpädagogen nicht, weil ihnen keine Perspektive für ihre
praktischen Probleme geboten wurde. Rückblickend kann man nur
denen
Recht geben, die - wie Alfred Baeumler - eine Wissenschaftsreform im
Sinne Kriecks verhindert haben, denn sie hätte die
Einzelwissenschaften
in den geistigen Ruin getrieben, sie sozusagen durch krude
Weltanschauung "zersetzt'. Kriecks
Ansehen beruhte vor allem auf
seiner
Funktion als "Sinn-Lieferant" für junge, geistig
einigermaßen
anspruchsvolle Intellektuelle, die sich gerne für die neue Elite
halten
wollten und dafür ein Abgrenzungskriterium gegenüber den
73 "Spießern"
brauchten. Zudem
verfügte Krieck offenbar
auch über eine erhebliche persönliche Ausstrahlung, ein
Charisma. Die
Sucht nach einer harmonisch-konfliktfreien, aber philosophisch
anspruchsvollen und deshalb elitären Weltanschauung, der er selbst
verfallen war, fand Jünger gleichen Bedürfnisses.
Alfred Baeumler, sein
ideologischer
Konkurrent, war
da aus anderem Holze, sein Beitrag zur NS-Pädagogik lag nicht auf
dem
Gebiet der völkischen Weltanschauung. 74
3.
"Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)
Leben und Werk
Am 10. Mai 1933 verbrannten
die Nazis auf
dem
Opernplatz in Berlin etwa 20.000 Bücher und Schriften solcher
Autoren,
die sie für Feinde der deutschen Kultur hielten. Die Aktion stand
unter
dem Motto: "Wider den undeutschen Geist'. Zu den Akteuren gehörte
auch
ein kleingewachsener Professor in SA-Uniform: Alfred Baeumler. Er hatte
gerade eine Professur für Politische Pädagogik an der
Universität
Berlin übernommen und an diesem Tag seine Antrittsvorlesung
gehalten.
Darüber berichtete das "Neuköllner Tageblatt": "Als Auftakt der öffentlichen
Verbrennung der
undeutschen Bücher auf dem Opernplatz hielt Professor Dr. Alfred
Baeumler, der neue Ordinarius für Politische Bildung in Berlin, im
Hörsaal 38 der Universität die erste Vorlesung seines Kollegs
'Wissenschaft, Hochschule, Staat'. Der große Saal war vollkommen
überfüllt. Der größte Teil der Studenten nahm in
SA-Uniform an der
Vorlesung teil. Vor Beginn der Vorlesung marschierte eine studentische
Fahnenabordnung mit dem Hakenkreuzbanner ein. Professor Baeumler
beschäftigte sich mit der nationalsozialistischen Revolution und
ihren
geistigen und philosophischen Grundbedingungen". Die Vorlesung sei von den
Studenten mit
Begeisterung aufgenommen worden. Weiter heißt es in dem Blatt:
"Der Opernplatz war in
weitem
Umfänge abgesperrt und
von einer dichten Kette von Zuschauern umsäumt. Um 11 Uhr trafen
die
ersten des Zuges in Braunhemd und Couleur, an deren Spitze der neue
Ordinarius für Politische Pädagogik in Berlin, Professor Dr.
Alfred
Baeumler marschierte, auf dem Opemplatz ein. Sie marschierten auf dem
weiten Platz auf 75
und warfen ihre Fackeln in
den in der
Mitte
errichteten Scheiterhaufen, auf dem die Flammen in wabernder Lohe
emporschlugen ... . Von den Wagen, die das undeutsche Schriftmaterial
bis zum Opernplatz in die Nähe des Scheiterhaufens gebracht
hatten,
bildete sich eine lange Kette von Studenten, und von Hand zu Hand
gingen die Bücher, die dann dem Feuer überantwortet wurden".
(Zit. n.
Poliakow/ Wulf, 199 f.) In
seiner Vorlesung zuvor hatte Baeumler
seinen Studenten eine Rechtfertigung formuliert: "Sie ziehen jetzt hinaus, um
Bücher
zu verbrennen,
in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat,
um uns zu bekämpfen. Auf dem Scheiterhaufen, den Sie errichten,
werden
nicht Ketzer verbrannt. Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm
stellen wir uns im Kampfe, er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was
wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer
falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den
deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, daß sich
solche
Stoffe nicht mehr ansammeln können. Wir dürfen nicht auf
Verbote bauen.
Aus uns selber heraus müssen wir den undeutschen Geist
überwinden"
(Baeumler 1934, 137). Als
er diese Worte spricht, wird den
politischen
Gegnern nicht die Ehre des Kampfes zuteil, sie werden vielmehr
längst
verhaftet, von SA und Gestapo mißhandelt. Später, als Siebzigjähriger,
wird er vor
Geburtstagsgästen eine Ansprache über seinen Weg als
Schriftsteller
halten und dabei erwähnen, daß im Jahre 1945 seine
sämtlichen
Manuskripte, Vorlesungen und Exzerpte im Garten seiner Berliner Wohnung
verbrannt worden seien. "Die
Verbrennung erfolgte nicht durch die
Russen in
den Tagen des Einmarsches, sondern Wochen danach durch avisierte
Kommunisten. Sie war offenbar durch eine informierte Stelle angeordnet"
(M. Baeumler, 243). Als
Drahtzieher vermutete er den
kommunistischen
Philosophen Georg Lukacs. Daß es da einen Zusammenhang mit seinem
Auftritt von 1933 geben könnte, kam ihm offenbar nicht in den Sinn.
Im Jahre 1933 war Baeumler
schon 46 Jahre
alt. Geboren wurde er 1887 im sudetendeutschen Neustadt an der Tafel-
76 fichte,
das damals zu Österreich
gehörte. Sein Vater
war Porzellanmacher und ging 1896 nach Nürnberg. Baeumler legte
dort
1908 sein Abitur ab und studierte in München, Bonn und Berlin
zunächst
Kunstgeschichte, dann Philosophie und Ästhetik. Nach der Promotion
1914
wurde er von 1915 bis 1918 österreichischer Soldat und 1919
deutscher
Staatsbürger. Nach
dem Ende des Ersten Weltkrieges
setzte er seine
philosophischen Studien fort, veröffentlichte 1923 ein Buch
über "Kants
Kritik der Urteilskraft". Gemeinsam mit Manfred Schröter,
Philosophie-Professor an der Technischen Hochschule München, gab
er ab
1924 das "Handbuch der Philosophie" heraus und veröffentlichte
darin
einen Beitrag über "Ästhetik"; 1931 erschien ein
Reclam-Bändchen über
"Nietzsche, der Philosoph und Politiker", 1924 habilitierte er sich an
der Technischen Hochschule Dresden und wurde dort 1928
außerordentlicher, 1929 ordentlicher Professor für
Philosophie und
Pädagogik. "Schicksalbestimmend"
- wie Baeumler
für den Rest
seines Lebens meinte - sollte jedoch eine andere Veröffentlichung
werden. Manfred Schröter hatte 1926 eine Auswahl der Schriften des
romantischen Mystikers Bachofen unter dem Titel "Der Mythos von Orient
und Occident" herausgegeben. Baeumler sagte zu, für diese Edition
eine
Einleitung zu schreiben. Unter der Hand geriet diese Einleitung zu
einem ganzen Buch, über 200 Seiten lang. Diese Bachofen-Einleitun
g
unter dem Titel "Bachofen, der Mythologe der Romantik", fand unter
Fachleuten erhebliche Beachtung. Zu den Lesern gehörte auch Thomas
Mann. Er hielt
sich damals in Paris auf und legte seine Eindrücke und Erfahrungen
in
der Schrift "Pariser Rechenschaft" nieder. Darin erwähnt er auch
Baeumlers Bachofen-Einleitung, lobt den Tiefgang dieser Studie,
äußert
sich aber auch kritisch über die möglichen Wirkungen
angesichts des
sich damals verbreitenden völkischen Irrationalismus und
Mystizismus in
Deutschland. "Man
kann nichts Interessanteres lesen,
die Arbeit
ist tief und prächtig, und wer sich auf den Gegenstand versteht,
ist
bis in den Grund gefesselt. Aber ob es eine gute und lebensfreundliche,
eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese
Nachtschwärmerei ... von Erde, Volk, Natur, 77
Vergangenheit und Tod, einen
revolutionären
Obskurantismus, derart charakterisiert, in den Leib zu reden, mit der
stillen Insinuation, dies alles sei wieder an der Tagesordnung, wir
ständen wieder an diesem Punkte, es handele sich nicht sowohl um
Geschichte als um Leben, Jugend und Zukunft - das ist die Frage, die
beunruhigt. Dieser Gesinnung gilt die Einheit der deutschen Romantik
nur als optische Täuschung" (in: M. Baeumler, 155).
Thomas Mann nennt die
Abhandlung eine
"Fiktion
voller Tagestendenz" und legt somit die Unterstellung nahe, Baeumler
habe mit dieser Arbeit rechte politisch-ideologische Tendenzen im Sinne
gehabt. Baeumler ist empört und will in einer Broschüre
Thomas Mann
antworten, aber sein Verleger rät ihm ab. Die Kritik des
berühmten
Schriftstellers zeigte aber Wirkung, sie wird auch in Fachkreisen
aufgenommen, und Baeumler findet sich verkannt und in die rechte
politische Ecke gedrängt. Daß Thomas Mann damit einen Knick
in seiner
philosophischen Karriere bewirkt habe, wird ihm immer mehr zur fixen
Idee, von der er sich bis zu seinem Tode nicht mehr befreien kann.
Objektiv gesehen war der
Vorwurf sicher
unberechtigt. Im Jahre 1926 hatte Baeumler mit der politischen Rechten
nichts im Sinn, und wer politische Tendenz verbreiten will, schreibt
kein Buch, das nur wenige Eingeweihte überhaupt verstehen
können.
Subjektiv gesehen jedoch war Thomas Mann von der Wahrheit vielleicht
nicht allzusehr entfernt; denn wer engagiert Philosophie betreibt, wie
es Baeumler tat, thematisiert damit immer auch bewußt oder
unbewußt
seine eigene Befindlichkeit. Er will nicht nur wissen, was es mit der
Welt auf sich hat, sondern auch, was er selbst in dieser Welt zu
bedeuten hat. So war es vielleicht doch nicht so ganz zufällig,
daß
Baeumler sich von der Mythologie Bachofens faszinieren ließ und
von
Nietzsches anti-bürgerlicher Kulturkritik beeindruckt war.
In die NSDAP trat Baeumler
erst im April
1933 ein -
sehr zur Überraschung derer, die ihn kannten; denn bis dahin hatte
er
keine Ambitionen in dieser Richtung erkennen lassen. Über seine
damaligen Motive schreibt er 1954 in einem Brief:
"Bis zum Jahre 1933 habe ich
nicht daran
gedacht, in
eine politische Partei einzutreten. Für mich vollzog sich alles
politische Geschehen in einem abstrakt geschichtlichen Raum ... .
78 Was
mich dann aus der Stille
herausführte, mich
wider Willen in die politische Arena zog, war die Unzufriedenheit mit
den Regierungen, die wir hatten ... . Noch unter dem Druck der Wahl vom
5. März 1932 stehend trat ich zum letzten Termin (29.4.1933) in
die
Partei ein. Ich entschloß mich zu diesem meinen
Lebensgewohnheiten
fernliegenden Schritt aus einem einzigen, klarbewußten Grund: ich
wollte nicht wieder daneben stehen. Jahrelang hatte ich nichts als
kritisieren können, jetzt, so bildete ich mir ein,
müßte ich
Verantwortung übernehmen" (M. Baeumler, 228 im). Ausschlaggebend war wohl auch die
Bekanntschaft mit
Alfred Rosenberg. Rosenberg war auf Baeumlers philosophische Arbeiten
aufmerksam geworden und hatte schon vor 1933 Kontakt aufzunehmen
versucht. Nun hatte Hitler ihm das sogenannte "Amt Rosenberg"
übertragen, eine Parteidienststelle, die für die
weltanschauliche
Überwachung und Schulung der Partei zuständig sein sollte.
Auf Drängen
Rosenbergs übernahm Baeumler in dieser Dienstelle 1934 die
Abteilung
Wissenschaft, 1941 mußte er dieses Amt wegen zu geringer
Aktivität und
Ineffizienz auf Druck der anderen Abteilungsleiter aufgeben und
übernahm das sogenannte "Aufbauamt Hohe Schule". Die "Hohe Schule"
sollte nach dem Krieg als eine Art von Partei-Universität zur
Wissenschaftsreform beitragen. Während seiner nebenamtlichen
Tätigkeit
im Amt Rosenberg behielt er seine Berliner Professur.
Über diese Tätigkeit ist
nicht
viel bekannt. Es ist
aber zu vermuten, daß er als der für "Wissenschaft"
zuständige
Ressortchef Einfluß auf Berufungen und überhaupt auf die
Beurteilung
von Wissenschaftlern und deren Veröffentlichungen genommen hat
(vgl.
Horn). Sicherlich war er auch beteiligt an den Schwierigkeiten, die das
Amt Rosenberg Krieck bereitet hat. Über Kriecks Beitrag über
"Philosophie" für die vorhin erwähnte Festschrift für
Hitler war
Baeumler empört, zumal "Philosophie" die einzige Disziplin war,
für die
in diesem Band zwei Beiträge -von Baeumler und Krieck- erschienen.
Das
Amt Rosenberg hatte andererseits wenig Macht und Einfluß im
Vergleich
zu rivalisierenden Instanzen wie etwa dem Propagandaministerium.
Rosenberg hatte unter anderem ein Buch mit dem Titel "Der Mythus des
20. Jahrhunderts" geschrieben, das er für die ideologische
Grundlage
des Nationalsozialismus hielt. Davon wurden zwar bis 1945 eine Million
Exemplare verkauft, aber zu Rosenbergs Enttäuschung hatte
79 keiner
der vor dem Nürnberger
Tribunal stehenden
Parteigrößen das Buch gelesen. Es diente offensichtlich als
Parteigeschenk bei allen möglichen Gelegenheiten.
Unter seinen Kollegen galt
Baeumler als
unkollegial,
arrogant, kontaktscheu und opportunistisch. Rosenberg jedoch hielt zu
ihm und betonte noch im Nürnberger Prozeß, Baeumler habe
durch seine
fachliche Kritik der Arbeit des Amtes genützt. Seine Gauleitung
jedoch
beurteilte ihn kritischer. Seine nationalsozialistische Gesinnung sei
zwar nicht zu bezweifeln, er zeige aber zu wenig persönlichen
Einsatz
und zu wenig Kameradschaft und finde keine Resonanz bei seinen
Studenten. So
überraschend Baeumlers Eintritt
in die NSDAP für
seine Freunde auch sein mochte, so ist doch auch unverkennbar,
daß er
sich seit 1930 der NS-Ideologie immer mehr genähert hatte. In
dieser
Zeit hielt er einige Vorträge, in denen er seine ideologische
Grundposition entwickelte, die er im Prinzip bis 1945 beibehielt. Er
selbst verstand diese Wende nachträglich allerdings anders,
nämlich als
Hinwendung zu einem neuen philosophischen Thema: der
Geschichtsphilosophie. Diese Wendung und nicht die erwähnte Kritik
Thomas Manns sollte seinen weiteren Weg bestimmen. Das vorher erreichte
Niveau seines philosophischen Denkens wich nun einem mystifizierenden,
irrationalistischen Germanismus. Baeumlers politische Vision war
ein neues
deutsches
Reich, das auf germanischer Tradition basierte, d.h. darauf, daß
es
getragen wird von den Wehrbünden der Männer und gegliedert
ist durch persönliche Führer-Gefolgschaft-Beziehungen
in wechselseitiger Treue. Alles, was dieser Vision widerspricht oder
entgegenwirkt, verfällt der Kritik. Baeumlers Denken wird nun sehr
widersprüchlich -
nicht so sehr in einem logischen Sinne, als vielmehr durch die
Kombination unterschiedlicher Ebenen, die von heute aus auch
unterschiedlich beurteilt werden müssen. Da gibt es einmal die
erwähnte
Ebene des spekulativen Germanismus, von der sich Baeumler nach 1945
distanziert hat. Auf einer zweiten Ebene benutzt Baeumler Ergebnisse
seiner philosophischen Arbeit, vor allem aus seiner Beschäftigung
mit
Bachofen und Nietzsche, zur Analyse seiner politischen Gegenwart, also
auch der Hitler-Bewegung, der er sich dann zuwandte. Auf dieser zweiten
Ebene geht es vor allem um den Begriff des 80
"Symbols" und um die
anthropologische
These, daß der
Mensch ein aktives, handelndes Wesen sei. Auf einer dritten Ebene
schließlich gibt es von ihm Beiträge zu pädagogischen
Themen etwa über
die Funktion der Bildung und der Schule, die rein pragmatisch fundiert
zu sein scheinen und auch heute noch lesenswert sind. Ich will diese
drei Ebenen hier nicht zu einer inneren Logik zusammenführen,
sondern
sie einfach nacheinander vorstellen. Dabei muß auf eine Darstellung
und
Bewertung der im
engeren Sinne philosophischen Arbeiten Baeumlers verzichtet werden, um
die pädagogischen Fragestellungen nicht aus dem Blick zu
verlieren. So
muß die Frage ungeprüft bleiben, ob Baeumler Bachofen oder
Nietzsche
zutreffend interpretiert hat. Es geht hier vielmehr um solche
politisch-pädagogischen Texte Baeumlers, die er seinerzeit an ein
philosophisch nicht besonders vorgebildetes Publikum gerichtet hat.
Männerbündischer Germanismus
Der männerbündische
Germanismus
wird erkennbar in
einem Vortrag über den "Sinn des großen Krieges" - gemeint
ist der
Erste Weltkrieg - aus dem Jahre 1929. Die Frage nach dem "Sinn" des
Krieges,
den
Deutschland verloren hatte, beschäftigte das deutsche
Bürgertum in
hohem Maße, so daß dieses Thema damals keineswegs
ungewöhnlich war.
Viele Deutsche gaben sich mit der schlichten Erklärung nicht
zufrieden,
daß der Krieg verloren wurde wegen der militärischen und vor
allem auch
materiellen Überlegenheit der Gegner. Statt dessen blühten
Mystifizierungen, deren folgenreichste die "Dolchstoßlegende"
war: Die
Truppe sei unbesiegt geblieben, aber in der Heimat seien vor allem "die
Roten" und die Juden ihr in den Rücken gefallen. In "Mein Kampf'
hatte
Hitler diese Stimmung ebenfalls beschrieben: Schuld an der Niederlage
seien außer den Soldaten eigentlich alle irgendwie gewesen. Die
militärische Niederlage in Verbindung mit dem daraus
resultierenden
"Schandfrieden" von Versailles hatte ein tiefes Trauma beim deutschen
Bürgertum hinterlassen. Hinzu
kam das sogenannte "Fronterlebnis" derjenigen, die
den Krieg als Soldaten erlebt hatten. Der Krieg hatte an der
81 Front
nämlich ein anderes Gesicht
gezeigt, als man
das in der vorausgehenden Kriegsbegeisterung erwartet hatte. Es war ein
Krieg der "Materialschlachten", die den einzelnen Soldaten zu einer
anonymen statistischen Größe machten. Diese Art der
Kriegführung
beseitigte den Status-Unterschied zwischen Offizieren und Mannschaften
und schweißte beide zu einer Art von
Schützengraben-Gemeinschaft
zusammen. Dieses Erlebnis hinterließ bei vielen Soldaten eine
tiefe und
nachhaltige Wirkung und prägte auch Wünsche nach einer
dementsprechenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung; auch Baeumlers
politische Vorstellungen waren offenbar davon beeinflußt. Was war
für
ihn "Der Sinn des großen Krieges"? Im Kriege hätten zwei
Lebenssysteme,
zwei Kulturen miteinander gerungen: "Im Mittelpunkt des ersten
Lebenssystems
steht die materielle Kultur. Das
Wort 'materiell' ist hier nicht moralisch zu nehmen! Auch hier werden
Götter angebetet! Da steht der Götze Mammon, da steht der
Moloch, der
Jugend verschlingt. Wirtschaft und Gesellschaft ist das Losungswort.
Der Staat wird zu einer Organisation des Schutzes und der
Förderung
guter Geschäfte. Sicherheit, nämlich Sicherheit der gewohnten
Lebensumstände, der gewohnten Genüsse ist das oberste Gut. Zu
diesen
Genüssen sind auch die sogenannten 'geistigen' zu zählen:
Literatur und
Theater, Wissenschaft und Kunst. Wesentlich ist der Genuß in
jeder Art (Baeumler 1934, 6). Dieses System finde seinen
reinsten
Ausdruck in der
Mode. Diese die Menschen einsam und selbstsüchtig machende urbane
Kultur werde vor allem durch die großen Städte
repräsentiert, deren in
diesem Sinne vollkommenste Paris sei. Dem
wirtschaftlich-materialistischen
Lebenssystem stehe das männlich-heroische gegenüber.
"Die entgegengesetzte
Lebensform ist die
des Mannes. Nicht die Wirtschaft und der Genuß,
sondern
der Staat und die Arbeit stehen
hier im Mittelpunkt. 'Arbeit' bezeichnet die Welt des Mannes ... . Die
Welt der materiellen Kultur ist eine Welt des Genusses, die Welt der
Arbeit ist eine Welt der Tat. Dem Lebenssystem dieser Tat ist die
städtische Wohnweise nicht wesentlich, ja sie kann ihm feindlich
werden, da sie mit einer 82
gewissen Notwendigkeit zur
Erleichterung,
Sicherung
und Behaglichmachung des Lebens führt. Für die urbane
Lebensform
bedeuten die Mauern der Stadt, die die Häuser umschließen,
etwas
Heiliges. In dieser Lebensform dagegen heißt es:
nicht
die
Mauern sind es, sondern die Männer, die das Vaterland ausmachen.
Nicht
das Haus und der Salon, sondern die Männerversammlungen und das
Feldlager sind die symbolischen Wirklichkeiten dieser Welt. Ich stelle
sie als die heroische der urbanen gegenüber". Die Hinführung des jungen Mannes
zur
urbanen Kultur
erfolge durch das Weib, das den Mann von der Bindung an Seinesgleichen
fernhalte. Die Feminisierung der Politik führe zur Demokratie und
diese
zum bildungs- und luxusverzehrenden Privatmann. "Die Gesellschaft weckt zuerst
das
Bedürfnis nach
materieller Kultur, und hält sodann denjenigen, in dem es
wachgeworden
ist, an seinen Wünschen fest. Denn diese Wünsche sind nur
durch Geld zu
befriedigen; das Geld aber verwaltet die Gesellschaft. So ist der junge
Mann, ohne daß er es merkt, Pazifist geworden. Denn die
Gesellschaft
hat das Bedürfnis nach Sekurität, sie will, daß die
Geschäfte sich
ruhig und sicher abwickeln. Der Staat ist nur dazu da, um Erwerb und
Geldverkehr zu sichern. Jeder verdiene so viel er kann, das ist die
Devise" (41). Die
weibliche urbane Kultur sei dem
deutschen Volke
nicht wesensgemäß, es müsse wieder zurückfinden
zum heroischen
Männerbund, aussteigen aus der westlich-bürgerlichen Kultur.
"Die
bürgerliche Welt ist im Jahre 1918 über Deutschland Herr
geworden, weil
sie zuvor in seinem Inneren Herr geworden war. Für Deutschland
gibt es
seitdem nur eine Wahl: die restlose Einordnung in
das
siegreiche bürgerliche Europa als ein Hausgenosse minderen Rechts
-
oder der Austritt aus dem bürgerlichen Lebenssystem" (14).
An dieser Frage entscheide
sich, wer
politisch ,links'' oder "rechts" steht. ",Politisch links' eingestellt
sein
heißt in
Deutschland, diesen Sieg billigen, heißt also, sich auf die Seite
des
Urbanismus stellen. Für die Linke ist der große Krieg als
Krieg, als
Ereignis, sinnlos; als Erfolg der feindlichen
Waffen dagegen
sinnvoll, weil er den Sieg des Urbanismus bedeutet. Heute ist die
83 große Aufgabe der Linken:
Zerstörung der
nichturbanen Volksschichten und Urbanisierung der Arbeiterschaft.
Für
die Rechte ist der Krieg als Ereignis sinnvoll.
Sie lebt noch
in der heroischen Welt, sie weiß noch, was Kampf und Sieg ist"
(14 f.). Diese
auf den ersten Blick harmlos
erscheinende
Passage ist tatsächlich eine politische Diffamierung der Linken;
denn
sie werden zwar nicht als militärische, wohl aber als kulturelle
Bündnispartner der Siegermächte dargestellt, mit denen
gemeinsam sie
die "nicht-urbanen Volksschichten" - also die, auf die es nach Baeumler
ankommt - zerstören und damit auch die Substanz des deutschen
Volkes
antasten, die mit der weltbürgerlichen Zivilisation nicht in
Deckung zu
bringen sei. Baeumlers
Kritik der Weimarer
Gesellschaft ähnelt
also der von Krieck - zumindest was die beanstandeten Phänomene
angeht:
Antidemokratische, antiliberale, antifeminine und antibürgerliche
Ressentiments verschmelzen zu einem ideologischen Syndrom.
Bemerkenswert ist auch die Übereinstimmung beider im Hinblick auf
den
anti-femininen Affekt: Die Emanzipation der Frau ist für beide
offensichtlich eine fundamentale Bedrohung ihrer politischen
Identität,
Krieck bringt damit die Auflösung der Familie als sozialer
Gemeinschaft
in Verbindung, die zur Auflösung auch aller anderen
völkischen
Gemeinschaften führe; für Baeumler ist die Emanzipation das
Symbol
jener im Ersten Weltkrieg siegreichen bürgerlichen Kultur, die dem
deutschen Wesen nicht gemäß sei. Bei Baeumler nimmt der
anti-feminine
Affekt skurrile Züge an, wenn er etwa beklagt, daß in der
Weimarer
Rechtspflege "Weiber" über Männer zu Gericht sitzen
dürfen, oder wenn
er die Studentinnen ignorierte und seine Hörer ostentativ mit
"Meine
Herren!" anredete. An
einer anderen Stelle versuchte er
seine
Vorstellung vom heroischen Männerbund - der "Mannschaft" - im
Vergleich
zu einer Sportler-Mannschaft zu verdeutlichen: "Zur Mannschaft gehört eine
Verbundenheit der
Glieder, die nicht abhängig ist von dem technischen Zweck, der
unmittelbar erreicht werden soll. Die Sportmannschaft dagegen ist ein
technischer Verband und je reiner sie das ist, desto besser ist es
für
den Sport. Es wäre ganz irrtümlich, diesen gegebenenfalls
für Tage und
Stunden zusammengestellten Verband 84
als eine besondere Art von
Mannschaft
aufzufassen.
Fällt der Zweck fort, der den Zusammenschluß bewirkte, so
fällt die
,Sportmannschaft' auseinander. Der Geist einer echten Mannschaft
dagegen würde durch den Fortfall des nächsten Ziels nicht
zerstört; er
würde sich dann erst recht bewähren. Die Mannschaft wird zwar
nur durch
eine gemeinsam empfundene und anerkannte Aufgabe wirklich - das
unterscheidet sie von bloß persönlichen
Freundschaftsbünden -, aber
keineswegs ist das, was sie zur Einheit zusammenschmiedet, die
Vollbringung einer speziellen Leistung" (Baeumler 1942, 164).
Aber diese Vision der
Mannschaft konnte
in der
arbeitsteiligen modernen Industriegesellschaft, wie sie Deutschland
damals darstellte, keinen sozialen Ort haben, sie mußte sich
abdrängen
lassen in die relativ marginale Lokalität der Lager, und auch dort
blieb sie wohl im wesentlichen Fiktion. Als jedoch der Zweite Weltkrieg
ausbrach,
schien
diese Fiktion Wirklichkeit zu werden. In seinem Aufsatz "Der totale
Krieg" propagierte er diesen, bevor es Goebbels in seiner
berüchtigten
Rede im Berliner Sportpalast tat. "Mit unserer Jungmannschaft sind
wir alle
angetreten, um dorthin zu marschieren, wohin der Glaube des
Führers uns
weist. In der feierlichen Stunde dieses Aufbruchs wollen wir uns
geloben, daß der Glaube derer, denen Deutschlands Jugend
anvertraut
ist, niemals geringer sein soll als der Glaube der Mannschaft, die die
Heimat schützt und eine Weltwende heraufführt" (Baeumler
1942, 32). Bemerkenswert
ist, daß die
"Jungmannschaft", die da
für Hitler in den Krieg zieht, nicht als Zweckverband verstanden
wird -
wie die eben erwähnte Sportmannschaft - sondern als Lebensform.
Der Begriff des "totalen
Krieges" folge
aus dem der
"totalen Gemeinschaft" und führe zur "totalen Offenbarung", d.h.
in
dieser Grenzsituation zeige sich, was für Kerle die Menschen im
Verhältnis zur Gemeinschaft wirklich seien. "Der Begriff des totalen Krieges
gibt der
Einsicht
Ausdruck, daß jeder Versuch eines Gliedes der Gemeinschaft, sich
auf
irgendeine Weise außerhalb des Kampfes zu halten,
erkenntnismäßig auf
einer Fiktion beruht und ethisch ein Verbrechen ist Der Einzelne ist
nur, was er ist, durch die 85
Gemeinschaft in der
Gemeinschaft. Sobald
die Gemeinschaft sich im Kampfe befindet, befindet auch er sich im
Kampfe" (35). Es
sei ein liberalistischer Irrglaube zu
meinen, der
politische Normalzustand sei der Friede. Beides, Krieg und Frieden,
gehörten zusammen. Daraus folge keine Ablehnung des Friedens:
"Das Ziel des Krieges ist
nicht wieder
der Krieg, sondern der Friede. Ein
Krieg, der um seiner selbst Willen geführt würde, wäre
nicht total in
unserem Sinne, sondern Wahnsinn. Totaler Krieg heißt nicht
immerwährender Krieg. Es heißt vielmehr: Der Krieg ist der
einzige Weg
zum Frieden und das einzige wahre Mittel zur Erhaltung des Friedens"
(35). Baeumler
geht nicht der Frage nach,
welcher Art der
Krieg sei, den Hitler begonnen hatte, um welche politischen Ziele es
dabei ging und welche Bedingungen für einen kommenden Frieden
gegeben
sein müssen. Ganz
so "total", wie es zunächst in
strammer
Radikalität klang, sollte es dann doch wieder nicht zugehen; denn
es
sei falsch, nun alle Funktionen der Gesellschaft "zu den
Kriegshandlungen in Beziehung" zu setzen. Das gelte auch für die
Schule; sie müsse weiterarbeiten und ihren vorhandenen
Leistungsstand
unbedingt halten. Den
"Meckerern" jedoch muß das
Handwerk gelegt werden, sie haben den totalen Krieg nicht begriffen.
"Der gewohnheitsmäßige
Meckerer ist nicht von oben
herab zu belehren oder mit humorvoller Nachsicht zu behandeln, sondern
als einer, der 'draußen' stehen möchte, existenziell zu
widerlegen -
wenn es sein muß mit rauher Hand. In dem Augenblick, wo ein Volk
um
sein Dasein kämpft, hört nicht nur der Spaß, sondern
auch das lächelnde
Verzeihen auf. Wer meckert, läuft moralisch zum Feinde über.
Nach
dieser geistigen Haltung, nicht nach dem geringfügigen Anlaß
ist der
Meckerer zu beurteilen und zu behandeln" (38). Daß der moderne Krieg ein
"totaler"
sei, war schon
eine Erfahrung des Ersten Weltkriegs; er wurde nicht mehr wie vorher
irgendwo auf einem "Schlachtfeld" von Soldaten ausgetragen,
während in
der Heimat das Leben mehr oder weniger seinen üblichen Verlauf
nahm.
Vielmehr mußten auch die 86
Lebensbedingungen in der
Heimat den
militärischen Notwendigkeiten untergeordnet werden.
Ähnlich wie Krieck die
moderne
kapitalistische
gesellschaftliche Entwicklung durch das Modell des organischen
Volksstaates korrigieren wollte, wollte Baeumler die auf Gelderwerb und
Genuß beruhende Gesellschaft ablösen durch eine
männerbündische
Sozialstruktur von "Mannschaften", in denen Führer und
Geführte in
gegenseitiger Treue einander verschworen sein sollten.
Baeumler hat dieses
politisch-ideologische Weltbild
nach 1945 als "Germanismus" bezeichnet und sich davon distanziert. Im
wesentlichen rekonstruierte er damit eine historische Tradition, die
als Vorgeschichte der Hitlerbewegung gelten konnte; dafür
montierte er
zusammen, was allenfalls unter einem abstrakten
geschichtsphilosophischen Blickwinkel zusammen paßte: das
germanische
Heerlager, die alte Reichsidee, den Turnvater Jahn, die deutsche
Romantik, Nietzsche und das Bismarckreich.
Symbol und Einsatz Auf der zweiten Ebene seines
Wirkens geht
es um die
Prinzipien, nach denen er seinen Berliner Lehrauftrag verstehen und
ausführen wollte. Was
kennzeichnete ihn als einen
nationalsozialistischen Philosophen und zudem als Pädagogen, der
der
Jugend die neue geistige Ausrichtung beibringen sollte?
Schließlich
hatte man ihm mit einer solchen Erwartung den Berliner Lehrstuhl
übertragen! Das für ihn in Berlin eingerichtete "Institut hat
die
Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen der neuen Staatserziehung
herauszuarbeiten und an die Stelle des ausgearbeiteten Begriffsystem
der Pädagogik des Liberalismus ein tragfähiges Begriffsystem
im neuen
Geiste zu setzen. Diese Aufgabe kann nur eine realistische Philosophie
lösen, die sich dazu mit den Wissenschaften verbindet, die das
menschliche Handeln zum Gegenstand haben" (Zit. n. Dickopp 1970, 427).
So heißt es in der Chronik der Berliner Universität.
An diese Aufgabe, gegen die
individualistische Pädagogik des Liberalismus eine solche "im
neuen Geiste'' - also im 87
nationalsozialistischen
Sinne - zu
setzen, ging er
ganz anders heran als Krieck. Er setzte nicht auf die
sozial-revolutionäre Seite der "Bewegung", in der Hoffnung, diese
werde
von selbst zur volksgemeinschaftlichen Harmonie führen, vielmehr
nahm
er die politische Realität des NS-Systems so an, wie sie war, und
versuchte in diesem Rahmen philosophisch fundierte Präzisierung zu
leisten. Als gelernter Philosoph blieb er kritisch und deutlich
ablehnend gegenüber Kriecks Versuchen, eine alle Daseinsbereiche
umfassende und integrierende völkische Philosophie zu formulieren;
er
hielt das zu Recht für reine Spekulation. Dafür erreichte er
aber auch
nicht Kriecks publizistische Resonanz. Baeumler publizierte in der Zeit
von 1933-1945 vier Sammelbände mit Aufsätzen und Reden
(Männerbund und
Wissenschaft, 1934; Politik und Erziehung, 1937; Bildung und
Gemeinschaft, 1942; Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 1943).
Hinzu kommt eine längere Einleitung im ersten Band der geplanten
Gesamtausgabe der Schriften von Alfred Rosenberg, von denen aber nur
dieser erste Band erschienen ist. Ferner sind einige Aufsätze zu
erwähnen - vor allem in den beiden Zeitschriften, die er
herausgegeben
hat: "Weltanschauung und Schule" und "Internationale Zeitschrift
für
Erziehung". Das war im Vergleich zu Kriecks kaum zu überblickender
Produktion nicht sehr viel. Für
diese zweite, aus seinen
philosophischen Studien
resultierende Ebene sind vor allem zwei Vorträge aus dem Jahre
1933 von
Bedeutung: Seine schon erwähnte Antrittsvorlesung und ein einige
Wochen
früher gehaltener Vortrag "Der theoretische und der politische
Mensch". In
seiner Antrittsvorlesung
präsentierte Baeumler
seine politisch-ideologischen Voraussetzungen und sein Programm. Sie
beginnt mit einer Ehrenrettung für die NS-Studenten, die sich ja
durch
Aktionen gegen Professoren, durch randalierende Störungen von
Lehrveranstaltungen weithin unbeliebt gemacht hatten. Sie hätten
dabei
ein Bild einer neuen Hochschule in sich getragen, das sie noch nicht in
Worte fassen könnten. Keineswegs wollten sie die wissenschaftliche
Arbeit abschaffen. Aber die idealistische Überlieferung der
Universität
genüge ihnen nicht mehr, sie wollten sich vielmehr aktiv an der
Revolution beteiligen; sie wollten politisch handeln und nicht
lediglich unpolitisch zuschauen, wie es die traditionelle
Universität
von ihnen erwarte. Die dieser zu- 88
grundeliegende Philosophie
des Humanismus
habe sich an einer Idee orientiert,
wohl wissend, daß sie in reiner Form nie zu verwirklichen sein
werde.
Dieses "Denksystem des bildlosen Idealismus" sei unpolitisch, auch wenn
sich seine Vertreter zur nationalen Bewegung bekannten; denn "eine
Hochschule, die selbst im Jahre der Revolution nur von der Führung
durch Geist und Idee, nicht von der Führung durch Adolf Hitler und
Horst Wessel redet, ist unpolitisch" (Baeumler 1934, 126).
Diesem Denksystem stellt
Baeumler nun
nicht etwa ein anderes entgegen, sondern eine im Symbol konkretisierte
Idee: "Die
Gefolgschaft Adolf Hitlers kennt das
Symbol,
die Darstellung der Idee in einem Menschen, in einer Fahne. Das
Führerprinzip und die Symbole des Nationalsozialismus haben den
Begriff
der Idee neu geprägt. Hier handelt es sich nicht um einen
Wortstreit
... . Bis vor kurzem konnte man noch hören: es heißt Heil
Deutschland, nicht Heil Hitler. Der
allgemeinere Begriff: Deutschland bedeute mehr als der individuelle
Begriff: Hitler, und es sei parteiisch und engstirnig, wenn man nicht
'Heil Deutschland' sage. Als ob wir nicht, wenn wir Heil Hitler sagen,
Heil Deutschland meinten! Aber wir meinen es konkret, wir meinen es
eindeutig, wir meinen es politisch. Hitler ist nicht weniger als
die Idee, er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich" (126 f.).
An die Stelle des früheren
absoluten
Begriffs des
Menschen müsse ein geschichtlicher, realistischer treten,
daß der
Mensch nämlich einer bestimmten Rasse und einem bestimmten
Volkstum in
einer bestimmten geschichtlichen Lage angehöre. Korrigiert werden
müsse
vor allem die Diskrepanz zwischen dem Typus des Gebildeten und dem des
Soldaten: "Das
eigentliche Verhängnis des 19.
Jahrhunderts
war, daß die humanistische Philosophie und die schweigende
Philosophie
der Soldaten des preußischen Generalstabs nicht zusammenstimmten.
Fast
gleichzeitig mit der Berliner Universität ist das System der
allgemeinen Wehrpflicht entstanden. Das neue Universitätssystem
und das
neue Wehrsystem hätten auf den gleichen Erziehungsgedanken
gegründet
werden müssen Das ist nicht geschehen. Im Heere wurde der Mann
erzogen, an der Universität wurde der Mensch gebildet.
Der preußische Generalstab erzog Soldaten, die Universität
brachte Gebildete hervor. Der theoretische Mensch, den
sie 89
großzog, kannte wohl die
geistigen
Güter seiner
Nation, aber er wußte nichts von der Erde und von der schweren
Mühe des
Alltags, er war dem Bauern und dem Arbeiter fremd, er hielt sich
für
ein absolutes Ich unter hochmütiger Verachtung des Volkes, der
Mutter,
die ihn geboren hatte. Der kämpfende Mensch, der politische
Mensch, der
Soldat, der Bauer und der Arbeiter waren diesem nur noch 'verstehenden'
Gebildeten fern und unzugänglich" (129). Es nütze nicht viel, wenn die
Gebildeten lediglich
per Gesinnung sich zur nationalsozialistischen Revolution stellten;
denn "Volksgemeinschaft bedeutet etwas anderes als Verbundenheit in
Gesinnung und Wille. Wer legt diese Gesinnung, diesen Willen aus? Wer
richtet die einzelnen aus, wer bezeichnet das Ziel konkret? Die
patriotische Gesinnung wird nicht bezweifelt, aber mit patriotischer
Gesinnung kann man nicht kämpfen und die Macht ergreifen. Dazu
bedarf
es des unbedingten Einsatzes für konkrete Symbole. Nur ein solcher
Einsatz ist politisch, d.h. bewirkend. Die bloße Gesinnung
bewirkt
nichts" (128). Das
heißt im Klartext: Aktiver
Einsatz wird verlangt für denjenigen, der den "Willen auslegt":
für Hitler. Nationalsozialismus
bedeute "geistig"
"die Ersetzung des Gebildeten durch den Typus des
Soldaten" (129).
"Typus" ist hier wie bei
Krieck gemeint
als
kollektive Haltung, Gesinnung und Einstellung in einer bestimmten
sozialen Gruppe, also im Gegensatz zur bloßen
Individualität. Und von
dieser Grundposition aus versteht Baeumler den Lehrauftrag der
"Politischen Erziehung" so: "Ich
werde an die Stelle des
neuhumanistischen
Bildes des Menschen das wahre Bild vom politischen Menschen setzen, ich
werde das Verhältnis von Theorie und Praxis neu bestimmen, ich
werde
die Lebensordnungen beschreiben, in denen wir wirklich leben, ich werde
meine Erkenntnisse vermitteln, aber ich werde nicht in Politik
dilettieren. Das Bild des politischen, d.h. des wirklichen Menschen zu
zeichnen ist meine Aufgabe, nicht Kathederpolitik zu treiben. Politik
können nur die machen, die sie auch zu verantworten haben " - ...
der Gedanke muß sich vor dem Gedanken
verantworten" (130).
Dabei werde seine Aufgabe
auch darin
bestehen, die Symbole zu deuten, den Gegensatz von Symbol und Wort zu
be- 90
arbeiten, was heißen soll:
die
ursprünglichen
Symbole der Hitlerbewegung, wie Gruß, Fahne usw. müssen
philosophisch
gedeutet und auf diese Weise zu einer neuen Kultur geformt werden. Das
Symbol schmücke aber nicht den einzelnen, sondern
repräsentiere
Gemeinschaft, schließe also auch andere aus, und "Humanität"
gelte
keineswegs gegenüber allen Menschen - wie es im Programm der
allgemeinen Menschenrechte verkündet ist. "Wer unter Humanität eine
politische
und geistige
Organisation alles dessen, was Menschenantlitz trägt, versteht,
dem
erwidern wir: wir sind nicht human. Denn wir wissen, daß es ein
Zusammenleben von Menschen auf höherer als nur ökonomischer
Basis nicht
geben kann ohne die Konzentration dieser Menschen um das ihnen
angemessene Symbol. Dieses Symbol vollbringt eine Scheidung, es
setzt, was Recht und Unrecht, was wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt,
es
schließt aus, es ist ein Symbol nur für diejenigen, die es
aus dem
Grunde verstehen, und die es mit Begeisterung erfüllt. Das ist
unser
Begriff von Humanität: Humanität ist da, wo Menschen an ein
Symbol
glauben und sich einsetzen, wo ein Symbol begeistert und
fortreißt zu
Gestaltungen und Taten. Humanität ist uns ein Begriff nicht der
Ausdehnung, sondern ein Begriff, der auf eine bestimmte Höhenlage
hinweist.
,Menschlich' ist ein Volk nicht dann, wenn es alle Rassen duldet, wenn
es Fremden die politische und geistige Herrschaft über sich
zugesteht,
sondern menschlich ist es dann, wenn es sich mit aller seiner Kraft
bemüht, sich selber in menschlich große Form zu bringen"
(135). Und
die Warnung an den politischen Gegner
ist
unüberhörbar: "Wer nicht mit uns leben und sterben kann, der
wird nicht
als Ketzer verbrannt. Er bleibt unbehelligt, wenn er uns nicht
angreift. Aber: ... wir stellen es dem Einzelnen nicht frei, die
Symbole anzugreifen und zu verwerfen, in denen sich unsere Einigkeit
offenbart" (137). Die
Einheit des deutschen Volkes wird
für Baeumler
also repräsentiert und sinnlich erfahrbar gemacht in den Symbolen
der
Nazibewegung bzw. in denen, die diese Bewegung aus
Traditionsbeständen
– z.B. des preußischen Militärs - aufzunehmen gedenkt.
Einige Wochen vor seiner Antrittsvorlesung, am
27.2.1933
- da war er noch nicht Parteimitglied - hielt Baeumler einen
91 Vortrag
unter dem Titel "Der theoretische
und der
politische Mensch". Entwickelte er in der Antrittsvorlesung im
wesentlichen die Bedeutung der Symbole und ihrer Interpretation, so
ging es ihm hier um die These, daß der Mensch ein handelndes Wesen
sei. "Der
Mensch ist wesentlich ein
politisches Wesen, d.h. er ist nicht ein Wesen, das zuerst kontempliert,
Werte betrachtet, und dann handelt,
er ist nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist, daß er
teilnimmt an einer höheren geistigen Welt - dann wären die
meisten
Menschen vom Menschsein ausgeschlossen -, sondern er ist ein ursprünglich
handelndes Wesen" (Baeumler 1934, 94). Diese anthropologische Grundthese
formulierte er im
ausdrücklichen Gegensatz zum schon erwähnten
Selbstverständnis des
humanistisch "Gebildeten". "Die
humanistisch-idealistische
Philosophie der Bildung geht
von der Vorstellung aus, daß sich über einem Unterbau von
Not und
Arbeit, von Widerspruch und Streit ein Überbau des Geistes erhebe,
die
lichte Welt des Bewußtseins, eine Welt über dem ,Graus der
Zeiten', in
der nicht gestritten und gerungen wird, sondern wo die stille
Betrachtung, das Verstehen und Erkennen ihren Ort haben. Und die
Voraussetzung ist: es sollte jenen Kampf, jene Not
des
Arbeitens, jene Entzweiung des politischen Kampfes nicht
geben. Nur
da sei der Mensch ganz Mensch, wo er spiele" (95).
Dieses Harmonie- und
Friedensbedürfnis sei aber eine
Illusion, eine Fehleinschätzung der menschlichen Wirklichkeit,
für die
im Gegenteil Handeln konstitutiv sei. "Handeln ist aber kein
Realisieren
erkannter Werte.
So leicht ist es dem Menschen nicht gemacht. Der wahrhaft Handelnde
steht immer im Ungewissen, er ist ,wissenlos', wie Nietzsche sagt. Das
macht gerade das Handeln zum Handeln, daß es nicht gedeckt ist
durch
einen Wert" (95 f.). Aus
dieser anthropologischen
Grundbefindlichkeit des
Menschen folge, daß menschliches Verhalten nie absolut "sachlich"
sein
könne, sondern immer tendenziös sein müsse. Deshalb
erfolge Handeln
immer in einer bestimmten Richtung, politisches Handeln heiße
also
immer Partei ergreifen. Das habe der Parlamentarismus verleugnet, er
sei "das der Fiktion des theoretischen Menschen entsprechende
92 politische
System" (105). Nach dieser
Fiktion
bestehe das Parlament aus lauter einzelnen Abgeordneten, die je
individuell nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, der Sache und
dem Volke verpflichtet. In diesem Verständnis gebe es keinen
"ursprünglichen Willen", kein "ursprüngliches Handeln",
"keine
unabhängig handelnde, rein politische Macht", sondern "lediglich
eine
nach allgemeiner Einsicht beschließende Körperschaft, deren
Beschlüsse
von einer nur ausführenden Macht im Verwaltungswege 'verwirklicht'
werden" (105 f). Die
Tatsache, daß im Parlament Parteien vertreten
seien, werde in
der Verfassung gar nicht erwähnt, und deshalb sei diese "der
Ausdruck
der Entpolitisierung unseres gesamten Daseins" (106).
Das individuelle politische
Handeln sei
also nicht
nur immer parteilich gerichtet, es sei immer auch gerichtet auf das
Ganze, und die entscheidende Frage sei: "Wer soll das Ganze vertreten?
Die
Frage nach dem Wer ist die existentielle Frage, ihr kann man nicht
entgehen. Es gibt keine Politik ohne Namen, ebenso wenig wie eine
Wissenschaft ohne Namen: Erkennen und Handeln unterscheiden sich nicht
wie sicheres Vorgehen und egoistisches Ansichreißen, sie fallen
auch
nicht zusammen unter dem Begriff fachmännischen Tuns, sondern sie
stehen zusammen unter dem Begriff des Wagnisses. Von dem Erkennenden
wie dem Handelnden wird das ganze gewagt, die großen Methoden wie
die
großen Reiche tragen die Namen derer, die sie gewagt haben" (107
f.). Die
Frage nach der Repräsentanz des
Ganzen hatte er schon beantwortet: Hitler steht für
das Ganze, und deshalb sei es unpolitisch, nur eine patriotische
Gesinnung zur Schau zu stellen, auf aktiven "Einsatz" für die
Hitler-Bewegung komme es an. Auch die "Kulturwerte", die der
"Gebildete" als
seinen "Wert" betrachtet, seien nicht durch Anerkennung von Werten
zustande gekommen, sondern durch aktive Wagnisse.
"Handeln heißt nicht: sich
entscheiden für ... ,
denn das setzt voraus, daß man wisse, wofür man sich
entscheidet,
sondern Handeln heißt: eine Richtung einschlagen, Partei nehmen,
Kraft
eines schicksalhaften Auftrags, Kraft eigenen Rechts,
93 ohne
die Möglichkeit einer Deckung.
Handeln heißt: sich einsetzen ohne Sicherheit, nur mit
Gewißheit" (108). Wir
werden uns mit dieser
Handlungstheorie noch
beschäftigen müssen. Welche gefährlichen, ja
demagogischen Konsequenzen
sie haben kann, führt Baeumler selbst blauäugig vor. Die
Rektorenkonferenz hatte im Hinblick auf politisch motivierte
Ausschreitungen an den Universitäten am 4. Dezember 1932 folgende
Entschließung verfaßt: "Es
liegt den deutschen Hochschulen und
ihren
Rektoren fern, der studierenden Jugend die Beschäftigung mit den
Problemen des politischen Lebens zu verwehren. Sie erachtet es vielmehr
für selbstverständlich, daß Lehrer und Studenten mit
heißem Herzen
Anteil nehmen am Geschick des deutschen Vaterlandes. Dagegen lehnen sie
mit dem Nachdruck ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Staat und
Wissenschaft das Hineinstoßen der Parteipolitik in die Hochschule
grundsätzlich ab". Dazu
Baeumlers Kommentar: "Die Studenten
dürfen sich
also mit dem Verstande und mit dem Herzen mit Politik beschäftigen
-
aber sie dürfen nicht Politik treiben" (109). Das hatten die Rektoren gar nicht
gesagt,
sie wollten nur innerhalb der Hochschule keine
politische Betätigung. Dieses von Baeumler selbst vorgebrachte
Beispiel
zeigt jedenfalls eine Konsequenz seines Handlungsbegriffes: Die
Rechtfertigung derartiger Übergriffe; denn sie waren
natürlich nicht
durch Werte gedeckt, erfolgten nicht durch Realisierung von Werten, sie
waren ein "Wagnis", weil die so Handelnden die Folgen nicht klar
voraussehen konnten, die Rektoren hätten ja zum Beispiel, wenn sie
auch
etwas "gewagt" hätten, die Rädelsführer von der
Universität verbannen
können. Mit
der Vorstellung dieser beiden Reden
ist
Baeumlers politisch-pädagogische Grundposition hinreichend
beschrieben:
politisch geht es gegen das parlamentarische System von Weimar und die
dieses tragenden und stützenden liberalen, und humanistischen
Ideen,
philosophisch geht es gegen die Tradition des humanistischen
bürgerlichen Idealismus, wobei beides für ihn innerlich
zusammengehört.
Etwas vereinfacht läßt sich also sagen: durch seinen
männerbündischen
Germanismus ist Baeumler zur Hitlerbewegung gestoßen; seine
Eintrittskarte waren die politische Hofierung der Nazi - Symbole und
seine aktivistische Anthropologie. 94
Immer erfolgt die
Argumentation so,
daß die
politische Führung gerechtfertigt und Baeumlers
nationalsozialistische
Gesinnung erkennbar wird. Diese
Tendenz tritt auf der dritten Ebene
der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge deutlich
zurück. Bildung,
Bildbarkeit und Schule Baeumler hat bis 1945 keine in
sich
schlüssige,
systematische Arbeit über die NS-Erziehung vorgelegt.
Veröffentlicht
hat er lediglich Vorträge und Aufsätze, die sich mit
Einzelfragen
befassen. Er versuchte, die nationalsozialistische Erziehung jeweils im
Gegensatz zum individualistischen Liberalismus und der
bildungsgeschichtlichen Tradition zu fundieren, die er vorfand. Zu
überwinden sei der Typus des "Gebildeten", der sich von der
Realität
des völkischen Lebens distanziere, sich für über den
Parteiungen
stehend halte und seine auf dem Gymnasium und der Universität
erworbene
"Bildung" als eine Art von Besitz betrachte. Diesen Typus, der auch bei
der nationalsozialistischen Revolution wie bei allen politischen
Ereignissen abseits gestanden habe und dessen Position auf einem
unrealistischen Menschenbild beruhe, nimmt er immer wieder ins Visier.
Dabei greift er seine
Kontrahenten von
der
"geisteswissenschaftlichen Pädagogik" - Litt, Blättner, Nohl,
Weinstock
- in den ersten Jahren nach der Machtergreifung polemisch an, und zwar
mit dem Vorwurf, sie würden ihre pädagogische Argumentation
dem "neuen
Geist" nur anpassen, tatsächlich jedoch dem traditionellen
Bildungsideal verhaftet bleiben. Diese Polemik verschwindet jedoch etwa
ab 1939 und macht einer zunehmend sachlich werdenden Argumentation
Platz. Im
Unterschied zu Krieck
beschäftigte Baeumler sich
mit pragmatischen Fragen der Pädagogik in dem Bemühen, diesen
systematisch auf den Grund zu gehen. Vor allem galt sein Interesse der
Schule, der Lehrerbildung und dem Sport. Den grundlegenden Sinn der
Schule verteidigte er gegen den schulfeindlichen Impetus der HJ
einerseits und gegen das vordergründige Nützlichkeitsdenken
aus
Wirtschaftskreisen andererseits. In einem bemerkenswerten Aufsatz
über
"Bildung" rechtfertigt er diesen Begriff als auch für den National-
95 sozialismus
unverzichtbar. Bemerkenswert
ist dieser Beitrag deshalb, weil Baeumler den Bildungsbegriff der individuellen
geistigen
Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zuweist, obwohl er sich damit
dem Verdacht aussetzt, an den verpönten liberalistischen
Individualismus wieder anzuknüpfen. "Bildung ... ist etwas, was sich
nur im
Einzelnen
ereignen kann. Der Mensch, der seine Anlagen und Kräfte
entwickelt,
,bildet sich'. Aber dieses Verbleiben des Vorgangs der Bildung im Subjekt
begründet
keineswegs den Vorwurf des Individualismus gegenüber dem
Bildungsvorgang überhaupt ... . Indem der heranwachsende Mensch
geistige Gehalte produzieren und reproduzieren lernt, bildet er sich,
und diese Bildung ist ein Urvorgang des Gemeinschaftslebens, obwohl
sie sich im Subjekt vollzieht, und nichts anderes ist als die
gesetzmäßige Entfaltung der Kräfte des Einzelmenschen. Denn
die Gemeinschaft ist darauf angewiesen, daß die Glieder ihre
Anlagen
und Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung bringen, d.h.
daß sie sich
bilden" (Baeumler 1942, 112). Der Weg der Bildung brauche seine
Zeit,
und die müsse dem Nachwuchs auch gewährt werden. "Der Vorgang der Bildung
erstreckt sich
über eine
Reihe von Jahren und ist als Ganzes unsichtbar. Das Kind, das den Weg
der Bildung begeht, merkt nichts davon. Die Eltern nehmen die
eigentliche Entwicklung meist nicht wahr. Die Öffentlichkeit
empfängt
den durch die Schule Gebildeten wie ein selbstverständliches
Geschenk
und äußert sich gewöhnlich nur dann, wenn sie etwas
vermißt" (116). An
anderer Stelle rechtfertigt er die
Schule gegen
den Vorwurf, sie sei zu weltfremd, sie müsse näher an das
Leben
herangeführt werden. "Es
war einmal möglich, eine Schule
zu konstruieren,
die dem Leben völlig entrückt war. Das ist heute nicht mehr
die Gefahr.
Die Schule, die vom Leben nichts weiß, ist überwunden" (120).
"Der Weg zur Leistung" - so
der Titel des
Aufsatzes
- könne nicht immer unmittelbar, etwa im Berufsleben selbst
angestrebt
werden, er bedürfe manchmal vielmehr auch des Umwegs. "Die Schule
ist
der Umweg, den das Leben selber erfunden hat, um zu bestimmten
Leistungen zu gelangen. Um 96 sein Ziel zu erreichen, setzt das
Leben
sich
scheinbar in Widerspruch zu sich selbst; es schafft die Schule, die
ihrem Aufbau nach nicht Leben ist, und gerade damit dem Leben dient"
(119). Offensichtlich
erfolgt Baeumlers
Parteinahme für die
allgemeinbildende Schule auf dem Hintergrund jener massiven
Schulkritik, wie sie ab 1936 aus Kreisen der Wirtschaft formuliert
wurde; die Schulleistungen insbesondere der Volksschulabgänger
seien
erheblich zurückgegangen. Dem nun drohenden vordergründigen
Praktizismus widersprach Baeumler. "Die allgemeine Schulpflicht der
Jugendlichen bis
zum 14. Lebensjahre ist einer der größten Siege, die vom
Leben über die
bloße Praxis errungen worden sind. Naturgemäß kann es
immer nur einen
Ausgleich zwischen der Schule und dem Leben geben, da beide im
Recht sind. Unfruchtbar wird die Spannung zwischen ihnen erst dann,
wenn man das Recht der Schule unverständig bestreitet. Vor allem
da, wo
durch die Sache eine längere Ausbildungszeit gefordert
ist,
pflegt ein gewisser Widerspruch gegen jede der Schule gewidmete und
damit der Praxis entzogene Zeit einzusetzen ... . Was man in einer
guten Schule lernt, ist nicht ein bestimmtes Handeln, sondern das
Handelnkönnen ... sie darf nicht anlernend und abrichtend, sondern
sie
muß bildend sein" (122). Im Unterschied zu Krieck hält
Baeumler nichts von
einer universitären Ausbildung der Volksschullehrer. Er
verteidigte und
rechtfertigte die im Krieg beschlossene Neuordnung der Lehrerbildung,
die praktisch auf das Niveau der Seminar-Ausbildung vor dem Ersten
Weltkrieg zurückfiel, mit dem Unterschied, daß nun die
Lagererziehung
einen breiten Raum einnahm. Im übrigen kommt er, wenn er sich
über die
Aufgaben und die Stellung des Lehrers äußert, über
allgemeine
Bemerkungen nicht hinaus. Im Unterschied zu früher unterstehe die
Schule nun dem Vorrang der Politik. Allerdings bedeutet dies "nicht
eine Unterwerfung schöpferischer Kräfte unter tote
Vorschriften,
sondern die Einordnung der Erziehung in die Volksordnung. Politik ist
das auf die Herstellung der Volksordnung gerichtete Handeln des
Führers, an dem jeder einzelne in Treue gegen den Führer an
seiner
Stelle aus eigener Verantwortung teilnimmt. Nach der politischen
Pädagogik des Nationalsozialismus ist der Lehrer also
97 nicht
ein bloßer Exekutor von
Anordnungen
politischer Organe, sondern er ist derjenige, der den politischen
Auftrag, den die Schule vom Führer erhalten hat, in eigener
Verantwortung durchführt. "Hat er den politischen Auftrag
verstanden
und übernommen, so ist er frei" (96 f.).
Entweder soll das heißen,
daß
- wie heute auch - dem
Lehrer durch seinen pädagogischen Auftrag, sozusagen von seiner
Sache
her, ein Handlungsspielraum zugestanden wird, dann ist "der Auftrag des
Führers" nur eine ideologische Verklärung. Oder aber dieser
Auftrag,
der ja nicht präzisiert wird, sondern in Konfliktfällen der
Interpretation bedarf, ist ein jederzeit benutzbarer Maßstab zur
Disziplinierung - nicht durch Hitler selbst, sondern durch diejenigen,
die die Macht haben, seinen "Auftrag" zu definieren.
Baeumler war zwar mit
ähnlichen
Begründungen wie
Krieck Antisemit, aber kein Rassist. Den Begriff "Rasse" benutzte er
selten und dann lediglich im Sinne einer anthropologischen
Grundgegebenheit. In einem Aufsatz mit dem Titel "Rasse als
Grundbegriff der Erziehungswissenschaft" geht es im Kein um die Frage
der Bildbarkeit des Menschen. Diese sei nicht unbeschränkt,
sondern
werde durch den "Charakter" des Menschen bestimmt. Der Charakter sei
aber anlagebedingt und nicht einfach aus Umwelteinflüssen
erklärbar. Er
gebe die Grundrichtung, aber eben auch die Grenzen der menschlichen
Bildbarkeit an. "Das
Rassedenken macht die meist
übersehene, aber
doch wohl unbestreitbare Voraussetzung, daß der Mensch zutiefst
Charakter ist, und daß zuletzt auch die Leistungen der
Intelligenz vom
Charakter abhängig sind. Gerade die Tiefenschichten der
menschlichen
Persönlichkeit aber, die Schichten, in denen die Entscheidungen
des
menschlichen Daseins wurzeln und die die Lebenskurve des Einzelnen zu
samt seiner Leistung bestimmen, sind von der Umwelt ihrer Grundrichtung
nach unabhängig" (Baeumler 1942, 83). Gleichwohl bedürfe die durch den
Charakter
vorgegebene Grundrichtung der Entfaltung durch Erziehung und Bildung.
"Nicht von selbst gelangt in der menschlichen Sphäre das Lebendige
zur
vollkommenen Gestalt. Es bedarf der Erziehung in der Gemeinschaft. Nur
durch die bildende Einwirkung der anderen gelangt die Seele zu sich
selbst, wird sie das, was sie ist. Am Anfang steht die angeborene, aber
noch 98
unbestimmte Richtung des
Charakters, am
Ende die
klare bestimmte Form, in der der Charakter sich erfüllt. Wir
nennen
diese Form den Typus, zu dem der Einzelne durch die Gemeinschaft
erzogen wird" (85). Auch
diese Argumentation richtet sich
wieder gegen den "lntellektualismus" des traditionellen Bildungsdenkens:
"Der Intellektualismus nimmt
an: 1.
Daß der Mensch
als reine, d.h. unbestimmte Anlage (tabula rasa) zur Welt komme, 2.
daß
die Umwelt die Macht habe, auf diese Tafel zu schreiben, was sie wolle,
3. daß das Organ, mit dem der Mensch sich auf die Welt beziehe,
der
Intellekt sei, 4. daß das Handeln des Menschen durch den
Intellekt
geleitet werde und daher durch Beeinflussung des Intellekts
entscheidend zu beeinflussen sei" (81 f.). Aus diesen Prämissen habe die
Erziehungswissenschaft
den Begriff der unbeschränkten Bildsamkeit abgeleitet. Das jedoch
sei
anthropologisch unrealistisch, resultierend aus der Erfahrung,
daß in
der Tat der Intellekt des Menschen von allen seinen Fähigkeiten am
ehesten durch die Umwelt - also durch Lernen - zu beeinflussen sei. Was
Baeumler hier Charakter nennt als Zusammenfassung der erblich
vorgeprägten Anlagen, hat für ihn auch eine rassische
Fundierung. Aber
er leitet daraus keine rassistische pädagogische Theorie ab. Im
Vergleich zu den damals zu hörenden biologistischen Tönen
wirkt sein
Artikel eher distanziert. Baeumler
verlor nach dem Kriege seine
Professur und
wurde drei Jahre in den Lagern Hammelburg und Ludwigsburg interniert.
In dieser Zeit setzt er sich intensiv mit dem NS-Regime und vor allem
mit der Person Hitlers auseinander, wie aus jüngst
veröffentlichten
Notizen hervorgeht (Baeumler 1991). Er klagt Hitler der "Untreue
gegen
das deutsche Volk" an (165); er sei "der rasende Kleinbürger, der
alles
niedertritt, um hinauf' zu gelangen" (168). Sein vielzitierter
"Instinkt" "geht immer nur einige Monate, höchstens drei Jahre in
die
Zukunft. Das ist das Wesen des Instinkts: die Enge.
Es
gibt keinen Instinkt für Abläufe von zehn bis zwanzig Jahren.
Das ist
nur dem Verstand sichtbar" (176). Er kenne nur Schwachsein und
Starksein: "Er fordert zuviel, wenn er stark ist, er ist gelähmt,
wenn
er schwach ist. Er handelt nicht zusammenhängend" (178).
Bemerkenswert
ist, daß Baeumler sich Über Hitler in der Gegenwartsform
äußert, als ob
er 99 noch lebte. In einer Notiz mit
der
Überschrift
"Warum ich Hitlers Wollen mißverstehen konnte", heißt es,
daß man in
Krisenzeiten Gefahr laufe, "denen zu verfallen, die alles angreifen ...
man übersieht ganz, daß es auch eine grundsätzliche
Verneinung gibt ...
da die Verneinung in diesem Falle objektiv, historisch berechtigt
ist,
nimmt man sie als positiven Akt, während sie nur verneinend
ist. Man schließt von der objektiven Berechtigung auf die
Berechtigung dessen, der die Verneinung ausspricht.
Was mich an Hitler
überzeugte, war,
daß er nirgends
stehenblieb, mit nichts paktierte. Das, meinte ich, konnte er nur, weil
er wirklich etwas neues, positives sah, zu den Quellen zurückging.
Daß
er überhaupt nichts sah, konnte ich mir nicht
vorstellen.
Seine Unbestimmtheit in Bezug auf die Zukunft hielt ich für
politische Klugheit" (197). In
einer Spruchkammerverhandlung wurde
Baeumler
zunächst in die Kategorie II der "Belasteten" eingestuft, ein Jahr
später aber von einem nun mit Juristen besetzten Gericht
freigesprochen. Schwerer wog, daß er dennoch als hoher ehemaliger
Parteifunktionär angesehen wurde, als Prototyp des deutschen
Wissenschaftlers, der sich der Hitler-Bewegung verschrieben hatte,
obwohl ihm die erste Spruchkammer immerhin persönliche
Integrität
bescheinigt hatte. Während die meisten Hochschullehrer, die sich
mehr
oder weniger aktiv in der Hitlerbewegung betätigt hatten, bald
wieder
in Amt und Würden waren, blieb Baeumler isoliert. Nun rächte
sich
offenbar, daß er keiner "Seilschaft" angehörte. Seine
philosophische
Laufbahn war zerstört. Er konnte seine Bachofen-Einleitung zwar
noch
einmal 1965 unter dem Titel "Das mythische Weltalter''
veröffentlichen,
aber die Nietzsche-Taschenbuchausgabe erregte Ärgernis, weil sie
immer
noch mit seinem Nachwort versehen war. Sonst ist unter seinem Namen
offenbar nichts mehr erschienen. Sogar Manfred Schröter, mit dem
er in
den 20er Jahren das "Handbuch der Philosophie" herausgegeben hatte,
hielt seine Entlastung durch die Spruchkammer für nicht
gerechtfertigt
und schrieb ihm: "Du
giltst in der Welt einmal als
geistiger
Befürworter und Schrittmacher des Nationalsozialismus - mag er
später
gegenüber Deinen Anfangshoffnungen noch so entartet sein - am
untadeligen Weiß Deines Philosophenmantels haftet
100 nun
einmal der Hakenkreuzfleck als
Radikalböses... (M. Baeumler, 202). Damals konnte die deutsche
Öffentlichkeit noch nicht
wissen, daß das "Amt Rosenberg" ziemlich bedeutungslos war im
Machtgefüge der rivalisierenden Parteigrößen, aber es
bot Baeumler eine
Nische, in der er verhältnismäßig geschützt
arbeiten konnte. Seine
Kontakte zur Partei waren begrenzt auf seine Beziehung zu Rosenberg, im
übrigen blieb er in der Partei ein Außenseiter, was ihm
seine
Gauleitung ja auch als Mangel an Aktivität und Einsatz vorgeworfen
hatte. Wie
viele konservativ orientierte
Intellektuelle
befand er sich angesichts des rapiden kulturellen Wandels am Anfang der
30er Jahre in einer Identitätskrise, auf der Suche nach sozialer
und
kultureller Zugehörigkeit. Um diese Krise zu lösen, montierte
er sich
aus dem damals vorhandenen konservativen ideologischen Repertoire sowie
aus seinen Studien über die Romantik und Nietzsche eine
Weltanschauung
zusammen, die die für seine Identität so wichtigen Fragen
beantworten
konnte: Was heißt es, ein Deutscher zu sein? Und: Was heißt
es, ein
Mann zu sein? Die Antwort war eben jener männerbündische
Germanismus. In
Hitler sah er den Repräsentanten
einer
Volksbewegung, in den Märzwahlen von 1933 eine Volksabstimmung
für die
Hitlerbewegung. Er setzte auf diese Bewegung, darauf, daß sie die
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Probleme lösen
werde,
wie er sie empfand. Im Rahmen dieser Bewegung wollte er sich auf seinem
Gebiet engagieren. Hitler selbst hat er in seinen Schriften nie
zitiert, aber er war so naiv, dessen Führungsposition als gegeben
hinzunehmen, ohne sich z.B. über die Frage der Machtkontrolle
Gedanken
zu machen. In einem Brief an Manfred Schröter schrieb er 1950:
"Ich verleugne es nicht: Ich
war
Nationalsozialist,
ich habe, heißt das, an die Zukunft Deutschlands auf dem Wege,
den
Friedrich der Große und Bismarck eingeschlagen haben, geglaubt,
ich
habe die Republik von Weimar verachtet und gehaßt, ich habe eine
große
Zukunft unseres Volkes als selbständige politische Macht gegen
alle
Möglichkeit herbeigesehnt ... ich habe auf das Wunder der
Wiedergeburt
des Reiches gehofft und daher schließlich nach langem Zuwarten
die
Massenbewegung Hitlers für fähig gehalten, den 101
deutschen Partikularismus zu
überwinden. Aber nie
habe ich aufgehört, in der mir wesensmäßig fremden und
eigentlich immer
unbekannt gebliebenen Massenorganisation etwas anderes als ein Erstes,
Vorläufiges zu sehen, einen groben Keil auf den groben Klotz der
schwarzroten Republik" (M. Baeumler, 210). Vier
Jahre später schreibt er, ebenfalls in einem
Brief: "Meine
Erwartung war, daß die
Partei sich
regenerieren und schon im Interesse ihrer Erhaltung den Staat so gut
als möglich verwalten würde. Ich glaubte damals an
'Institutionen'. Daß
man im 20. Jahrhundert mitten in Europa eine politische Herrschaft nur
auf Terror gründen könne, lag außerhalb meiner
Vorstellungswelt. So
etwas kam doch nur bei Tacitus vor!" (M. Baeumler, 229).
In dem schon erwähnten Brief
an
Manfred Schröter aus dem Jahre 1950 distanzierte er sich
ausdrücklich von seinem "Germanismus". ,Alles, was ich jemals für Hitler
und sein System
gesagt habe, erkläre ich für Irrtum und Wahn. Wenn ich etwas
gegen die
Kirchen und gegen die Juden geschrieben habe, so ist das stets im
geschichtlichen Zusammenhang geschehen, es war tendenziöse
Polemik, die
sich aus meiner Auffassung des ,Reiches' ergab. Es war die negative
Kehrseite meines Germanismus. Ich erkläre diesen Germanismus
für einen
verhängnisvollen Irrtum, und alles, was ich daraus gefolgert habe,
für
falsch. Was ich über die Kirchen, über die Juden, über
den Liberalismus
geschrieben habe, ist Ausdruck einer Übersteigerung der
preußisch-deutschen Geschichtsauffassung, einer unbegreiflichen
Verdunkelung des Verstandes, einer Verirrung des Geistes. Es ist keine
Entschuldigung für mich, daß ich diesen Irrtum mit den
hervorragendsten
Vertretern der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung teile. Mein
Verstand hätte ausgereicht, die Abgründe rechts und links zu
erkennen"
(M. Baeumler, 212). Baeumler
starb am 19.3.1968 in Eningen
bei Reutlingen. 102
Politisch-Pädagogisches
Resümee: Die
anthropologische Sackgasse Zweifellos hat Baeumler in ganz
anderem
Maße als
Krieck die Hitler-Bewegung und ihre politische Führung ideologisch
gerechtfertigt, und seine ständige Aufforderung, nicht nur die
richtige
Gesinnung, sondern auch "Einsatz" für diese Bewegung zu zeigen,
grenzte
schon an Nötigung. Inwieweit dies aus Opportunismus geschah oder
aus
politischer Naivität, mag dahingestellt bleiben. Im Unterschied zu Krieck war er
ein
introvertierter
Einzelgänger. Während von Krieck eine charismatische
Ausstrahlung auf
nicht wenige junge Leute ausging, was wohl vor allem seiner
persönlichen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben war, wirkte
Baeumler
abweisend und kontaktarm. Von jener rauschhaften Szene der
Bücherverbrennung, wo er ineins mit den studentischen Massen und
diese
führend auftrat, ist später nicht viel geblieben. Das kann
nicht nur
daran gelegen haben, daß er relativ hohe Leistungsanforderungen
stellte
und wissenschaftliche Maßstäbe aufrechtzuerhalten suchte.
Vor der
Spruchkammer verteidigte er sich später unter anderem damit,
daß er
nicht mehr als dreißig bis sechzig Hörer gehabt habe.
"Hätte ich billige
Weltanschauung
für HJ und SS
vorgetragen, dann wären es in jedem Semester dreihundert gewesen
... .
Hätte ich 'nationalsozialistische Wissenschaft' vorgetragen, dann
wären
im Semester zwanzig bis dreißig Doktorarbeiten fällig
gewesen, da jeder
ja nur das hätte schreiben brauchen, was er schon wußte.
Gerade
derartigen Tendenzen bin ich von Anfang an mit solcher Energie
entgegengetreten, daß ich nach einigen Jahren völlige Ruhe
hatte. Im
Laufe von zwölf Jahren wurden bei mir zwölf Doktorarbeiten
gemacht" (M.
Baeumler, 199 f.). Beim
NS-Studentenbund und beim
Dozentenbund, die die
Universität weltanschaulich pädagogisieren wollten, war er
unbeliebt.
In einem Aufsatz hatte er die wissenschaftliche Leistung Einsteins
positiv erwähnt, der als Jude damals nicht zitierfähig war-,
dafür
wurde er in einem Brief an Rosenberg als "Gesinnungslump" bezeichnet.
In einem Gutachten plädierte er zugunsten der anthroposophischen
Pädagogik ("Waldorf-Schulen"), was ihm den Zorn Bormanns ein-
103 brachte.
Bei allem Gerede von
"Gemeinschaft" blieb
sein Denken individualistisch. Die sozialen Dimensionen der
menschlichen Existenz - das Hauptthema Kriecks - interessierten ihn
kaum bzw. nur im Hinblick auf die irrationalen Aspekte des Symbolischen.
Während Krieck sich immerhin
bemühte, "Gemeinschaft"
in einem völkischen Sinne zu präzisieren, blieb dieser
Begriff bei
Baeumler kaum mehr als eine Phrase. Das wird besonders deutlich in dem
erwähnten Aufsatz über den "Totalen Krieg", wo die "totale
Gemeinschaft" zu wenig mehr taugt als zur Denunziation der "Meckerer".
Andererseits drängt sich wie
auch
bei Krieck der
Eindruck auf, Baeumler habe den Spielraum der NS-Weltanschauung nutzen
wollen, um seine eigenen Vorstellungen nicht nur zum Ausdruck, sondern
auch zur offiziellen Anerkennung zu bringen. So ließen sich etwa
einige
der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge verstehen wie der
Umgang
mit den Begriffen "Rasse" und "Bildung". Aber anders als Krieck hat
Baeumler keine Kontroversen innerhalb des NS-Regimes angezettelt, so
daß nicht festzustellen ist, welche seiner Vorstellungen er nicht
hat realisieren können. Abgesehen davon verdienen
folgende Aspekte seiner Argumentation eine genauere Erörterung.
Symbol und Aufklärung
Baeumler war beeindruckt von
der
symbolischen
Repräsentanz, die die NS-Bewegung inszenierte und die ihr einen
steigenden Zulauf einbrachte. Er versuchte, sich dieses Phänomen
zu
erklären und hielt es für eine noch nicht in Worte zu
fassende
Vorwegnahme einer zukunftsträchtigen völkisch-nationalen
Ganzheit.
Deuten wollte er diese Symbolik -so hatte er versprochen - so,
daß die
richtigen Worte und Erklärungen gefunden werden konnten, damit
daraus
eine neue nationale Kultur erwachse. Es müsse doch gewichtige
Gründe
dafür geben, daß sich um diese Symbole freiwillig eine
Volksbewegung
sammele. In
der Tat hat Baeumler damit ein Thema
aufgegriffen, dessen Bedeutung durchaus allgemein ist und über das
Beispiel der NS-Bewegung hinausreicht. 104
Symbole vermögen offenbar,
Menschen
aneinander zu
binden. Auch nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen gibt es ein
tiefes
menschliches Bedürfnis, sich in einem vorrationalen Sinne eins zu
fühlen und zu erleben mit einer menschlichen Ganzheit. Die Rituale
der
Kirchen haben offensichtlich eine solche Funktion, wie jeder
Gläubige
bestätigen wird. Aber es gibt auch weltliche Beispiele in
Fülle, wenn
man etwa an die Rolle des englischen Königshauses als symbolischer
Repräsentanz der ganzen Nation oder an die militaristische
Symbolik des
früheren Preußen denkt. Symbole spielen auch beim Film und
bei der
Werbung eine bedeutende Rolle. Symbole können tabuisiert werden:
so ist
es verboten, ehemalige Nazi-Symbole in der Öffentlichkeit zu
zeigen. Um
sich zu einem Symbol zu bekennen, bedarf es keiner besonderen
Verheißung oder einer besonderen "Reife": Groß und Klein,
Alt und Jung,
Mann und Frau, Gebildete und weniger Gebildete sind dafür
ansprechbar.
Es würde sich also lohnen, diesem Bedürfnis nach emotional
fundiertem
vorrationalem Einssein bzw. Einswerden und seinen Formen der
Befriedigung in unserem Alltag einmal nachzugehen, und vielleicht
würde
sich herausstellen, daß unsere Gesellschaft zumal nach der
Zerschlagung
des deutschen Nationalbewußtseins in diesem Punkte einen
vielleicht
sogar gefährlichen Mangel aufweist. Symbole sind oft keineswegs nur
relativ
äußerliche
soziale Signale, wie etwa die Vereinsfahnen auf
Fußballplätzen.
Nationale Symbole, z.B. National-Flaggen, repräsentieren ein
ganzes
Volk und werden auch von Außenstehenden respektiert und geachtet.
Andererseits kann man durch
Verachtung
oder
Vernichtung von Symbolen auch Feindschaft signalisieren. So werden bei
Demonstrationen gelegentlich gegnerische Symbole verbrannt.
Möglicherweise hat Baeumler die "Bücherverbrennung" 1933 auch
als eine
symbolische Handlung verstanden, aus der reale Handlungen z.B. gegen
die Autoren nicht unbedingt folgen müssen, und ohne den
kriminellen
Gesamtkontext des NS-Regimes wäre die Bücherverbrennung uns
heute
vielleicht nur als eine politische Albernheit erschienen.
Die sozio-emotionale Bindung
an Symbole
kann also von erheblicher politischer Bedeutung sein, und das zeigte
sich 105
im negativen Sinne deutlich
in der
Weimarer Zeit. Es
gelang der Republik nicht, sich symbolisch in den Menschen
festzusetzen, im Gegenteil, das Bedürfnis danach verlagerte sich
auf
Teilgruppen der Gesellschaft, nicht zuletzt auf politische Parteien und
Verbände, so daß die innere Auseinandersetzung am Ende der
Republik
auch zu einem Bürgerkrieg der Symbole wurde (Rote Fahne gegen
Hakenkreuzfahne). Auf
diesem Hintergrund wird
verständlich, daß
konservative Intellektuelle wie Baeumler fasziniert waren von der
scheinbar unaufhaltsamen Hitler-Bewegung mit ihrer augenscheinlich so
kraftvollen symbolischen Repräsentanz. Politisch gesehen
war jedoch
Baeumlers
Rechtfertigung der Hitler-Bewegung von ihren Symbolen her, die er schon
in seiner Antrittsvorlesung vortrug, ein verhängnisvoller Irrtum.
Zum
einen erhob er damit die von Goebbels und anderen zynisch inszenierten
Massenrituale in den Rang einer philosophischen Legitimation. Zum
anderen rechtfertigte er damit nicht nur politischen Irrationalismus,
sondern erklärte ihn auch noch für unvermeidlich. So konnten
sich die
Machthaber einer rationalen Begründung ihres Handelns wie
selbstverständlich entziehen. Baeumler hatte zwar in seiner
Antrittsvorlesung seine Aufgabe u.a. darin gesehen, durch das Wort die
Symbole zu erklären und damit auch aufzuklären, aber davon
war später
nicht mehr die Rede. So nahm sich Baeumler selbst - wie auch seinen
Lesern und Hörern -jede Möglichkeit zu einer wenn auch nur
innerparteilichen Kritik, wie sie ja bis zu einem gewissen Grade - wie
Krieck gezeigt hatte - durchaus möglich war. Er konnte z.B nicht
mehr
die Grenze zwischen gläubiger Anteilnahme und skrupelloser
Instrumentalisierung erkennen, geschweige denn über sie
aufklären. Dieser
politische Irrtum darf aber nicht
den Blick
dafür verstellen, daß Baeumler mit dem Hinweis auf die
Bedeutung der
Symbole eine damals wie heute vernachlässigte Seite der
menschlichen
Existenz ansprach, ein Bedürfnis, das gefährlich werden kann,
wenn es
zur politischen Gewalt wird; fraglich bleibt nämlich, ob man
Symbole,
die Menschen etwas bedeuten, wirklich aufklären kann, ohne
daß sie
dabei ihre eigentümliche Kraft verlieren. Vielleicht sind sie
gerade
wegen ihrer dumpfen Unaufgeklärtheit wirksam. 106
Handeln und Werte
Baeumlers
anthropologische These war,
daß der Mensch
ursprünglich ein handelndes Wesen sei und daß sein Handeln
nicht durch
einen Wert gedeckt werde, nicht der Realisierung von Werten diene,
sondern gleichsam einen Schuß ins Blaue darstelle. Diese These
formulierte er gegen den Typus des "theoretischen" Menschen, der sich
einbilde, außerhalb des Geschehens zu stehen, der sich ab und zu
in das
Getümmel der Wirklichkeit begebe, um darin wertgebunden
einzugreifen,
und sich anschließend wieder auf seine Beobachterposition
außerhalb der
schnöden Realität zurückziehe. Baeumlers Kritik richtete sich
also auf
einen
bestimmten Begriff der "Werte" In der sogenannten "Wertphilosophie" war
es üblich, nach zeitlosen, immer gültigen Werten
z.B. des
"Guten", "Schönen" oder "Wahren" zu fragen, die Ergebnisse dann
der
Pädagogik zu offerieren mit der Erwartung, daß diese sie
dann zum
Maßstab der Erziehung machen werde. Die "Werte" wurden in diesem
Verständnis als über
der empirischen Wirklichkeit angesiedelte ideelle Mächte
angesehen, die
für das Denken und Handeln des Menschen normative Gültigkeit
haben, an
die er emotional gebunden sei bzw. durch Erziehung gebunden werden
müsse. Diesem abstrakten Wertbegriff, der bar jeder sozialen
Differenzierung und historischen Relativierung präsentiert wurde,
war
Baeumlers Kritik durchaus angemessen. Normalerweise aber
wollen wir,
wenn
wir handeln, durchaus Werte realisieren, - welche immer das sein
mögen.
Unser Handeln - soll das heißen - beruht, auch wenn wir uns
dessen
nicht immer bewußt sind, auf einer normativen Fundierung, die
einerseits seiner Begründung, andererseits seiner Rechtfertigung
dient;
ohne eine solche Fundierung könnten wir über die Ziele
unseres Handelns
nicht mit anderen diskutieren und sie dafür zu gewinnen versuchen.
Das
ist vielmehr nur möglich, weil die dem Handeln zugrundeliegenden
Werte
eine kollektive Dimension haben, so daß andere sie ebenfalls
akzeptieren können. Diesen Zusammenhang von Handeln und Wert kann
man
nur leugnen, wenn der Begriff des Wertes abstrakt gefaßt wird,
also
losgelöst von den tatsächlichen sozialen Interaktionen.
107 Richtig ist allerdings, daß jedem
sozialen Handeln -
und darum geht es ja hier im Unterschied zum technischen Handeln - ein
mehr oder weniger großes Moment der Unsicherheit im Hinblick auf
das
Resultat innewohnt. Das gilt von der Liebe bis zur Politik. Soziales
Handeln mobilisiert nämlich das Handeln anderer, die mit- oder
gegenhandeln können. Diese Unsicherheit wird aber andererseits
auch
begrenzt, und zwar nicht nur durch die Regeln und Erwartungen der
Gemeinschaften - wie Krieck meinte -, sondern vor allem auch durch
Institutionen, die in Baeumlers Denken ebenso wenig einen Platz fanden
wie bei Krieck. Wenn
wir handeln, wollen wir also im
allgemeinen
etwas verwirklichen, was wir für wertvoll halten. Eine andere
Frage ist
allerdings, in welchem Maße uns das auch gelingt. Weil wir dabei
das
Handeln anderer mobilisieren, kann es sein, daß wir das Gegenteil
von
dem erreichen, was wir ursprünglich wollten; oder wir verlieren im
Spiel von Handeln und Gegenhandeln unser eigentliches Ziel aus den
Augen; oder wir können nur Teilerfolge erringen. Die Politik
liefert
uns täglich derartige Beispiele. Insofern gibt es tatsächlich
keine
Garantie dafür, daß das Ergebnis unseres Handelns am Ende
durch den
Wert gedeckt ist, dem wir ursprünglich folgen wollten.
Zur Ehrenrettung der von
Baeumler so
spöttisch
attackierten "Gebildeten" muß jedoch auch gesagt werden: So
weltfremd
ihr politisches und soziales Bewußtsein auch gewesen sein mag, so
konnte es doch auch eine normativ fundierte Distanz zum Aktivismus der
Nazi-Bewegung begründen, und die "Werte", um die sich ihre Bildung
gruppierte, waren für nicht wenige Menschen ein normatives
Potential,
aus dem sie wenn nicht Widerstand, so doch eine Art von innerem
Vorbehalt gewinnen konnten. Mit
seinem Handlungsbegriff erklärte
Baeumler also
keineswegs das normale bürgerliche, auch politische Handeln im
Rahmen
von Institutionen und allgemeinen oder besonderen sozialen Erwartungen.
Vielmehr lieferte er eine politische Rechtfertigung für die
Eigentümlichkeiten des politischen Handelns der Nazis -jedenfalls
ihrer
höheren Führer; denn die schalteten nicht nur die
Kontroll-Institutionen wie Parlament und unabhängige
Rechtsprechung
aus, sie überlagerten auch alle anderen Institutionen durch
Parteikompetenzen und unterhöhlten somit deren
handlungsori- 108
entierende
Funktion. Auf diese Weise entstand ein Kampffeld für
rivalisierende
Führer, das letztlich nur noch eine Begrenzung kannte: ob Hitler
es
erlaubte oder nicht. Für
"normales" bürgerliches
Handeln, also auch für
politisches Handeln, gilt jedenfalls in den westlichen Demokratien,
daß
versucht wird, die Folgen möglichst vorauszusehen, zu
antizipieren. Das
hängt damit zusammen, daß in modernen Demokratien das Wohl
der Bürger
und gerade auch die von Baeumler so verhöhnte wirtschaftliche
Sekurität
und Prosperität ein zentraler Wert dieses Handelns sind. Wie schon
Hitler, so orientierte sich auch Baeumler mit seinem Handlungsbegriff
an Ausnahmesituationen, die es auch in der gegenwärtigen Politik
geben
kann. Ein gutes Beispiel ist der Beitritt der DDR zur alten BRD; das
war tatsächlich ein in seinen Folgen schwer zu kalkulierendes
"Wagnis"
mit noch ungewissem Ausgang. Aber auch in diesem Falle ging es ganz
offensichtlich um die Realisierung von Werten. Baeumlers Begriff des
politischen Handelns war orientiert am Beispiel des letztlich einsam
entscheidenden Führers, der dabei keiner parlamentarischen oder
sonstigen Kontrolle unterliegt, der nur durch massives Gegenhandeln zu
stoppen ist - so wie man sich das bei einem germanischen
Heerführer
vorstellen mag. In einem funktionierenden parlamentarischen System sind
dem politischen Handeln jedoch vielfache institutionell-rechtliche
Grenzen gesetzt. Wenn allerdings solche Regeln nicht mehr
funktionieren, wie am Ende der Weimarer Zeit, und insofern eine
revolutionäre Situation entsteht, wird der politische
Handlungshorizont
offen und Macht steht gegen Macht. Dennoch bleibt eine
Handlungstheorie, die von solchen Grenzssituationen ihren Ausgang
nimmt, für den Normalfall unrealistisch. Auch damals hatten lediglich
Hitler und
schon sehr
viel weniger die anderen Parteigrößen einen solchen
institutionell
entgrenzten Handlungsspielraum zur Verfügung; die
"Normalbürger", die
ihrer Arbeit nachgingen, wären in erhebliche Schwierigkeiten
geraten,
wenn sie sich diese Handlungstheorie ebenfalls zu eigen gemacht
hätten.
Dann hätten sie etwa den nach ganz anderen Handlungsregeln
organisierten Industriebetrieb ins Chaos gestürzt. Zweifellos hat
Baeumler mit seiner Handlungstheorie zunächst einmal das
"Ausnahme-Handeln" der Naziführer - vor allem Hitlers -
gerechtfertigt
- ob das nun Absicht war oder nicht. 109 Ein anderer Aspekt dieser
Handlungstheorie ist nicht
minder problematisch. Baeumler wies zu Recht darauf hin, daß
menschliches Handeln irrationale Elemente enthalte, nicht voll der
Vernunft unterworfen sei. Der Mensch denke nicht irgendetwas
sorgfältig
zu Ende, um dann dementsprechend zu handeln, vielmehr spielten dabei
Spontaneität und Emotionalität eine große Rolle. Das ist im Prinzip richtig.
Gleichwohl
ist diese
Einsicht einseitig, weil nicht die Verantwortung, sondern nur der
Erfolg zum Maßstab des Handelns wird. Wenn es auch zutrifft,
daß der
Mensch als handelndes, tätiges Wesen nicht nur seiner Vernunft
folgt,
so gilt andererseits doch auch, daß wir nur durch den Einsatz
unserer
Vernunft, durch Denken und Nachdenken unser Handeln zu steuern und vor
allem in moralischen und rechtlichen Grenzen zu halten vermögen.
Sonst
ist blinder Aktionismus das Ergebnis, und in Baeumlers Begriff des
"Einsatzes", bei dem nicht viel nach Sinn, Zweck und Ziel gefragt wird,
kommt eine solche Tendenz auch zum Ausdruck. Im Blick steht nur die "Richtung"
des
Handelns,
nicht ein bestimmtes Ziel. Insofern kommt Baeumler Krieck wieder nahe:
Baeumler erwartete die Festlegung der Handlungsziele von der
politischen Führung, Krieck vom Fortschreiten der völkischen
Revolution. Gleichwohl
soll nicht verkannt werden,
daß Baeumler
mit seinem anthropologischen Handlungsansatz - der Mensch sei ein
ursprünglich handelndes Wesen - der Pädagogik neue,
realistische
Perspektiven eröffnet hat, die er allerdings selbst nicht weiter
verfolgte. Nötig wäre etwa gewesen, diesen Ansatz zu
differenzieren im
Hinblick auf die jeweiligen sozialen Orte - Schule, Jugendarbeit,
Betrieb usw. -, wobei die Schule sich im besonderen Maße
angeboten
hätte, weil Baeumler über sie und über die Stellung der
Lehrer mehrmals
geschrieben hat. So wie Krieck versäumt hat, an seinem
soziologischen
Ansatz weiterzuarbeiten, so verfolgte auch Baeumler das
handlungsorientierte Konzept nicht weiter. Ein Grund dafür mag
sein,
daß er nicht über angemessen differenzierte Vorstellungen
über
Institutionen und über soziale Strukturen verfügte, was
wiederum daraus
resultierte, daß er sich auf die Tatsache der modernen
gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gar nicht erst einließ,
weil er
diese ja für 110
ein Produkt "westlicher
Zivilisation" und
insofern
für "undeutsch" hielt. Gelungene Sozialität konnte er sich
nur als
unmittelbar personales System vorstellen, wie es
im
Führer-Gefolgschafts-Modell und im Verbande der "Mannschaft"
seinen
Ausdruck finden sollte. Daß in modernen Gesellschaften die
Menschen in
erster Linie Funktions- und Rollenträger sind, also im guten Sinne
des
Wortes Funktionäre", wollte er nicht einsehen. Das hatte Folgen für die
Verantwortung des Handelns.
Soziales Handeln muß vor anderen gerechtfertigt werden
können, und
dafür muß es Maßstäbe, Regeln und
Verfahrensweisen geben, wie sie etwa
im parlamentarischen System vorgesehen sind. "Verantwortung" ist in
Baeumlers Konzept nicht vorgesehen, weil sie gar keinen
institutionellen Ort hätte. Die Verantwortung übernimmt der
Führer, dem
unterstellt wird, daß er seine "Treuepflicht" gegenüber den
Geführten
wahrnimmt - was Hitler zur späteren Überraschung Baeumlers
eben nicht
getan hat. In
den Notizen aus der Internierungszeit
gesteht Baeumler diesen "Irrtum" ein: "Ich habe das Geld als
die
verächtlichste
Form der Macht angesehen. Das ist abstrakt. Ich habe den Personalismus
in seiner idealen Gestalt gegen die Geldherrschaft in ihrer schlimmsten
Gestalt gesetzt. Aber die personale Herrschaft hat Möglichkeiten
des
Absinkens, die noch grauenhafter sind als die der Geldherrschaft"
(1991, 194). Pädagogik für Mitläufer
Baeumler war nach Berlin
geholt worden,
um unter
anderem "politische Pädagogik" zu lehren. Darunter verstand er
etwas
ganz anderes, als wir heute unter "politischer Erziehung" oder
"politischer Bildung" verstehen; heute meinen wir damit das Erlernen
solcher Kenntnisse und Fähigkeiten, die den Bürger instand
setzen,
seine politischen Teilhabemöglichkeiten auch optimal nutzen zu
können. Dies
meinte Baeumler nicht, auch nicht in
dem für
ihn naheliegenden Sinne, daß die Menschen nun für die
Nazi-Bewegung zu
indoktrinieren seien. Vielmehr meinte er damit die anthropologische
Umorientierung der Pädagogik vom an 111 Idealen orientierten,
kontemplativen
Menschen zum
handelnden, politisch tätigen Menschen, wobei er unverhüllt,
wie wir
sahen, zum "Einsatz" für die Hitlerbewegung aufforderte, nur dies
als
politisches Handeln gelten ließ. Weitere Präzisierungen etwa
im
Hinblick auf die Bedeutung von Institutionen, oder auf unterschiedliche
soziale Handlungsformen, Mittel und Ziele, auf Machterwerb und
Machtkontrolle, auf Rechtsfragen usw. haben ihn nicht interessiert, so
daß alles eigentlich darauf hinauslief, die politische
Führung fraglos
anzuerkennen und im übrigen an seinem jeweiligen Platz in der
Volksgemeinschaft nicht nur den individuellen Nutzen anzustreben,
sondern sich immer auch als Glied der Gemeinschaft zu verstehen. So
total sein Handlungsbegriff auch gemeint war - Handeln sei immer ein
Wagnis und nicht durch Werte gedeckt -, so führte er doch nur zum
Typus
des entpolitisierten Mitläufers. Weil Baeumler die
gesellschaftliche
Arbeitsteilung
für einen Verfall hielt, konnte er seine Handlungstheorie und
damit das
Politische auch nicht weiter differenzieren, denn diese
gesellschaftliche Ausdifferenzierung der öffentlichen
Handlungsorte
setzt dem menschlichen Handeln Chancen und Grenzen: in der Politik, der
Rechtsprechung, der Verwaltung oder auch der Erziehung. Wenn der
Begriff des Politischen einen Sinn ergeben soll, dann hätten
solche
Unterschiede geklärt oder zumindest fraglich gemacht werden
müssen. Baeumler
ließ jedoch nicht nur die
institutionellen
und sozialen Randbedingungen des Handelns außer Acht, sondern
auch die
menschlichen Motive. Handeln erscheint bei ihm wie eine Art von
irrationalem Trieb oder Antrieb. Aber warum handeln die Menschen so,
wie sie es tun, welche Ziele verfolgen sie dabei?
Ein solches
Motiv wollte er
ausdrücklich nicht gelten lassen: das materielle Interesse, den
Wunsch
nach Wohlstand, nach einem guten Leben. Das gehörte für ihn
zur
weiblich-urbanen Kultur und galt deshalb als "undeutsch", als "nicht
heroisch". Hier zeigt sich, daß die Handlungstheorie so
realistisch gar
nicht war, weil sie fundamentale Bedürfnisse zumindest des
modernen
Menschen ignorierte. Als ob die meisten Menschen Hitler wegen des
symbolischen Mummenschanzes gefolgt wären, und nicht, weil er
Arbeit
und Brot und da- 112
mit die Aussicht auf ein
halbwegs
befriedigendes materielles Leben versprochen hatte!
Bildung als
Individualisierung Weder eine "politische" noch eine
nationalsozialistische Pädagogik hat Baeumler vorgelegt. Als er
1933
seinen Lehrauftrag in Berlin übernahm, war das Feld der Erziehung
von
Krieck bereits besetzt, und zu pädagogischen Fragen hatte er sich
bis
dahin nicht geäußert. Ins "Amt Rosenberg" ging er mit dem
Vorsatz, eine
"Deutsche Geschichte" zu schreiben. Als er dann über
pädagogische
Fragen schrieb, behandelte er Einzelprobleme, ohne damit auf eine
systematische "nationalsozialistische" Erziehungswissenschaft
zuzusteuern. Es geht dabei vor allem um die Begriffe "Bildbarkeit" ,
"Bildung" und "Allgemeinbildung" als Aufgabe der Schule.
a) Das Problem der
"Bildbarkeit" des
Menschen ist
ein Grundproblem der Erziehungswissenschaft. Nur insofern und insoweit
ein Mensch "bildbar" ist, können entsprechende pädagogische
Maßnahmen -
wie der Schulunterricht - auch eine Erfolgschance haben. Jede
Pädagogik
muß also ein Mindestmaß an "Bildbarkeit" des Menschen
unterstellen, das
gilt sogar für die Sonderpädagogik, die es zum Beispiel mit
geistig
behinderten Menschen zu tun hat. Wovon hängt die Bildbarkeit eines
Menschen ab,
wodurch wird sie bestimmt? Im wesentlichen von drei Faktoren - sagen
wir heute: Von der erblichen Ausstattung, von den darauf gerichteten
Umwelteinflüssen - zu denen auch Maßnahmen der Erziehung und
Bildung
gehören - und von der Tätigkeit des Menschen, also
von dem, was er aus den gegebenen Bedingungen durch Handeln zum
Vorschein bringt. Dieser
modernen Auffassung kam Baeumler
recht nahe.
Allerdings hatte er die genetische Ausstattung stärker im Blick
als die
Umwelteinflüsse, aber er machte klar, daß die genetisch
vorgegebenen
Möglichkeiten sich nicht von selbst realisieren, sondern durch
Erziehung und Bildung herausgefordert werden müssen. "Rasse" war
dabei
für ihn so etwas wie eine kollektive genetische Grundsubstanz, die
allen Mitgliedern einer Rasse zu eigen sei. Das trifft nicht zu, aber
in dieser Form war der "Rassismus" der Nazis einigermaßen ent-
113 schärft, denn ob nun im
Einzelfall
das erkennbare
körperliche und geistige Erscheinungsbild auf rassische oder auf
irgendwelche anderen genetischen Vorgaben zurückgeht, ist für
die
pädagogische Praxis unerheblich. Gefährlicher wirkte sich
allerdings
der Umkehrschluß aus: Im Umgang mit den sogenannten "Asozialen"
oder
den schwer geistig Behinderten zogen vor allem Mediziner von den
äußerlich erkennbaren Merkmalen unbewiesene
Rückschlüsse auf genetische
Defekte, so daß solche Menschen in großer Zahl sterilisiert
oder gar
ermordet wurden. Baeumlers
Betonung der genetischen
Ausstattung
richtete sich gegen den vor 1933 vor allem in der Reformpädagogik
herrschenden Erziehungsoptimismus, der der Umwelt und damit auch der
Erziehung einen Vorrang bei der Entwicklung der Persönlichkeit
einräumte. Über das Verhältnis dieser beiden Faktoren
zueinander gibt
es eine bis heute dauernde Diskussion unter den Fachleuten. Vermutlich
wird die moderne Genforschung hier größere Klarheit bringen
können.
Aber verständlicherweise neigen Pädagogen eher dazu, den
Umwelteinflüssen ein größeres Gewicht zu geben, weil
das Ansehen ihres
Berufes um so bedeutender ist, je mehr er angeblich zu bewirken vermag.
b) Auch dem Tätigsein der
Kinder
maß Baeumler eine
eigenständige Bedeutung zu. Das wird an seinem subjektorientierten
Bildungsbegriff erkennbar. Während nach der
bildungsbürgerlichen
Tradition unter "Bildung" der "Besitz" eines bestimmten Kanons von
"Bildungsgütern" wie Griechisch, Latein, klassische Literatur
verstanden wurde, bezog Baeumler den Bildungsbegriff auf das lernende,
sich bildende Subjekt. Diese Wendung kommt besonders zum Ausdruck in
dem Aufsatz "Jugenddienstpflicht, Hitler-Jugend und Schule"
(Weltanschauung und Schule, 1943). Thema ist hier die Abgrenzung der
Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Hitlerjugend. Aufgabe der
Schule sei der Unterricht, der mittelbar immer auch erziehe, und zwar
im Durchgang durch die Sachzusammenhänge. Dabei sei der
"Selbstbildung
des Schülers" hohe Bedeutung zu schenken. Der Lehrer "muß
die Masse als
Einheit zu beherrschen verstehen, und darf doch keinen Augenblick seine
Hauptaufgabe vergessen, die darin besteht, jeden einzelnen Schüler
anzusprechen, nach seiner Individualität zu behandeln, in seiner
Entwicklung zu fördern, und, wo es notwendig ist, zu strafen.
114 Dogmatischer Unterricht kann sich
an ein
Kollektiv
wenden; lebendiger Unterricht führt nur über die
Individualität, denn
er ist nichts anderes als Erweckung und Lenkung der
Selbständigkeit des
Einzelnen" (161). Die
Form der schulischen Betätigung
sei "Arbeit",
die der HJ "Dienst", die Schule wirke "mittelbar" erzieherisch, die HJ
"unmittelbar"; die pädagogischen Ergebnisse der Schule lägen
wesentlich
in der Zukunft, die Formationserziehung der HJ sei
"gegenwartsorientiert". Aus
den unterschiedlichen Funktionen
folge auch eine unterschiedliche Form von "Kameradschaft".
"Die Kameradschaft zwischen
Lehrer und
Schüler,
sowie der Schüler als Schüler untereinander, ergibt sich aus
der
gemeinsamen Verpflichtung zu konkreten, genau umschriebenen und in
begrenzten Zeiteinheiten zu erfüllenden Leistungen" (160).
In dieser
"Leistungskameradschaft" habe
der Lehrer eine bestimmte Funktion: ,Er ist Kamerad - aber er steht
doch
zugleich in seiner Funktion als Lehrer den Schülern in einer
gewissen Ferne gegenüber. Er
ist nicht nur der Ältere, er ist auch der, der das schon ,kann',
was
verlangt wird; er hat das Pensum bereits hinter sich" (161).
Baeumler verlagerte also den
Bildungsbegriff und
damit die Aufgabe der Schule auf die subjektive Seite, die
Individualisierung des Schülers betonend. Der traditionelle Bildungsbegriff
war
dagegen
bezogen auf einen inhaltlichen Kanon und insofern auf
eigentümliche
Weise sachlich begrenzt. Er schloß zum Beispiel die
Naturwissenschaften
im Prinzip aus, d.h. diese wurden nur insofern berücksichtigt, als
sie
sich - z.B. in ethischer Hinsicht - den humanistischen Werten
unterordneten. Die Frage war also nicht, welche wichtigen Ergebnisse
die Naturwissenschaften vorzuweisen hatten und auf welchen methodischen
Wegen sie dazu gekommen waren, und schon gar nicht, was man mit diesen
Erkenntnissen technisch z.B. im Rahmen der
modernen Industrie
bewirken könne; gefragt wurde vielmehr nach dem "Bildungswert"
dieser
neuen Wissenschaften und die Maßstäbe dafür wurden von
außen, aus dem 115
Blickwinkel der
einschlägigen
Geisteswissenschaften,
an die Naturwissenschaften herangetragen. Das Verhältnis von
Natur- und
Geisteswissenschaften hat die besten philosophischen Köpfe der
Zeit
bewegt, und es war allgemein klargeworden, daß die Unterordnung
der
Natur- unter die Geisteswissenschaften nicht länger haltbar war.
Kriecks Versuch einer Kombination beider Wissenschaftsformen in seiner
"Völkisch-politischen Anthropologie" gehört in diesen
Zusammenhang. Wegen
des stürmischen Vormarsches
der
Naturwissenschaften war der am humanistischen Kanon orientierte
Bildungsbegriff längst brüchig geworden; äußerer
Ausdruck dafür war die
1900 erfolgte Einrichtung des naturwissenschaftlichen Gymnasiums
(Realgymnasium) als neben dem humanistischen Gymnasium
gleichberechtigte Form der höheren Schule. Je brüchiger der
Bildungskanon wurde, um so deutlicher wurde sein sozial-separativer
Charakter: die nach dem alten Kanon "Gebildeten" verstanden sich als
geistige Elite. Und die spöttische Kritik Baeumlers wie auch
Kriecks an
dem Typus des so "Gebildeten" hatte durchaus eine gewisse Berechtigung.
Baeumler glaubte offenbar
nicht, auf der
objektiven
Ebene der Fächer und Stoffe das Problem der Bildung lösen zu
können,
und deshalb ist seine Wendung zur subjektiven Seite, also zum lernenden
Individuum hin, durchaus beachtenswert, weil sie in die Zukunft wies.
Kriecks pädagogische Theorie war - wie wir gesehen haben - nicht
zuletzt deshalb wenig ergiebig für die Praxis, weil sie die
Perspektive
des lernenden Individuums gar nicht kannte. Allerdings hat Baeumler das nun
entstandene Problem
nicht weiter thematisiert: an was soll der junge Mensch sich denn nun
bilden in der Schule, an welchen Stoffen und Fächern, und warum
gerade
an diesen? Der Unterricht in der Schule ist ja nun einmal auf Stoff-
und Lehrpläne angewiesen, und wer sollte diese nun nach welchen
Maßstäben festsetzen? Die
gesellschaftliche Bedeutung des alten
Bildungskanons bestand darin, daß die Kultur- und
Wirtschaftselite
Deutschlands über eine annähernd gleiche Allgemeinbildung
verfügte. Es
war keineswegs so, daß die Naturwissenschaftler per se sich bzw.
ihre
Kinder vom humanistischen Gymna- 116 sium fernhielten. Im Gegenteil
gaben noch
nach dem
Zweiten Weltkrieg viele diesem Gymnasium für ihre Kinder den
Vorzug -
oft mit der vordergründigen Erklärung, dort sei die
Allgemeinbildung
besser aufgehoben als bei anderen Gymnasien, und je besser diese
Allgemeinbildung sei, um so besser gelinge später z.B. an der
Technischen Universität dann die berufliche Spezialisierung. Es
ging
dabei jedoch um mehr, nämlich um eine gemeinsame Bildungsgrundlage
für
die beruflich unterschiedlich plazierten Eliten. Sie kannten alle
"ihren" Cicero, Cäsar, Platon, Goethe und Schiller
einschließlich der
zu jeder Lebenslage passenden Sinnsprüche, und das gab das
Gefühl einer
bei aller sonstigen beruflichen, religiösen und politischen
Verschiedenheit grundlegenden kulturellen Gemeinsamkeit.
Mit der Wendung auf die
Subjektivität des
Bildungsvorgangs zerbrach diese gemeinsame geistige Fundierung unserer
Führungsschichten, und die Folge sind jene
Individualisierungs-Prozesse, wie wir sie vom gegenwärtigen
Gymnasium
her kennen, in deren Oberstufe z.B. Fächer mit einem gewissen
Spielraum
von den Schülern gewählt werden können. Diese Konsequenz
der
Individualisierung hat Baeumler zweifellos nicht vorausgesehen.
c) Gegen den Expansionsdrang
der HJ, die
ihre
Erziehungsvorstellungen in die Schule hineintragen wollte, und gegen
einen vordergründigen Praktizismus aus Kreisen der Industrie, die
an
einer frühen qualifizierten beruflichen Spezialisierung
interessiert
waren, weil Ende der 30er Jahre Mangel an Facharbeitern herrschte,
verteidigte Baeumler den schulischen Auftrag der Allgemeinbildung.
Damit stellte er sich in eine lange schulpädagogische Tradition.
Erst
müsse der Mensch seine allgemeinen Fähigkeiten entwickeln und
allgemeine Kenntnisse erwerben, danach sei eine berufliche
Spezialisierung angebracht - so hatte Wilhelm von Humboldt es
sinngemäß
formuliert. Diese
Idee der Allgemeinbildung ist eine
wichtige
Voraussetzung für die Demokratisierung des Bildungswesens, aber
auch
für berufliche Mobilität; denn nur eine allgemeine,
möglichst für alle
Kinder geltende schulische Grundbildung ermöglicht sozialen
Aufstieg
durch persönliche Leistung, die frühe Fixierung auf eine
bestimmte
berufliche Tätigkeit dagegen würde die Möglichkeiten der
Berufswahl
frühzeitig 117
verkürzen und Berufswechsel
- im
horizontalen wie vertikalen Sinne - erheblich erschweren.
Diese demokratische
Implikation des
Bildungsbegriffs
widersprach der NS-Ideologie nicht unbedingt; denn mit der Feindschaft
gegen den Parlamentarismus konnte sie durchaus ein gewisses Maß
an
"sozialer Demokratisierung" vereinbaren, also Begabten Chancen des
sozialen Aufstiegs zu ermöglichen und die herkömmlichen
Führungseliten
sozial zu öffnen. Ansätze einer pluralistischen Erziehung
Baeumlers
Trennung der
Erziehungsfunktionen, wie er
sie im eben genannten Aufsatz präsentierte, war für die
damalige Zeit
ungewöhnlich und in die Zukunft weisend. Die herrschende
pädagogische
Meinung vor 1933 war, daß alle Erziehungsinstanzen an einem
Strick
ziehen müßten, und in Herman Nohls berühmtem
"Pädagogischen Bezug", der
die Beziehung des Erziehers zum Zögling beschreibt, wird im Grunde
das
familiäre Beziehungsmodell auf die pädagogischen Berufe
ausgedehnt.
Baeumler stellt dagegen fest: "Die Klasse ist keine Familie,
sondern
eine
Arbeitskameradschaft, und der Lehrer ist weder ein Vater noch ein
Führer, sondern eben Lehrer, d.h. Erzieher im
Medium des
Unterrichts. Man nützt dem ganzen nicht, sondern schadet ihm nur,
wenn
man das Spezifische des Lehrerseins aufhebt, und durch den Ehrennamen
des Klassen-Vaters oder der Klassen-Mutter die Seins-Sphären
verwischt
und die Würde der Funktionen aufhebt" (160). Damit hatte Baeumler
angesprochen, was
wir heute
"pluralistische Erziehung" bzw. "pluralistische Sozialisation" nennen.
Unsere Kinder wachsen auf in Familie, Kindergarten, Schule, unter
Gleichaltrigen, unter dem Einfluß der Massenmedien, und die
Wirkungen
dieser Faktoren sind widersprüchlich, sie ziehen eben nicht an
einem
Strang. Die Folge davon ist, daß "Erziehung" kein einheitliches
Geschehen mehr ist, das von einem Ort - Familie
oder Schule -
im ganzen zu steuern wäre; vielmehr lebt das Kind
unter
unterschiedlichen, widersprüchlichen Erwartungen, zwischen denen
es balancieren muß. 118
Indem Baeumler nun die
Erziehungsfunktionen von
Familie, Schule und Jugendverband strikt voneinander unterschied mit
der zutreffenden Begründung, sie seien nicht auseinander
ableitbar,
machte er den Weg frei für eine pluralistische Betrachtung des
Erziehungsprozesses. Zwar ging er davon aus, daß alle drei
Instanzen im
Rahmen der NS-Ideologie und insoweit in einem einheitlichen Sinne
wirken würden. Aber wie sollte das geschehen und welche Instanz
sollte
dafür Sorge tragen? Wir werden sehen, daß Schirach in diesem
Punkte
eine entgegengesetzte Position vertrat, er wollte nämlich die
"Einheit
der Erziehung" unter Zugrundelegung der Erziehungsprinzipien der HJ
auch in der Schule realisieren. Baeumler hat jedoch die
Konsequenzen
seines
pluralistischen Ansatzes nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Dabei
war schon in den Friedensjahren zu bemerken, wie gegensätzlich die
Erziehungsabsichten und die Erziehungswirkungen der HJ und der Schule
waren, und Baeumler hat diesen Widerspruch auch deutlich gesehen. Aber
er hat ihn zwar beschrieben, aber doch auch ideologisch zu
harmonisieren versucht. Baeumlers
Äußerungen zu
pädagogischen Fragen sind
also prinzipieller Natur - wie es für einen systematisch denkenden
Philosophen naheliegt, aber um die daraus resultierenden
pädagogischen
Konsequenzen im einzelnen hat er sich nicht weiter gekümmert. Dies
zeigt, daß er den pädagogischen Auftrag, den er
mit
seiner Berliner Professur übernommen hatte, nicht sonderlich
ernstnahm. Baeumlers
und Kriecks Positionen und
grundlegende
Argumentationen sind nur zu verstehen auf dem Hintergrund ihrer Kritik
am damals herrschenden Erziehungs- und Bildungsverständnis. Sie
sahen
die Hitler-Bewegung auch als eine kulturelle Revolution, die Erziehung
und Bildung einschließen müsse. Gründe für eine solche Kritik
gab es genug. Der
Enthusiasmus der Reformpädagogik war einer Ernüchterung
gewichen. Der
Versuch", vom Kinde aus", also unter Berücksichtigung seiner
Interessen
und Bedürfnisse die Schule zu organisieren, hatte vielfach dazu
geführt, die Objektivität der Welt, also die "Sachen" nicht
mehr ernst
zu nehmen. Lernen, so stellte sich heraus, war nur bis zu einem
gewissen Grade 119
zu erleichtern, aber ohne
Anstrengung
führte es
nicht weit. Über die "Grenzen der Erziehung" wurde nachgedacht.
Dem
pädagogischen Denken waren soziale Dimensionen fremd, es sah den
Menschen in der Tat abstrakt-individualistisch, als "Werte
verwirklichendes Wesen". Auch eine reformpädagogische Erfindung
wie die
Gruppenarbeit führte nicht zu einer realistischen
Einschätzung der
außerhalb der Schule geltenden sozialen Differenzierungen in der
Gesellschaft. Wie viele Erfindungen der Reformpädagogik war auch
die
Gruppenarbeit letztlich ein formalistisches Prinzip, sozusagen ein
methodischer Trick der Lehrer. Der Unterricht, vor allem auch
auf dem
Gymnasium,
war rationalistisch ausgerichtet, sprach also die emotionale Seite der
Schüler wenig an. Beispielhaft dafür war etwa das
philologische
"Zerpflücken" der großen Dichtung in alle möglichen
Einzelheiten ohne
Rücksicht auf den künstlerischen Gesamteindruck, bis Faust
oder
"Wallenstein" den Schülern zum Halse heraus hingen.
Nur auf diesem Hintergrund
lassen sich
Kriecks und
Baeumlers pädagogische Argumentationen verstehen und trotz aller
Kritik, die hier gegen beide vorgebracht wurde, muß auch betont
werden,
daß sie im Vergleich zur damaligen Erziehungstheorie und
Erziehungspraxis so schlecht nicht aussehen. Kriecks soziologischer und
Baeumlers anthropologischer Ausgangspunkt hätten durchaus
tragfähig für
die Zukunft der Erziehungswissenschaft sein können, wenn sie
weiter
präzisiert worden wären. Tatsächlich etablierte sich
nach 1945 aber
jene Erziehungswissenschaft wieder, die schon 1933 weitgehend am Ende
ihres Lateins war. In Bewegung geriet das pädagogische Denken erst
wieder, als Ende der 50er Jahre die Soziologie und ein Jahrzehnt
später
die Psychoanalyse sich in die Diskussion pädagogischer Probleme
einschaltete. Obwohl
Krieck und Baeumler ihre
politischen und
pädagogischen Vorstellungen als zusammengehörig betrachteten,
ist es
nützlich, das eine vom anderen zu unterscheiden und auch getrennt
zu
beurteilen. Ihre politischen Irrtümer teilten sie mit vielen ihrer
zeitgenössischen Intellektuellen, die sich ebenfalls in der
Tradition
des deutschen national-konservativen Denkens bewegten. In diesem
vorgegebenen Bewußtseins-Rahmen versuchten sie den politischen
Verfall
der Re- 120
publik und die daraus
hervorwachsende
Hitlerbewegung
zu verstehen, und sie taten dies auf dem Hintergrund ihres geistigen
bzw. wissenschaftlichen Repertoires, das ihnen im Laufe ihres Lebens
zugewachsen war. So interpretierten sie die Hitlerbewegung nach ihren
Wünschen und Hoffnungen - ein Umgang mit der eigenen Gegenwart,
der
auch heute keineswegs ungewöhnlich ist. Rückblickend läßt sich -
wie Baeumler es tat -
sagen, daß ihr Verstand hätte ausreichen müssen, die
Zeichen
rechtzeitig zu erkennen, die auf Auschwitz und die Kriegsverbrechen
hindeuteten. Aber für die planmäßige Inszenierung des
Terrors und des
Völkermordes gab es in Deutschland keine Tradition, die hätte
warnen
können. Die politische Kriminalität des NS-Regimes war bis
dahin
einmalig und so nicht vorauszusehen. Als Propagandisten des Regimes
wurden sie dennoch mitschuldig an seinen Untaten, die sie selbst nicht
gewollt und auch nicht für möglich gehalten haben.
Bemerkenswert bleibt aber,
daß mit
Krieck und
Baeumler zwei Professoren sich als pädagogische "Chefideologen" in
der
NS-Zeit etablieren konnten, deren Positionen sich in wichtigen Punkten
ausschlossen. 121
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