TitelbildHermann Giesecke

Hitlers Pädagogen

Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung
2. überarb. Aufl. Weinheim: Juventa-Verlag 1999
Teil I: Die pädagogischen Chefideologen

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Der Text des Buches, das in 1. Aufl.1993 erschien, wird hier in der 2. Aufl. von 1999 vollständig wiedergegeben.  Zum biographischen Hintergrund vgl. meine Autobiographie Mein Leben ist lernen. Das  Literaturverzeichnis befindet sich  naturgemäß auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1999. 
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© Hermann Giesecke
 
Inhalt Teil I

Teil 1: Die pädagogischen Chefideologen  

1. Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)

Hitlers Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf' 
Politisch-pädagogisches Resümee 

2. Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)

Leben und Werk 
Politisch-pädagogisches Resümee: Die völkische Sackgasse 

3. "Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)

Leben und Werk 
Politisch-Pädagogisches Resümee: Die anthropologische Sackgasse


1. Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)

 

Hitlers Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf'

"Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend und dort behalten wir se wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK usw. Und wenn sie dort zwei Jahre oder eineinhalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie inden Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschenSpaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben". (Zit. n. Fest 1980, 311 f.)

Mit diesen Worten charakterisierte Hitler in einer Rede 1938 sein Erziehungsideal, das er zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend verwirklicht sah: Ein Aufwachsen als nahezu ausbruchssichere NS-Karriere, gegründet auf ein Erfahrungsmonopol ohne Alternativen. Später allerdings, am Ende seines Lebens, als er in der Reichskanzlei Bilanz zu ziehen versuchte, warum er den Krieg verloren hatte, kam er unter an-

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derem darauf, daß er ihn zu früh habe führen müssen, daß nicht genügend Zeit geblieben sei "um eine neue Elite zur Reife zu bringen, der die nationalsozialistische Denkart gleichsam mit der Muttermilch verabfolgt worden war" (Zit. n. Fest 1973, 1012). Auf die damit aufgeworfene Frage, wie erfolgreich die NS-Erziehung nun tatsächlich gewesen ist, wird noch zurückzukommen sein. Hier geht es zunächst nur um Hitlers Absicht, um das Ziel, nämlich um den möglichst lückenlosen Erziehungsstaat.

Diese Idee findet sich schon in seiner Bekenntnisschrift "Mein Kampf'. Sie handelt von den Ursachen für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und sucht die dafür Schuldigen. Demnach sind außer den Frontsoldaten mehr oder weniger alle schuldig: die militärische Führung, die bürgerliche Wilhelminische Gesellschaft, vor allem aber die Juden, die mit ihren "Helfern und Helfershelfern" das deutsche Volk unterwandert hätten und durch die Revolution den deutschen Soldaten in den Rücken gefallen seien. Schuld trage aber auch die Erziehung, die nur die wirtschaftliche Karriere des Einzelnen im Sinne gehabt habe, die Förderung seines persönlichen Egoismus, aber die männlichen soldatischen Tugenden vernachlässigt habe. Eine neue, vor allem auf Körperertüchtigung und Charakterstärkung gerichtete Erziehung sei nötig, wenn das deutsche Volk sich wieder zu der ihm gebührenden Größe entwickeln wolle. Diejenigen, die er zu Feinden des deutschen Volkes definierte, überschwemmte er geradezu mit Haßtiraden, die auch heute noch schwer zu ertragen sind. Hitlers Extremismus war nur der Reflex seiner Interpretation der Lage des deutschen Volkes: es sei so geschädigt und gedemütigt, von innen wie von außen, daß nur eine radikale und rücksichtslose Anstrengung es noch zur retten vermöge. Der fanatische Hysteriker, wie man ihn genannt hat, schuf sich die radikale Lagebeurteilung, die er brauchte.

In den Rahmen dieser radikalen Lagebeurteilung stellte er auch die Erziehung. Im zweiten Band des Buches, im Kapitel über den künftigen, den "völkischen" Staat, finden sich längere Ausführungen zu Erziehungsfragen. Sie enthalten eine eigentümliche Mischung aus Rassismus, Volksverhetzung, Banalitäten, aber auch durchaus plausiblen Beobachtungen. Gerade diese explosive Mischung - nicht nur in seinem Buch, sondern in der nationalsozialistischen Agitation über-

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haupt - erzielte die Massenwirkung. Jeder, der sich als Deutscher fühlte - von den Juden und Sozialisten abgesehen, die waren ja vorweg als Feinde des Volkes hinausdefiniert -, konnte etwas finden, was ihn bestätigte und was ihm wenigstens teilweise Zustimmung erlaubte. Die Haßtiraden mochten die begrüßen, denen sie aus dem Herzen gesprochen waren, andere mochten sie entschuldigen als Äußerungen eines Mannes, der wie viele seiner Generation verbittert war und dessen Vernunft mit seiner politischen Verantwortung vielleicht noch wachsen werde.

An diesem Text über Erziehung läßt sich exemplarisch die Breite der ideologischen Sammlung zeigen, die charakteristisch für die Hitlerbewegung war.

"Mein Kampf"' war keine politische Aufklärungs-, sondern eine Agitations- und Propagandaschrift, deren einziges Ziel es war, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Das erklärt die Breite der ideologischen Aspekte. Für viele findet sich etwas, von dem sie sich angesprochen fühlen konnten, und alles entsprach einem "gesunden Volksempfinden", das Hitler in seiner Person zu repräsentieren schien.

Der reformorientierte Lehrer mochte pädagogische Kundigkeit vermuten, wenn Hitler das - bis heute ungelöste - Problem der Stoffülle anspricht. Es sei gefährlich, das jugendliche Gehirn mit einer Flut von Eindrücken zu überschwemmen; da könne Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterschieden werden, und oft werde gerade das Wesentliche wieder vergessen.

"So geht der hauptsächliche Zweck dieses Viel-Lernens schon wieder verloren; denn er kann doch nicht darin bestehen, durch angemessene Häufung von Lehrstoff das Gehirn an sich lernfähig zu machen, sondern darin, dem späteren Leben jenen Schatz an Wissen mitzugeben, den der Einzelne nötig hat und der durch ihn wieder der Allgemeinheit zugute kommt" (465).

Der bildungsbürgerliche Studienrat dagegen wird mit zustimmendem Kopfnicken Hitlers Plädoyer für die klassische Bildung zur Kenntnis genommen haben.

,Es liegt im Zuge unserer heutigen materialisierten Zeit, daß unsere wissenschaftliche Ausbildung sich immer mehr den nur realen Fächern zuwendet, also der Mathematik, Physik,

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Chemie usw. So nötig dies für eine Zeit auch ist, in welcher Technik und Chemie regieren und deren wenigstens äußerlich sichtbarste Merkmale im täglichen Leben sie darstellen, so gefährlich ist es aber auch, wenn die allgemeine Bildung einer Nation immer ausschließlich darauf eingestellt wird. Diese muß im Gegenteil stets eine ideale sein. Sie soll mehr den humanistischen Fächern entsprechen und nur die Grundlagen für eine spätere fachwissenschaftliche Weiterbildung bieten. Im anderen Falle verzichtet man auf Kräfte, welche für die Erhaltung der Nation immer noch wichtiger sind als alles technische und sonstige Können" (469).

Hitlers Begabungsbegriff schließlich war dem der späteren sozial-liberalen Koalition nicht unähnlich, als diese in den 60er und 70er Jahren ihre Bildungsreformen einleitete, um Arbeiterkindern bessere Bildungschancen zu verschaffen.

"Ein Bauernjunge kann weit mehr Talente besitzen als das Kind von Eltern aus einer seit vielen Generationen gehobenen Lebensstellung, wenn er auch im allgemeinen Wissen dem Bürgerkind nachsteht. Dessen größeres Wissen hat aber an sich mit größerem oder geringerem Talent gar nichts zu tun, sondern wurzelt in der wesentlich größeren Fülle von Eindrücken, die das Kind infolge seiner vielseitigeren Erziehung und reicheren Lebensumgebung ununterbrochen erhält. Würde der talentierte Bauernknabe von klein auf ebenfalls in solcher Umgebung herangewachsen sein, so wäre seine geistige Leistungsfähigkeit eine ganz andere" (477).

Alle diese pädagogischen Einzelheiten sind nicht typisch nationalsozialistisch, sind auch nicht Hitlers Erfindungen; er fand sie vor und griff sie auf. Sie wurden später insofern wichtig, als man sich darauf berufen konnte, wenn man bestimmte pädagogische Vorhaben durchsetzen oder verteidigen wollte. Nahezu jede pädagogische Veröffentlichung im Dritten Reich legitimierte sich zunächst einmal mit Hitler-Zitaten. So diente z.B. Hitlers Satz, daß Jugend von Jugend geführt werden müsse, dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach dazu, die außerschulische Erziehung in der HJ zu monopolisieren und Erziehungsansprüche anderer NS-Organisationen abzuwehren. Neu für die damalige Erziehungsdiskussion war der Zusammenhang in dem Hitler diese päd-

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agogischen Einzelheiten sah. Die pädagogischen Aussagen stehen nicht zufällig im umfangreichen Kapitel über den Staat, der kommende völkische Staat hatte nach Hitler vor allem eine Aufgabe: die Reinheit des Blutes und damit der Rasse wieder herzustellen. Ausführliche Erörterungen dazu stehen am Anfang des Erziehungskapitels. Der völkische Staat "hat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen. Er hat für ihre Reinerhaltung zu sorgen. Er hat das Kind zum kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muß dafür Sorge tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten. Umgekehrt aber muß es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation vorzuenthalten. Der Staat muß dabei als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des Einzelnen als Nichts erscheinen und sich zu beugen haben. Er hat die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen. Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen. Er hat umgekehrt dafür zu sorgen, daß die Fruchtbarkeit des gesunden Weibes nicht beschränkt wird durch die finanzielle Luderwirtschaft eines Staatsregiments, das den Kindersegen zu einem Fluch für die Eltern gestaltet ... . Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen. Der völkische Staat hat hier die ungeheuerste Erziehungsarbeit zu leisten" (446 f.).

Das also war der entscheidende Punkt: es kommt darauf an, das deutsche Blut wieder "rein" zu bekommen, und das kann nicht nur eine Frage der Kindererziehung sein, sondern das ganze gesellschaftliche Leben muß so organisiert werden daß nur die biologisch Besten sich fortpflanzen dürfen und die Erbkranken daran gehindert werden. Erziehung kann sich nicht mehr auf das Kindes- und Jugendalter beschränken, sondern muß alle lebenden Generationen so erfassen, daß sie von der Richtigkeit dieser These überzeugt sind und entsprechende Maßnahmen - wie die Zwangssterilisierung der "biologisch Minderwertigen" - bereit sind mitzutragen. Die Unterschiede von Erziehung, Propaganda und Indoktrination verwischen sich. Jede öffentliche Einrichtung hatHermann Giesecke

Hitlers Pädagogen


Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung

Juventa-Verlag Weinheim: München ,2. überarb. Aufl. 1999




Zu dieser Edition:
Der Text des Buches, das in 1. Aufl. 1993 erschien, wird hier vollständig wiedergegeben. Zum biographischen Hintergrund vgl. meine Autobiographie Mein Leben ist lernen. Das Literaturverzeichnis befindet sich naturgemäß auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1999. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch – abgesehen vom Seitenlayout - beibehalten. Die
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Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.

© Hermann Giesecke





Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage    7
Einleitung    9
Teil 1: Die pädagogischen Chefideologen    17
1. Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)    19
Hitlers Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf'    19
Politisch-pädagogisches Resümee    27
2. Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)    33
Leben und Werk    33
"Philosophie der Erziehung"    36
"Nationalpolitische Erziehung"    45
"Völkisch-politische Anthropologie"    53
Politisch-pädagogisches Resümee: Die völkische Sackgasse    60
Revolutionärer Dynamismus    60
Illusion des Erziehungsstaates    61
Faszination der "bewegten Masse"    64
Grenzen der Gemeinschaft    66
Grenzen der Brauchbarkeit    68
Markt, Massenmedien und Gemeinschaft    70
"Integration" als Sinnstiftung    71
3. "Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)    75
Leben und Werk    75
Männerbündischer Germanismus    81
Symbol und Einsatz    87
Bildung, Bildbarkeit und Schule    95
Politisch-Pädagogisches Resümee: Die anthropologische Sackgasse    103
Symbol und Aufklärung    104
Handeln und Werte    107
Pädagogik für Mitläufer    111
Bildung als Individualisierung    113
Ansätze einer pluralistischen Erziehung    118
Teil 2    123
Pädagogische Felder    123
4. Zwischen Ideologie und Sachzwang: Das Schulwesen    125
Die Entwicklung des Schulwesens    126
Die Entwicklung der Lehrerbildung    144
Ausschaltung und Gleichschaltung    151
Kritisches Resümee    155
5. Der volksgemeinschaftliche Jugendstaat: Die Hitler-Jugend    163
Baldur von Schirach    163
Das politisch-pädagogische Konzept    172
Verpflichtung auf die Person Hitlers    173
Volksgemeinschaftliche Einheitsorganisation    174
Das Prinzip der Selbstführung    180
Verbesserung der sozialen Lage der Jugend    182
Die musisch-kulturelle Wende    191
"Einheit der Erziehung"    196
Emanzipation durch den BDM?    209
Stichworte einer "Gebrauchspädagogik"    218
Kritisches zur HJ-Pädagogik    225
Die HJ im Kontext der Jugendgeschichte    244
Vergesellschaftung der Jugendphase    248
Pluralisierung    255
Individualisierung    258
Teil 3: Fazit    263
6. Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität    265
7. Fazit II: Kriminelles Arrangement und die Ohnmacht der Erziehung    281
Literatur    293
Literatur-Hinweise zu den einzelnen Kapiteln    293
Literatur    296

 
Vorwort zur 2. Auflage

Dieses Buch ist aus meinen Lehrveranstaltungen über die Pädagogik im Nationalsozialismus entstanden. Es soll Studierenden, darüber hinaus aber auch allen anderen Interessierten einen ersten Einstieg ermöglichen, von dem aus weiterführende Recherchen möglich sind. In diesem Sinne entspricht der Text in etwa einer geschriebene Einführungsvorlesung. Deshalb setzt er auch keine speziellen historischen Vorkenntnisse voraus. Meist ist ein moralisches Urteil über diese Zeit zwar bereits vorhanden, ihm entsprechen jedoch oft nur geringe sachliche Informationen und kaum hinreichende Vorstellungszusammenhänge, an die sich anknüpfen ließe. Dieser Mangel tritt insbesondere dann in Erscheinung, wenn es neben der notwendigen kritischen Distanz um die für einen Historiker selbstverständliche Forderung geht, auch mit den Köpfen der Beteiligten zu denken.

Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen drei der wirkungsvollsten damaligen pädagogischen Akteure (Krieck, Baeumler und Schirach); um diese herum versuche ich das Thema zu entfalten. Es ist - so stellt sich heraus - keines, das im ganzen historisch erledigt wäre, vielmehr sind wichtige Probleme, die dabei zur Sprache kommen, epochale, waren längst vorher schon entstanden und reichen in modifizierter Form bis in die Gegenwart. Dafür den Blick zu schärfen ist meine ausdrückliche Absicht, weil nur so die Möglichkeit entsteht, aus falschen Lösungen zu lernen. So wenig aktuell die Texte vor allem von Krieck und Baeumler uns gegenwärtig auf den ersten Blick erscheinen mögen, so geben sie doch den damaligen (pädagogischen) Zeitgeist einigermaßen präzise wieder, weshalb die von mir präsentierten Kernzitate sich auch zu dessen Studium eignen. Die kollektive Mentalität, die darin zum Ausdruck kommt, war der Teich, in dem Hitler erfolgreich fischen konnte.

Selbstverständlich gehörten zu "Hitlers Pädagogen" nicht nur diese drei. Sie gelangten jedoch in besonders exponierte Positionen. Um sie herum gab es eine ganze Reihe weiterer Hitler ergebener Pädagogen, von denen aber vergleichsweise wenig zu berichten ist; jedenfalls entwickelten sie keine bemerkenswerten Versuche, für die NS-Bewegung so etwas wie ein theoriefähiges pädagogisches Konzept zu entwickeln.

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Vielmehr benutzten sie meist - vor allem wenn sie der jüngeren Generation angehörten - die Schlüsselworte der NS-Weltanschauung als Leerformeln, um im übrigen pragmatisch-technokratisch zu argumentieren und zu handeln. Gerade dieser Mangel an Reflexion machte sie aber auch zu willigen Exekutoren, so daß es durchaus angebracht wäre, sie in einer eigenen Studie zu behandeln. Im Unterschied zu ihnen waren Baeumler, Krieck und Schirach durchaus darauf aus, eine spezifisch nationalsozialistische Pädagogik zu formulieren, weshalb ich sie als pädagogische "Chefideologen" apostrophiere.

Dieses Buch beweist nicht erneut die monströse politische Kriminalität des NS-Regimes, sondern setzt sie als unumstößliche Tatsache voraus. Vielmehr versucht es am Beispiel dieser drei Personen zu zeigen, wie Menschen, denen verbrecherische Ambitionen ursprünglich fremd waren, gleichwohl in die nationalsozialistische "Bewegung" - teils aktiv, teils als Mitläufer - verwickelt wurden und darauf bis zum bitteren Ende fixiert blieben. An ihrem Beispiel läßt sich heute mehr lernen, als aus dem selbstverständlich gewordenen und letztlich folgenlos bleibenden Abscheu gegenüber den mörderischen Tätern. Mit diesen vermag sich kaum jemand von seinem Alltag her zu identifizieren, jene aber legen viel eher die Frage nahe, ob wir Heutigen uns damals wesentlich anders verhalten hätten. Gegenstand des Buches sind also in erster Linie die Motive und Gründe solcher Personen, die Hitler mehr oder weniger arglos gefolgt sind, aber gerade dadurch seine populistische Macht fundierten.

Ich bemühe mich, das Thema nach denselben Regeln zu bearbeiten, die für historische Recherchen und Deutungen allgemein angezeigt sind, auch wenn das zumal in pädagogischen Zusammenhängen nicht unbedingt die Billigung des Zeitgeistes findet.

Die Gelegenheit der Neuauflage habe ich auch dazu benutzt, den Text zu korrigieren und zu straffen, eine Reihe ärgerlicher Druckfehler der alten Ausgabe zu tilgen sowie wichtige Ergebnisse der neueren Forschung einzuarbeiten.

Göttingen, Herbst 1998     Hermann Giesecke

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Einleitung

Eine partei- oder staatsoffizielle pädagogische Doktrin hat es im Nationalsozialismus nicht gegeben. Als er 1933 an die Macht kam, waren gerade im kulturellen Bereich viele Fragen offen, und zupackende Männer wie Baldur von Schirach hatten gute Chancen, ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Erst müsse man die Macht haben, dann werde man weitersehen, hatte Hitler gesagt. Aber für die Zeit danach gab es kaum innenpolitische Programme außer im negativen Sinne, daß nämlich die politischen Gegner (Juden, Sozialisten, Kommunisten) auszuschalten und die verhaßte parlamentarische Demokratie der Weimarer Zeit einschließlich der sie tragenden liberalen Ideen zu beseitigen seien. Aber wie Deutschland nun neu gestaltet werden sollte, war weitgehend offen und hing nicht zuletzt von den Menschen ab, die nun die Chance des Handelns bekamen. Zudem verstanden die Nazis sich primär nicht als eine politische Partei neben anderen, sie betrachteten ihre Partei nur als notwendig, um im Gefüge des Parlamentarismus politisch auftreten zu können. Vielmehr sahen sie sich in erster Linie als völkisch-politische Bewegung, und die hatte ein sehr breites ideologisches Spektrum, so daß sich auch solche Menschen ihr anschließen oder zumindest mit ihr sympathisieren konnten, die mit der NSDAP selbst wenig im Sinn hatten oder sich gar innerlich von ihr distanzierten. Nicht die Partei, sondern die Bewegung erreichte die Massen. Das fehlende positive Programm für die Neugestaltung des "völkischen Staates", wie Hitler ihn nannte, war also gerade eine Voraussetzung dafür, daß die NSDAP vor der Machtergreifung zur Massenpartei werden konnte. Hätte sie präzise Vorstellungen über die Neuordnung von Staat und Gesellschaft gehabt, wie etwa die Kommunisten, dann hätte sie eine ganze Reihe von Anhängern nicht erreichen können. Das ständige Einschlagen auf die politischen Gegner - im wörtlichen wie im ideologischen Sinne - reichte als die Bewegung zusammenhaltende Strategie zunächst aus.

Eines der Felder, die nach der Machtergreifung neu zu bestellen waren, war das der Erziehung. Auch für diese Aufgabe gab es nur allgemeine Vorgaben, wie sie Hitler in "Mein
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Kampf" formuliert hatte. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein.

Die Herausforderung war eine theoretische und praktische. Eine neue, nämlich an der NS-Weltanschauung orientierte Erziehungstheorie sollte gefunden werden, die sich von den bisher gültigen bürgerlich-liberalen Konzepten abheben ließ. Andererseits sollten natürlich die pädagogischen Praxisfelder "im neuen Geiste" umgestaltet werden. Aber wo und bei wem war dafür eine theoretische Fundierung zu finden?

Vor allem zwei Wissenschaftler boten sich an, diese Lücke zu füllen: Ernst Krieck und Alfred Baeumler. Sie versuchten auf unterschiedlichen Wegen, dem neuen Regime nicht nur eine weltanschaulich passende Erziehungswissenschaft zu offerieren, sondern darüber hinaus auch diese Weltanschauung selbst philosophisch zu legitimieren. Da aber die NS-Bewegung vor 1933 kulturell wenig festgelegt war, kann man den Sachverhalt auch anders akzentuieren. Beide - Krieck wie Baeumler - nutzten diese Offenheit, um ihre eigenen Vorstellungen im Rahmen der ideologischen Vorgaben zur Geltung bzw. zu offiziellem Ansehen zu bringen. Jedenfalls können wir sie als pädagogische "Chefideologen" des Regimes bezeichnen.

Ihre praktische Bedeutung wird jedoch übertroffen durch einen Dritten, den man zwar nicht als "Chefideologen" bezeichnen kann, weil er nicht primär durch seine Schriften gewirkt hat, der aber mit der "Hitler-Jugend" eine Jugendorganisation geschaffen hat, deren pädagogische Wirkung auf viele junge Menschen nicht unterschätzt werden darf. Baldur von Schirach.

Krieck, Baeumler und Schirach waren wohl die herausragenden Pädagogen in einer ganzen Reihe von Kollegen, die sich der Hitler-Bewegung mehr oder weniger entschieden anschlossen, die sich also als "Hitlers Pädagogen" verstanden.

Dabei konnten ganz verschiedene Motive eine Rolle spielen. Viele identifizierten sich mit der nationalen Bewegung und der damit verbundenen patriotischen Aufbruchstimmung, ohne sich dabei die NS-Ideologie im ganzen zu eigen zu machen. Fast jeder deutsche Pädagoge, der sich in der NS-Zeit öffentlich geäußert hat, tat dies auch mit Floskeln der NS-Ideologie, wobei im Einzelfall schwer zu entscheiden ist, ob

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dies aus Opportunismus oder aus Überzeugung geschah. Jedenfalls wäre es problematisch daraus abzuleiten, hier handele es sich schon deshalb um einen NS-Pädagogen. Nicht einmal der Rassismus reicht als Abgrenzungskriterium aus, denn die drei genannten NS-Pädagogen waren keine Rassisten im Sinne Hitlers.

Eine weitere Schwierigkeit für eine zutreffende Beurteilung der damaligen Pädagogen besteht darin, daß eine Reihe von Schlüsselworten der völkischen Ideologie wie "Volksgemeinschaft" und sogar "Rasse" oft in einem unpräzisen alltagssprachlichen Sinne verwendet wurden, die kaum sachliche Stellungnahmen meinten, sondern eher soziale Zugehörigkeit ausdrückten (wenn man "Rasse" sagte, gehörte man auch zur "Bewegung"). Ähnliches läßt sich auch heute feststellen, wenn wir etwa an einen Gruppenjargon denken oder an politische Sprachregelungen. Neuerdings machen wir solche Erfahrungen auch im Umgang mit der "Aufarbeitung" der DDR, wenn wir etwa versuchen, deren Pädagogik zu rekonstruieren und zu bewerten. Halten wir uns dabei lediglich an die verwendeten allgemeinen ideologischen Floskeln, ist wenig Aufklärung zu erwarten. So war es auch damals: Wie alle Schlüsselworte der NS-Weltanschauung wurde auch "Rasse" als ein Wort des Zeitgeistes in vielen Schattierungen benutzt. Es gab keinen nationalsozialistischen Katechismus, im Gegenteil gab es, wie wir sehen werden, über ideologische Fragen zum Teil erbitterte Auseinandersetzungen, was zeigt, daß hier der Spielraum zunächst relativ groß war.

Weder hat Hitler sein Buch "Mein Kampf" zum Glaubensbuch erklärt, noch durften andere NS-Autoren sich mit diesem Anspruch präsentieren. Einige NS-Führer gaben sich betont atheistisch, andere in einer mehr oder weniger verschwommenen Weise "gottgläubig". Jedenfalls war Atheismus kein offizielles Dogma. Die Zeitgenossen konnten daraus geistige Offenheit ablesen, tatsächlich kam darin jedoch nur zum Ausdruck, daß das Regime seine Machtansprüche nicht durch irgendwelche geistigen bzw. ideologischen Vorgaben begrenzen lassen wollte. Die scheinbare Offenheit ermöglichte vielen Menschen, sich der Hitlerbewegung anzuschließen, wozu z.B. überzeugte Katholiken gehörten, die mit den atheistischen Attitüden nichts im Sinn hatten. Aber für den völkisch-politischen Aufbruch, den Hitler versprach,

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konnten sie sich trotzdem einsetzen, wenn sie das parlamentarische System für abgewirtschaftet hielten.

"Erziehung" war ein Modewort im Nationalsozialismus. Jeder Parteifunktionär fühlte sich berufen, sich über Fragen der Erziehung zu äußern, und es verging kaum eine öffentliche Kundgebung, auf der dies nicht geschah, und sei es auch nur, daß dabei bekannte Hitler-Zitate in Erinnerung gebracht wurden. Auch höhere Chargen, wie etwa Alfred Rosenberg, zuständig für die weltanschauliche Überwachung der Partei, veröffentlichten entsprechende Texte. Niemandem gelang es aber, eine allgemein anerkannte pädagogische Theorie zu formulieren, die als die "nationalsozialistische" akzeptiert worden wäre.

Mit einem gewissen Recht kann man auch führende Erziehungswissenschaftler der Weimarer Zeit wie Spranger, Nohl, Flitner, Petersen als NS-Pädagogen bezeichnen, weil sie den völkischen Implikationen der NS-Ideologie so fern nicht standen. Gelegentlich ist damit heute eine nachträgliche moralische Verurteilung solcher "bürgerlicher" Pädagogen verbunden. Aber die ideologische Vielfalt und Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen "Bewegung" machte es vielen nicht leicht, darin ihre eigene Position zu präzisieren. Konnte man für die "Volksgemeinschaft", aber gegen den Atheismus und Rassismus sein? Selbst katholische Bischöfe taten sich schwer mit solchen Feinheiten.

Für die meisten Pädagogen, die 1933 in Amt und Würden waren und sich in der Folgezeit publizistisch äußerten, galt, was Klaus-Peter Horn über die Autoren der geisteswissenschaftlich-reformpädagogisch orientierten Zeitschrift "Die Erziehung" herausgefunden hat: "Einige Autoren wandten sich eindeutig dem Nationalsozialismus zu, nahmen seine Themen und Argumente auf und führten sie weiter. Andere Autoren versuchten, traditionelle pädagogische Argumente mit den neuen Themen zu mischen, sie lavierten zwischen nationalsozialistischer Option und Festhalten an den alten Ideen. Eine dritte Gruppe von Autoren meinte, mit den alten Konzepten den Nationalsozialismus und seine pädagogischen Ideen besser zu verstehen als die Nationalsozialisten sich selbst. Schließlich muß die kleine Gruppe von Autoren genannt werden, die an ihren Theorien festhielten und sie kritisch gegen den Nationalsozialismus wendeten. Die mei-
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sten Autoren aber akzeptierten die nationalsozialistische Erziehungsrealität und übernahmen die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen, teilten nur nicht die radikale Ablehnung der eigenen (früheren) Position und Leistungen" (Horn, 302).

Über die politische Kriminalität des NS-Regimes muß man heute keinen vernünftigen Menschen mehr belehren. Aber kaum jemand, der Hitler 1933 gefolgt ist, hatte diese Kriminalität vor Augen oder im Sinn, das gilt auch für unsere drei Pädagogen. Sie waren keine besonderen Bösewichter, sie waren, wie viele andere, die Hitler gefolgt sind, Menschen mit einer bestimmten Lebensgeschichte und mit daraus resultierenden Erfahrungen; sie versuchten dort, wo sie sich befanden, ihren Alltag zu gestalten und dabei natürlich auch auf ihren Vorteil und ihre Chancen zu sehen. Wer 1933 sich der Hitler-Bewegung anschloß oder sie z.B. bei der Wahl unterstützte, war nicht schon deshalb politisch kriminell, und wer dadurch für seine berufliche Perspektive eine Chance sah, war deswegen nicht schon überdurchschnittlich opportunistisch.

Damit meine ich, daß die Menschen im allgemeinen weder Helden noch Bösewichte sind, als die sie aus der historischen Rückschau leicht erscheinen, sondern gerade in schwierigen Zeiten sich um ihr Überleben im Alltag mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln kümmern. Nicht wenige von ihnen - und dazu gehörten auch Krieck und Baeumler - hatten die Weimarer Republik und ihre Verfassung durchaus zu respektieren versucht - weit davon entfernt, gleichsam "geborene Nazis" zu sein. Irgendwann gewannen sie aber den Eindruck, daß die Republik unfähig sei, die Probleme ihres Alltags zu lösen, und aus Respekt wurde Gleichgültigkeit oder gar Haß. Schließlich schienen sich die politischen Verhältnisse zu polarisieren auf die Alternative Kommunismus oder Nationalsozialismus: auf der einen Seite eine Klassenkampfpartei, von der man - was immer man sonst von ihr politisch oder ideologisch halten mochte jedenfalls keine Ruhe und keinen inneren Frieden erwarten konnte; auf der anderen Seite die Hitler-Bewegung, die zu einer Volksbewegung anschwoll, die nicht nur Arbeit und Brot versprach, sondern auch, solche politischen Ziele zu verfolgen, die speziell dem deutschen Volke auf den Leib geschnitten seien, die ihm wieder Einheit, Wohlstand und An-
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sehen verschaffen würden. Da konnte die Wahl nicht schwer fallen.

Zu den bemerkenswertesten Erkenntnissen der historischen Forschung gehört die Tatsache, daß die Deutschen fast bis zum bitteren Ende Hitler eine hohe Massenloyalität gewährten - allerdings nicht der Partei, nicht einzelnen Organen der Partei, sondern der Person Hitler selbst. Vor allem in den Kriegsjahren richtete sich viel Unmut gegen die "Bonzen", in der HJ-Führung gab es z.B. die Vorstellung, nach dem Kriege gemeinsam mit Hitler unter ihnen "aufzuräumen". Auch unsere drei Pädagogen blieben loyal zu Hitler; sie wurden dabei - wie sich zeigen wird - zu tragischen Figuren.

In einem ersten Teil stelle ich zunächst die grundlegenden politisch-pädagogischen Vorstellungen Hitlers, Kriecks und Baeumlers vor.

Anders als die meisten Veröffentlichungen zu unserem Thema, die die NS-Autoren nur in Zitatfetzen präsentieren und sie von vornherein einer bestimmten Interpretation unterwerfen, möchte ich Darstellung und Kritik deutlich trennen, Hitler, Krieck und Baeumler möglichst selbst zu Wort kommen lassen, damit nicht nur ihre Argumentationen deutlich werden, sondern auch die Tonart vernehmbar wird, in der sie vorgetragen wurden. Die Diktion verrät manches, was der Gedanke verschweigt.

In einem zweiten Teil wird die Entwicklung der beiden wichtigsten pädagogischen Praxisfelder - Schule und außerschulische Jugendarbeit (HJ) - dargestellt - nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt, wie weit die Vorstellungen der "Chefideologen" hier Wirkung gezeigt haben. Untersuchungen, die ausschließlich die Zeit von 1933 bis 1945 im Blick haben, gelangen leicht zu falschen oder einseitigen Beurteilungen, weil es für alles, was die Nationalsozialisten dachten und aussprachen, eine Vorgeschichte gab. Mit dieser waren die damals Handelnden lebensgeschichtlich, aber auch im Hinblick auf vielerlei kollektive Traditionen verbunden, die wiederum die Art und Weise beeinflußten, wie sie die Problemlage ihrer Gegenwart deuteten. Deshalb werden dort, wo es sich von der Sache her anbietet, knappe historische Rückblicke eingefügt.

Unser Thema ist zwar einerseits ein historisches, insofern es sich mit einem bestimmten geschichtlichen Zeitraum be-

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faßt; andererseits ist es aber auch deswegen aktuell, weil dieser Zeitraum eingebettet ist in einen darüber hinausreichenden epochalen Zusammenhang, in dem sich die Prozesse der Moderne entfalten, in dem sich langfristige Probleme und Konflikte entwickeln, die mit den Stichworten Kapitalismus, Entfremdung, Emanzipation, Fundamentaldemokratisierung, Identität angedeutet werden können. Diese Probleme sind zu einem guten Teil immer noch aktuell, und eben deswegen können wir aus der Beschäftigung mit der NS-Zeit wichtiges für unsere Gegenwart lernen. Wir werden z.B. auf eine Reihe von pädagogischen Irrtümern stoßen, an denen bis heute festgehalten wird, aber auch auf Gedanken, die uns inzwischen als absurd erscheinen.

Den Abschluß bildet ein zweifaches Fazit. Einmal versuche ich die These zu belegen, daß zumindest ein wichtiger Grund für den Erfolg der Hitler-Bewegung in ihrem Identitätsangebot zu sehen ist, daß sie sich mit ihrer Ideologie der "Volksgemeinschaft" als Lösung einer massenhaften Identitätskrise präsentiert hat. Das zweite Fazit geht der Frage nach, ob und in welchem Maße eine "richtige" Erziehung politische Barbarei verhindern kann, bzw. ob die NS-Erziehung, wie sie von Krieck, Baeumler und Schirach propagiert wurde, politische Kriminalität zum Ziele bzw. zum Ergebnis gehabt hat.

Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, werden an Ort und Stelle nur die Zitate nachgewiesen. Den an weiteren Informationen interessierten Leser verweise ich auf das kapitelweise kommentierte Literaturverzeichnis am Schluß des Bandes.

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Teil 1: Die pädagogischen Chefideologen




























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1. Rassistischer Erziehungsstaat (Adolf Hitler)


Hitlers Erziehungsvorstellungen in "Mein Kampf'

"Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend und dort behalten wir se wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK usw. Und wenn sie dort zwei Jahre oder eineinhalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie inden Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschenSpaten. Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben". (Zit. n. Fest 1980, 311 f.)

Mit diesen Worten charakterisierte Hitler in einer Rede 1938 sein Erziehungsideal, das er zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend verwirklicht sah: Ein Aufwachsen als nahezu ausbruchssichere NS-Karriere, gegründet auf ein Erfahrungsmonopol ohne Alternativen. Später allerdings, am Ende seines Lebens, als er in der Reichskanzlei Bilanz zu ziehen versuchte, warum er den Krieg verloren hatte, kam er unter an-

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derem darauf, daß er ihn zu früh habe führen müssen, daß nicht genügend Zeit geblieben sei "um eine neue Elite zur Reife zu bringen, der die nationalsozialistische Denkart gleichsam mit der Muttermilch verabfolgt worden war" (Zit. n. Fest 1973, 1012). Auf die damit aufgeworfene Frage, wie erfolgreich die NS-Erziehung nun tatsächlich gewesen ist, wird noch zurückzukommen sein. Hier geht es zunächst nur um Hitlers Absicht, um das Ziel, nämlich um den möglichst lückenlosen Erziehungsstaat.

Diese Idee findet sich schon in seiner Bekenntnisschrift "Mein Kampf'. Sie handelt von den Ursachen für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und sucht die dafür Schuldigen. Demnach sind außer den Frontsoldaten mehr oder weniger alle schuldig: die militärische Führung, die bürgerliche Wilhelminische Gesellschaft, vor allem aber die Juden, die mit ihren "Helfern und Helfershelfern" das deutsche Volk unterwandert hätten und durch die Revolution den deutschen Soldaten in den Rücken gefallen seien. Schuld trage aber auch die Erziehung, die nur die wirtschaftliche Karriere des Einzelnen im Sinne gehabt habe, die Förderung seines persönlichen Egoismus, aber die männlichen soldatischen Tugenden vernachlässigt habe. Eine neue, vor allem auf Körperertüchtigung und Charakterstärkung gerichtete Erziehung sei nötig, wenn das deutsche Volk sich wieder zu der ihm gebührenden Größe entwickeln wolle. Diejenigen, die er zu Feinden des deutschen Volkes definierte, überschwemmte er geradezu mit Haßtiraden, die auch heute noch schwer zu ertragen sind. Hitlers Extremismus war nur der Reflex seiner Interpretation der Lage des deutschen Volkes: es sei so geschädigt und gedemütigt, von innen wie von außen, daß nur eine radikale und rücksichtslose Anstrengung es noch zur retten vermöge. Der fanatische Hysteriker, wie man ihn genannt hat, schuf sich die radikale Lagebeurteilung, die er brauchte.

In den Rahmen dieser radikalen Lagebeurteilung stellte er auch die Erziehung. Im zweiten Band des Buches, im Kapitel über den künftigen, den "völkischen" Staat, finden sich längere Ausführungen zu Erziehungsfragen. Sie enthalten eine eigentümliche Mischung aus Rassismus, Volksverhetzung, Banalitäten, aber auch durchaus plausiblen Beobachtungen. Gerade diese explosive Mischung - nicht nur in seinem Buch, sondern in der nationalsozialistischen Agitation über-

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 haupt - erzielte die Massenwirkung. Jeder, der sich als Deutscher fühlte - von den Juden und Sozialisten abgesehen, die waren ja vorweg als Feinde des Volkes hinausdefiniert -, konnte etwas finden, was ihn bestätigte und was ihm wenigstens teilweise Zustimmung erlaubte. Die Haßtiraden mochten die begrüßen, denen sie aus dem Herzen gesprochen waren, andere mochten sie entschuldigen als Äußerungen eines Mannes, der wie viele seiner Generation verbittert war und dessen Vernunft mit seiner politischen Verantwortung vielleicht noch wachsen werde.

An diesem Text über Erziehung läßt sich exemplarisch die Breite der ideologischen Sammlung zeigen, die charakteristisch für die Hitlerbewegung war.

"Mein Kampf"' war keine politische Aufklärungs-, sondern eine Agitations- und Propagandaschrift, deren einziges Ziel es war, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Das erklärt die Breite der ideologischen Aspekte. Für viele findet sich etwas, von dem sie sich angesprochen fühlen konnten, und alles entsprach einem "gesunden Volksempfinden", das Hitler in seiner Person zu repräsentieren schien.

Der reformorientierte Lehrer mochte pädagogische Kundigkeit vermuten, wenn Hitler das - bis heute ungelöste - Problem der Stoffülle anspricht. Es sei gefährlich, das jugendliche Gehirn mit einer Flut von Eindrücken zu überschwemmen; da könne Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterschieden werden, und oft werde gerade das Wesentliche wieder vergessen.
"So geht der hauptsächliche Zweck dieses Viel-Lernens schon wieder verloren; denn er kann doch nicht darin bestehen, durch angemessene Häufung von Lehrstoff das Gehirn an sich lernfähig zu machen, sondern darin, dem späteren Leben jenen Schatz an Wissen mitzugeben, den der Einzelne nötig hat und der durch ihn wieder der Allgemeinheit zugute kommt" (465).

Der bildungsbürgerliche Studienrat dagegen wird mit zustimmendem Kopfnicken Hitlers Plädoyer für die klassische Bildung zur Kenntnis genommen haben.

,Es liegt im Zuge unserer heutigen materialisierten Zeit, daß unsere wissenschaftliche Ausbildung sich immer mehr den nur realen Fächern zuwendet, also der Mathematik, Physik,
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Chemie usw. So nötig dies für eine Zeit auch ist, in welcher Technik und Chemie regieren und deren wenigstens äußerlich sichtbarste Merkmale im täglichen Leben sie darstellen, so gefährlich ist es aber auch, wenn die allgemeine Bildung einer Nation immer ausschließlich darauf eingestellt wird. Diese muß im Gegenteil stets eine ideale sein. Sie soll mehr den humanistischen Fächern entsprechen und nur die Grundlagen für eine spätere fachwissenschaftliche Weiterbildung bieten. Im anderen Falle verzichtet man auf Kräfte, welche für die Erhaltung der Nation immer noch wichtiger sind als alles technische und sonstige Können" (469).

Hitlers Begabungsbegriff schließlich war dem der späteren sozial-liberalen Koalition nicht unähnlich, als diese in den 60er und 70er Jahren ihre Bildungsreformen einleitete, um Arbeiterkindern bessere Bildungschancen zu verschaffen.

"Ein Bauernjunge kann weit mehr Talente besitzen als das Kind von Eltern aus einer seit vielen Generationen gehobenen Lebensstellung, wenn er auch im allgemeinen Wissen dem Bürgerkind nachsteht. Dessen größeres Wissen hat aber an sich mit größerem oder geringerem Talent gar nichts zu tun, sondern wurzelt in der wesentlich größeren Fülle von Eindrücken, die das Kind infolge seiner vielseitigeren Erziehung und reicheren Lebensumgebung ununterbrochen erhält. Würde der talentierte Bauernknabe von klein auf ebenfalls in solcher Umgebung herangewachsen sein, so wäre seine geistige Leistungsfähigkeit eine ganz andere" (477).

Alle diese pädagogischen Einzelheiten sind nicht typisch nationalsozialistisch, sind auch nicht Hitlers Erfindungen; er fand sie vor und griff sie auf. Sie wurden später insofern wichtig, als man sich darauf berufen konnte, wenn man bestimmte pädagogische Vorhaben durchsetzen oder verteidigen wollte. Nahezu jede pädagogische Veröffentlichung im Dritten Reich legitimierte sich zunächst einmal mit Hitler-Zitaten. So diente z.B. Hitlers Satz, daß Jugend von Jugend geführt werden müsse, dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach dazu, die außerschulische Erziehung in der HJ zu monopolisieren und Erziehungsansprüche anderer NS-Organisationen abzuwehren. Neu für die damalige Erziehungsdiskussion war der Zusammenhang in dem Hitler diese päd-
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agogischen Einzelheiten sah. Die pädagogischen Aussagen stehen nicht zufällig im umfangreichen Kapitel über den Staat, der kommende völkische Staat hatte nach Hitler vor allem eine Aufgabe: die Reinheit des Blutes und damit der Rasse wieder herzustellen. Ausführliche Erörterungen dazu stehen am Anfang des Erziehungskapitels. Der völkische Staat "hat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen. Er hat für ihre Reinerhaltung zu sorgen. Er hat das Kind zum kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muß dafür Sorge tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten. Umgekehrt aber muß es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation vorzuenthalten. Der Staat muß dabei als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des Einzelnen als Nichts erscheinen und sich zu beugen haben. Er hat die modernsten ärztlichen Hilfsmittel in den Dienst dieser Erkenntnis zu stellen. Er hat, was irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend ist, zeugungsunfähig zu erklären und dies praktisch auch durchzusetzen. Er hat umgekehrt dafür zu sorgen, daß die Fruchtbarkeit des gesunden Weibes nicht beschränkt wird durch die finanzielle Luderwirtschaft eines Staatsregiments, das den Kindersegen zu einem Fluch für die Eltern gestaltet ... . Wer körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen. Der völkische Staat hat hier die ungeheuerste Erziehungsarbeit zu leisten" (446 f.).

Das also war der entscheidende Punkt: es kommt darauf an, das deutsche Blut wieder "rein" zu bekommen, und das kann nicht nur eine Frage der Kindererziehung sein, sondern das ganze gesellschaftliche Leben muß so organisiert werden daß nur die biologisch Besten sich fortpflanzen dürfen und die Erbkranken daran gehindert werden. Erziehung kann sich nicht mehr auf das Kindes- und Jugendalter beschränken, sondern muß alle lebenden Generationen so erfassen, daß sie von der Richtigkeit dieser These überzeugt sind und entsprechende Maßnahmen - wie die Zwangssterilisierung der "biologisch Minderwertigen" - bereit sind mitzutragen. Die Unterschiede von Erziehung, Propaganda und Indoktrination verwischen sich. Jede öffentliche Einrichtung hat die
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gleiche Aufgabe der "Volkserziehung", und Hitler sprach dies im Jahre 1937 auch aus:

"Wir können deshalb auch nicht zugeben, daß irgendein taugliches Mittel für diese Volksausbildung und Erziehung von dieser Gemeinschaftsverpflichtung ausgenommen werden könnte. Jugenderziehung - Wehrmacht, sie sind alle Einrichtungen dieser Erziehung und Ausbildung unseres Volkes. Das Buch, die Zeitung, der Vortrag, die Kunst, das Theater, der Film, sie sind alle Mittel dieser Volkserziehung." (Zit. n. Steinhaus, 48) Auf diesem Hintergrund ist jene bekannte Rangordnung der Erziehungsziele zu verstehen, die Hitler formulierte:

"Der völkische Staat hat ... seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung" (452).

Auf den ersten Blick ist an diesem Programm für jene Zeit nichts außergewöhnliches. Es gab damals auch in der bürgerlichen Reformpädagogik eine breite Diskussion über die sogenannte "Verkopfung" der Schule, daß den Schülern zu viel totes Wissen eingetrichtert würde, daß dabei die Charakterbildung zu kurz komme und daß die Erziehung überhaupt zu lebensfern sei. Daß zudem die Schule körperfeindlich sei und vor allem in den Großstädten die Leibeserziehung vernachlässige, gehörte ebenfalls zu den häufig zu hörenden Klagen. Wenn Hitler also die damals herrschende Rangfolge der Erziehungswerte umkehrte, die körperliche Erziehung an die erste Stelle, die Charakterbildung an die zweite und die wissenschaftliche Schulung an die dritte Stelle setzte, dann sprach er damit eine weit verbreitete Stimmung an. Aber das Bild vom "Heranzüchten kerngesunder Körper" verweist schon darauf, daß hier nicht die Leibeserziehung im Interesse der Bildung des einzelnen Menschen gemeint war, sie sollte vielmehr den rassistischen Zwecken des neuen völkischen Staates dienen.

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"Die körperliche Ertüchtigung ist daher im völkischen Staat nicht eine Sache des einzelnen, auch nicht eine Angelegenheit, die in erster Linie die Eltern angeht, und die erst in zweiter oder dritter die Allgemeinheit interessiert, sondern eine Forderung der Selbsterhaltung des durch den Staat vertretenen und geschützten Volkstums ... . Der völkische Staat ... hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper schon in ihrer frühsten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten" (453).

Geradezu enthusiastisch äußerte er sich in diesem Zusammenhang über das Boxen.

"Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist in gleichem Maße fördert, blitzschnelle Entschlußkraft verlangt, den Körper zu stählerner Geschmeidigkeit erzieht ... . Vor allem aber, der junge, gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen lernen. Das mag in den Augen unserer heutigen Geisteskämpfer natürlich als wild erscheinen. Doch hat der völkische Staat eben nicht die Aufgabe, eine Kolonie friedsamer Ästheten und körperlicher Degeneraten aufzuzüchten. Nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer sieht er sein Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen" (454).

Hart sein und leiden können soll der ideale Nationalsozialist. Darauf zielt auch die Charakterbildung im neuen Staat. "Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit sind Tugenden, die ein großes Volk nötig braucht, und deren Anerziehung und Ausbildung in der Schule gewichtiger ist als manches von dem, was zur Zeit unsere Lehrpläne ausfüllt. Auch das Aberziehen von weinerlichem Klagen, von wehleidigem Heulen usw. gehört in dieses Gebiet. Wenn eine Erziehung vergißt, schon beim Kinde darauf hinzuwirken, daß auch Leiden und Unbill einmal schweigend ertragen werden müssen, darf sie sich nicht wundem, wenn später in kritischer Stunde, wenn einst der Mann an der Front steht, der ganze Postverkehr einzig der Beförderung von gegenseitigen Jammer- und Winselbriefen dient" (461).

Ferner komme es darauf an, die Willens- und Entschlußkraft sowie die Verantwortungsfreudigkeit auszubilden. Mit Ver-

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antwortung war aber nicht gemeint, eine Entscheidung zu treffen, nachdem man alle Umstände erörtert und die Konsequenzen für andere Menschen bedacht hat - im Gegenteil: Wille und Entschlußkraft des fanatischen Menschen waren gemeint, der im blinden Glauben, nicht ruhig analysierend handelt. Höhnisch rechnet Hitler mit denjenigen ab, die nur handeln, nachdem sie sich gewisse Wahrscheinlichkeiten des Erfolges ausgerechnet haben:

"Wer vom Schicksal erst die Bürgschaft für den Erfolg fordert, verzichtet damit von selbst auf die Bedeutung einer heroischen Tat. Denn diese liegt darin, daß man in der Überzeugung von der Todesgefährlichkeit eines Zustandes den Schritt unternimmt, der vielleicht zum Erfolg führen kann" (463).

Verantwortung ist hier keine Kategorie des normalen bürgerlichen Handelns, sondern an Grenzsituationen orientiert: das fast Aussichtslose zu wagen. Für Hitler gab es keine mittlere zivile Ausgewogenheit, sondern nur extreme Haltungen, Gesinnungen und Tatsachen: gesund - krank; Freund - Feind; rein - unrein, entweder - oder.

"Die deutsche Jugend wird dereinst entweder der Bauherr eines neuen völkischen Staates sein, oder sie wird als letzter Zeuge den völligen Zusammenbruch, das Ende der bürgerlichen Welt erleben" (450).

Wenn wir also den rassistisch-biologistischen Ausgangspunkt außer acht lassen, waren Hitlers Äußerungen über Erziehung zu einem guten Teil nicht ungewöhnlich, aber es sollte sich bald herausstellen, daß es ein Fehler vieler Zeitgenossen war, gerade diese rassistischen Vorgaben nicht ernstzunehmen; denn wenn sie Hitlers Kapitel über Erziehung gelesen haben, dann haben sie auch folgende Stelle gelesen, in der sich Rassenhaß und Sozialneid zu einer unerträglichen Borniertheit verbinden.

"Von Zeit zu Zeit wird in Illustriertenblättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da und dort zum ersten Mal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt für dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst versteht der Jude sehr schlau daraus
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einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt nicht auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde an jeder Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen Angehörige der höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen verbleiben müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt, während man Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert. Denn um eine Dressur handelt es sich dabei, genauso wie bei der des Pudels, und nicht um eine wissenschaftliche Ausbildung. Die gleiche Mühe und Sorgfalt auf Intelligenzrassen angewendet, würde jeden Einzelnen tausendmal eher zu gleichen Leistungen befähigen" (478).

Der deutsche Bauernjunge kann - weil arisch - grundsätzlich zu Höherem fähig sein, ein Negerjunge - weil nicht arisch - auf keinen Fall. Es sollte sich bald herausstellen, daß dieser Rassismus nicht nur ernst gemeint war, sondern sogar zum Leitmotiv des politischen Handelns wurde.

Politisch-pädagogisches Resümee

Zusammenfassend läßt sich über Hitlers Erziehungsvorstellungen folgendes sagen:

1. Ihre rassistisch-biologistische Grundlage ist unbezweifelbar; nur in diesem Zusammenhang sind alle Äußerungen über pädagogische Einzelheiten zu verstehen. Dieser radikale und fanatische Rassismus, der sich, wie das Zitat zeigt, keineswegs nur gegen die Juden richtete, wurde von den anschließend vorzustellenden Pädagogen nicht geteilt. Charakteristisch für ihn war die Unmöglichkeit, darüber zu verhandeln. Die Tatsache, daß jemand einer anderen Rasse angehörte, schloß ihn von vornherein aus dem deutschen Volkszusammenhang aus. Diese Vorstellung implizierte zumindest die Unterdrückung wenn nicht die Vernichtung anderer Ras
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sen; jedenfalls sah Hitler die verschiedenen Rassen nicht als gleichwertig an, die arische galt ihm als Herrenrasse, die das Recht habe, über die anderen zu herrschen. Die mörderischen Konsequenzen aus diesem anthropologischen Wahn konnte er allerdings erst im Kriege ziehen, als er die Loyalität der Deutschen durch die scheinbare Notwendigkeit der Landesverteidigung erpreßte und sie mißbrauchte zum Massenmord an den Juden wie auch zum barbarischen Umgang mit den zu "Untermenschen" herunterdefinierten Völkern Polens und der Sowjetunion.

Hitlers Menschenbild beruhte also nicht auf der Gleichheit der Menschen, sondern auf ihrer angeblich naturbedingten Ungleichheit. Deshalb galten für ihn auch die allgemeinen Menschenrechte nicht, die hielt er - wie im Zitat über den Neger zum Ausdruck kommt - für eine jüdische Erfindung.

In der Pädagogik der NS-Zeit wirkte sich dieser Rassismus besonders in der Behandlung derjenigen Kinder und Jugendlichen aus, die, obwohl deutsch und "arisch", nicht "HJ-fähig" waren, wie im Kapitel 5 zu zeigen sein wird.

Die als fremdrassig definierten Kinder und Jugendlichen - z.B. die jüdischen - waren nach dieser Logik ohnehin nicht "erziehbar" im Sinne einer Anpassung ihres Verhaltens an die in Deutschland gültigen sozialen Regeln und Normen, weil es nur auf das als rassisch determiniert angenommene genetische Potential ankam, das weder durch Politik noch Erziehung verändert werden könne.

Sachlich gesehen ist das Unsinn. Bisher haben sich signifikante genetische Unterschiede zwischen sogenannten "Rassen" nicht nachweisen lassen, sondern nur zwischen Individuen, und diese Unterschiede verteilen sich offensichtlich einigermaßen gleich unter den sogenannten "Rassen". Die bisherige "Rassenforschung", wie sie in der NS-Zeit ihren berüchtigten Höhepunkt erreichte, hat bezeichnenderweise immer eine "Rasse" - nämlich die "weiße" bzw. "arische" als den anderen "überlegen" "erwiesen". Auf diese Weise ließen sich imperiale Ansprüche der "Weißen" gegenüber anderen Völkern als naturbedingt, also als durch soziales Handeln nicht veränderbar, begründen.

Vom Rassismus übrig bleibt die Tatsache kultureller Fremdheit, wie wir sie heute auch zum Teil im Umgang mit Asylbe

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werbern erleben, die aus uns fremden Kulturen kommen. Kulturelle Fremdheit aber bereitet vielen Menschen Angst, und diese ist politisch mobilisierbar, weshalb Rassismus wohl auch in Zukunft eine Gefahr bleiben wird, obwohl er wissenschaftlich nicht gestützt werden kann.

2. Aus der Annahme, daß die Bedrohung des Volkes in erster Linie eine rassische sei, folgte das Konzept des totalen Erziehungsstaates. Erziehung war nun nicht mehr wie in der bisherigen pädagogischen Tradition ein bestimmtes und begrenztes Einwirken von Erwachsenen auf noch nicht Erwachsene, das sein Ende mit dem Status des Erwachsenseins findet, vielmehr sind nun alle lebenden Generationen gleich mündig bzw. unmündig. Die mit den Aufgaben des völkischen Staates gegebenen prinzipiellen Erziehungsziele gelten für alle Generationen, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht. Während die Kinder und Jugendlichen von vornherein in diesem Sinne erzogen werden können, müssen die bereits anders erzogenen Erwachsenen umerzogen werden. Dazu dienten dann in der Praxis die zahllosen Schulungslager. Ferner folgte aus diesem totalen Erziehungskonzept eine Umkehrung des Generationenverhältnisses. Die Jungen hatten nun die Chance, eher nationalsozialistisch erzogen zu werden als die Älteren. Ein entsprechendes Selbstbewußtsein entwickelte die HJ dann auch z.B. gegenüber der Schule.

3. In diesem Erziehungskonzept werden die Grenzen von Erziehung, Bildung, Indoktrination, Agitation und Propaganda fließend. Angewendet wird das Verfahren, das bei bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation am meisten Erfolg verspricht. Dadurch wird aber ein kritisches, theoretisch fundiertes Nachdenken über pädagogisches Handeln erschwert und als Folge davon das berufliche pädagogische Selbstverständnis unterhöhlt.

Erziehung und Bildung sind nun nicht mehr allein Sache eines bestimmten Berufsstandes, der eine eigene Berufsethik entwickelt und nach deren Normen seine Aufgaben erfüllt. Vielmehr wird jeder zum Erzieher der anderen, der sich im Besitz der rechten Gesinnung glaubt. Die pädagogischen Berufe sind nun nicht mehr orientiert am Wohl des einzelnen Kindes, sondern treten dem Kind gegenüber als Übermittler der offiziell propagierten NS-Ideologie. Alle Berufe, die auf

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Menschen bezogen sind, werden in diese völkische Erziehungs-Agitation eingespannt. Das galt z.B. auch für die Ärzte, die - wie wir heute wissen - bei der Durchsetzung des Rassismus gegenüber gesundheitlich und sozial abweichenden Menschen eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben.

4. Normalerweise geht es in der Erziehung darum, Kinder und Heranwachsende zu befähigen, selbständig am Leben der Gemeinschaft teilnehmen zu können. Wenn dies mißlingt, kommen schlimmstenfalls in diesem Sinne schlecht erzogene Kinder dabei heraus. Hitlers Erziehungsziele sind jedoch nicht am einzelnen Menschen orientiert, sondern an dem, was er für die Entwicklungsgrundlage des völkischen Staates hält. Eine scheiternde Erziehung gerät nun in die Nähe der Staatsgefährdung. Daraus wiederum ergibt sich gleichsam zwangsläufig ein Bündnis von Pädagogik und Polizei. Wer sich nicht als "richtig erzogen" erweist, der muß mit polizeilichen Reaktionen rechnen. Polizeiterror und Erziehung verschmelzen hier zu zwei Seiten einer Münze. Die auf den ersten Blick enorme Aufwertung der Erziehung erweist sich als deren Unterwerfung. So verwundert es nicht, daß Hitler die Lehrer im Grunde verachtete und lieber auf die Techniken der Massenbeeinflussung setzte, also auf Propaganda. Auch damit beschäftigt er sich in "Mein Kampf' ausführlich.

5. In unserem Eingangszitat beschreibt Hitler triumphierend eine Bilderbuch-Sozialisation im Rahmen der nationalsozialistischen "Formationen" (HJ-Arbeitsdienst-Wehrmacht-SA-SS). Bei dieser Aufzahlung fehlen jedoch einige wichtige Sozialisationsinstanzen: Familie, Kirche und vor allem die Arbeitswelt.

Bei den Erwachsenen hielten sich die Möglichkeiten des Erziehungsstaates in Grenzen. Im Zentrum ihres Lebens stand nicht die SA, die ohnehin weitgehend zu einem männerbündischen Kameradschaftsverein verkam, sondern die Erwerbsarbeit und die Sicherung der materiellen Existenz. Auch im Dritten Reich galt der kapitalistische Grundsatz weiter, daß für möglichst wenig Lohn möglichst viel geleistet werden sollte. Die Erwerbsarbeit hatte also ihre eigenen Gesetze, man konnte sie zwar mit politischen Appellen anheizen und mit Nazi-Symbolen umstellen, die Arbeiterschaft als "Gefolgschaft" bezeichnen und den Hitler-Gruß verordnen, aber

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die Arbeit sozialisierte die Menschen nicht von diesen Symbolen her.

Für das Aufwachsen der Kinder jedoch darf Hitlers Vision des Erziehungsstaates nicht unterschätzt werden. Entscheidend war damals nicht allein, was der Lehrer in der Schule den Kindern sagte, sondern daß das Kind, wenn es die Schule verließ, draußen in der Öffentlichkeit und im Rundfunk auf die gleichen Parolen und Gestimmtheiten traf. Es ist den Nationalsozialisten zu einem erheblichen Teil gelungen, eine Art von eindimensionaler, geschlossener Sozialisation für Kinder und Jugendliche zu arrangieren, in der alternative Denk- und Verhaltensweisen kaum zur Erfahrung werden konnten. Lediglich die Familie und gegebenenfalls eine Religionsgemeinschaft konnten unter Umständen gegenläufig wirken.

Trotz des rassistischen Radikalismus ließen sich aus Hitlers Vorstellungen wenig praktisch-pädagogische Konsequenzen ziehen. Diese Lücke bot nun Pädagogen, die sich für Nationalsozialisten hielten, einen verhältnismäßig breiten Spielraum für eigene Initiativen an, um sich zum pädagogischen Chefideologen zu profilieren. Einer von ihnen war Ernst Krieck.

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2. Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)

Leben und Werk

Ernst Krieck wurde 1882 als Sohn eines unselbständigen Maurers und Kleinbauern in Vögisheim in Südbaden geboren. Er besuchte die Realschule, anschließend das Lehrerseminar, war mit 18 Jahren Junglehrer und blieb mit Unterbrechungen bis 1928 als Volksschullehrer tätig.

Für einen Jungen, der lernwillig war, aber das Geld für den Besuch des Gymnasiums oder gar für ein Studium nicht aufbringen konnte, war der Weg über die Lehrerausbildung damals - vor dem Ersten Weltkrieg - nahezu der einzige, um zu einer höheren Bildung zu gelangen. Dieser Weg war bedrückend und demütigend, denn der Volksschullehrer sollte nichts weiter als gesinnungstreue, der Kulturtechniken halbwegs kundige Untertanen produzieren, und entsprechend wurden die Lehrer behandelt. Die Volksschule kannte damals noch keine moderne Pädagogik, sie war eine Drill- und Paukschule.

Für seinen Beruf war Krieck "überqualifiziert" - wie man heute sagen würde; er fühlte sich unterfordert und kompensierte dies durch Fortbildung und autodidaktische Studien. Ferner engagierte er sich publizistisch für die liberale Berufsorganisation der Volksschullehrer, den Deutschen Lehrerverein. Er redigierte eine Badische Lehrerzeitung und schrieb zahllose Artikel, mit denen er in die bildungs- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit eingriff.

Dabei ging es vor allem um zwei Fragen: um die Konfessionalität der Volksschule und um den chancengleichen Zugang der Arbeiterkinder zur höheren Bildung.

Das Volksschulwesen lag traditionell in der Hand der Kirchen. Zwar hatte im 19. Jahrhundert der Staat formell die

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Schulaufsicht übernommen, sie aber den Kirchen wieder zur Ausübung übertragen, weil die Volksschulen konfessionell waren und dies auch nach dem Willen des Staates bleiben sollten. Diese kirchliche Schulaufsicht, die nicht von pädagogischen Fachleuten, sondern von Geistlichen ausgeübt wurde, wurde von den im Deutschen Lehrerverein organisierten Volksschullehrern bekämpft. Sie forderten die staatliche, von pädagogischen Fachleuten auszuübende Schulaufsicht, aber erst 1918 wurde diese Forderung realisiert. Ferner wurde in diesem Zusammenhang die nationale - also konfessionell neutrale - Einheitsschule gefordert - eine Vorläufer der heutigen Gesamtschule. Alle Kinder sollten in eine Schule gehen und dort je nach ihren Fähigkeiten einen Abschluß auf der Höhe der Volks-, Real- oder Gymnasialstufe machen. Die "Einheitsschule" sollte also eine Stufenschule sein.

Nun wurde zwar 1918 die geistliche Schulaufsicht abgeschafft, nicht jedoch die Konfessionsschule. Sie wurde sogar in der Weimarer Verfassung ausdrücklich wieder verankert, allerdings mit der Einschränkung, daß auf Wunsch der Eltern auch weltliche Schulen eingerichtet werden könnten. Die Einzelheiten sollten durch ein "Reichsschulgesetz" geregelt werden, das aber nicht zustande kam, so daß weltliche Schulen wegen fehlender rechtlicher Grundlagen verhindert werden konnten, die Konfessionsschule aber Regelschule blieb.

Eine Konsequenz der Idee der "Einheitsschule" war die einheitliche Lehrerbildung, also die Universitätsausbildung auch für Volksschullehrer. Beides konnte jedoch nicht realisiert werden, verwirklicht wurde 1920 nur die vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder; vorher wurden diejenigen Kinder, die ein Gymnasium besuchen sollten, auf sogenannten "Vorschulen" darauf vorbereitet. Das bedeutete, daß die Volksschüler und die Gymnasiasten vom ersten Schultag an getrennte Schulen besuchten.

Die bildungspolitischen Vorstellungen der erwähnten Volksschullehrerorganisation wurden von der SPD unterstützt, weil sie geeignet erschienen, das "Bildungsprivileg" des Bürgertums zu brechen und den entsprechend begabten Arbeiterkindern einen Aufstieg durch höhere Bildung zu ermöglichen.

Auch Ernst Krieck setzte sich für diese Forderungen publizistisch ein, zumal er an sich selbst erfahren hatte, wie

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schmerzlich es ist, aus finanziellen Gründen auf den Besuch des Gymnasiums und auf ein Studium verzichten zu müssen. Sein Hauptgegner wurde dabei das Zentrum, die politische Partei des Katholizismus. Sie spielte während der Weimarer Zeit insofern eine problematische Rolle, als ihr Hauptziel die Erhaltung und wenn möglich die Vermehrung des Einflusses der katholischen Kirche auf das Bildungswesen und auf das kulturelle Leben überhaupt war. Für dieses Ziel war die Partei bereit, jede nur denkbare Koalition einzugehen - ohne Rücksicht auf andere politische Sachfragen. So hatte sie in Bayern 1924 durch ihren dortigen Ableger, die Bayerische Volkspartei, ein Konkordat durchsetzen können, das ihren Vorstellungen über die konfessionellen Volksschulen und die Lehrerausbildung weitgehend entsprach. Krieck nahm dies zum Anlaß einer öffentlichen Auseinandersetzung. Ohne die katholische Religion anzugreifen, forderte er die uneingeschränkte staatliche Trägerschaft des Bildungswesens.

"Der Anspruch der Kirche auf die Vorherrschaft in der öffentlichen Erziehung ist eine durch gar nichts gerechtfertigte Anmaßung. Die Kirche ist nicht imstande, aus ihren Mitteln, ihrem geistigen Besitz den Lehrplan auch nur einer Volksschule zu füllen. Es gibt keine katholische Erdkunde, keine protestantische Raumlehre, keine jüdische Sprachwissenschaft, keine freireligiöse Chemie... . Der Staat ist verloren und verkauft, der die Staatsbürgerbildung nicht aus eigener Machtvollkommenheit und eigenen Machtmitteln leisten kann" (Zit. n. G. Müller, 66).

Auf diesen Artikel reagierte die Presse des Zentrums mit einer zentral gesteuerten Kampagne gegen Krieck. Gerhard Müller, dem wir die bisher umfangreichste Untersuchung über Krieck verdanken, beurteilt diese Kampagne so:

"Man wird sich heute bei Durchsicht der Pressestimmen der Meinung Kriecks anschließen können, daß die Argumentation der Zentrumspresse größtenteils 'bis zur Hirnerweichung blödsinnig' war. Die Pressefehde des Zentrums offenbart auf verschiedenen Ebenen einen unglaublichen geistigen Tiefstand der Argumentation, die um der eigenen Sache willen vor keiner demagogischen Verfälschung des Krieckschen Anliegens, das in seinem Kern nicht berührt wurde, zurückschreckte . . ." (Müller, 66 f.).

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Seine entschiedene Haltung zum Zentrum entfremdete Krieck aber allmählich auch seiner Standesorganisation, dem Deutschen Lehrerverein. Er griff nämlich nicht nur das Zentrum heftig an, sondern auch alle diejenigen, die mit ihm paktierten und Kompromisse schlossen, was ja auch die Lehrerverbände, die liberale Deutsche Volkspartei und die Sozialdemokraten taten. Er durchlebte in den 20er Jahren einen mehrfachen Entfremdungsprozeß. Seine wissenschaftlichen Arbeiten entfremdeten ihn seinem Beruf und seinem sozialen Herkunftsmilieu; mit seiner entschiedenen, kompromißlosen Haltung distanzierte er sich auch von denjenigen Verbänden, die ihm eigentlich nahestanden. Ihm fehlte das Verständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen; er dachte zunehmend im Entweder-Oder-Schema und beurteilte schließlich alle politischen Organisationen danach, ob sie sich dem Zentrum konsequent widersetzen oder nicht. Diese starre und nicht selten auch rechthaberische Argumentationsweise ist sicherlich gefördert worden durch die autodidaktische Weise des Studierens. Im Unterschied zum üblichen Hochschüler mußte er sich nicht ständig mit anderen Menschen auseinandersetzen. Schroff ging er auch mit seinen Fachkollegen um, den Erziehungswissenschaftlern in der Weimarer Zeit, denen er schlicht Unwissenschaftlichkeit vorwarf.

Krieck hat ein umfangreiches publizistisches Werk hinterlassen, auf das wir hier nicht im ganzen eingehen können. Vielmehr müssen wir uns auf seine wichtigsten pädagogischen Schriften konzentrieren. Sein Hauptanliegen war allerdings ein politisches. Er versuchte, durch eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte und Geistesgeschichte die "deutsche Eigenart" herauszufinden und daraus entsprechende Vorschläge für die Neuformierung von Volk und Staat zu entwickeln. Für unseren Zusammenhang ist daran bedeutsam, daß er pädagogische Fragen, wenn er sich damit beschäftigte, immer im Zusammenhang seiner darüber hinausgehenden politischen Ambitionen sah.

"Philosophie der Erziehung"

Im Jahre 1922 erschien sein erziehungswissenschaftliches Hauptwerk unter dem Titel "Philosophie der Erziehung", das ihn mit einem Schlag berühmt machte und ihm die Eh-

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rendoktorwürde der Universität Heidelberg eintrug. Die Thesen dieses Buches waren damals ungewöhnlich. Nicht das, was einzelne Personen wie Eltern und Lehrer mit Kindern absichtsvoll - also intentional - tun, sei das entscheidende an der Erziehung, sondern die Art und Weise, wie Kinder in den sozialen Gemeinschaften aufwachsen. Diese Gemeinschaften erziehen "funktional", also durch ihre bloße Existenz, und einzelne Personen, z.B. die Eltern oder Lehrer, sind nur Funktionsträger solcher Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Kirche, Volk. Und die Gemeinschaften formen keine Individuen, sondern Typen, d.h. sie versuchen, den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild zu prägen. Diesen Prozeß der kollektiven Assimilierung des Menschen nannte er Zucht. Das war nicht biologisch gemeint, etwa im Sinne von Tierzüchtung, sondern einer Prägung durch Sitten und Normen der jeweiligen Gemeinschaft. Die Gemeinschaften jeder Art seien "überindividuelle und ursprüngliche geistige Organismen, nicht aber Zweckverbände aus freier Wahl und Summierung Einzelner"; Erziehung sei "eine Urfunktion im Gemeinschaftsleben, genauso, wie Sprache, Religion, Recht, Kunst, gemeinsame Arbeit Urfunktionen des Gemeinschafts- oder Geisteslebens sind" (45).

Mit dieser These wendet sich Krieck gegen die Beschränkung der modernen Pädagogik auf die rational veranstaltete Erziehung in Schulen und Hochschulen; diese sei nur die oberste von drei Schichten, in denen sich "funktionale" Erziehung ereigne. "Die unterste Schicht erzieherischer Faktoren besteht aus den unbewußten Wirkungen, Bindungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch. Sie bilden den Untergrund des Gemeinschaftslebens, die unmittelbarste und stärkste Bindung im organischen Gefüge... ." (47).

Die zweite Schicht der funktionalen Erziehung sei zu finden auf der Ebene des bewußten sozialen Handelns in der Familie, am Arbeitsplatz usw. "Von jeglicher Verständigung zwischen Menschen, von jeglicher Gemeinsamkeit wie von jedem Gegensatz, von allem gemeinsamen oder gegenwirkenden Tun, mit einem Wort: von jeder Wechselwirkung gehen auf die Beteiligten erzieherische Wirkungen aus, auch wenn diese Wirkungen weder beabsichtigt sind noch auch bewußt werden. Die Menschen werden sich darin zu gegenseitig bildenden Mächten: sie müssen sich nacheinander richten, auf-

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einander einstellen, ineinander fügen, und das Maß, das Ergebnis der dabei beteiligten Wirkungskräfte bestimmt die innere Form, die Bildung, die Richtung des geistigen Werdens bei allen Teilnehmern. Wenn zwei Menschen an einem Geschäft oder an einer Arbeit teilnehmen, so wirken sie beständig durch Übereinstimmung oder Gegensatz erzieherisch aufeinander" (48).

Erst auf der Ebene der rational organisierten Erziehung finden wir Erziehungsabsichten, Zwecke und Methoden; aber auch sie "besteht niemals abgelöst und für sich allein; sie ist stets verknüpft mit irrationalen Lebenskräften, die sie tragen und dem Ganzen organisch verbinden. Ohne sie würde jede höhere Bildung und Kultur rasch austrocknen, verdorren und absterben" (49).

Diese drei Schichten der funktionalen Erziehung seien gleichrangig zu sehen, als aufeinander angewiesen, und auch die rational organisierte Erziehung könne man nicht verstehen, wenn man die anderen beiden Schichten nicht berücksichtige.

Erziehung finde aber nicht nur in einer solchen "Tiefengliederung", sondern auch in einer "Breitengliederung" statt. "Die Pole sind die Selbsterziehung der Gemeinschaft und die Selbsterziehung der Einzelnen. Dazwischen spannt sich das weite Gebiet der Fremderziehung, und zwar der wechselwirkenden Fremderziehung der Glieder, also des Ich und des Du, ferner die Fremderziehung jedes Gliedes durch die Gemeinschaft und endlich die Fremderziehung der Gemeinschaft durch die Glieder. Dazu tritt dann noch die Erziehung der Gemeinschaft durch andere Gemeinschaften, also durch die Wirkungsbeziehungen kultureller, wirtschaftlicher und politischer Art nach außen" (50 f).

Erziehungswirkungen ergeben sich demnach also nicht nur in pädagogischen Einrichtungen wie in der Schule, und nicht nur dadurch, daß Einzelne auf Einzelne einwirken; auch Gemeinschaften wirken aufeinander, auch eine Korporation wie z.B. die Ärztekammer hat eine erzieherische Bedeutung nicht nur im Hinblick auf ihre Mitglieder, sondern auch in Bezug zu anderen Korporationen, z.B. den Kirchen. Im Grunde hat nach Krieck das gesamte soziale und gesellschaftliche Leben eine erzieherische Implikation, und in dem Maße, wie der einzelne Mensch Mitglied von Gemein-

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schaften und Korporationen ist, wird er auch nach deren jeweiligen Typenerwartungen erzogen und trägt von sich aus im Rahmen seiner sozialen Teilhabe zur Erziehung anderer bei.

Eine Sonderstellung nimmt in diesem Konzept die Familie ein. Sie ist die Urzelle des Gemeinschaftslebens, trägt als Keim die Grundlagen der größeren Gemeinschaften in sich. Die höchste Form der Gemeinschaft ist das "Volk". Zu ihm stehen alle anderen Gemeinschaften im Verhältnis der "Gliedschaft", wie auch die Individuen "Glieder" ihrer Gemeinschaften sind. Das Verhältnis der Glieder zum jeweiligen "Ganzen" ist so zu sehen, daß - wenn dieses System funktioniert - die Glieder trotz vorhandener Spannungen in das größere Ganze eingebunden bleiben. In diesem Verständnis gibt es keine einseitige Abhängigkeit oder gar Unterdrückung der Glieder durch das höhere Ganze, vielmehr wird den Gliedern im Rahmen ihrer Funktion für das Ganze auch relative Autonomie zugestanden. Allerdings setzen die Gemeinschaften auch Grenzen für den Spielraum des abweichenden Verhaltens, weil sie sonst ihre Zerstörung zulassen würden.

"Was aber immer den Grundgesetzen und Existenzbedingungen einer solchen Gemeinschaft zuwiderläuft, wird erbarmungslos unterdrückt, auch wenn es an sich, rein menschlich genommen, noch so wertvoll wäre. Setzen sich dann solche Menschen und Werte trotzdem durch, hat die Gemeinschaft nicht mehr Gewissen und Kraft zur Normierung des Nachwuchses, dann ist eben sie ihrerseits vor die revolutionäre Probe auf Existenzrecht und Lebenskraft gestellt" (19).

Im Klartext heißt das: Im äußersten Konfliktfalle wird entweder der einzelne ausgeschlossen - auf welche Weise immer -, oder die Gemeinschaft zerbricht an seiner Abweichung.

Erziehung erweist sich als ein höchst komplexes Zusammenspiel von Wirkungen und Gegenwirkungen. Krieck unterscheidet also vier gleichberechtigte Formen der Erziehung:

1. Die Gemeinschaft erzieht die Glieder. 2. Die Glieder erziehen einander. 3. Die Glieder erziehen die Gemeinschaft. 4. Die Gemeinschaft erzieht die Gemeinschaft.

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Um diese Argumentation zu verstehen muß man sich vor Augen halten, daß Krieck nicht jede soziale Formation als Gemeinschaft versteht. Zweckverbände wie die Gewerkschaften, in die man eintreten und aus denen man jederzeit wieder austreten kann, zählen dazu nicht, weil sie nicht über die erste Stufe der "funktionalen" Erziehung, nämlich den irrationalen gemeinsamen Untergrund verfügen. Überhaupt ist schwer zu ermitteln, wo Krieck die Grenze setzt, ob z.B. die Schulen dazugehören. Gemeint ist mit den vier Erziehungsformen etwa folgendes: Die Ärzteschaft beispielsweise als Korporation erzieht durch die Regeln ihres Standesethos ihre einzelnen Mitglieder; die erziehen zugleich auch einander, indem sie etwa gegenseitig auf die Regeln achten. Die einzelnen Ärzte erziehen aber umgekehrt auch ihre eigene Gemeinschaft, nämlich die Korporation, indem sie darauf achten, daß diese die Regeln einhält, oder indem sie darauf drängen, daß sie modifiziert werden, weil sie etwa neuen Zeitumständen angepaßt werden müssen. Als Gemeinschaft erzieht die korporierte Arzteschaft aber auch andere Gemeinschaften, etwa die Kirchen, indem sie z.B. in Fragen der Abtreibung einen entsprechenden Druck ausübt. Einleuchtender ist vielleicht das Beispiel der Familie: Die Familie als Gemeinschaft erzieht die Glieder, z.B. die Kinder, die sich wiederum untereinander erziehen, zugleich erziehen sie wiederum die Familie als Gemeinschaft, indem sie deren Normen etwa auch gegenüber den Eltern zur Geltung bringen. Als Gemeinschaft erziehen sie andere Gemeinschaften, etwa die Nachbarfamilien.

Diese Formen der "Fremderziehung" werden ergänzt durch zwei Formen der "Selbsterziehung".

1. Die Gemeinschaft erzieht sich selbst. 2. Der Einzelne erzieht sich selbst.

Unklar bleibt hier, wie Gemeinschaften sich selbst erziehen sollen, wenn nicht durch entsprechende Aktivitäten ihrer Mitglieder, also durch eine der eben genannten Formen der "Fremderziehung". Zu verstehen ist das nur unter der Voraussetzung, daß Gemeinschaften wie einzelne Menschen lebende Organismen seien. "Selbsterziehung" könnte man sich vorstellen als Leistung des Individuums, sich in diesem Komplex unterschiedlicher Erziehungsansprüche eine eigene, persönliche Version zu verschaffen, indem es die dafür

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vorhandenen Spielräume nutzt. So ähnlich sieht es auch Krieck:

Im allgemeinen werde der Einzelne durch "Selbstformung und Selbsterziehung" sich an den erwarteten Typus anpassen, ihm seine individuelle Version geben. Aber schöpferische Menschen können auch den kollektiven Typus verändern, "umschaffen, erhöhen oder erweitern". Selbst Genies allerdings seien nur in einer begrenzten Hinsicht originell, im übrigen aber blieben auch sie am Durchschnitt ihres sozialen Typus gebunden.

Krieck nennt diesen komplexen Zusammenhang der Erziehung "organisch", und diese Kennzeichnung verweist auf sein politisch-gesellschaftliches Grundverständnis. Auf den ersten Blick könnte man meinen, hier handle es sich um eine soziologische Erziehungstheorie, denn schließlich spielen die sozialen Gemeinschaften dabei die zentrale Rolle. Das trifft aber zumindest im Sinne der modernen, empirisch arbeitenden Soziologie nicht zu. Es geht ihm nicht nur um die empirisch feststellbaren Wirkungen, sondern auch um die irrationalen Untergründe, die er in den Gemeinschaften vermutet. Die Gemeinschaften sind keine Zweckverbände, deren Mitglied man je nach Interesse werden kann oder nicht, in ihnen sind die Menschen nicht "gleich", wie sie vor dem Gesetz oder als wahlberechtigte Staatsbürger gleich sind. Sein Begriff der Gemeinschaft ist ausdrücklich als Gegenkonzept gedacht zu den modernen liberalen Vorstellungen, die auf der Gleichheit der Menschen basieren, was ja zur Voraussetzung hat, daß das Individuum prinzipiell als losgelöst von seinen konkreten sozialen Kontexten gedacht wird, als ein Wesen, das sich von solchen traditionellen Eingebundenheiten emanzipiert. Auch die modernen Massenorganisationen der Arbeiterbewegung widersprechen diesem "organischen" Weltbild. Insofern verbindet sich mit Kriecks Begriff der Gemeinschaft von vornherein eine anti-liberale und anti-sozialistische Gegenposition, das politische Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung. Wenige Jahre später wird er die NS-Bewegung als diejenige politische Kraft verstehen, die diese Neuordnung zustandebringen könne.

Krieck glaubte, mit diesem prinzipiellen Konstrukt eine grundlegende "Philosophie" der Erziehung gefunden zu haben, die Erziehung zu allen Zeiten und für alle Kulturen zu

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erforschen erlaube. Er nannte sein Konzept "autonome Erziehungswissenschaft" und versuchte es durch weitere Arbeiten historisch zu untermauern ("Menschenformung", 1925; "Bildungssysteme der Kulturvölker", 1927). Besonders eindrucksvolle historische Beispiele für Typenbildung durch Einwirken der Gemeinschaften fand er im griechischen Männerbund, im römischen Staat, in der germanischen Gefolgschaft und in der mittelalterlichen Handwerksgilde.

Seine wichtigste These war also, daß Erziehung ein soziales Phänomen sei, immer schon vorhanden, wo Menschen leben. Sie ist keine von außen an die Gemeinschaften herangetragenene zusätzliche, künstliche Institution, auch keine kulturelle Erfindung der Menschheit. Lediglich die Formen, in denen die Gemeinschaften die Erziehung organisieren, sind kulturell geprägt, also auch veränderbar.

Die "Autonomie" der Erziehungswissenschaft sah Krieck darin, daß sie nun einen eigenen Gegenstand bekam, nämlich das, was sich in jeder Gemeinschaft an erzieherischen Wirkungen abspielt; sie sei nun weder abhängig von der Ethik, von der die Pädagogen die Normen ihres Handelns bezogen, noch von der Psychologie, die die Techniken des Umgangs mit Kindern bereit stellten.

Seine Argumentation traf in mancherlei Hinsicht den pädagogischen Nerv seiner Zeit.

1. Während die damals tonangebende geisteswissenschaftliche Pädagogik im "pädagogischen Bezug", also im persönlichen Verhältnis von Erzieher und Zögling, den Ausgangspunkt aller planmäßigen Erziehung und Bildung sah, hielt Krieck die Erzieher und Lehrer vor allem für Funktionäre der sozialen Gemeinschaften, spielte also deren Bedeutung wie die Bedeutung ihres "pädagogischen Verhältnisses" zu den zu Erziehenden erheblich herunter.

2. Die Reform-Pädagogik seiner Zeit verstand sich als Individualpädagogik; sie strebte danach, die individuelle Autonomie des Kindes zu fördern und zu unterstützen. Jedenfalls sah sie das Kind nicht als "Typus" irgendeines Kollektivs oder einer Gemeinschaft, sondern als Einzelwesen, dessen eigentümliche Persönlichkeit zur Entwicklung und Entfaltung kommen müsse. Demgegenüber betonte Krieck, daß Erziehung zur Individualität gar nicht möglich sei, diese ent-

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stehe vielmehr im Rahmen der Assimilation an den Typus durch Selbsterziehung, indem das Individuum sich in diesem Prozeß eine persönliche Version des allgemeinen Typus schaffe. Die Individualität des Kindes stehe der planenden Pädagogik gar nicht zur Verfügung, die könne vielmehr nur das gemeinschaftlich Typische im Blick haben.

3. Die Pädagogik seiner Zeit konzentrierte sich auf die rationelle Planung von Bildung und Erziehung und war dabei durchweg normativ orientiert, dachte also - vereinfacht gesagt - über das Wesen des Menschen nach, wie er in seiner Vollkommenheit sein sollte, um dann zu erörtern, wie die Erziehung ihn zu einem solchen Menschen machen bzw. sich entwickeln lassen könne, wobei sie den konkreten sozialen Kontexten kaum Bedeutung schenkte, in denen die Kinder lebten und handelten.

Diese Absicht hielt Krieck nicht nur für eine Illusion, er macht darüber hinaus auch die unbewußten, irrationalen Dimensionen geltend, die beim Aufwachsen von Kindern in den Gemeinschaften - bei der Familie beginnend - eine Rolle spielen.

4. Die neuzeitliche Pädagogik ging davon aus, daß Erziehung - was immer im einzelnen darunter zu verstehen sei - sich nur auf Unmündige, also Kinder und Jugendliche beziehen könne, nicht jedoch auch auf Erwachsene. Zwar war in der Umgangssprache darüber hinaus etwa von der erzieherischen Bedeutung des Militärdienstes die Rede; abgesehen davon, daß die Rekruten in der Regel minderjährig waren, also unter den Erziehungsbegriff paßten, sprach man in der wissenschaftlichen Pädagogik jedoch im allgemeinen von "Erwachsenenbildung", wenn man pädagogische Arbeit mit Erwachsenen meinte.

Bei Krieck nun verliert der Begriff der Erziehung diesen begrenzten Sinn, er dehnt sich aus auf alle lebenden Generationen: "Alle erziehen alle jederzeit".
5. Seiner autonomen Erziehungswissenschaft ging es nicht mehr darum, die Absichten irgendwelcher Erzieher zu untersuchen, sondern die Wirkungen, die tatsächlich von den einzelnen Gemeinschaften ausgehen. Diese These traf die geisteswissenschaftliche Pädagogik insofern zentral, weil diese sich gerade in der Tradition der pädagogischen Klassiker ver-

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stand, also von Praktikern bzw. Autoren, die im Kern über ihre Absichten und die Möglichkeiten der Realisierung geschrieben hatten.

Kriecks Einsprüche gegen die traditionelle Pädagogik bedrohten also in zentralen Punkten deren Selbstverständnis, und so ist nicht verwunderlich, daß die Universitätspädagogik der Weimarer Zeit ihn weitgehend zu ignorieren versuchte, zumal Krieck deutlich aussprach, daß er diese Pädagogik für unwissenschaftlich und historisch rückständig hielt.

"Die Pädagogik hat der geistesgeschichtlichen Wendung des 19. Jahrhunderts von der Idealkonstruktion zur geschichtlichen, völkerkundlich und soziologisch begründeten Erfahrungswissenschaft standhaft Widerstand geboten und ist darum jederzeit über die Wirklichkeit, statt sie zu erforschen und sie zu gestalten, mit Wünschbarkeiten, mit Weltverbesserungsplänen und Menschheitsvervollkommnungsversprechen hinweggeflogen ... . Die Rückständigkeit der Pädagogik mußte notwendig in ihrem Bereich eine besonders tiefgehende Krise auslösen, sobald das Mißverhältnis der von ihr ausgehenden Verheißungen zur Wirklichkeit deutlich hervortrat" (Zit. n. Müller, 243).

Krieck reagierte auf seine Außenseiterrolle mit Polemik und bezeichnete die Universitätspädagogen öffentlich als "Professorenkonzern" und als "Auflobungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit".

Im Jahre 1928 berief der preußische Kultusminister Becker Krieck an die Pädagogische Akademie Frankfurt am Main; sie war die einzige simultane Pädagogische Akademie in Preußen, d.h. die einzige, auf der katholische und evangelische Volksschullehrer gemeinsam ausgebildet wurden. Im Juli 1931 hielt er auf einer privaten Sonnenwendfeier eine Rede, die in dem Schlußruf endete: "Heil dem Dritten Reich!" Ein sozialdemokratischer Student denunzierte ihn, und der neue sozialdemokratische Kultusminister Adolf Grimme verfügte seine Strafversetzung an die Pädagogische Akademie Dortmund.

Diese Maßregelung war rechtlich höchst problematisch und entfachte in Presse und Hochschulen eine heftige öffentliche Diskussion. Fast alle Hochschullehrer für Pädagogik schlossen sich diesem Protest an. Die Solidarität galt aber nicht nur

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der Person Kriecks, sondern vor allem den jungen pädagogischen Akademien im ganzen, die die alten Lehrerbildungsanstalten in Preußen abgelöst hatten. Aus der Erfahrung mit diesen ehemaligen Anstalten reagierte man sehr sensibel auf obrigkeitsstaatliche Eingriffe. Es ist nicht ganz geklärt, ob Krieck mit diesem Ausruf die Hitler-Partei gemeint hat. Gerhard Müller beurteilt in seinem Buch über Krieck den Vorfall so:

"Die kurze Rede war auf die Situation der Lehramtskandidaten eingestimmt, denen als Folge der Wirtschaftskrise mit großer Sicherheit eine ihrer Verheißung adäquate Berufslaufbahn nach Abschluß des Studiums versperrt war. Dieser bedrückenden Situation Rechnung tragend sollte die Rede Optimismus, Hoffnung auf bessere Zeiten und Mut zum Durchhalten wecken. Politisch gesehen war der Schlußruf eine Naivität, subjektiv wird man Krieck glauben dürfen, daß er nicht für das Dritte Reich der nationalsozialistischen Partei war, sondern das alte Symbolwort ... als Ausdruck des Namens auf eine bessere Zukunft in die gesellige Runde warf" (88).

"Nationalpolitische Erziehung"

Krieck tritt am 1. Januar 1932 in den nationalsozialistischen Lehrerbund ein, womit die Mitgliedschaft in der NSDAP automatisch verbunden war. Zu diesem Zeitpunkt kannte er von den Naziführern nur Alfred Rosenberg - von dem er wenig hielt - und den Volksschullehrer Hans Schemm, den Führer des NS-Lehrerbundes. Schemm, der vor allem unter Junglehrern Ansehen genoß, propagierte damals aus persönlicher Überzeugung, daß der Nationalsozialismus die Forderungen der Lehrerbewegung nach einheitlicher Schule und einheitlichem Lehrerstand erfüllen werde. Für Kriecks Freunde kam der Eintritt in die NSDAP überraschend, denn bis dahin zeigte er kaum Sympathien für die Hitlerbewegung. Der sozialistische Pädagoge Paul Oestreich meinte, Krieck sei historisch derart gebildet, daß er daran krank geworden sei. Es ist müßig, über persönliche Motive zu spekulieren. Vielleicht hat die Verärgerung über seine Strafversetzung eine Rolle gespielt, die nicht die einzige persönliche Diskriminierung war, die er in der Weimarer Zeit erleiden mußte.

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Deutlich erkennbar ist aber die Rolle, die er für sich im Rahmen der Nazibewegung sah.

Bis zur Machtergreifung war diese Bewegung ideologisch und vor allem in Hinblick auf ihre kulturellen Ziele wenig festgelegt. Sie hatte kaum kulturell bedeutsame Persönlichkeiten in ihren Reihen vorzuweisen. In dieser Lücke sah Krieck offenbar eine Chance, seine Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Dabei setzt er auf die Dynamik der Bewegung, von der er annahm, daß sie auch nach der Machtergreifung fortwirken und das ganze gesellschaftliche und kulturelle Leben revolutionieren werde. Er sah die Nazis nicht als eine partikulare politische Partei, sondern als die Führer einer völkisch-revolutionären Bewegung, deren Ende offen schien und die insofern der Gestaltung durch eine neue kulturelle Elite bedürfe.

So ganz abwegig schien diese Perspektive damals nicht zu sein, denn die NS-Bewegung hatte einen linken, sozialrevolutionären Flügel, dem z.B. der schon erwähnte NS-Lehrerbund um Hans Schemm, die SA und Teile der HJ zuzurechnen waren, der auf eine umfassende Revolution setzte, die nach der Machtergreifung erst richtig beginnen sollte.
Angesichts der kulturellen Dürftigkeit der NS-Bewegung wurde Kriecks Übertritt freudig begrüßt, schließlich galt er als bedeutender Wissenschaftler. Er beteiligte sich an Wahlveranstaltungen für die Juli-Wahlen 1932 und nannte diese Tätigkeit später die schönste Zeit seines Lebens.

Im selben Jahr veröffentlichte er das Buch "Nationalpolitische Erziehung", das für die nächsten Jahre zu einer politsich-pädagogischen Bibel für nationalsozialistisch orientierte Studenten und Lehrer werden sollte. Krieck schien Recht zu behalten mit seiner Vermutung, daß die Bewegung sich für seine Ideen benutzen ließe. Immerhin erreichten seine Schriften hohe Auflagen. Bis 1941 wurden etwa 300.000 Exemplare - ohne Übersetzungen - verkauft. Die "Nationalpolitische Erziehung" brachte es auf 80.000 verkaufte Exemplare.

Dieses Buch beginnt mit dem folgenreichen Satz: "Das Zeitalter der 'reinen Vernunft', der 'voraussetzungslosen' und ,wertfreien' Wissenschaft ist beendet". (1)

Sie sei eine Fiktion gewesen, weil kein Wissenschaftler davon absehen könne, daß er seinen Gegenstand, sein For-

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schungsthema immer von seiner gegenwärtigen Befindlichkeit her in Anspruch nehme und deute. Angesichts der Notlage des deutschen Volkes müsse die Wissenschaft "politisch" werden, d.h. sich für die Behebung dieser Not und für den Entwurf produktiver Perspektiven einsetzen.

"Die in den Grund der Existenz vordringende Not des deutschen Volkes ist die Gegebenheit, die Überwindung dieser Not in neuen Lebensordnungen und einem neuen deutschen Menschentum die Gesamtaufgabe, an der Politik, Wirtschaftsgestaltung, Wissenschaft, Kultur und Erziehung gemeinsam Anteil haben" (8).

Der politische Träger für diese Perspektive sei die nationalsozialistische Bewegung.

"Der symbolische Name des Kommenden heißt: Das Dritte Reich. Sein Sieg schreitet fort im Maße, als der Gegner auf allen Gebieten überwunden und das revolutionäre Prinzip in Bewußtsein, Haltung und Lebensordnung durchdrungen ist. Dieser Gegner aber verteidigt seine Positionen zäh auf allen Lebensgebieten: als Liberalismus in Wirtschaft, Staat und Recht, als Individualismus in der Kultur, als Mechanismus in den Lebensordnungen, als reiner Rationalismus in der Wissenschaft, als einzelmenschlicher Autonomismus in Haltung und Erziehung, als Humanismus in der Bildung, als Pazifismus im Zusammensein der Völker, als Kollektivismus, d.h. als die summenhafte, massenhafte mechanisch zusammengefügte und zusammengehaltene Einzelmenschlichkeit im Marxismus, dem Sohn und Erben des Liberalismus. Dem Dritten Reich aber ist zugeordnet das organische Weltbild, der organische Staat, die organische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die das Gesetz des Ganzen über dem Gesetz des Teils und Gliedes errichten, zugleich aber die Eigengesetzlichkeit des Gliedes in seiner Teilhabe am Ganzen anerkennen und zur Entfaltung kommen lassen: Die Gegenseitigkeit und Wechselwirkung zwischen Glied und lebendigem Ganzen, die dazu führt, jedes Glied seiner Vollendung entgegenzuführen im Gerade, als es das Ganze in sich aufnehmen und zur Darstellung bringen kann - in seiner Besonderheit, an seinem Ort und nach seinem Eigengesetz. Darum: nicht allen das Gleiche, sondern jedem das Seine" (9).

Im Unterschied zur "Philosophie der Erziehung" von 1922 war dies nun unverkennbar eine politische Kampfschrift.

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Und das Zitat benennt auch die politischen Gegner: Individualismus, Liberalismus, Kollektivismus, Pazifismus - Stichworte, mit denen Krieck die parlamentarische Weimarer Demokratie und die ihr zugrunde liegende Gesellschaftsverfassung nicht mehr kritisiert, sondern verwirft. Seine Hoffnung war, daß die NS-Bewegung die Gesellschaft so ordnen werde, daß das Volk wieder als organische Ganzheit in Erscheinung treten könne, in sich durchaus differenziert, aber so, daß der Einzelne sich als "Glied" verstehen, darin einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz finden könne. Es war also ein Programm zur Überwindung der "Entfremdung", deren Ursache Krieck in der "liberalistischen" Gesellschaftsordnung sah, die den einzelnen Menschen aus seinen gemeinschaftlichen Bezügen gerissen, ihn als Teil einer rein numerischen Masse definiert habe: als absolutes Individuum.

Mit dem weltanschaulichen Widerwillen gegen Liberalismus und Individualismus ist ein Ton angeschlagen, den wir auch von Baeumler und Schirach hören werden und der einen Kern der gesellschaftskritischen Ausgangsposition des Nationalsozialismus ausmacht, wie wir es schon in Hitlers "Mein Kampf' gefunden haben. Primär geht es gar nicht um bestimmte politische Ziele, es geht um die Stellung des Menschen in der Gesellschaft; er soll aus der isolierten und einsamen Subjektivität, in die ihn die liberalistische Parteiendemokratie gezwungen habe, befreit und wieder in die natürlichen Gemeinschaften, deren höchste das Volk ist, heimgeholt werden. Von daher erklären sich die ideologischen Feindpositionen fast zwangsläufig: Das humanistische Bildungsideal? Ein Teil des kulturellen Individualismus. Die demokratisch gewählten Parteien? Eine mechanistische Struktur, um partikulare Ziele auf Kosten des Ganzen durchzusetzen.

"Das Weimarer zwischenstaatliche System hat mit seinen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten die Auflösung geschichtlich gewachsener Formen und Bindungen, die das kapitalistische Zeitalter kennzeichnen, auf Rechtsform und Scheinorganisation gebracht. Dem Staat gehört fortan nur die Summe der einzelnen mündigen Staatsbürger an: er kennt als Volk bloß die Masse der Einzelnen, nicht aber Sozialgebilde. Den Einzelnen ist ein möglichst weiter Raum willkürlicher Bewegung zugebilligt, und auf dieser Freiheit ge-

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nannten Willkür und Auflösung sollen sich Familie, Staat, Partei, Wirtschaftsgesellschaft, Wirtschaftsordnung und Kirche gründen: alles ist Zusammenschluß nach subjektivem Wollen, individuellen Zwecken und Bedürfnissen, nach Belieben, Neigung und Wahl" (60).

Von daher seien alle kulturellen Mißstände zu erklären, z.B. auch die "Entartung der Familie" (59).

"Das Wahlrecht der Frauen erkennt die Familie nicht mehr als Einheit und Zelle politischer Willensbildung an, sondern nur als Sammlung autonomer Einzelmenschen, die Jugend ist in ihren Entscheidungen, vorweg der religiös-kirchlichen, schon denkbar früh emanzipiert" (61). Besserung sei nur zu erhoffen, wenn die Familie im Volksganzen wieder ihre "natürliche" Funktion erhalte.

"Die Urdreiheit von Vater, Mutter und Kind, bekanntlich das Urbild göttlicher Dreieinigkeit, ist von der Familie in Form gefaßt, und in dieser Ordnung fällt dem Mann und der Frau je eine volle Hälfte des Daseins als besondere Lebensphäre und Herrschaftszone zu. Das hat der Feminismus der modernen Kultur so lange verwischt, bis sie selbst, innerlich ausgehöhlt, verfiel. Das Bestreben von Mannweibern, in die Sphäre der Männer erobernd einzudringen, wäre aber selbst gegenüber einem Geschlecht von Weibmännern nicht gelungen - und es hat ja auch nur zu Zerrbildern geführt -, wenn nicht der Kapitalismus den Menschen nur noch als Mittel seines Erwerbsstrebens angesehen, Weib wie Mann als bloße Nummern in den Betrieb der öffentlichen Wirtschaft hineingerissen hätte, indem er die Naturgegensätze einfach übersprang" (63).

Die Frau gehöre in die Familie.

"Die Frau ist aus der öffentlichen Lebenssphäre in Privatkreis und Familie zu führen, wo sie die geborene Herrscherin ist, und wo ihr auch keinerlei geistige Entfaltung verwehrt sein soll. Im öffentlichen Leben hat sie nichts verloren und bleibt subaltern: die politische Amazone, das Symbol femininer Zeitalter, ist Karikatur auf Mannheit und Weibheit gleichzeitig" (63).

Auch mit der Reformpädagogik geht er hart ins Gericht, deren Individualismus kritisierend:

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"Das Gesetz dieses Subjektivismus lautet: Die zufälligen und privaten Bedürfnisse der einzelnen Schüler zu erfüllen, diesen Bedürfnissen nachzugeben und sie frei ausleben zu lassen. Vorausgesetzt ist dabei, daß diese Bedürfnisse die inneren Anlagen und Vorbestimmungen des Schülers auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zum Ausdruck bringen, und daß der Schüler zur Reife seiner Anlagen, zu seiner humanen Bestimmung komme, wenn Schule und Lehrer einfach diesen Bedürfnissen nachgeben" (134).

Dabei werde unterstellt, daß die Menschheit eine Summe von Einzelmenschen sei. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese pädagogische Grundhaltung sei die Erfindung des "freien Unterrichtsgesprächs".

"Das freie Unterrichtsgespräch wird gekennzeichnet mit dem stets wiederkehrenden Wort des Schülers: 'ich meine'. Nach dem Vorbild des Lehrers pflanzt der Schüler großspurig sein Ich und sein zufälliges Meinen, das in der nächsten Stunde ganz anders sein kann, vor dem Werk auf und sieht seine Aufgabe nicht in Hingebung, nicht im Aneignen und Durchdringen eines Notwendigen, nicht im wirklichen Erarbeiten eines autoritativen Gehaltes, sondern in einem höchst privaten Richtertum über alles und jedes. Das kleine Ich könnte vielleicht verloren gehen, wenn es sich nicht von vornherein vor jedem Problem, jedem Gut wie ein Stehaufmännchen aufrichtet und gegen jede objektive Forderung zur Wehr setzt. Das Ergebnis nennt sich dann: Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit entfaltet der Mensch aber seine Anlagen nur in Hingebung an ein Höheres, im Einfügen unter eine Autorität, in Arbeit, Kampf und Bewährung vor den vorgefundenen Wirklichkeiten, im Wachsen an der schicksalhaft auferlegten Aufgabe" (135 f.).

Der Erfolg des Buches beruhte wohl einerseits darauf, daß es die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Weimarer Republik aufgriff und politisch-philosophisch zu erklären versuchte, andererseits aber auch Hoffnung darauf anbot, daß mit Hilfe der NS-Volksbewegung die Lage sich grundlegend verbessern werde. Ein Programm dafür hatte Krieck allerdings nicht anzubieten, das sollte sich vielmehr durch die weitere revolutionäre Umwälzung erst ergeben. Die Antwort auf alle Probleme sollte die national-revolutionäre Bewegung selbst finden, und er wollte dabei an führender Stelle

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 mitwirken. Sein Politisches Denkmuster war, wie schon die "Philosophie der Erziehung" gezeigt hatte, organologisch. Er hielt also das deutsche Volk wie jede seiner Gemeinschaften für einen überindividuellen, lebenden Organismus, der nur dann "gesund" sein könne, wenn "das Ganze" mit seinen Gliedern in produktiver Harmonie lebte. Nun aber sei der Organismus des Volkes "krank" geworden. Die Parteien der Weimarer Republik repräsentierten nicht das Ganze, sondern nur partikulare Interessen; die profitorientierte Wirtschaftsgesinnung und der Individualismus zerstörten die Gemeinschaften; alle diese Mängel sollte die völkische Revolution überwinden.

In diesem Buch vollzog Krieck eine folgenreiche Wendung.

Hatte er bisher von der Erziehungswissenschaft verlangt, sie solle die Erziehungswirkungen der Gemeinschaften auf die Mitglieder beschreiben, so verkündete er nun die erzieherische Bedeutung der nationalsozialistischen Massenbewegung einschließlich ihrer sogenannten "Formationen" wie HJ, SA, SS und der Schulungslager. Besonders beeindruckt war Krieck von der Fähigkeit der Nazis, die Massen in Bewegung zu bringen.

"Als Massenbewegung setzt (der Nationalsozialismus) voraus die Kunst der Massenerregung: Masse muß flüssig werden, wenn sie gestaltbar sein soll. Die von Hitler meisterhaft geübte Kunst der Massenerhebung hat nicht etwa nur die Agitationen und Parteiführungstechnik des Parteienstaates in seine letzten Folgerungen gesteigert, sondern wesentlich neue Elemente und Wege der Massenerregung und Massenführung gefunden. Es ist Hitler gelungen, auf eine unterirdische Ader des völkisches Lebens vorzustoßen und den springenden Quell in ein Bett zu fassen ... . Zum Beispiel 'diskutiert' und 'argumentiert' der Nationalsozialist nicht mit dem Marxisten über Marxismus, sondern 'widerlegt' diesen damit, daß er ihm den Anhang wegnimmt durch neue Methoden der Erregung und Bewegung" (36 f.).

Und die pädagogische Nutzanwendung lautet nun:
"Der Nationalsozialismus hat also die aus den Instinkten seiner Führer in Anwendung gebrachten Elementarmittel und Methoden der Massenerregung und Massenbewegung auszubauen zu einer allgemeinen Zuchtform, einem Übungssystem, das im ganzen Volk und in den einzelnen Volksgenos-

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sen die Rassewerte weckt, die Rasseeigenschaften und das Rassebewußtsein zum Höchstmaß entfaltet, womit nicht nur die einzelnen Volksgenossen geformt, sondern auch die Volkseinheit ins Bewußtsein gehoben, also die gemeinschaftlichen Querverbindungen gefestigt werden: aus Masse wird Volk, aus Volk rassebewußte Nation mit geschlossener Macht, mit einheitlicher politischer Haltung und Willensrichtung" (11).

Das Führerprinzip erscheint ihm als Garantie dafür, daß die durch den völkischen Aufbruch entstehenden unvermeidlichen Spannungen durch Hitler so weit gebändigt werden können, daß die Bewegung nicht auseinander bricht mit der Folge, daß die innere Zerrissenheit der Weimarer Zeit sich nur wiederholen würde.

Im Jahre 1933 versuchte Krieck, sein Erziehungskonzept zu präzisieren in der kleinen Schrift "Nationalsozialistische Erziehung, begründet aus der Philosophie der Erziehung".

Im Unterschied zur schwer lesbaren "Philosophie der Erziehung" und der stellenweise agitatorischen "Nationalpolitischen Erziehung" ist diese knappe Arbeit geschrieben wie ein Studienbuch. Offensichtlich ist Krieck hier bemüht, wieder zur wissenschaftlichen Sachlichkeit zurückzufinden, worauf schon der Untertitel hinweist, der an die Arbeit von 1922 erinnert, die ihn berühmt gemacht hatte.

Bemerkenswert ist u.a., daß die "Formationen" der "Bewegung" hier nicht besonders herausgehoben werden. Vielmehr betont Krieck noch einmal die sozialstrukturelle Differenzierung der Typen-Bildung. Der Einzelne wachse auf und lebe im Rahmen unterschiedlicher Teilbereiche des völkischen Gesamtlebens: Familie, Berufsstand, Religionsgemeinschaft usw. Und insofern die sozialen Gebilde und Organisationen bestimmte Teilaufgaben am Volksganzen erfüllen, haben sie auch das Recht, in diesem Sinne ihre Mitglieder zu erziehen. Auch den Religionsgemeinschaften wird dieses Recht ausdrücklich zugebilligt.

"Die erzieherischen Einflüsse, die ein Mensch im Verlauf seines Werdens erfährt, sind recht mannigfaltig: er muß zum Staatsbürger, zum Glaubensgenossen, zum Berufsmenschen erzogen werden; die religiöse, die wirtschaftliche, die staatsbürgerliche und politische, die sittliche und rechtliche Seite

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seines Wesens und seiner Anlagen muß entfaltet werden. Es gibt jedoch keine Instanz und keine Gemeinschaftsart, die das alles auf einmal leisten könnte; es gibt vor allem kein Sozialgebilde, das die erzieherische Funktion zum alleinigen Inhalt haben könnte, da die erzieherische Funktion unlöslich mit allen anderen Lebensfunktionen und Sozialgebilden verflochten ist" (14).

Nach meinem Eindruck bringt diese Schrift Kriecks pädagogische Konzeption am klarsten zum Ausdruck, und möglicherweise wäre ihm eine bis heute brauchbare sozialphilosophische Theorie der Erziehung gelungen, wenn er in diesem Rahmen weiter gearbeitet hätte. Aber sein Interesse ging über Erziehungsfragen weit hinaus, galt der Formulierung einer umfassenden völkischen Philosophie, und damit scheiterte er politisch wie wissenschaftlich.

"Völkisch-politische Anthropologie"

Nach der Machtergreifung wurde Krieck Rektor der Universität Frankfurt, 1934 erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg und wurde dort ebenfalls Rektor - ohne einen einzigen Tag an einer Universität studiert zu haben und ohne überhaupt das Abitur zu besitzen.

Aber schon 1934, nach der sogenannten Röhm-Affaire, die faktisch zur Zerschlagung des linken, sozialrevolutionären Flügels führte, begann sein Einfluß zu schwinden. 1936 erschien der erste Band seiner dreibändigen "Völkisch-politischen Anthropologie". Diese Arbeit verstand er als Grundlage für eine nationalsozialistische Wissenschaftstheorie, die die Einzelwissenschaften sinnvoll integrieren sollte unter der leitenden Fragestellung, wie die Menschen tatsächlich in ihren Gemeinschaften leben und sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen.

Krieck griff damit ein Problem auf, das viele Wissenschaftler damals beschäftigte und das im Grunde bis heute noch aktuell ist. Die Universität hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem unter der Expansion der Naturwissenschaften ausdifferenziert in zahlreiche Einzeldisziplinen, die unverbunden nebeneinander bestanden und keinen gemeinsamen Sinn mehr ergaben. Der Bildungssinn der Universität,

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wie er etwa Wilhelm von Humboldt vorgeschwebt hatte, war zerbrochen. Nach diesem Konzept sollte jedes Studienfach durch die Ideale der Humanität mit jedem anderen dadurch verbunden bleiben, daß die Philosophie bzw. überhaupt die Geisteswissenschaften als sinnintegrierende Instanzen fungierten. Aber inzwischen war auch die Philosophie zu einer bloßen Teildisziplin wie alle anderen geworden. Krieck versuchte nun, mit seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue, alle Einzelwissenschaften integrierende Philosophie zu präsentieren und machte diesen Anspruch auch im Vorwort geltend.

"Dieses Buch erhebt den Anspruch, die neue, durch die nationalsozialistische Weltanschauung gegebene Wesensmitte für sämtliche Wissenschaften und für alle Hochschulen und Fakultäten zu umreißen. Es könnten alle einzelnen Behauptungen des Buches abgelehnt werden, und dieser Anspruch bestünde dennoch zu recht. Einst besaßen die Wissenschaften und Universitäten eine gemeinsame, verpflichtende Grundlage in der Humanitätsidee. Mit dem Verfall dieser tragenden Idee setzt jener Prozeß der Auflösung ein, der durch beständige Verzweigung der Wissenschaften und Verselbständigung der Zweige fortschritt, bis die Hochschule nur mehr ein organisatorischer Rahmen für einen formlosen Haufen unzusammenhängender Einzelheiten war ... Durch die nationalsozialistische Weltanschauung, die berufen ist, das deutsche Volk einer neuen Erfüllung entgegenzuführen, ist eine neue bindende Grundlage für alle Wissenschaften, Fakultäten und Hochschulen gegeben. Aus ihr entsteht ein neues Bild von Welt und Mensch, das anstelle der Humanitätsidee in den Mittelpunkt tritt ... . Das vorliegende Buch erhebt den Anspruch, diese neue Wesensmitte zu umreißen, ihren Ort und ihre Art zu kennzeichnen: es ringt um ein Bild vom deutschen Menschen, das in die Zukunft führt (Bd I, VI). Aber damit rief er seine ideologischen Konkurrenten auf den Plan. Alfred Rosenberg, dessen "Amt Rosenberg" seit 1934 zuständig für die weltanschauliche Überwachung der Partei war, hatte mit seinem Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" selbst eine ideologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt, sie aber als nicht parteioffiziell erklären lassen müssen. Gleiches verlangte er nun auch von Krieck. Der fühlte sich zu Recht mißverstanden, weil er ja lediglich eine Wissenschaftstheorie und kein parteioffizielles

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Werk vorlegen wollte, und bot die Rückgabe seiner Parteiämter an.

Viel bedeutsamer war jedoch eine andere Polemik, weil sie an die Substanz der Rassenlehre ging.

Krieck war zwar Antisemit, aber kein Rassist. Über "Die Judenfrage" schrieb er 1933 einen Artikel in seiner Zeitschrift "Volk im Werden", in dem er die religiöse und kulturelle Eigenart der Juden als Volk respektierte, ihnen in Deutschland einen Minderheitenstatus mit eigenen Schulen und Hochschulen einräumen wollte, obwohl ihm die zionistische Lösung - ein eigener Judenstaat, wie er dann später in Gestalt des Staates Israel auch realisiert wurde - am liebsten gewesen wäre. Zugleich warf er den deutschen Juden vor, mit ihrem angeblichen Anti-Germanismus und Internationalismus die deutsche Volkwerdung zu behindern bzw. derartige Bestrebungen zu zersetzen. Zudem hätten die Juden im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil zu viele Machtpositionen inne. Diese Argumentation lief auf ein "Deutschland den Deutschen!" hinaus, aber nicht im Sinne der Staatsbürgerschaft - die Juden in Deutschland waren ja durchweg deutsche Staatsbürger mit allen damit zusammenhängenden Rechten und Pflichten -, sondern im Hinblick auf ihre völkische Zugehörigkeit. Zwei Jahre später werden die "Nürnberger Gesetze" diese Ungleichheit der Staatsbürgerschaft rechtlich verankern, indem zwischen "Staatsangehörigen" und "Reichsbürgern" unterschieden wird. "Reichsbürger" konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes" sein. An Kriecks Antisemitismus ist also nichts zu verharmlosen, aber mit Hitlers Rassismus hatte er wenig zu tun.

Was Krieck über "Rasse" schrieb, beruhte nicht auf biologistischer Determiniertheit. Rasse war für ihn so etwas wie ein allgemeiner biologischer Urgrund, der in den Gemeinschaften zur Entfaltung kommt. Schon in seiner "Philosophie der Erziehung" hatte er den Sozialdarwinismus attackiert:

"Nun trägt der Darwinismus mit seinem 'Kampf ums Dasein' und 'Überleben der Geeignetsten' sichtbar die Praktiken des brutalsten Kapitalismus in die Natur hinein, und seine menschenzüchterischen Adepten übertragen sie von da wieder ins geschichtliche Leben". Durch eine solche Auslese würden nicht die Besten übrigbleiben, sondern gerade die

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anderen: "Was aber als 'survival of the fittest' übrigbliebe, das ist zu sehen an den triumphierenden Schiebern, Börsianern, Schlotbaronen, Parteiagitatoren, Advokaten und Journalisten. Neben dieser Aristokratie des Kapitalismus . . . bleibt die entselbsteste und proletarisierte Masse als Objekt ihrer Herrschaft" (121).

Bei dieser Grundposition blieb Krieck auch jetzt, und seine "Völkisch-politische Anthropologie" setzte sich deutlich ab von der sich nun breitmachenden biologistischen Rassentheorie. Grundlage seiner Anthropologie war dagegen eine "universale Biologie", in die er sowohl die Naturwissenschaften wie die Geistes- und Sozialwissenschaften einbinden wollte. Sein Hauptgegner wurde Wilhelm Hartnacke, der schon 1930 ein Buch mit dem Titel "Naturgrenzen geistiger Bildung" veröffentlicht hatte. Hartnacke, der nach 1933 eine Zeit lang sächsischer Kultusminister war, übertrug in diesem Buch biologische Vorstellungen auf das politische und soziale Leben. In bildungspolitischer Hinsicht führte dies zur Konsequenz, daß die Tüchtigen und Begabten sich ohnehin durchsetzen, es also keine Veranlassung gebe, in diesen Naturprozeß etwa durch Schulreformen einzugreifen. Schon 1935, also ein Jahr vor Erscheinen der "Völkisch-politischen Anthropologie", hatte Krieck in seiner Zeitschrift "Volk im Werden" diese Konzeption scharf angegriffen:

"Das Besitzbürgertum nimmt hier wieder seinen Monopolanspruch auf Bildung, Hochschule und Wissenschaft auf und begründet diesen Anspruch mit seinem Erbgut'... . Das ist eine sehr einfache und einleuchtende Lösung des Problems der Rasse, des Aufstiegs, der Auslese. Ihr Kernpunkt sitzt im Geldbeutel, und ihre Lösung heißt: haltet die Unteren darnieder. Der Knecht soll Knecht bleiben. Und das wäre Nationalsozialismus?" (Zit. n. Müller, 117).

Nun kam es zu einer scharfen Kontroverse bis hin zur Verleumdungsklage zwischen Hartnacke und Krieck. Für Krieck ergriffen öffentlich Partei der NS-Dozentenbund, der NS-Lehrerbund und der NS-Studentenbund. Hinter Hartnacke stellten sich jene Naturwissenschaftler, die - wie Krieck es formuliert hatte - die Gesetze des Kapitalismus erst in die Natur hineindeuteten, um sie dann auf die Gesellschaft zu übertragen: die biologistischen Rassisten. Diese Interpretation vertritt jedenfalls Gerhard Müller, wenn er schreibt:

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"Tatsächlich war in dieser von Krieck mit Vehemenz betriebenen parteiinternen Weltanschauungsdiskussion die, wie wir heute wissen, zentrale wissenschaftliche Position der politischen Biologie im Dritten Reich angegriffen, die einer durch Erbbiologen, Rassetheoretiker und Rassehygieniker legitimierten inhumanen Praxis mit den bekannten Folgen der Ausmerze rassisch oder erbbiologisch Minderwertiger das Wort redete" (137).

Auf Vorschlag des rassepolitischen Amtes der Partei verbot Reinhard Heydrich mit der Autorität des Sicherheitsdienstes der SS im November 1937 die öffentliche Diskussion und die Presseberichterstattung über diesen Fall, und zwar "im Interesse der Staatssicherheit und der Geschlossenheit der Bewegung". Ob Heydrich damit auch in der Sache Partei ergreifen wollte, ist nicht geklärt. Für Krieck bedeutete dies das endgültige Scheitern seiner früheren Hoffnung, die NS-Bewegung als Vehikel seiner eigenen politisch-pädagogischen Vorstellungen benutzen zu können. Er tritt 1938 aus der SS aus und wurde, wie es heißt, "ehrenvoll verabschiedet".

Krieck war 1934 in die SS eingetreten und als Gutachter für den "Sektor Wissenschaft" im "Sicherheitsdienst des Reichsführers SS" (SD - RFSS, genannt SD) tätig. Mit diesem Amt konnte er durch seine Gutachten Einfluß nehmen z.B. auf Berufungen. Einzelheiten dieser Tätigkeit sind bisher kaum bekannt.

Der SD war damals ein Nachrichtendienst ohne exekutive Befugnisse. Er hatte zwei Aufgaben: Zum einen sollte er wie eine Art von demoskopischem Institut durch Analysen des Volkswillens Planungsunterlagen für politische Entscheidungen erarbeiten. Zum anderen sollte "Gegnerforschung" betrieben werden, durchaus auch mit dem Ziel, auf Mißstände in der Partei hinzuweisen. Daran aber waren die zuständigen Stellen nicht sonderlich interessiert. Krieck hatte engen Kontakt mit den Führern des NS-Studentenbundes in Heidelberg, die nach der "Röhm-Affäre" von der SA zur SS übergewechselt waren. In der Tätigkeit im Rahmen des SD sah Krieck offenbar eine Chance, mit jungen, sozialrevolutionär orientierten Männern seine schon vor 1933 entwickelte Idee der "Elitenzirkulation" zu realisieren. Er ging davon aus, daß seine Vorstellungen von völkischer Erneuerung mit den alten bürgerlichen Eliten in Wissenschaft und

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Politik nicht zu verwirklichen seien. In den jungen intellektuellen Schutzmännern, die auch bei den wissenschaftlichen Kontroversen zu ihm hielten, sah er die Chance eines Wechsels, zumal die SS sich ja auch selbst für einen Elite-Orden hielt. Verabschiedet wurde er 1938 im Rang eines Obersturmbannführers.

Nach dem Machtwort von Heydrich stellt er auch sein Amt als Rektor der Universität Heidelberg zur Verfügung. Aller öffentlicher Ämter ledig wendet er sich nun wieder seiner wissenschaftlichen Arbeit zu.

Aber sein Austritt aus der SS hatte ihn nun auch schutzlos gemacht, so daß andere Parteidienststellen, vor allem das Propagandaministerium, seine Arbeit mehr und mehr behindern konnten. So wurde ihm in seiner Zeitschrift "Volk im Werden" die Berichterstattung über naturwissenschaftliche und kulturpolitische Fragen verboten. Im Jahre 1937, als er noch für den SD tätig war, schrieb er in "Volk im Werden" über die Anwendung des Führerprinzips auf die Universität, das er 1933 grundsätzlich begrüßt hatte:

"Die Übertragung des Führerprinzips auf die Rektoren wurde so aufgefaßt, als könne nun von staatlicher Sphäre her irgendein geeignet erscheinender Mann, ein guter Parteigenosse, oder wenn ein solcher gerade nicht greifbar war, ein der Bewegung nahestehender Professor herausgegriffen werden, mit einer Art von Diktaturgewalt und höherer Autorität von oben ausgestattet und damit zum Führer ernannt werden" (Zit. n. Müller, 416). Es habe Mißgriff auf Mißgriff gegeben, weil die parteipolitische Gesinnung höher bewertet worden sei als die fachliche Qualifikation.

In einer Rede, aus der das Zitat am Beginn des Hitler-Kapitels stammt, betonte Hitler 1938 noch einmal die erzieherische Bedeutung der NS-Bewegung. Krieck nahm dies zum Anlaß, die zahlreichen reaktionären kleinen Führer zu kritisieren, "die ihre gewonnene Führungsstellung für persönliche Zwecke ... und größenwahnsinnige Willkür mißbrauchen. Die Revolution hatte nicht den Sinn, einen Haufen von Interessenten und Kriegsgewinnlern durch einen Haufen derselben Gattung zu ersetzen" (Zu. n. Müller, 425).

Unterstützung fand er jedoch immer noch, vor allem beim Reichswissenschaftsministerium, das 1939 als Geburtstags-

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gabe für Hitler einen Band mit Kurzreferaten über den Forschungsstand der Einzelwissenschaften herausgab. Über die Philosophie enthielt der Band zwei Beiträge, einen von Alfred Baeumler und einen von Krieck. In seinem Beitrag beschrieb Krieck die Lage der Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus sehr kritisch - nicht ohne seine eigene Leistung und die seiner Schüler gebührend hervorzuheben. Das Amt Rosenberg, in dem Baeumler für den Bereich Wissenschaft tätig war, wollte diesen Beitrag verhindern, fand aber weder beim Wissenschaftsministerium noch bei Hitlers Parteikanzlei Gehör.

Zum 60. Geburtstag im Jahre 1942 richteten die Badische Gauleitung und der NS-Lehrerbund Krieck eine öffentliche Feier aus, wie sie in dieser Größenordnung für einen Gelehrten durchaus nicht üblich war. Gegen starken Widerstand vor allem wieder vom Amt Rosenberg wurde ihm auch die Goethe-Medaille verliehen, die zweithöchste von Hitler verliehene wissenschaftliche Auszeichnung - "in Würdigung seiner Verdienste für die deutsche Wissenschaft", wie es offiziell hieß. Zu dieser Zeit unterlag er bereits seit zwei Jahren der Vorzensur des Propagandaministeriums.

Der Fall Krieck zeigt besonders deutlich den notorischen Kompetenzwirrwarr im Dritten Reich am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes. Die Zuständigkeit des Wissenschaftsministeriums wurde ständig überlagert durch rivalisierende Parteidienststellen. Noch einmal erhält Krieck vom Wissenschaftsministerium eine Auszeichnung, das Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse. Er mußte aber erkennen, daß die Hoffnung, die er in die völkische Bewegung des Nationalsozialismus gesetzt hatte, Illusion war. Das Dritte Reich brachte keinen Neuanfang, und diejenigen, die 1933 an die Macht kamen, dachten nicht daran, diese Macht durch das Weitertreiben der völkischen Revolution wieder aufs Spiel zu setzen. Sie waren hinreichend damit beschäftigt, ihre Machtsphäre in Rivalität zueinander zu vergrößern oder zumindest zu verteidigen. Da blieb kein Raum für geistige Besinnung, wie sie Krieck immer wieder anstrebte.

Er wurde 1945 von den Amerikanern entlassen und starb 1947 in einem amerikanischen Internierungslager. Einige Jahre später wurde er als Mitläufer entnazifiziert, was wohl so zu verstehen ist, daß ihm persönlich keine Unrechtstaten

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nachgewiesen werden konnten. Leider wissen wir bisher nicht, ob und wie er in der Zeit seiner Internierung sich mit der NS-Zeit und mit seiner Rolle in ihr auseinandergesetzt hat.

Politisch-pädagogisches Resümee: Die völkische Sackgasse

Krieck hat wie ein Besessener geschrieben, als habe er damit die Hoffnung verbunden, umso besser verstanden zu werden, denn die Thematik war im Grunde immer dieselbe, und irgendein Fortschritt - sei es im thematischen Sinne, sei es im Hinblick auf größere Präzision - ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil läßt sich seine Entwicklung von der "Philosophie der Erziehung" bis zur "Völkisch-politischen Anthropologie" eher als Rückschritt verstehen. Gleichwohl hat er pädagogische Themen aufgegriffen, die in der Luft lagen, und die uns teilweise heute noch beschäftigen. Im einzelnen sollen folgende Aspekte noch einmal kritisch hervorgehoben werden.

Revolutionärer Dynamismus

Üblicherweise wird politisches Handeln mit Zielen gerechtfertigt, die es realisieren soll, so daß es an dem Maße, in dem dies gelungen ist, auch beurteilt werden kann. Kriecks politisches Engagement war nicht von dieser Art. Er kämpfte für die völkische Revolution als solche in der Hoffnung, daß, wenn diese lange genug fortschreite, schon etwas Vernünftiges dabei herauskommen werde. Diese Hoffnung gründete sich darauf, daß das Volk ja ein lebender Organismus sei, der schon wieder gesund werde, wenn man politisch zerschlage, was ihn krank gemacht habe. Diese Vorstellung war deshalb problematisch, weil sie kein Kriterium des politischen Handelns abgab, weder moralisch noch sachlich-zielorientiert. Die Folge war das, was das Dritte Reich dann darstellte: ein nihilistischer, an keinen Werten und gemeinsamen Zielen orientierter Machtkampf aller gegen alle, dessen Regeln der unpolitische Krieck nicht beherrschte.

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Dieser inhaltsleere politische Dynamismus gab den Nazis die Möglichkeit, unter reinen Machtgesichtspunkten zu agieren, ohne sich am Maßstab versprochener Ziele verantworten zu müssen. Dies wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn die NSDAP eine Partei unter anderen geblieben wäre, die auch nach 1933 sich im Rahmen eines einigermaßen ausbalancierten Parteien- und damit auch Machtpluralismus hätte bewegen müssen. Da die Macht der Hitlerbewegung sehr schnell eine totale war, mußte sie sich auch nicht mehr öffentlich verantworten. Was immer sich Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution erhofft haben mochte, jede Realität, die nun entstand, war nicht das Ergebnis einer "organischen" Selbsterneuerung des Volkes, sondern des Willens, der Taten und der Entscheidungen der Nazi-Führer, die in einen weitgehend offen gewordenen Handlungsraum hinein agieren konnten. Als völkischer Ideologe trug Krieck also dazu bei, diese Taten als der Gesundung des Volkes dienende zu rechtfertigen, während sie tatsächlich willkürlich erfolgten, genauso gut eine andere Richtung hätten nehmen können - wenn man von der Tendenz der Machterhaltung absieht. Die politische Perspektive konnte sich nicht auf eine Zukunft richten, sondern versank in einer endlosen Summe von Gegenwärtigkeiten.

An dieser Inhaltsleere ist Krieck mit seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" auch wissenschaftlich gescheitert. So einleuchtend seine These war, daß man die Menschen in ihren tatsächlichen sozialen Zusammenhängen und in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur betrachten müsse, so gab doch im Unterschied zur Familie, zum Jugendbund, zur Gemeinde, das "Volk" keine soziale Kategorie ab, sondern blieb eine Fiktion. Was denn nun das Völkische am Volk sei, konnte Krieck nie erklären.

Illusion des Erziehungsstaates

Die Idee des Erziehungsstaates, die wir schon bei Hitler gefunden haben, wird auch von Krieck propagiert. Bei Hitler war diese Vorstellung eine Konsequenz seines Rassismus: die rassische Erneuerung des Volkes sei nur möglich, wenn alle gesellschaftlichen Institutionen - nicht nur die für Kinder bestimmten - an einem Strang zogen.

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Bei Krieck erwuchs diese Vorstellung einerseits aus der Sicht des völkischen Organismus; wenn dieser sich erneuern solle, so konnte es nicht genügen, die Erziehung sozusagen als ein besonderes Glied des Organismus zu betrachten, vielmehr mußte der ganze Organismus pädagogisiert werden. Das gesellschaftliche Leben sollte so eingerichtet werden, daß es selbst wieder erzieherisch im gewünschten Sinne wirkt.

Andererseits erwuchs dieser Gedanke aus seiner in der "Philosophie der Erziehung" entwickelten "funktionalen" Erziehung; denn schon damals ging es ihm nicht nur um Beschreibung von Erziehungswirkungen, sondern auch um die Hoffnung, das öffentliche Leben wieder nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalten zu können.

Das ist die Vision eines Erziehungsstaates, der so eingerichtet werden soll, daß gleichsam das Leben selbst wieder durch intakte Gemeinschaften erziehen kann. Schon 1922 hatte er an der Weimarer Republik beklagt, daß ein zerrüttetes Volk wie das deutsche nach 1918 seinen Nachwuchs nur ungenügend erziehen könne.

Ich vermag in Kriecks Hinwendung zum Nationalsozialismus also keinen Bruch zu erkennen. Schon 1922, als er mit den Nazis noch nichts im Sinn hatte, plädierte er für eine pädagogisierte Staatsordnung, und so war es nur konsequent, daß er sich ab 1932 dafür einsetzte, als die NS-Bewegung ihm die Chance dafür zu bieten schien. Allerdings mußte Krieck dafür sein Wissenschaftsverständnis ändern; 1922 betrieb er eine beschreibende "autonome" Erziehungswissenschaft, die sich im wesentlichen historischen Phänomenen zuwandte, ab 1932 eine handlungsorientierte "völkisch-realistische" Erziehungswissenschaft.

Die Idee des Erziehungsstaates ist ein verführerischer pädagogischer Gedanke. Seine bislang letzte Ausprägung hat er im SED-Staat erlebt. Arbeit, Freizeit, Massenkommunikation sollten so organisiert und geregelt sein, daß der Mensch, wo immer er sich in der Öffentlichkeit aufhielt, stets sich "sozialistisch" verhalten sollte und konnte. Selbst die Sicherheitsorgane - einschließlich Stasi - hatten die Aufgabe, bei nonkonformem Verhalten auch zu belehren. Da eine solche Gesellschaft zumindest äußerlich frei von gravierenden Widersprüchen ist, kommt sie dem Harmoniebedürfnis vieler Menschen entgegen. Warum soll man nicht das, was alle

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oder zumindest die meisten Menschen für schlecht halten, nicht gleich von Staats wegen verbieten? Verbote und Repressionen sowie die Ausgrenzung von Menschen, die in ein solches harmonisches Bild nicht hineinpassen, sind die notwendige Kehrseite des Erziehungsstaates, der also zwangsläufig autoritäre Tendenzen hat. Die innere Zerrissenheit und Polarisierung am Ende der Weimarer Zeit war der Boden, auf dem Kriecks Sehnsucht - und nicht nur seine - nach einem harmonischen Volk erwuchs, in dem es zwar innere Variationen und Differenzierungen, aber keine massiven Interessenwidersprüche mehr gibt.

Die Idee des Erziehungsstaates resultiert aus einer pädagogisch formulierten, aber politisch gemeinten Kritik gesellschaftlicher Erscheinungen. In der pädagogischen Form ist diese Kritik plausibler und spricht manche Gruppen der Bevölkerung leichter an, weil sie sich auf weithin anerkannte Werte beruft und scheinbar interessen- und selbstlos daherkommt. Die pädagogische Politikkritik ist eine typisch bildungsbürgerliche Strategie, die sich aufs moralisch verstandene Gemeinwohl beruft und eben nicht auf partikulare Interessen etwa der politischen Parteien oder Gewerkschaften. Der deutsche Bildungsbürger mahnte das Gemeinsame an, das über den Parteien und Interessen Stehende, und Krieck befindet sich ganz in dieser Tradition, wozu auch die politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung gehört: nur ein Bildungsbürger konnte so viel Selbstlosigkeit von den neuen Herren erwarten, daß sie die Revolution weiter trieben, bis das Völkische am Volk im Sinne Kriecks seinen Höhepunkt erreicht hätte.

Der Traum vom Erziehungsstaat, in dem sich Kinder überall bewegen können, ohne Schaden zu nehmen, in dem sie überall den gleichen normativen Erwartungen begegnen, der dafür sorgt, daß die Maximen des Lehrers auch die des Fernsehens sind - und umgekehrt -, ist ein anti-pluralistischer und in modernen Industriegesellschaften entweder nur als Fiktion oder nur mit Gewalt realisierbar. Solange er noch nicht verwirklicht ist, führt er zu einer illusionären Gesellschaftskritik.

Pädagogen haben immer wieder geeifert gegen Phänomene der modernen Gesellschaft wie Kino, Fernsehen, Schmutz und Schund und gegen die Konsumgesellschaft überhaupt,

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und manches davon hätten sie am liebsten verboten. Teilweise ist das ja auch mit den sogenannten Jugendschutzgesetzen gelungen. Alles dies steht in der Tradition der bildungsbürgerlichen pädagogischen Politikkritik. Erst in der jüngsten Zeit vollzieht sich ein Perspektivenwechsel, insofern die Pädagogik es immer mehr als ihre Aufgabe betrachtet, Kindern und Jugendlichen Lernhilfen dafür zu geben, auch mit den unerfreulichen Erscheinungen der Gesellschaft selbständig und souverän umgehen zu können. Wir erwarten also nicht mehr, daß die Gesellschaft sich so formiert, daß sie nur noch im positiven Sinne auf Kinder und Heranwachsende erzieherisch einwirkt.

Faszination der "bewegten Masse"

Kriecks politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung beruhte also zu einem guten Teil auf einer bildungsbürgerlieben Fehldeutung von Politik überhaupt. Politisch scharfsinnig und teilweise brillant geschrieben sind nur seine bildungspolitischen Beiträge vor, teilweise auch noch nach 1933 - wenn er sich auf Gegner konzentrieren konnte. Sein Ehrgeiz jedoch, darüber hinaus politische Philosophie zu betreiben, brachte ihn an die Grenze seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten.

Sobald er jedenfalls von der Kritik zur philosophischen Konstruktion wechselte, wurde seine Sprache unklar und diffus. Je mehr er sich in seine völkische Philosophie verbiesterte, um so weltanschaulicher, d.h. mit wissenschaftlicher Argumentation kaum mehr nachvollziehbar wurden seine Ergebnisse. Das läßt sich erkennen in seiner "Völkisch-politischen Anthropologie": eine unsystematische Arbeit, die irgendwie anfängt und irgendwie aufhört, die jedenfalls nicht geeignet ist, die Einzelwissenschaften zu integrieren.

Aber diese Fehleinschätzung des Politischen ist nicht der einzige Grund, weshalb Krieck auf die Hitler-Bewegung hereinfiel. Mit vielen Intellektuellen seiner Zeit teilte er die ästhetische Faszination, die vom Massenkult der Hitler-Bewegung ausging. Die jubelnden oder ergriffenen Massen schienen eine zukunftsträchtige Vitalität auszustrahlen, die Volksgemeinschaft wurde scheinbar zur sinnlichen Erfahrung. Was vor allem von Goebbels kalt und zynisch insze

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niert wurde zur Volksverhetzung und zur Eroberung der politischen Macht, gewann für viele Intellektuelle, deren kluge Köpfe ihre Herzen nicht wärmen konnten, mystische Qualität. In einem Essay über Ernst Krieck kennzeichnet Klaus Prange diese Faszination treffend:

"Es scheint kein Zweifel, daß die nationalsozialistische Bewegung hier einen Nerv berührt hat, der wie in anderen Massenbewegungen dem Bedürfnis nach gestalthafter Gegenwärtigkeit gerecht wird, nach konkreter Anschauung eines allgemeinen und verbindlichen Sinns. Masse in Bewegung, die Aufmärsche und Disziplin bei den Reichsparteitagen, die kultische Inszenierung von Veranstaltungen, die monumentale Gegenwärtigkeit der Macht: das alles befriedigt den Sinn nach sinnfälliger Praxis und löst einen Affekt der Mitbewegung aus, dem sich gerade auch Intellektuelle nicht haben entziehen können. Es ist schwer, gegen den Strom einer allgemeinen organisierten Stimmung zu schwimmen, sich dem ,Schicksalsrausch' zu entziehen. Wenn überhaupt, dann sind die Nationalsozialisten in diesem Punkte erfinderisch gewesen: in der kultischen Inszenierung von Politik" (229).

Prange nennt auch das Stichwort, das am ehesten die Verführbarkeit dieser Intellektuellen zu erklären vermag: die Suche nach Identität.

Seinen eigentlichen Beitrag zur Aufwertung der NS-Bewegung leistete Krieck durch sein Konzept der "Formations-Erziehung". SA, SS, HJ und die anderen "Formationen" der Partei konnten sich demnach als Erziehungs-Gemeinschaften verstehen - und zwar im doppelten Sinne einer Selbsterziehungsgemeinschaft und als Träger für die Erziehung anderer. Damit gab Krieck sowohl der Lagererziehung als auch der nun einsetzenden Schulungsarbeit nicht nur eine Legitimation, sondern auch eine scheinbare erziehungswissenschaftliche Grundlage. Das war nur möglich auf dem Fundament seines erweiterten Erziehungsbegriffs, vorher hätte die Pädagogik gar keine Kategorien dafür gehabt, z.B. einem Verband wie der SA, der ja als politischer Kampfverband gegründet worden war, außer vielleicht im metaphorischen Sinne eine erzieherische Funktion zuzuweisen. Krieck unterschied nicht - wie wir heute - zwischen Sozialisation und Erziehung, sondern subsumierte beides unter seinen ausgedehnten Begriff von Erziehung. Erst diese begreifliche Unter-

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scheidung macht jedoch möglich, die "Formationen" als Sozialisationsfaktoren für die ihr zugehörigen Menschen zu verstehen - unabhängig davon, wie diese Verbände sich sonst definieren mögen -, indem man die Wirkungen untersucht, die sie auf die Persönlichkeit ihrer Mitglieder ausüben. Eine pädagogische Legitimation ihrer Existenz - wie bei Krieck -wäre damit aber nicht verbunden. Die pädagogische Legitimation dieser Formationen kommt also dadurch zustande, daß Krieck in diesem Zusammenhang den positiv besetzten Begriff Erziehung verwendet.

Grenzen der Gemeinschaft

Kriecks Einsicht in die soziale Funktion aller Erziehung ist sicher zutreffend, und sie ist uns heute unter dem Stichwort der "Sozialisation" selbstverständlich geworden. Mit dem Begriff der "Sozialisation" bezeichnen wir alle Wirkungen, die die Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen beeinflussen, ob sie nun von einzelnen Menschen, von Gruppen, Gemeinschaften oder von den Massenmedien ausgehen. Wir wissen inzwischen, daß die geplante Erziehung - z.B. durch Lehrer in der Schule -nur einen kleinen Teil der gesamten Sozialisation ausmacht. Sehr viel lernt das Kind auch dadurch, daß es an dem ihm zugänglichen sozialen Leben handelnd teilnimmt. Allerdings trennen wir dabei nicht von vornherein wie Krieck zwischen Gemeinschaften und anderen Formen sozialer Zusammenhalte. Zutreffend ist auch, daß Individualität nicht erzieherisch geplant werden kann, und daß sie auch nicht durch die Wirkungen der Sozialisationsmächte zustandekommt, sondern eine Leistung des jeweiligen Individuums ist - in der Sprache Kriecks: ein Ergebnis der "Selbsterziehung". Indem das Kind sich mit den widersprüchlichen Erfahrungen seiner sozialen Umwelt tätig auseinandersetzt, formt es seine Persönlichkeit heraus. Die planmäßige Erziehung kann Individualität nicht herstellen, sie kann sie fördern oder behindern.

Aber um solche pädagogischen Einsichten und um weitere Forschung in deren Rahmen ging es Krieck nicht in erster Linie. Am Herzen lag ihm die völkische Weltanschauung, und deshalb zog er aus seinen pädagogischen Entdeckungen falsche Schlüsse.

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Krieck konnte sich eine pluralistische Sozialisation nicht vorstellen, obwohl sie in seinem Konzept insofern angelegt war, als ja jede Gemeinschaft (einschließlich der Kirchen!) das Recht haben sollte, ihre typenbildenden Ansprüche an den Einzelnen zur Geltung zu bringen. Dann aber mußte das Erziehungsergebnis eine gewisse Bandbreite von Widersprüchlichkeit aufweisen, denn es ist z.B. kaum anzunehmen, daß die katholische Kirche denselben Typus hervorbringt wie die Hitlerjugend. Krieck betonte sogar, daß keine Instanz das Geschäft der Erziehung allein vollbringen könne. Dann aber kann die Konsequenz doch nur lauten, daß die Individuen diese Widersprüche in sich ausbalancieren und in einem gewissen Maße individuell gestalten müssen. Diese so naheliegende Konsequenz hat Krieck jedoch vielleicht deshalb nicht gezogen, weil er damit liberalen Vorstellungen zur Rolle der Individualität zu nahe gekommen wäre. Jedenfalls hätte er den Prozessen der Individualisierung eine eigenständige Bedeutung beimessen müssen, nämlich als eine Leistung, die gerade der Distanz zu den typisierenden Erwartungen der Gemeinschaft bedarf. Individualität könnte dann aber nicht mehr aus den funktionalen Prägungen durch die Gemeinschaften erklärt werden.

Krieck entdeckte die erzieherische Bedeutung der sozialen Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als ihre prägende Kraft im Entschwinden begriffen war. Die herausragenden Faktoren der modernen Gesellschaft, die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die rationale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die radikale Individualisierung der Menschen zu Rechtssubjekten gerade unter Ignorierung ihrer konkreten sozialen Kontexte, der von Marx vorausgesagte Siegeszug der Prinzipien des Marktes überall im gesellschaftlichen Leben und schließlich die Massenmedien haben notwendigerweise zur Emanzipation des Menschen - inzwischen auch der älteren Kinder -von jenen Erziehungsgemeinschaften geführt, die Krieck im Sinne hatte. Die historische Unausweichlichkeit dieser Prozesse, ihre Notwendigkeit im Rahmen sich entwickelnder Industriegesellschaften hat er nicht verstanden.

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Grenzen der Brauchbarkeit

Man kann Kriecks Überlegungen fortsetzen und fragen, ob es noch sinnvoll ist, von "Erziehung" zu sprechen, wenn die typisierende Kraft der sozialen Gemeinschaften derart zurückgegangen ist, wie wir das heute erleben. Jedenfalls verstehen wir heute den Prozeß der Erziehung anders als Krieck. Wir sehen das Kind als lernendes Subjekt, nicht nur als Objekt von Erziehung. Das Kind bildet seine Persönlichkeit selbst aus, indem es die Herausforderungen, die ihm das Leben stellt, aktiv und tätig bewältigt. Ein großer Teil dieser Lemprozesse erfolgt durch das Leben selbst, ein anderer Teil wird absichtsvoll pädagogisch inszeniert (z.B. in Kindergarten und Schule). Dort bieten professionelle Pädagogen "Lernhilfen" an.

Nun ist bemerkenswert, das der Begriff "Lernen" bei Krieck gar nicht auftaucht, obwohl er doch die subjektive Seite der Typenbildung beschreiben würde. Wenn man nämlich wie Krieck meint, daß Erziehung dadurch stattfindet, daß die Gemeinschaften den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild formen, dann heißt das doch umgekehrt, daß der Einzelne in diesem Prozeß etwas lernt, z.B. bestimmte soziale Verhaltensweisen. Vermutlich wäre ihm der Begriff "Lernen" zu subjektivistisch gewesen, er spricht ja von "Selbsterziehung", um zu verdeutlichen, daß Lernprozesse nur erfolgen im Rahmen der durch die Gemeinschaften vorgegebenen Spielräume. Abgesehen davon, daß diese pädagogische Theorie auf reine soziale Anpassung hinauslaufen kann, traf sie auch die damalige Realität nicht mehr. Der im Dritten Reich sozialisierte Mensch war nicht einfach die Summe der sozialen Prägungen, die er erfahren hatte, er war mehr, und dieses Mehr ist nicht durch den Terminus der Selbsterziehung zu beschreiben, sondern nur durch den darüber hinausgehenden Begriff des Lernens. Was auch damals schon Schule und Hochschule an Bildung und Ausbildung leisteten, war mit Kriecks Erziehungstheorie nicht zu greifen. Und genau an diesem Punkte war sein Denken für die pädagogische Praxis unergiebig; denn diese Praxis hatte schließlich mit lernenden Individuen zu tun. Was sollten z.B. Lehrer damit anfangen oder diejenigen, die Lehrer ausbildeten?

So wurde neben der schon erwähnten innerparteilichen Kritik auch fachliche Kritik an ihm laut, und dies um so mehr,

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als im Zuge der seit 1936 einsetzenden Aufrüstung der Schule und der Berufsausbildung im weitesten Sinne eine neue, qualifizierende Bedeutung beigemessen wurde. Es gab auf einmal einen Mangel an Facharbeitern wie auch an Lehrern. Da war Kriecks Meinung wenig hilfreich, eine Reform des Bildungswesens werde so schnell nicht möglich sein, weil dafür der Prozeß der völkischen Erneuerung noch nicht weit genug fortgeschritten sei.

Damit zusammen hängt ein weiteres praktisches Problem, das Zeitgenossen ebenfalls schon erkannten. Krieck hatte seine erziehungswissenschaftliche Konstruktion ja an historischen Beispielen entfaltet. Dafür brauchte er nicht unbedingt kritische Maßstäbe, um diese vergangenen Formen der "Typenbildung" zu bewerten, er konnte sich mit deren Beschreibung begnügen. Indem er jedoch handelnd und erklärend sich seiner Gegenwart zuwandte, mußte er irgendwelche Bewertungsmaßstäbe entwickeln, wenn er nicht der bloßen sozialen Anpassung das Wort reden wollte. Konnte man denn die Ergebnisse der sogenannten Formationserziehung einfach hinnehmen? Konnte nicht z.B. in der HJ der Typus des äußerlich korrekten und angepaßten Duckmäusers entstehen? Oder der Typus des sportlich glänzenden Feiglings oder Denunzianten? Und wäre nicht denkbar, daß in den Religionsgemeinschaften, deren Recht auf Erziehung Krieck unterstrich, der Typus des verklemmten Heuchlers heranwuchs? Gerade weil Krieck forderte, daß diese einzelnen Typenbildungen "Glieder" des Volksganzen zu sein hatten, also von dort her auch ihr Maß und ihre Ordnung erhalten sollten, hätte er dafür wissenschaftlich objektivierbare Maßstäbe der Beurteilung entwickeln müssen. Das hat er nicht versucht, und es wäre ihm auch von seinem Denkansatz her gar nicht möglich gewesen - ganz abgesehen davon, daß er dann die Formationen der Hitler-Bewegung einer pädagogischen Kritik hätte unterziehen müssen. Er ging einfach davon aus, daß Gemeinschaften bzw. Korporationen, solange sie existieren, auch den ihnen angemessenen Nachwuchs "züchten"; im übrigen sei das eine Frage der völkischen Erneuerung: wenn diese einmal gelungen sei, sei auch dieses Problem gelöst.

Diese Vertröstung auf die Zukunft half jedoch denen nicht, die in der Gegenwart Verantwortung trugen. Wir werden sehen, daß die HJ-Führung sich im Unterschied zu Krieck sehr

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wohl Gedanken darüber machte, welchen Typus sie in ihren Reihen eigentlich produzieren wollte.

Auch den Berufspädagogen - den Lehrern und Sozialpädagogen etwa - stellte sich das Problem der Verantwortung ihres Handelns, und auch dafür hatte Krieck keine Antwort parat.

Dem inhaltsleeren politischen Dynamismus entsprach eine eigentümliche pädagogische Ziellosigkeit, ein ratloses Warten auf die völkische Erneuerung. Aber was sollte bis dahin geschehen? Weil Krieck diese Frage nicht beantworten konnte, wurde das Feld frei für pädagogische Technokraten, die auf handgreifliche und relativ ideologiefreie Qualifikationen und Ausbildung setzten, die aber auch - wie Krieck zu Recht befürchtet hatte - rein instrumentell vorgingen, also ohne Bindung an ein auf das Volksganze bezogenes Ethos.

Markt, Massenmedien und Gemeinschaft

Bezeichnenderweise kommen in Kriecks Überlegungen zwei moderne Phänomene kaum vor: Der Markt, hier insbesondere zu verstehen als Konsumgütermarkt, und die Massenmedien. Die Massenmedien sind nicht einzuordnen in das Konzept der sozialen Gemeinschaften, sie sprengen das Bild vom organischen Volkskörper. Sie zerstören die Identität der Gemeinschaften, indem sie allen dasselbe sagen, den Kindern wie den Erwachsenen, den Christen wie den Atheisten. Der Versuch der Nazis, die Massenmedien in den totalen Erziehungsstaat einzubauen, konnte - abgesehen von den Strafandrohungen für "Feindsender-Hörer" - nur solange Erfolg haben, wie der massentechnologische Standard - man denke an den "Volksempfänger" mit seiner geringen Reichweite - entsprechend niedrig war. Heute kann keine politische Ideologie die Kommunikationsreichweite der modernen Informationsmedien mehr auf Dauer abblocken.

Insofern war die Idee des Erziehungsstaates illusionär, selbst die Agitation und Propaganda von Goebbels war auf einen relativ unterentwickelten kommunikationstechnischen Standard angewiesen. Gerade die Massenmedien, vor allem das spätere Fernsehen, haben einen entscheidenden Anteil daran, daß der Einfluß der klassischen Erziehungsmächte

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(Elternhaus, Schule) auf die Sozialisation sich mehr und mehr verringerte. Rundfunk und Fernsehen zerstörten das Informationsmonopol der Pädagogen, beschnitten ihre Möglichkeit, das für pädagogisch wertvoll Gehaltene den Kindern zugänglich zu machen und das andere ihnen vorzuenthalten.

Der Konsumgüter- und Dienstleistungsmarkt wiederum richtete sich von vornherein nicht nach pädagogischen Maßstäben. Er fragt nicht danach, was gut für Kinder ist, sondem danach, was er an Kinder oder über sie an die Eltern verkaufen kann. Pädagogisch entscheidend ist dabei nicht, ob das eine oder andere Konsumgut zu beanstanden ist, wesentlich ist vielmehr die implizite Moral, die der Markt verbreitet: daß die Menschen Recht daran tun, wenn sie es sich gutgehen lassen wollen, daß sie im Recht sind, wenn sie Dinge haben wollen, die ihnen gefallen; daß sie, wenn sie etwas haben wollen, dafür nur Geld brauchen, aber keine Vormünder, die ihnen dabei Gebote und Verbote erteilen. Diese Moral lag von Anfang an, seitdem es einen nennenswerten Konsumgütermarkt gibt, mit der pädagogischen Moral im Konflikt. Äußerer Ausdruck dafür sind unsere Jugendschutzgesetze, die schon in der Weimarer Zeit entstanden und den Versuch darstellen, Kinder und Jugendliche von einem als besonders gefährdend angesehenen Teil des Marktes ("Schund und Schmutz-Literatur" "jugendgefährdende Filme") fernzuhalten. Massenmedien und Markt haben mit den ihnen eigentümlichen Regeln inzwischen die pädagogische Provinz zerstört, in der Kinder früher relativ behütet aufwachsen konnten; um wieviel geringer wäre da auf Dauer die Chance gewesen, eine moderne Industriegesellschaft im ganzen nach Art einer pädagogischen Provinz zu etablieren. Kriecks völkischer Erziehungsstaat war eine Illusion - allerdings eine gefährliche, weil viele Menschen über diese Illusion an Hitler gebunden wurden.

"Integration" als Sinnstiftung

Kriecks Bemühungen, dem völkischen Staat Hitlers, wie er ihn sich vorstellte, eine philosophisch-weltanschauliche Basis zu geben, erschöpfte sich nicht nur darin, in Gestalt der "Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue Philoso-

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phie zu formulieren, die den einzelnen Wissenschaften wieder eine gemeinsame Basis geben, sie also zum Wohl des völkischen Staates integrieren sollte. Krieck wollte die Idee auch organisatorisch umsetzen, indem er in Heidelberg eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft einrichtete, in der sich Vertreter verschiedener Disziplinen trafen, um gemeinsam fächerübergreifende Probleme der einzelnen Wissenschaften zu erörtern. Schon in seiner Rektoratsrede hatte er zu einer tiefgreifenden Wissenschaftsreform aufgefordert. Gerhard Müller hat diese Bemühungen ausführlich vorgestellt, die im übrigen bald wieder einschliefen, als Krieck von seinen Ämtern zurückgetreten war. Hinzu kam, daß die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik im Zuge der Aufrüstung an begrenzter Fachausbildung interessiert war - auch auf der Hochschulebene. Krieck jedoch war der Ansicht, daß auf diese Weise nur Menschen mit Fachborniertheit ausgebildet würden - die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre wird sie "Fachidioten" nennen -, die nicht in der Lage seien, den Sinn ihrer besonderen beruflichen Kompetenz im Rahmen der völkischen Gesamtaufgabe zu reflektieren und zu verstehen. Da entsprechende Überlegungen zur Überwindung des begrenzten Fachstudiums und für fächerübergreifende Projekte auch in den Debatten zur Hochschulreform seit den sechziger Jahren eine Rolle spielen, könnte man geneigt sein, Kriecks Vision in dieser Sache als fortschrittlich, in die Zukunft weisend zu betrachten. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen scheint jedoch Skepsis angebracht.

Krieck hat eigentlich nur bewiesen, daß derartige Bemühungen geradezu zwangsläufig zur wissenschaftlich nicht mehr gedeckten Politisierung bzw. zu weltanschaulichen Gemeinplätzen führen. Alfred Baeumler übrigens, von dem im nächsten Kapitel zu sprechen sein wird, hatte in dieser Frage eine andere Position als Krieck. Er vertrat zwar nachdrücklich eine "weltanschauliche Schulung" für alle, auch für Professoren, aber das sei nicht Aufgabe der Universität, sondern der speziell dafür eingerichteten Schulungslager.

Krieck hätte mit dem Ansatz seiner "autonomen Erziehungswissenschaft" damals eine neuartige pädagogische Forschung in Bewegung setzen können. Seine These, daß Erziehung ein ursprünglich soziales Phänomen sei, war ja richtig, und auch seine Wende zur "Völkisch-realistischen Erziehung" in der NS-Zeit hätte durchaus entsprechende

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Forschungen in Gang setzen können, z.B. über die Formationserziehung" etwa in der HJ. Aber das hat ihn nicht interessiert. Es ging ihm auch nicht darum, die Chancen und Grenzen der planmäßigen Erziehung etwa in der Schule zu ermitteln, seinem Ansatz entsprechend etwa die tieferen, unbewußten und kollektiven Elemente des Schulehaltens zu erkunden. Seit der "Völkisch-politischen Anthropologie" verrannte er sich immer mehr in weltanschauliche Fragen mit der Folge, daß sein Denken spekulativ wurde mit immer geringer werdender wissenschaftlicher Stringenz. Die "Völkisch-politische Anthropologie" beruhte auf einer "universalen Biologie", die zwar nichts mit dem sozialdarwinistischen Biologismus der Rassefanatiker zu tun hatte, diesen aber insofern mittelbar eine Rechtfertigung verschaffte, als Krieck für seine Version der Biologie das Verdikt der Unwissenschaftlichkeit hinnehmen mußte. An der Biologie interessierte ihn der komplexe Zusammenhang alles Lebendigen, nicht die bloß naturwissenschaftliche Betrachtung, die er in seiner Zeit vorfand; sie reduzierte den Gegenstand auf chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten. In diesem Punkte war er wieder sehr modern, dem gegenwärtigen Verständnis der Biologie jedenfalls näher als seine Gegner. Der entscheidende Denkfehler lag darin, auch soziale Phänomene biologisch zu deuten. Dies war eine weltanschauliche Prämisse, die durch nichts gedeckt war als durch ein Wunschbild des Autors, und diesem Wunschbild sollten die einzelnen Wissenschaften verpflichtet werden. Mit diesem Konzept konnte jedoch niemand etwas anfangen: die NS-Ideologen nicht, weil Krieck ihrem Rassismus nicht folgte; die Hochschulpolitiker nicht, weil sie an fachlichen, in möglichst kurzer Zeit zu absolvierenden Studiengängen interessiert waren, die Lehrer und Sozialpädagogen nicht, weil ihnen keine Perspektive für ihre praktischen Probleme geboten wurde. Rückblickend kann man nur denen Recht geben, die - wie Alfred Baeumler - eine Wissenschaftsreform im Sinne Kriecks verhindert haben, denn sie hätte die Einzelwissenschaften in den geistigen Ruin getrieben, sie sozusagen durch krude Weltanschauung "zersetzt'.

Kriecks Ansehen beruhte vor allem auf seiner Funktion als "Sinn-Lieferant" für junge, geistig einigermaßen anspruchsvolle Intellektuelle, die sich gerne für die neue Elite halten wollten und dafür ein Abgrenzungskriterium gegenüber den

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"Spießern" brauchten. Zudem verfügte Krieck offenbar auch über eine erhebliche persönliche Ausstrahlung, ein Charisma. Die Sucht nach einer harmonisch-konfliktfreien, aber philosophisch anspruchsvollen und deshalb elitären Weltanschauung, der er selbst verfallen war, fand Jünger gleichen Bedürfnisses.

Alfred Baeumler, sein ideologischer Konkurrent, war da aus anderem Holze, sein Beitrag zur NS-Pädagogik lag nicht auf dem Gebiet der völkischen Weltanschauung.

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3. "Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)

Leben und Werk

Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis auf dem Opernplatz in Berlin etwa 20.000 Bücher und Schriften solcher Autoren, die sie für Feinde der deutschen Kultur hielten. Die Aktion stand unter dem Motto: "Wider den undeutschen Geist'. Zu den Akteuren gehörte auch ein kleingewachsener Professor in SA-Uniform: Alfred Baeumler. Er hatte gerade eine Professur für Politische Pädagogik an der Universität Berlin übernommen und an diesem Tag seine Antrittsvorlesung gehalten. Darüber berichtete das "Neuköllner Tageblatt":

"Als Auftakt der öffentlichen Verbrennung der undeutschen Bücher auf dem Opernplatz hielt Professor Dr. Alfred Baeumler, der neue Ordinarius für Politische Bildung in Berlin, im Hörsaal 38 der Universität die erste Vorlesung seines Kollegs 'Wissenschaft, Hochschule, Staat'. Der große Saal war vollkommen überfüllt. Der größte Teil der Studenten nahm in SA-Uniform an der Vorlesung teil. Vor Beginn der Vorlesung marschierte eine studentische Fahnenabordnung mit dem Hakenkreuzbanner ein. Professor Baeumler beschäftigte sich mit der nationalsozialistischen Revolution und ihren geistigen und philosophischen Grundbedingungen .

Die Vorlesung sei von den Studenten mit Begeisterung aufgenommen worden. Weiter heißt es in dem Blatt:

"Der Opernplatz war in weitem Umfänge abgesperrt und von einer dichten Kette von Zuschauern umsäumt. Um 11 Uhr trafen die ersten des Zuges in Braunhemd und Couleur, an deren Spitze der neue Ordinarius für Politische Pädagogik in Berlin, Professor Dr. Alfred Baeumler marschierte, auf dem Opemplatz ein. Sie marschierten auf dem weiten Platz auf

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 und warfen ihre Fackeln in den in der Mitte errichteten Scheiterhaufen, auf dem die Flammen in wabernder Lohe emporschlugen ... . Von den Wagen, die das undeutsche Schriftmaterial bis zum Opernplatz in die Nähe des Scheiterhaufens gebracht hatten, bildete sich eine lange Kette von Studenten, und von Hand zu Hand gingen die Bücher, die dann dem Feuer überantwortet wurden". (Zit. n. Poliakow/ Wulf, 199 f.)

In seiner Vorlesung zuvor hatte Baeumler seinen Studenten eine Rechtfertigung formuliert:

"Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen. Auf dem Scheiterhaufen, den Sie errichten, werden nicht Ketzer verbrannt. Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm stellen wir uns im Kampfe, er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, daß sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können. Wir dürfen nicht auf Verbote bauen. Aus uns selber heraus müssen wir den undeutschen Geist überwinden" (Baeumler 1934, 137).

Als er diese Worte spricht, wird den politischen Gegnern nicht die Ehre des Kampfes zuteil, sie werden vielmehr längst verhaftet, von SA und Gestapo mißhandelt.

Später, als Siebzigjähriger, wird er vor Geburtstagsgästen eine Ansprache über seinen Weg als Schriftsteller halten und dabei erwähnen, daß im Jahre 1945 seine sämtlichen Manuskripte, Vorlesungen und Exzerpte im Garten seiner Berliner Wohnung verbrannt worden seien.

"Die Verbrennung erfolgte nicht durch die Russen in den Tagen des Einmarsches, sondern Wochen danach durch avisierte Kommunisten. Sie war offenbar durch eine informierte Stelle angeordnet" (M. Baeumler, 243).
Als Drahtzieher vermutete er den kommunistischen Philosophen Georg Lukacs. Daß es da einen Zusammenhang mit seinem Auftritt von 1933 geben könnte, kam ihm offenbar nicht in den Sinn.

Im Jahre 1933 war Baeumler schon 46 Jahre alt. Geboren wurde er 1887 im sudetendeutschen Neustadt an der Tafel-
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fichte, das damals zu Österreich gehörte. Sein Vater war Porzellanmacher und ging 1896 nach Nürnberg. Baeumler legte dort 1908 sein Abitur ab und studierte in München, Bonn und Berlin zunächst Kunstgeschichte, dann Philosophie und Ästhetik. Nach der Promotion 1914 wurde er von 1915 bis 1918 österreichischer Soldat und 1919 deutscher Staatsbürger.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzte er seine philosophischen Studien fort, veröffentlichte 1923 ein Buch über "Kants Kritik der Urteilskraft". Gemeinsam mit Manfred Schröter, Philosophie-Professor an der Technischen Hochschule München, gab er ab 1924 das "Handbuch der Philosophie" heraus und veröffentlichte darin einen Beitrag über "Ästhetik"; 1931 erschien ein Reclam-Bändchen über "Nietzsche, der Philosoph und Politiker", 1924 habilitierte er sich an der Technischen Hochschule Dresden und wurde dort 1928 außerordentlicher, 1929 ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik.

"Schicksalbestimmend" - wie Baeumler für den Rest seines Lebens meinte - sollte jedoch eine andere Veröffentlichung werden. Manfred Schröter hatte 1926 eine Auswahl der Schriften des romantischen Mystikers Bachofen unter dem Titel "Der Mythos von Orient und Occident" herausgegeben. Baeumler sagte zu, für diese Edition eine Einleitung zu schreiben. Unter der Hand geriet diese Einleitung zu einem ganzen Buch, über 200 Seiten lang. Diese Bachofen-Einleitun g unter dem Titel "Bachofen, der Mythologe der Romantik", fand unter Fachleuten erhebliche Beachtung.

Zu den Lesern gehörte auch Thomas Mann. Er hielt sich damals in Paris auf und legte seine Eindrücke und Erfahrungen in der Schrift "Pariser Rechenschaft" nieder. Darin erwähnt er auch Baeumlers Bachofen-Einleitung, lobt den Tiefgang dieser Studie, äußert sich aber auch kritisch über die möglichen Wirkungen angesichts des sich damals verbreitenden völkischen Irrationalismus und Mystizismus in Deutschland.

"Man kann nichts Interessanteres lesen, die Arbeit ist tief und prächtig, und wer sich auf den Gegenstand versteht, ist bis in den Grund gefesselt. Aber ob es eine gute und lebensfreundliche, eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese Nachtschwärmerei ... von Erde, Volk, Natur,

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Vergangenheit und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derart charakterisiert, in den Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies alles sei wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkte, es handele sich nicht sowohl um Geschichte als um Leben, Jugend und Zukunft - das ist die Frage, die beunruhigt. Dieser Gesinnung gilt die Einheit der deutschen Romantik nur als optische Täuschung" (in: M. Baeumler, 155).

Thomas Mann nennt die Abhandlung eine "Fiktion voller Tagestendenz" und legt somit die Unterstellung nahe, Baeumler habe mit dieser Arbeit rechte politisch-ideologische Tendenzen im Sinne gehabt. Baeumler ist empört und will in einer Broschüre Thomas Mann antworten, aber sein Verleger rät ihm ab. Die Kritik des berühmten Schriftstellers zeigte aber Wirkung, sie wird auch in Fachkreisen aufgenommen, und Baeumler findet sich verkannt und in die rechte politische Ecke gedrängt. Daß Thomas Mann damit einen Knick in seiner philosophischen Karriere bewirkt habe, wird ihm immer mehr zur fixen Idee, von der er sich bis zu seinem Tode nicht mehr befreien kann.

Objektiv gesehen war der Vorwurf sicher unberechtigt. Im Jahre 1926 hatte Baeumler mit der politischen Rechten nichts im Sinn, und wer politische Tendenz verbreiten will, schreibt kein Buch, das nur wenige Eingeweihte überhaupt verstehen können. Subjektiv gesehen jedoch war Thomas Mann von der Wahrheit vielleicht nicht allzusehr entfernt; denn wer engagiert Philosophie betreibt, wie es Baeumler tat, thematisiert damit immer auch bewußt oder unbewußt seine eigene Befindlichkeit. Er will nicht nur wissen, was es mit der Welt auf sich hat, sondern auch, was er selbst in dieser Welt zu bedeuten hat. So war es vielleicht doch nicht so ganz zufällig, daß Baeumler sich von der Mythologie Bachofens faszinieren ließ und von Nietzsches anti-bürgerlicher Kulturkritik beeindruckt war.

In die NSDAP trat Baeumler erst im April 1933 ein - sehr zur Überraschung derer, die ihn kannten; denn bis dahin hatte er keine Ambitionen in dieser Richtung erkennen lassen. Über seine damaligen Motive schreibt er 1954 in einem Brief:

"Bis zum Jahre 1933 habe ich nicht daran gedacht, in eine politische Partei einzutreten. Für mich vollzog sich alles politische Geschehen in einem abstrakt geschichtlichen Raum ... .

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Was mich dann aus der Stille herausführte, mich wider Willen in die politische Arena zog, war die Unzufriedenheit mit den Regierungen, die wir hatten ... . Noch unter dem Druck der Wahl vom 5. März 1932 stehend trat ich zum letzten Termin (29.4.1933) in die Partei ein. Ich entschloß mich zu diesem meinen Lebensgewohnheiten fernliegenden Schritt aus einem einzigen, klarbewußten Grund: ich wollte nicht wieder daneben stehen. Jahrelang hatte ich nichts als kritisieren können, jetzt, so bildete ich mir ein, müßte ich Verantwortung übernehmen" (M. Baeumler, 228 im).

Ausschlaggebend war wohl auch die Bekanntschaft mit Alfred Rosenberg. Rosenberg war auf Baeumlers philosophische Arbeiten aufmerksam geworden und hatte schon vor 1933 Kontakt aufzunehmen versucht. Nun hatte Hitler ihm das sogenannte "Amt Rosenberg" übertragen, eine Parteidienststelle, die für die weltanschauliche Überwachung und Schulung der Partei zuständig sein sollte. Auf Drängen Rosenbergs übernahm Baeumler in dieser Dienstelle 1934 die Abteilung Wissenschaft, 1941 mußte er dieses Amt wegen zu geringer Aktivität und Ineffizienz auf Druck der anderen Abteilungsleiter aufgeben und übernahm das sogenannte "Aufbauamt Hohe Schule". Die "Hohe Schule" sollte nach dem Krieg als eine Art von Partei-Universität zur Wissenschaftsreform beitragen. Während seiner nebenamtlichen Tätigkeit im Amt Rosenberg behielt er seine Berliner Professur.

Über diese Tätigkeit ist nicht viel bekannt. Es ist aber zu vermuten, daß er als der für "Wissenschaft" zuständige Ressortchef Einfluß auf Berufungen und überhaupt auf die Beurteilung von Wissenschaftlern und deren Veröffentlichungen genommen hat (vgl. Horn). Sicherlich war er auch beteiligt an den Schwierigkeiten, die das Amt Rosenberg Krieck bereitet hat. Über Kriecks Beitrag über "Philosophie" für die vorhin erwähnte Festschrift für Hitler war Baeumler empört, zumal "Philosophie" die einzige Disziplin war, für die in diesem Band zwei Beiträge -von Baeumler und Krieck- erschienen. Das Amt Rosenberg hatte andererseits wenig Macht und Einfluß im Vergleich zu rivalisierenden Instanzen wie etwa dem Propagandaministerium. Rosenberg hatte unter anderem ein Buch mit dem Titel "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" geschrieben, das er für die ideologische Grundlage des Nationalsozialismus hielt. Davon wurden zwar bis 1945 eine Million Exemplare verkauft, aber zu Rosenbergs Enttäuschung hatte

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keiner der vor dem Nürnberger Tribunal stehenden Parteigrößen das Buch gelesen. Es diente offensichtlich als Parteigeschenk bei allen möglichen Gelegenheiten.

Unter seinen Kollegen galt Baeumler als unkollegial, arrogant, kontaktscheu und opportunistisch. Rosenberg jedoch hielt zu ihm und betonte noch im Nürnberger Prozeß, Baeumler habe durch seine fachliche Kritik der Arbeit des Amtes genützt. Seine Gauleitung jedoch beurteilte ihn kritischer. Seine nationalsozialistische Gesinnung sei zwar nicht zu bezweifeln, er zeige aber zu wenig persönlichen Einsatz und zu wenig Kameradschaft und finde keine Resonanz bei seinen Studenten.

So überraschend Baeumlers Eintritt in die NSDAP für seine Freunde auch sein mochte, so ist doch auch unverkennbar, daß er sich seit 1930 der NS-Ideologie immer mehr genähert hatte. In dieser Zeit hielt er einige Vorträge, in denen er seine ideologische Grundposition entwickelte, die er im Prinzip bis 1945 beibehielt. Er selbst verstand diese Wende nachträglich allerdings anders, nämlich als Hinwendung zu einem neuen philosophischen Thema: der Geschichtsphilosophie. Diese Wendung und nicht die erwähnte Kritik Thomas Manns sollte seinen weiteren Weg bestimmen. Das vorher erreichte Niveau seines philosophischen Denkens wich nun einem mystifizierenden, irrationalistischen Germanismus.

Baeumlers politische Vision war ein neues deutsches Reich, das auf germanischer Tradition basierte, d.h. darauf, daß es getragen wird von den Wehrbünden der Männer und gegliedert ist durch persönliche Führer-Gefolgschaft-Beziehungen in wechselseitiger Treue. Alles, was dieser Vision widerspricht oder entgegenwirkt, verfällt der Kritik.

Baeumlers Denken wird nun sehr widersprüchlich - nicht so sehr in einem logischen Sinne, als vielmehr durch die Kombination unterschiedlicher Ebenen, die von heute aus auch unterschiedlich beurteilt werden müssen. Da gibt es einmal die erwähnte Ebene des spekulativen Germanismus, von der sich Baeumler nach 1945 distanziert hat. Auf einer zweiten Ebene benutzt Baeumler Ergebnisse seiner philosophischen Arbeit, vor allem aus seiner Beschäftigung mit Bachofen und Nietzsche, zur Analyse seiner politischen Gegenwart, also auch der Hitler-Bewegung, der er sich dann zuwandte. Auf dieser zweiten Ebene geht es vor allem um den Begriff des

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"Symbols" und um die anthropologische These, daß der Mensch ein aktives, handelndes Wesen sei. Auf einer dritten Ebene schließlich gibt es von ihm Beiträge zu pädagogischen Themen etwa über die Funktion der Bildung und der Schule, die rein pragmatisch fundiert zu sein scheinen und auch heute noch lesenswert sind. Ich will diese drei Ebenen hier nicht zu einer inneren Logik zusammenführen, sondern sie einfach nacheinander vorstellen.

Dabei muß auf eine Darstellung und Bewertung der im engeren Sinne philosophischen Arbeiten Baeumlers verzichtet werden, um die pädagogischen Fragestellungen nicht aus dem Blick zu verlieren. So muß die Frage ungeprüft bleiben, ob Baeumler Bachofen oder Nietzsche zutreffend interpretiert hat. Es geht hier vielmehr um solche politisch-pädagogischen Texte Baeumlers, die er seinerzeit an ein philosophisch nicht besonders vorgebildetes Publikum gerichtet hat.

Männerbündischer Germanismus

Der männerbündische Germanismus wird erkennbar in einem Vortrag über den "Sinn des großen Krieges" - gemeint ist der Erste Weltkrieg - aus dem Jahre 1929.

Die Frage nach dem "Sinn" des Krieges, den Deutschland verloren hatte, beschäftigte das deutsche Bürgertum in hohem Maße, so daß dieses Thema damals keineswegs ungewöhnlich war. Viele Deutsche gaben sich mit der schlichten Erklärung nicht zufrieden, daß der Krieg verloren wurde wegen der militärischen und vor allem auch materiellen Überlegenheit der Gegner. Statt dessen blühten Mystifizierungen, deren folgenreichste die "Dolchstoßlegende" war: Die Truppe sei unbesiegt geblieben, aber in der Heimat seien vor allem "die Roten" und die Juden ihr in den Rücken gefallen. In "Mein Kampf' hatte Hitler diese Stimmung ebenfalls beschrieben: Schuld an der Niederlage seien außer den Soldaten eigentlich alle irgendwie gewesen. Die militärische Niederlage in Verbindung mit dem daraus resultierenden "Schandfrieden" von Versailles hatte ein tiefes Trauma beim deutschen Bürgertum hinterlassen.

Hinzu kam das sogenannte "Fronterlebnis" derjenigen, die den Krieg als Soldaten erlebt hatten. Der Krieg hatte an der

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Front nämlich ein anderes Gesicht gezeigt, als man das in der vorausgehenden Kriegsbegeisterung erwartet hatte. Es war ein Krieg der "Materialschlachten", die den einzelnen Soldaten zu einer anonymen statistischen Größe machten. Diese Art der Kriegführung beseitigte den Status-Unterschied zwischen Offizieren und Mannschaften und schweißte beide zu einer Art von Schützengraben-Gemeinschaft zusammen. Dieses Erlebnis hinterließ bei vielen Soldaten eine tiefe und nachhaltige Wirkung und prägte auch Wünsche nach einer dementsprechenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung; auch Baeumlers politische Vorstellungen waren offenbar davon beeinflußt. Was war für ihn "Der Sinn des großen Krieges"?

Im Kriege hätten zwei Lebenssysteme, zwei Kulturen miteinander gerungen:

"Im Mittelpunkt des ersten Lebenssystems steht die materielle Kultur. Das Wort 'materiell' ist hier nicht moralisch zu nehmen! Auch hier werden Götter angebetet! Da steht der Götze Mammon, da steht der Moloch, der Jugend verschlingt. Wirtschaft und Gesellschaft ist das Losungswort. Der Staat wird zu einer Organisation des Schutzes und der Förderung guter Geschäfte. Sicherheit, nämlich Sicherheit der gewohnten Lebensumstände, der gewohnten Genüsse ist das oberste Gut. Zu diesen Genüssen sind auch die sogenannten 'geistigen' zu zählen: Literatur und Theater, Wissenschaft und Kunst. Wesentlich ist der Genuß in jeder Art (Baeumler 1934, 6).

Dieses System finde seinen reinsten Ausdruck in der Mode. Diese die Menschen einsam und selbstsüchtig machende urbane Kultur werde vor allem durch die großen Städte repräsentiert, deren in diesem Sinne vollkommenste Paris sei.

Dem wirtschaftlich-materialistischen Lebenssystem stehe das männlich-heroische gegenüber.

"Die entgegengesetzte Lebensform ist die des Mannes. Nicht die Wirtschaft und der Genuß, sondern der Staat und die Arbeit stehen hier im Mittelpunkt. 'Arbeit' bezeichnet die Welt des Mannes ... . Die Welt der materiellen Kultur ist eine Welt des Genusses, die Welt der Arbeit ist eine Welt der Tat. Dem Lebenssystem dieser Tat ist die städtische Wohnweise nicht wesentlich, ja sie kann ihm feindlich werden, da sie mit einer

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gewissen Notwendigkeit zur Erleichterung, Sicherung und Behaglichmachung des Lebens führt. Für die urbane Lebensform bedeuten die Mauern der Stadt, die die Häuser umschließen, etwas Heiliges. In dieser Lebensform dagegen heißt es: nicht die Mauern sind es, sondern die Männer, die das Vaterland ausmachen. Nicht das Haus und der Salon, sondern die Männerversammlungen und das Feldlager sind die symbolischen Wirklichkeiten dieser Welt. Ich stelle sie als die heroische der urbanen gegenüber".

Die Hinführung des jungen Mannes zur urbanen Kultur erfolge durch das Weib, das den Mann von der Bindung an Seinesgleichen fernhalte. Die Feminisierung der Politik führe zur Demokratie und diese zum bildungs- und luxusverzehrenden Privatmann.

"Die Gesellschaft weckt zuerst das Bedürfnis nach materieller Kultur, und hält sodann denjenigen, in dem es wachgeworden ist, an seinen Wünschen fest. Denn diese Wünsche sind nur durch Geld zu befriedigen; das Geld aber verwaltet die Gesellschaft. So ist der junge Mann, ohne daß er es merkt, Pazifist geworden. Denn die Gesellschaft hat das Bedürfnis nach Sekurität, sie will, daß die Geschäfte sich ruhig und sicher abwickeln. Der Staat ist nur dazu da, um Erwerb und Geldverkehr zu sichern. Jeder verdiene so viel er kann, das ist die Devise" (41).

Die weibliche urbane Kultur sei dem deutschen Volke nicht wesensgemäß, es müsse wieder zurückfinden zum heroischen Männerbund, aussteigen aus der westlich-bürgerlichen Kultur. "Die bürgerliche Welt ist im Jahre 1918 über Deutschland Herr geworden, weil sie zuvor in seinem Inneren Herr geworden war. Für Deutschland gibt es seitdem nur eine Wahl: die restlose Einordnung in das siegreiche bürgerliche Europa als ein Hausgenosse minderen Rechts - oder der Austritt aus dem bürgerlichen Lebenssystem" (14).

An dieser Frage entscheide sich, wer politisch ,links'' oder "rechts" steht.

",Politisch links' eingestellt sein heißt in Deutschland, diesen Sieg billigen, heißt also, sich auf die Seite des Urbanismus stellen. Für die Linke ist der große Krieg als Krieg, als Ereignis, sinnlos; als Erfolg der feindlichen Waffen dagegen sinnvoll, weil er den Sieg des Urbanismus bedeutet. Heute ist die

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große Aufgabe der Linken: Zerstörung der nichturbanen Volksschichten und Urbanisierung der Arbeiterschaft. Für die Rechte ist der Krieg als Ereignis sinnvoll. Sie lebt noch in der heroischen Welt, sie weiß noch, was Kampf und Sieg ist" (14 f.).

Diese auf den ersten Blick harmlos erscheinende Passage ist tatsächlich eine politische Diffamierung der Linken; denn sie werden zwar nicht als militärische, wohl aber als kulturelle Bündnispartner der Siegermächte dargestellt, mit denen gemeinsam sie die "nicht-urbanen Volksschichten" - also die, auf die es nach Baeumler ankommt - zerstören und damit auch die Substanz des deutschen Volkes antasten, die mit der weltbürgerlichen Zivilisation nicht in Deckung zu bringen sei.

Baeumlers Kritik der Weimarer Gesellschaft ähnelt also der von Krieck - zumindest was die beanstandeten Phänomene angeht: Antidemokratische, antiliberale, antifeminine und antibürgerliche Ressentiments verschmelzen zu einem ideologischen Syndrom. Bemerkenswert ist auch die Übereinstimmung beider im Hinblick auf den anti-femininen Affekt: Die Emanzipation der Frau ist für beide offensichtlich eine fundamentale Bedrohung ihrer politischen Identität, Krieck bringt damit die Auflösung der Familie als sozialer Gemeinschaft in Verbindung, die zur Auflösung auch aller anderen völkischen Gemeinschaften führe; für Baeumler ist die Emanzipation das Symbol jener im Ersten Weltkrieg siegreichen bürgerlichen Kultur, die dem deutschen Wesen nicht gemäß sei. Bei Baeumler nimmt der anti-feminine Affekt skurrile Züge an, wenn er etwa beklagt, daß in der Weimarer Rechtspflege "Weiber" über Männer zu Gericht sitzen dürfen, oder wenn er die Studentinnen ignorierte und seine Hörer ostentativ mit "Meine Herren!" anredete.

An einer anderen Stelle versuchte er seine Vorstellung vom heroischen Männerbund - der "Mannschaft" - im Vergleich zu einer Sportler-Mannschaft zu verdeutlichen:

"Zur Mannschaft gehört eine Verbundenheit der Glieder, die nicht abhängig ist von dem technischen Zweck, der unmittelbar erreicht werden soll. Die Sportmannschaft dagegen ist ein technischer Verband und je reiner sie das ist, desto besser ist es für den Sport. Es wäre ganz irrtümlich, diesen gegebenenfalls für Tage und Stunden zusammengestellten Verband

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als eine besondere Art von Mannschaft aufzufassen. Fällt der Zweck fort, der den Zusammenschluß bewirkte, so fällt die ,Sportmannschaft' auseinander. Der Geist einer echten Mannschaft dagegen würde durch den Fortfall des nächsten Ziels nicht zerstört; er würde sich dann erst recht bewähren. Die Mannschaft wird zwar nur durch eine gemeinsam empfundene und anerkannte Aufgabe wirklich - das unterscheidet sie von bloß persönlichen Freundschaftsbünden -, aber keineswegs ist das, was sie zur Einheit zusammenschmiedet, die Vollbringung einer speziellen Leistung" (Baeumler 1942, 164).

Aber diese Vision der Mannschaft konnte in der arbeitsteiligen modernen Industriegesellschaft, wie sie Deutschland damals darstellte, keinen sozialen Ort haben, sie mußte sich abdrängen lassen in die relativ marginale Lokalität der Lager, und auch dort blieb sie wohl im wesentlichen Fiktion.

Als jedoch der Zweite Weltkrieg ausbrach, schien diese Fiktion Wirklichkeit zu werden. In seinem Aufsatz "Der totale Krieg" propagierte er diesen, bevor es Goebbels in seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast tat.

"Mit unserer Jungmannschaft sind wir alle angetreten, um dorthin zu marschieren, wohin der Glaube des Führers uns weist. In der feierlichen Stunde dieses Aufbruchs wollen wir uns geloben, daß der Glaube derer, denen Deutschlands Jugend anvertraut ist, niemals geringer sein soll als der Glaube der Mannschaft, die die Heimat schützt und eine Weltwende heraufführt" (Baeumler 1942, 32).

Bemerkenswert ist, daß die "Jungmannschaft", die da für Hitler in den Krieg zieht, nicht als Zweckverband verstanden wird - wie die eben erwähnte Sportmannschaft - sondern als Lebensform.

Der Begriff des "totalen Krieges" folge aus dem der "totalen Gemeinschaft" und führe zur "totalen Offenbarung", d.h. in dieser Grenzsituation zeige sich, was für Kerle die Menschen im Verhältnis zur Gemeinschaft wirklich seien.

"Der Begriff des totalen Krieges gibt der Einsicht Ausdruck, daß jeder Versuch eines Gliedes der Gemeinschaft, sich auf irgendeine Weise außerhalb des Kampfes zu halten, erkenntnismäßig auf einer Fiktion beruht und ethisch ein Verbrechen ist Der Einzelne ist nur, was er ist, durch die

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Gemeinschaft in der Gemeinschaft. Sobald die Gemeinschaft sich im Kampfe befindet, befindet auch er sich im Kampfe" (35).
Es sei ein liberalistischer Irrglaube zu meinen, der politische Normalzustand sei der Friede. Beides, Krieg und Frieden, gehörten zusammen. Daraus folge keine Ablehnung des Friedens:

"Das Ziel des Krieges ist nicht wieder der Krieg, sondern der Friede. Ein Krieg, der um seiner selbst Willen geführt würde, wäre nicht total in unserem Sinne, sondern Wahnsinn. Totaler Krieg heißt nicht immerwährender Krieg. Es heißt vielmehr: Der Krieg ist der einzige Weg zum Frieden und das einzige wahre Mittel zur Erhaltung des Friedens" (35).

Baeumler geht nicht der Frage nach, welcher Art der Krieg sei, den Hitler begonnen hatte, um welche politischen Ziele es dabei ging und welche Bedingungen für einen kommenden Frieden gegeben sein müssen.

Ganz so "total", wie es zunächst in strammer Radikalität klang, sollte es dann doch wieder nicht zugehen; denn es sei falsch, nun alle Funktionen der Gesellschaft "zu den Kriegshandlungen in Beziehung" zu setzen. Das gelte auch für die Schule; sie müsse weiterarbeiten und ihren vorhandenen Leistungsstand unbedingt halten.

Den "Meckerern" jedoch muß das Handwerk gelegt werden, sie haben den totalen Krieg nicht begriffen.

"Der gewohnheitsmäßige Meckerer ist nicht von oben herab zu belehren oder mit humorvoller Nachsicht zu behandeln, sondern als einer, der 'draußen' stehen möchte, existenziell zu widerlegen - wenn es sein muß mit rauher Hand. In dem Augenblick, wo ein Volk um sein Dasein kämpft, hört nicht nur der Spaß, sondern auch das lächelnde Verzeihen auf. Wer meckert, läuft moralisch zum Feinde über. Nach dieser geistigen Haltung, nicht nach dem geringfügigen Anlaß ist der Meckerer zu beurteilen und zu behandeln" (38).

Daß der moderne Krieg ein "totaler" sei, war schon eine Erfahrung des Ersten Weltkriegs; er wurde nicht mehr wie vorher irgendwo auf einem "Schlachtfeld" von Soldaten ausgetragen, während in der Heimat das Leben mehr oder weniger seinen üblichen Verlauf nahm. Vielmehr mußten auch die

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Lebensbedingungen in der Heimat den militärischen Notwendigkeiten untergeordnet werden.

Ähnlich wie Krieck die moderne kapitalistische gesellschaftliche Entwicklung durch das Modell des organischen Volksstaates korrigieren wollte, wollte Baeumler die auf Gelderwerb und Genuß beruhende Gesellschaft ablösen durch eine männerbündische Sozialstruktur von "Mannschaften", in denen Führer und Geführte in gegenseitiger Treue einander verschworen sein sollten.

Baeumler hat dieses politisch-ideologische Weltbild nach 1945 als "Germanismus" bezeichnet und sich davon distanziert. Im wesentlichen rekonstruierte er damit eine historische Tradition, die als Vorgeschichte der Hitlerbewegung gelten konnte; dafür montierte er zusammen, was allenfalls unter einem abstrakten geschichtsphilosophischen Blickwinkel zusammen paßte: das germanische Heerlager, die alte Reichsidee, den Turnvater Jahn, die deutsche Romantik, Nietzsche und das Bismarckreich.

Symbol und Einsatz

Auf der zweiten Ebene seines Wirkens geht es um die Prinzipien, nach denen er seinen Berliner Lehrauftrag verstehen und ausführen wollte.

Was kennzeichnete ihn als einen nationalsozialistischen Philosophen und zudem als Pädagogen, der der Jugend die neue geistige Ausrichtung beibringen sollte? Schließlich hatte man ihm mit einer solchen Erwartung den Berliner Lehrstuhl übertragen! Das für ihn in Berlin eingerichtete "Institut hat die Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen der neuen Staatserziehung herauszuarbeiten und an die Stelle des ausgearbeiteten Begriffsystem der Pädagogik des Liberalismus ein tragfähiges Begriffsystem im neuen Geiste zu setzen. Diese Aufgabe kann nur eine realistische Philosophie lösen, die sich dazu mit den Wissenschaften verbindet, die das menschliche Handeln zum Gegenstand haben" (Zit. n. Dickopp 1970, 427). So heißt es in der Chronik der Berliner Universität.

An diese Aufgabe, gegen die individualistische Pädagogik des Liberalismus eine solche "im neuen Geiste'' - also im

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nationalsozialistischen Sinne - zu setzen, ging er ganz anders heran als Krieck. Er setzte nicht auf die sozial-revolutionäre Seite der "Bewegung", in der Hoffnung, diese werde von selbst zur volksgemeinschaftlichen Harmonie führen, vielmehr nahm er die politische Realität des NS-Systems so an, wie sie war, und versuchte in diesem Rahmen philosophisch fundierte Präzisierung zu leisten. Als gelernter Philosoph blieb er kritisch und deutlich ablehnend gegenüber Kriecks Versuchen, eine alle Daseinsbereiche umfassende und integrierende völkische Philosophie zu formulieren; er hielt das zu Recht für reine Spekulation. Dafür erreichte er aber auch nicht Kriecks publizistische Resonanz. Baeumler publizierte in der Zeit von 1933-1945 vier Sammelbände mit Aufsätzen und Reden (Männerbund und Wissenschaft, 1934; Politik und Erziehung, 1937; Bildung und Gemeinschaft, 1942; Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 1943). Hinzu kommt eine längere Einleitung im ersten Band der geplanten Gesamtausgabe der Schriften von Alfred Rosenberg, von denen aber nur dieser erste Band erschienen ist. Ferner sind einige Aufsätze zu erwähnen - vor allem in den beiden Zeitschriften, die er herausgegeben hat: "Weltanschauung und Schule" und "Internationale Zeitschrift für Erziehung". Das war im Vergleich zu Kriecks kaum zu überblickender Produktion nicht sehr viel.

Für diese zweite, aus seinen philosophischen Studien resultierende Ebene sind vor allem zwei Vorträge aus dem Jahre 1933 von Bedeutung: Seine schon erwähnte Antrittsvorlesung und ein einige Wochen früher gehaltener Vortrag "Der theoretische und der politische Mensch".

In seiner Antrittsvorlesung präsentierte Baeumler seine politisch-ideologischen Voraussetzungen und sein Programm. Sie beginnt mit einer Ehrenrettung für die NS-Studenten, die sich ja durch Aktionen gegen Professoren, durch randalierende Störungen von Lehrveranstaltungen weithin unbeliebt gemacht hatten. Sie hätten dabei ein Bild einer neuen Hochschule in sich getragen, das sie noch nicht in Worte fassen könnten. Keineswegs wollten sie die wissenschaftliche Arbeit abschaffen. Aber die idealistische Überlieferung der Universität genüge ihnen nicht mehr, sie wollten sich vielmehr aktiv an der Revolution beteiligen; sie wollten politisch handeln und nicht lediglich unpolitisch zuschauen, wie es die traditionelle Universität von ihnen erwarte. Die dieser zu

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grundeliegende Philosophie des Humanismus habe sich an einer Idee orientiert, wohl wissend, daß sie in reiner Form nie zu verwirklichen sein werde. Dieses "Denksystem des bildlosen Idealismus" sei unpolitisch, auch wenn sich seine Vertreter zur nationalen Bewegung bekannten; denn "eine Hochschule, die selbst im Jahre der Revolution nur von der Führung durch Geist und Idee, nicht von der Führung durch Adolf Hitler und Horst Wessel redet, ist unpolitisch" (Baeumler 1934, 126).

Diesem Denksystem stellt Baeumler nun nicht etwa ein anderes entgegen, sondern eine im Symbol konkretisierte Idee:

"Die Gefolgschaft Adolf Hitlers kennt das Symbol, die Darstellung der Idee in einem Menschen, in einer Fahne. Das Führerprinzip und die Symbole des Nationalsozialismus haben den Begriff der Idee neu geprägt. Hier handelt es sich nicht um einen Wortstreit ... . Bis vor kurzem konnte man noch hören: es heißt Heil Deutschland, nicht Heil Hitler. Der allgemeinere Begriff:. Deutschland bedeute mehr als der individuelle Begriff: Hitler, und es sei parteiisch und engstirnig, wenn man nicht 'Heil Deutschland' sage. Als ob wir nicht, wenn wir Heil Hitler sagen, Heil Deutschland meinten! Aber wir meinen es konkret, wir meinen es eindeutig, wir meinen es politisch. Hitler ist nicht weniger als die Idee, er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich" (126 f.).

An die Stelle des früheren absoluten Begriffs des Menschen müsse ein geschichtlicher, realistischer treten, daß der Mensch nämlich einer bestimmten Rasse und einem bestimmten Volkstum in einer bestimmten geschichtlichen Lage angehöre. Korrigiert werden müsse vor allem die Diskrepanz zwischen dem Typus des Gebildeten und dem des Soldaten:

"Das eigentliche Verhängnis des 19. Jahrhunderts war, daß die humanistische Philosophie und die schweigende Philosophie der Soldaten des preußischen Generalstabs nicht zusammenstimmten. Fast gleichzeitig mit der Berliner Universität ist das System der allgemeinen Wehrpflicht entstanden. Das neue Universitätssystem und das neue Wehrsystem hätten auf den gleichen Erziehungsgedanken gegründet werden müssen Das ist nicht geschehen. Im Heere wurde der Mann erzogen, an der Universität wurde der Mensch gebildet. Der preußische Generalstab erzog Soldaten, die Universität brachte Gebildete hervor. Der theoretische Mensch, den sie

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großzog, kannte wohl die geistigen Güter seiner Nation, aber er wußte nichts von der Erde und von der schweren Mühe des Alltags, er war dem Bauern und dem Arbeiter fremd, er hielt sich für ein absolutes Ich unter hochmütiger Verachtung des Volkes, der Mutter, die ihn geboren hatte. Der kämpfende Mensch, der politische Mensch, der Soldat, der Bauer und der Arbeiter waren diesem nur noch 'verstehenden' Gebildeten fern und unzugänglich" (129).

Es nütze nicht viel, wenn die Gebildeten lediglich per Gesinnung sich zur nationalsozialistischen Revolution stellten; denn "Volksgemeinschaft bedeutet etwas anderes als Verbundenheit in Gesinnung und Wille. Wer legt diese Gesinnung, diesen Willen aus? Wer richtet die einzelnen aus, wer bezeichnet das Ziel konkret? Die patriotische Gesinnung wird nicht bezweifelt, aber mit patriotischer Gesinnung kann man nicht kämpfen und die Macht ergreifen. Dazu bedarf es des unbedingten Einsatzes für konkrete Symbole. Nur ein solcher Einsatz ist politisch, d.h. bewirkend. Die bloße Gesinnung bewirkt nichts" (128).

Das heißt im Klartext: Aktiver Einsatz wird verlangt für denjenigen, der den "Willen auslegt": für Hitler.

Nationalsozialismus bedeute "geistig" "die Ersetzung des Gebildeten durch den Typus des Soldaten" (129).

"Typus" ist hier wie bei Krieck gemeint als kollektive Haltung, Gesinnung und Einstellung in einer bestimmten sozialen Gruppe, also im Gegensatz zur bloßen Individualität. Und von dieser Grundposition aus versteht Baeumler den Lehrauftrag der "Politischen Erziehung" so:

"Ich werde an die Stelle des neuhumanistischen Bildes des Menschen das wahre Bild vom politischen Menschen setzen, ich werde das Verhältnis von Theorie und Praxis neu bestimmen, ich werde die Lebensordnungen beschreiben, in denen wir wirklich leben, ich werde meine Erkenntnisse vermitteln, aber ich werde nicht in Politik dilettieren. Das Bild des politischen, d.h. des wirklichen Menschen zu zeichnen ist meine Aufgabe, nicht Kathederpolitik zu treiben. Politik können nur die machen, die sie auch zu verantworten haben " - ... der Gedanke muß sich vor dem Gedanken verantworten" (130).

Dabei werde seine Aufgabe auch darin bestehen, die Symbole zu deuten, den Gegensatz von Symbol und Wort zu be-

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arbeiten, was heißen soll: die ursprünglichen Symbole der Hitlerbewegung, wie Gruß, Fahne usw. müssen philosophisch gedeutet und auf diese Weise zu einer neuen Kultur geformt werden. Das Symbol schmücke aber nicht den einzelnen, sondern repräsentiere Gemeinschaft, schließe also auch andere aus, und "Humanität" gelte keineswegs gegenüber allen Menschen - wie es im Programm der allgemeinen Menschenrechte verkündet ist.

"Wer unter Humanität eine politische und geistige Organisation alles dessen, was Menschenantlitz trägt, versteht, dem erwidern wir: wir sind nicht human. Denn wir wissen, daß es ein Zusammenleben von Menschen auf höherer als nur ökonomischer Basis nicht geben kann ohne die Konzentration dieser Menschen um das ihnen angemessene Symbol. Dieses Symbol vollbringt eine Scheidung, es setzt, was Recht und Unrecht, was wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt, es schließt aus, es ist ein Symbol nur für diejenigen, die es aus dem Grunde verstehen, und die es mit Begeisterung erfüllt. Das ist unser Begriff von Humanität: Humanität ist da, wo Menschen an ein Symbol glauben und sich einsetzen, wo ein Symbol begeistert und fortreißt zu Gestaltungen und Taten. Humanität ist uns ein Begriff nicht der Ausdehnung, sondern ein Begriff, der auf eine bestimmte Höhenlage hinweist. ,Menschlich' ist ein Volk nicht dann, wenn es alle Rassen duldet, wenn es Fremden die politische und geistige Herrschaft über sich zugesteht, sondern menschlich ist es dann, wenn es sich mit aller seiner Kraft bemüht, sich selber in menschlich große Form zu bringen" (135).

Und die Warnung an den politischen Gegner ist unüberhörbar: "Wer nicht mit uns leben und sterben kann, der wird nicht als Ketzer verbrannt. Er bleibt unbehelligt, wenn er uns nicht angreift. Aber: ... wir stellen es dem Einzelnen nicht frei, die Symbole anzugreifen und zu verwerfen, in denen sich unsere Einigkeit offenbart" (137).

Die Einheit des deutschen Volkes wird für Baeumler also repräsentiert und sinnlich erfahrbar gemacht in den Symbolen der Nazibewegung bzw. in denen, die diese Bewegung aus Traditionsbeständen – z.B. des preußischen Militärs - aufzunehmen gedenkt.

Einige Wochen vor seiner Antrittsvorlesung, am 27.2.1933 - da war er noch nicht Parteimitglied - hielt Baeumler einen

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Vortrag unter dem Titel "Der theoretische und der politische Mensch". Entwickelte er in der Antrittsvorlesung im wesentlichen die Bedeutung der Symbole und ihrer Interpretation, so ging es ihm hier um die These, daß der Mensch ein handelndes Wesen sei.
"Der Mensch ist wesentlich ein politisches Wesen, d.h. er ist nicht ein Wesen, das zuerst kontempliert, Werte betrachtet, und dann handelt, er ist nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist, daß er teilnimmt an einer höheren geistigen Welt - dann wären die meisten Menschen vom Menschsein ausgeschlossen -, sondern er ist ein ursprünglich handelndes Wesen" (Baeumler 1934, 94).

Diese anthropologische Grundthese formulierte er im ausdrücklichen Gegensatz zum schon erwähnten Selbstverständnis des humanistisch "Gebildeten".

"Die humanistisch-idealistische Philosophie der Bildung geht von der Vorstellung aus, daß sich über einem Unterbau von Not und Arbeit, von Widerspruch und Streit ein Überbau des Geistes erhebe, die lichte Welt des Bewußtseins, eine Welt über dem ,Graus der Zeiten', in der nicht gestritten und gerungen wird, sondern wo die stille Betrachtung, das Verstehen und Erkennen ihren Ort haben. Und die Voraussetzung ist: es sollte jenen Kampf, jene Not des Arbeitens, jene Entzweiung des politischen Kampfes nicht geben. Nur da sei der Mensch ganz Mensch, wo er spiele" (95).

Dieses Harmonie- und Friedensbedürfnis sei aber eine Illusion, eine Fehleinschätzung der menschlichen Wirklichkeit, für die im Gegenteil Handeln konstitutiv sei.
"Handeln ist aber kein Realisieren erkannter Werte. So leicht ist es dem Menschen nicht gemacht. Der wahrhaft Handelnde steht immer im Ungewissen, er ist ,wissenlos', wie Nietzsche sagt. Das macht gerade das Handeln zum Handeln, daß es nicht gedeckt ist durch einen Wert" (95 f.).

Aus dieser anthropologischen Grundbefindlichkeit des Menschen folge, daß menschliches Verhalten nie absolut "sachlich" sein könne, sondern immer tendenziös sein müsse. Deshalb erfolge Handeln immer in einer bestimmten Richtung, politisches Handeln heiße also immer Partei ergreifen. Das habe der Parlamentarismus verleugnet, er sei "das der Fiktion des theoretischen Menschen entsprechende

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politische System" (105). Nach dieser Fiktion bestehe das Parlament aus lauter einzelnen Abgeordneten, die je individuell nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, der Sache und dem Volke verpflichtet. In diesem Verständnis gebe es keinen "ursprünglichen Willen", kein "ursprüngliches Handeln", "keine unabhängig handelnde, rein politische Macht", sondern "lediglich eine nach allgemeiner Einsicht beschließende Körperschaft, deren Beschlüsse von einer nur ausführenden Macht im Verwaltungswege 'verwirklicht' werden" (105 f).

Die Tatsache, daß im Parlament Parteien vertreten seien, werde in der Verfassung gar nicht erwähnt, und deshalb sei diese "der Ausdruck der Entpolitisierung unseres gesamten Daseins" (106).

Das individuelle politische Handeln sei also nicht nur immer parteilich gerichtet, es sei immer auch gerichtet auf das Ganze, und die entscheidende Frage sei: "Wer soll das Ganze vertreten? Die Frage nach dem Wer ist die existentielle Frage, ihr kann man nicht entgehen. Es gibt keine Politik ohne Namen, ebenso wenig wie eine Wissenschaft ohne Namen: Erkennen und Handeln unterscheiden sich nicht wie sicheres Vorgehen und egoistisches Ansichreißen, sie fallen auch nicht zusammen unter dem Begriff fachmännischen Tuns, sondern sie stehen zusammen unter dem Begriff des Wagnisses. Von dem Erkennenden wie dem Handelnden wird das ganze gewagt, die großen Methoden wie die großen Reiche tragen die Namen derer, die sie gewagt haben" (107 f.).

Die Frage nach der Repräsentanz des Ganzen hatte er schon beantwortet: Hitler steht für das Ganze, und deshalb sei es unpolitisch, nur eine patriotische Gesinnung zur Schau zu stellen, auf aktiven "Einsatz" für die Hitler-Bewegung komme es an.

Auch die "Kulturwerte", die der "Gebildete" als seinen "Wert" betrachtet, seien nicht durch Anerkennung von Werten zustande gekommen, sondern durch aktive Wagnisse.

"Handeln heißt nicht: sich entscheiden für ... , denn das setzt voraus, daß man wisse, wofür man sich entscheidet, sondern Handeln heißt: eine Richtung einschlagen, Partei nehmen, Kraft eines schicksalhaften Auftrags, Kraft eigenen Rechts,

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ohne die Möglichkeit einer Deckung. Handeln heißt: sich einsetzen ohne Sicherheit, nur mit Gewißheit" (108).

Wir werden uns mit dieser Handlungstheorie noch beschäftigen müssen. Welche gefährlichen, ja demagogischen Konsequenzen sie haben kann, führt Baeumler selbst blauäugig vor. Die Rektorenkonferenz hatte im Hinblick auf politisch motivierte Ausschreitungen an den Universitäten am 4. Dezember 1932 folgende Entschließung verfaßt:

"Es liegt den deutschen Hochschulen und ihren Rektoren fern, der studierenden Jugend die Beschäftigung mit den Problemen des politischen Lebens zu verwehren. Sie erachtet es vielmehr für selbstverständlich, daß Lehrer und Studenten mit heißem Herzen Anteil nehmen am Geschick des deutschen Vaterlandes. Dagegen lehnen sie mit dem Nachdruck ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Wissenschaft das Hineintragen der Parteipolitik in die Hochschule grundsätzlich ab".

Dazu Baeumlers Kommentar: "Die Studenten dürfen sich also mit dem Verstande und mit dem Herzen mit Politik beschäftigen - aber sie dürfen nicht Politik treiben" (109).

Das hatten die Rektoren gar nicht gesagt, sie wollten nur innerhalb der Hochschule keine politische Betätigung. Dieses von Baeumler selbst vorgebrachte Beispiel zeigt jedenfalls eine Konsequenz seines Handlungsbegriffes: Die Rechtfertigung derartiger Übergriffe; denn sie waren natürlich nicht durch Werte gedeckt, erfolgten nicht durch Realisierung von Werten, sie waren ein "Wagnis", weil die so Handelnden die Folgen nicht klar voraussehen konnten, die Rektoren hätten ja zum Beispiel, wenn sie auch etwas "gewagt" hätten, die Rädelsführer von der Universität verbannen können.

Mit der Vorstellung dieser beiden Reden ist Baeumlers politisch-pädagogische Grundposition hinreichend beschrieben: politisch geht es gegen das parlamentarische System von Weimar und die dieses tragenden und stützenden liberalen, und humanistischen Ideen, philosophisch geht es gegen die Tradition des humanistischen bürgerlichen Idealismus, wobei beides für ihn innerlich zusammengehört. Etwas vereinfacht läßt sich also sagen: durch seinen männerbündischen Germanismus ist Baeumler zur Hitlerbewegung gestoßen; seine Eintrittskarte waren die politische Hofierung der Nazi - Symbole und seine aktivistische Anthropologie.

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Immer erfolgt die Argumentation so, daß die politische Führung gerechtfertigt und Baeumlers nationalsozialistische Gesinnung erkennbar wird.

Diese Tendenz tritt auf der dritten Ebene der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge deutlich zurück.

Bildung, Bildbarkeit und Schule

Baeumler hat bis 1945 keine in sich schlüssige, systematische Arbeit über die NS-Erziehung vorgelegt. Veröffentlicht hat er lediglich Vorträge und Aufsätze, die sich mit Einzelfragen befassen. Er versuchte, die nationalsozialistische Erziehung jeweils im Gegensatz zum individualistischen Liberalismus und der bildungsgeschichtlichen Tradition zu fundieren, die er vorfand. Zu überwinden sei der Typus des "Gebildeten", der sich von der Realität des völkischen Lebens distanziere, sich für über den Parteiungen stehend halte und seine auf dem Gymnasium und der Universität erworbene "Bildung" als eine Art von Besitz betrachte. Diesen Typus, der auch bei der nationalsozialistischen Revolution wie bei allen politischen Ereignissen abseits gestanden habe und dessen Position auf einem unrealistischen Menschenbild beruhe, nimmt er immer wieder ins Visier.

Dabei greift er seine Kontrahenten von der "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" - Litt, Blättner, Nohl, Weinstock - in den ersten Jahren nach der Machtergreifung polemisch an, und zwar mit dem Vorwurf, sie würden ihre pädagogische Argumentation dem "neuen Geist" nur anpassen, tatsächlich jedoch dem traditionellen Bildungsideal verhaftet bleiben. Diese Polemik verschwindet jedoch etwa ab 1939 und macht einer zunehmend sachlich werdenden Argumentation Platz.

Im Unterschied zu Krieck beschäftigte Baeumler sich mit pragmatischen Fragen der Pädagogik in dem Bemühen, diesen systematisch auf den Grund zu gehen. Vor allem galt sein Interesse der Schule, der Lehrerbildung und dem Sport. Den grundlegenden Sinn der Schule verteidigte er gegen den schulfeindlichen Impetus der HJ einerseits und gegen das vordergründige Nützlichkeitsdenken aus Wirtschaftskreisen andererseits. In einem bemerkenswerten Aufsatz über "Bildung" rechtfertigt er diesen Begriff als auch für den National-

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sozialismus unverzichtbar. Bemerkenswert ist dieser Beitrag deshalb, weil Baeumler den Bildungsbegriff der individuellen geistigen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zuweist, obwohl er sich damit dem Verdacht aussetzt, an den verpönten liberalistischen Individualismus wieder anzuknüpfen.

"Bildung ... ist etwas, was sich nur im Einzelnen ereignen kann. Der Mensch, der seine Anlagen und Kräfte entwickelt, ,bildet sich'. Aber dieses Verbleiben des Vorgangs der Bildung im Subjekt begründet keineswegs den Vorwurf des Individualismus gegenüber dem Bildungsvorgang überhaupt ... . Indem der heranwachsende Mensch geistige Gehalte produzieren und reproduzieren lernt, bildet er sich, und diese Bildung ist ein Urvorgang des Gemeinschaftslebens, obwohl sie sich im Subjekt vollzieht, und nichts anderes ist als die gesetzmäßige Entfaltung der Kräfte des Einzelmenschen. Denn die Gemeinschaft ist darauf angewiesen, daß die Glieder ihre Anlagen und Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung bringen, d.h. daß sie sich bilden" (Baeumler 1942, 112).

Der Weg der Bildung brauche seine Zeit, und die müsse dem Nachwuchs auch gewährt werden.

"Der Vorgang der Bildung erstreckt sich über eine Reihe von Jahren und ist als Ganzes unsichtbar. Das Kind, das den Weg der Bildung begeht, merkt nichts davon. Die Eltern nehmen die eigentliche Entwicklung meist nicht wahr. Die Öffentlichkeit empfängt den durch die Schule Gebildeten wie ein selbstverständliches Geschenk und äußert sich gewöhnlich nur dann, wenn sie etwas vermißt" (116).

An anderer Stelle rechtfertigt er die Schule gegen den Vorwurf, sie sei zu weltfremd, sie müsse näher an das Leben herangeführt werden.

"Es war einmal möglich, eine Schule zu konstruieren, die dem Leben völlig entrückt war. Das ist heute nicht mehr die Gefahr. Die Schule, die vom Leben nichts weiß, ist überwunden" (120).

"Der Weg zur Leistung" - so der Titel des Aufsatzes - könne nicht immer unmittelbar, etwa im Berufsleben selbst angestrebt werden, er bedürfe manchmal vielmehr auch des Umwegs. "Die Schule ist der Umweg, den das Leben selber erfunden hat, um zu bestimmten Leistungen zu gelangen. Um
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sein Ziel zu erreichen, setzt das Leben sich scheinbar in Widerspruch zu sich selbst; es schafft die Schule, die ihrem Aufbau nach nicht Leben ist, und gerade damit dem Leben dient" (119).

Offensichtlich erfolgt Baeumlers Parteinahme für die allgemeinbildende Schule auf dem Hintergrund jener massiven Schulkritik, wie sie ab 1936 aus Kreisen der Wirtschaft formuliert wurde; die Schulleistungen insbesondere der Volksschulabgänger seien erheblich zurückgegangen. Dem nun drohenden vordergründigen Praktizismus widersprach Baeumler.

"Die allgemeine Schulpflicht der Jugendlichen bis zum 14. Lebensjahre ist einer der größten Siege, die vom Leben über die bloße Praxis errungen worden sind. Naturgemäß kann es immer nur einen Ausgleich zwischen der Schule und dem Leben geben, da beide im Recht sind. Unfruchtbar wird die Spannung zwischen ihnen erst dann, wenn man das Recht der Schule unverständig bestreitet. Vor allem da, wo durch die Sache eine längere Ausbildungszeit gefordert ist, pflegt ein gewisser Widerspruch gegen jede der Schule gewidmete und damit der Praxis entzogene Zeit einzusetzen ... . Was man in einer guten Schule lernt, ist nicht ein bestimmtes Handeln, sondern das Handelnkönnen ... sie darf nicht anlernend und abrichtend, sondern sie muß bildend sein" (122).

Im Unterschied zu Krieck hält Baeumler nichts von einer universitären Ausbildung der Volksschullehrer. Er verteidigte und rechtfertigte die im Krieg beschlossene Neuordnung der Lehrerbildung, die praktisch auf das Niveau der Seminar-Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg zurückfiel, mit dem Unterschied, daß nun die Lagererziehung einen breiten Raum einnahm. Im übrigen kommt er, wenn er sich über die Aufgaben und die Stellung des Lehrers äußert, über allgemeine Bemerkungen nicht hinaus. Im Unterschied zu früher unterstehe die Schule nun dem Vorrang der Politik. Allerdings bedeutet dies "nicht eine Unterwerfung schöpferischer Kräfte unter tote Vorschriften, sondern die Einordnung der Erziehung in die Volksordnung. Politik ist das auf die Herstellung der Volksordnung gerichtete Handeln des Führers, an dem jeder einzelne in Treue gegen den Führer an seiner Stelle aus eigener Verantwortung teilnimmt. Nach der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus ist der Lehrer also

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nicht ein bloßer Exekutor von Anordnungen politischer Organe, sondern er ist derjenige, der den politischen Auftrag, den die Schule vom Führer erhalten hat, in eigener Verantwortung durchführt. "Hat er den politischen Auftrag verstanden und übernommen, so ist er frei" (96 f.).

Entweder soll das heißen, daß - wie heute auch - dem Lehrer durch seinen pädagogischen Auftrag, sozusagen von seiner Sache her, ein Handlungsspielraum zugestanden wird, dann ist "der Auftrag des Führers" nur eine ideologische Verklärung. Oder aber dieser Auftrag, der ja nicht präzisiert wird, sondern in Konfliktfällen der Interpretation bedarf, ist ein jederzeit benutzbarer Maßstab zur Disziplinierung - nicht durch Hitler selbst, sondern durch diejenigen, die die Macht haben, seinen "Auftrag" zu definieren.

Baeumler war zwar mit ähnlichen Begründungen wie Krieck Antisemit, aber kein Rassist. Den Begriff "Rasse" benutzte er selten und dann lediglich im Sinne einer anthropologischen Grundgegebenheit. In einem Aufsatz mit dem Titel "Rasse als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft" geht es im Kern um die Frage der Bildbarkeit des Menschen. Diese sei nicht unbeschränkt, sondern werde durch den "Charakter" des Menschen bestimmt. Der Charakter sei aber anlagebedingt und nicht einfach aus Umwelteinflüssen erklärbar. Er gebe die Grundrichtung, aber eben auch die Grenzen der menschlichen Bildbarkeit an.

"Das Rassedenken macht die meist übersehene, aber doch wohl unbestreitbare Voraussetzung, daß der Mensch zutiefst Charakter ist, und daß zuletzt auch die Leistungen der Intelligenz vom Charakter abhängig sind. Gerade die Tiefenschichten der menschlichen Persönlichkeit aber, die Schichten, in denen die Entscheidungen des menschlichen Daseins wurzeln und die die Lebenskurve des Einzelnen zu samt seiner Leistung bestimmen, sind von der Umwelt ihrer Grundrichtung nach unabhängig" (Baeumler 1942, 83).

Gleichwohl bedürfe die durch den Charakter vorgegebene Grundrichtung der Entfaltung durch Erziehung und Bildung. "Nicht von selbst gelangt in der menschlichen Sphäre das Lebendige zur vollkommenen Gestalt. Es bedarf der Erziehung in der Gemeinschaft. Nur durch die bildende Einwirkung der anderen gelangt die Seele zu sich selbst, wird sie das, was sie ist. Am Anfang steht die angeborene, aber noch

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unbestimmte Richtung des Charakters, am Ende die klare bestimmte Form, in der der Charakter sich erfüllt. Wir nennen diese Form den Typus, zu dem der Einzelne durch die Gemeinschaft erzogen wird" (85).

Auch diese Argumentation richtet sich wieder gegen den "lntellektualismus" des traditionellen Bildungsdenkens:

"Der Intellektualismus nimmt an: 1. Daß der Mensch als reine, d.h. unbestimmte Anlage (tabula rasa) zur Welt komme, 2. daß die Umwelt die Macht habe, auf diese Tafel zu schreiben, was sie wolle, 3. daß das Organ, mit dem der Mensch sich auf die Welt beziehe, der Intellekt sei, 4. daß das Handeln des Menschen durch den Intellekt geleitet werde und daher durch Beeinflussung des Intellekts entscheidend zu beeinflussen sei" (81 f.).

Aus diesen Prämissen habe die Erziehungswissenschaft den Begriff der unbeschränkten Bildsamkeit abgeleitet. Das jedoch sei anthropologisch unrealistisch, resultierend aus der Erfahrung, daß in der Tat der Intellekt des Menschen von allen seinen Fähigkeiten am ehesten durch die Umwelt - also durch Lernen - zu beeinflussen sei. Was Baeumler hier Charakter nennt als Zusammenfassung der erblich vorgeprägten Anlagen, hat für ihn auch eine rassische Fundierung. Aber er leitet daraus keine rassistische pädagogische Theorie ab. Im Vergleich zu den damals zu hörenden biologistischen Tönen wirkt sein Artikel eher distanziert.

Baeumler verlor nach dem Kriege seine Professur und wurde drei Jahre in den Lagern Hammelburg und Ludwigsburg interniert. In dieser Zeit setzt er sich intensiv mit dem NS-Regime und vor allem mit der Person Hitlers auseinander, wie aus jüngst veröffentlichten Notizen hervorgeht (Baeumler 1991). Er klagt Hitler der "Untreue gegen das deutsche Volk" an (165); er sei "der rasende Kleinbürger, der alles niedertritt, um hinauf' zu gelangen" (168). Sein vielzitierter "Instinkt" "geht immer nur einige Monate, höchstens drei Jahre in die Zukunft. Das ist das Wesen des Instinkts: die Enge. Es gibt keinen Instinkt für Abläufe von zehn bis zwanzig Jahren. Das ist nur dem Verstand sichtbar" (176). Er kenne nur Schwachsein und Starksein: "Er fordert zuviel, wenn er stark ist, er ist gelähmt, wenn er schwach ist. Er handelt nicht zusammenhängend" (178). Bemerkenswert ist, daß Baeumler sich über Hitler in der Gegenwartsform äußert, als ob er

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noch lebte. In einer Notiz mit der Überschrift "Warum ich Hitlers Wollen mißverstehen konnte", heißt es, daß man in Krisenzeiten Gefahr laufe, "denen zu verfallen, die alles angreifen ... man übersieht ganz, daß es auch eine grundsätzliche Verneinung gibt ... da die Verneinung in diesem Falle objektiv, historisch berechtigt ist, nimmt man sie als positiven Akt, während sie nur verneinend ist. Man schließt von der objektiven Berechtigung auf die Berechtigung dessen, der die Verneinung ausspricht.

Was mich an Hitler überzeugte, war, daß er nirgends stehenblieb, mit nichts paktierte. Das, meinte ich, konnte er nur, weil er wirklich etwas neues, positives sah, zu den Quellen zurückging. Daß er überhaupt nichts sah, konnte ich mir nicht vorstellen. Seine Unbestimmtheit in Bezug auf die Zukunft hielt ich für politische Klugheit" (197).

In einer Spruchkammerverhandlung wurde Baeumler zunächst in die Kategorie II der "Belasteten" eingestuft, ein Jahr später aber von einem nun mit Juristen besetzten Gericht freigesprochen. Schwerer wog, daß er dennoch als hoher ehemaliger Parteifunktionär angesehen wurde, als Prototyp des deutschen Wissenschaftlers, der sich der Hitler-Bewegung verschrieben hatte, obwohl ihm die erste Spruchkammer immerhin persönliche Integrität bescheinigt hatte. Während die meisten Hochschullehrer, die sich mehr oder weniger aktiv in der Hitlerbewegung betätigt hatten, bald wieder in Amt und Würden waren, blieb Baeumler isoliert. Nun rächte sich offenbar, daß er keiner "Seilschaft" angehörte. Seine philosophische Laufbahn war zerstört. Er konnte seine Bachofen-Einleitung zwar noch einmal 1965 unter dem Titel "Das mythische Weltalter'' veröffentlichen, aber die Nietzsche-Taschenbuchausgabe erregte Ärgernis, weil sie immer noch mit seinem Nachwort versehen war. Sonst ist unter seinem Namen offenbar nichts mehr erschienen. Sogar Manfred Schröter, mit dem er in den 20er Jahren das "Handbuch der Philosophie" herausgegeben hatte, hielt seine Entlastung durch die Spruchkammer für nicht gerechtfertigt und schrieb ihm:

"Du giltst in der Welt einmal als geistiger Befürworter und Schrittmacher des Nationalsozialismus - mag er später gegenüber Deinen Anfangshoffnungen noch so entartet sein - am untadeligen Weiß Deines Philosophenmantels haftet

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nun einmal der Hakenkreuzfleck als Radikalböses... "(M. Baeumler, 202).

Damals konnte die deutsche Öffentlichkeit noch nicht wissen, daß das "Amt Rosenberg" ziemlich bedeutungslos war im Machtgefüge der rivalisierenden Parteigrößen, aber es bot Baeumler eine Nische, in der er verhältnismäßig geschützt arbeiten konnte. Seine Kontakte zur Partei waren begrenzt auf seine Beziehung zu Rosenberg, im übrigen blieb er in der Partei ein Außenseiter, was ihm seine Gauleitung ja auch als Mangel an Aktivität und Einsatz vorgeworfen hatte.

Wie viele konservativ orientierte Intellektuelle befand er sich angesichts des rapiden kulturellen Wandels am Anfang der 30er Jahre in einer Identitätskrise, auf der Suche nach sozialer und kultureller Zugehörigkeit. Um diese Krise zu lösen, montierte er sich aus dem damals vorhandenen konservativen ideologischen Repertoire sowie aus seinen Studien über die Romantik und Nietzsche eine Weltanschauung zusammen, die die für seine Identität so wichtigen Fragen beantworten konnte: Was heißt es, ein Deutscher zu sein? Und: Was heißt es, ein Mann zu sein? Die Antwort war eben jener männerbündische Germanismus.

In Hitler sah er den Repräsentanten einer Volksbewegung, in den Märzwahlen von 1933 eine Volksabstimmung für die Hitlerbewegung. Er setzte auf diese Bewegung, darauf, daß sie die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Probleme lösen werde, wie er sie empfand. Im Rahmen dieser Bewegung wollte er sich auf seinem Gebiet engagieren. Hitler selbst hat er in seinen Schriften nie zitiert, aber er war so naiv, dessen Führungsposition als gegeben hinzunehmen, ohne sich z.B. über die Frage der Machtkontrolle Gedanken zu machen. In einem Brief an Manfred Schröter schrieb er 1950:

"Ich verleugne es nicht: Ich war Nationalsozialist, ich habe, heißt das, an die Zukunft Deutschlands auf dem Wege, den Friedrich der Große und Bismarck eingeschlagen haben, geglaubt, ich habe die Republik von Weimar verachtet und gehaßt, ich habe eine große Zukunft unseres Volkes als selbständige politische Macht gegen alle Möglichkeit herbeigesehnt ... ich habe auf das Wunder der Wiedergeburt des Reiches gehofft und daher schließlich nach langem Zuwarten die Massenbewegung Hitlers für fähig gehalten, den

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deutschen Partikularismus zu überwinden. Aber nie habe ich aufgehört, in der mir wesensmäßig fremden und eigentlich immer unbekannt gebliebenen Massenorganisation etwas anderes als ein Erstes, Vorläufiges zu sehen, einen groben Keil auf den groben Klotz der schwarzroten Republik" (M. Baeumler, 210).

Vier Jahre später schreibt er, ebenfalls in einem Brief:

"Meine Erwartung war, daß die Partei sich regenerieren und schon im Interesse ihrer Erhaltung den Staat so gut als möglich verwalten würde. Ich glaubte damals an 'Institutionen'. Daß man im 20. Jahrhundert mitten in Europa eine politische Herrschaft nur auf Terror gründen könne, lag außerhalb meiner Vorstellungswelt. So etwas kam doch nur bei Tacitus vor!" (M. Baeumler, 229).

In dem schon erwähnten Brief an Manfred Schröter aus dem Jahre 1950 distanzierte er sich ausdrücklich von seinem "Germanismus".

,Alles, was ich jemals für Hitler und sein System gesagt habe, erkläre ich für Irrtum und Wahn. Wenn ich etwas gegen die Kirchen und gegen die Juden geschrieben habe, so ist das stets im geschichtlichen Zusammenhang geschehen, es war tendenziöse Polemik, die sich aus meiner Auffassung des ,Reiches' ergab. Es war die negative Kehrseite meines Germanismus. Ich erkläre diesen Germanismus für einen verhängnisvollen Irrtum, und alles, was ich daraus gefolgert habe, für falsch. Was ich über die Kirchen, über die Juden, über den Liberalismus geschrieben habe, ist Ausdruck einer Übersteigerung der preußisch-deutschen Geschichtsauffassung, einer unbegreiflichen Verdunkelung des Verstandes, einer Verirrung des Geistes. Es ist keine Entschuldigung für mich, daß ich diesen Irrtum mit den hervorragendsten Vertretern der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung teile. Mein Verstand hätte ausgereicht, die Abgründe rechts und links zu erkennen" (M. Baeumler, 212).

Baeumler starb am 19.3.1968 in Eningen bei Reutlingen.

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Politisch-Pädagogisches Resümee: Die anthropologische Sackgasse

Zweifellos hat Baeumler in ganz anderem Maße als Krieck die Hitler-Bewegung und ihre politische Führung ideologisch gerechtfertigt, und seine ständige Aufforderung, nicht nur die richtige Gesinnung, sondern auch "Einsatz" für diese Bewegung zu zeigen, grenzte schon an Nötigung. Inwieweit dies aus Opportunismus geschah oder aus politischer Naivität, mag dahingestellt bleiben.

Im Unterschied zu Krieck war er ein introvertierter Einzelgänger. Während von Krieck eine charismatische Ausstrahlung auf nicht wenige junge Leute ausging, was wohl vor allem seiner persönlichen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben war, wirkte Baeumler abweisend und kontaktarm. Von jener rauschhaften Szene der Bücherverbrennung, wo er ineins mit den studentischen Massen und diese führend auftrat, ist später nicht viel geblieben. Das kann nicht nur daran gelegen haben, daß er relativ hohe Leistungsanforderungen stellte und wissenschaftliche Maßstäbe aufrechtzuerhalten suchte. Vor der Spruchkammer verteidigte er sich später unter anderem damit, daß er nicht mehr als dreißig bis sechzig Hörer gehabt habe.

"Hätte ich billige Weltanschauung für HJ und SS vorgetragen, dann wären es in jedem Semester dreihundert gewesen ... . Hätte ich 'nationalsozialistische Wissenschaft' vorgetragen, dann wären im Semester zwanzig bis dreißig Doktorarbeiten fällig gewesen, da jeder ja nur das hätte schreiben brauchen, was er schon wußte. Gerade derartigen Tendenzen bin ich von Anfang an mit solcher Energie entgegengetreten, daß ich nach einigen Jahren völlige Ruhe hatte. Im Laufe von zwölf Jahren wurden bei mir zwölf Doktorarbeiten gemacht" (M. Baeumler, 199 f.).

Beim NS-Studentenbund und beim Dozentenbund, die die Universität weltanschaulich pädagogisieren wollten, war er unbeliebt. In einem Aufsatz hatte er die wissenschaftliche Leistung Einsteins positiv erwähnt, der als Jude damals nicht zitierfähig war, dafür wurde er in einem Brief an Rosenberg als "Gesinnungslump" bezeichnet. In einem Gutachten plädierte er zugunsten der anthroposophischen Pädagogik ("Waldorf-Schulen"), was ihm d en Zorn Bormanns ein-

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brachte. Bei allem Gerede von "Gemeinschaft" blieb sein Denken individualistisch. Die sozialen Dimensionen der menschlichen Existenz - das Hauptthema Kriecks - interessierten ihn kaum bzw. nur im Hinblick auf die irrationalen Aspekte des Symbolischen.

Während Krieck sich immerhin bemühte, "Gemeinschaft" in einem völkischen Sinne zu präzisieren, blieb dieser Begriff bei Baeumler kaum mehr als eine Phrase. Das wird besonders deutlich in dem erwähnten Aufsatz über den "Totalen Krieg", wo die "totale Gemeinschaft" zu wenig mehr taugt als zur Denunziation der "Meckerer".

Andererseits drängt sich wie auch bei Krieck der Eindruck auf, Baeumler habe den Spielraum der NS-Weltanschauung nutzen wollen, um seine eigenen Vorstellungen nicht nur zum Ausdruck, sondern auch zur offiziellen Anerkennung zu bringen. So ließen sich etwa einige der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge verstehen wie der Umgang mit den Begriffen "Rasse" und "Bildung". Aber anders als Krieck hat Baeumler keine Kontroversen innerhalb des NS-Regimes angezettelt, so daß nicht festzustellen ist, welche seiner Vorstellungen er nicht hat realisieren können. Abgesehen davon verdienen folgende Aspekte seiner Argumentation eine genauere Erörterung.

Symbol und Aufklärung

Baeumler war beeindruckt von der symbolischen Repräsentanz, die die NS-Bewegung inszenierte und die ihr einen steigenden Zulauf einbrachte. Er versuchte, sich dieses Phänomen zu erklären und hielt es für eine noch nicht in Worte zu fassende Vorwegnahme einer zukunftsträchtigen völkisch-nationalen Ganzheit. Deuten wollte er diese Symbolik -so hatte er versprochen - so, daß die richtigen Worte und Erklärungen gefunden werden konnten, damit daraus eine neue nationale Kultur erwachse. Es müsse doch gewichtige Gründe dafür geben, daß sich um diese Symbole freiwillig eine Volksbewegung sammele.

In der Tat hat Baeumler damit ein Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung durchaus allgemein ist und über das Beispiel der NS-Bewegung hinausreicht.

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Symbole vermögen offenbar, Menschen aneinander zu binden. Auch nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen gibt es ein tiefes menschliches Bedürfnis, sich in einem vorrationalen Sinne eins zu fühlen und zu erleben mit einer menschlichen Ganzheit. Die Rituale der Kirchen haben offensichtlich eine solche Funktion, wie jeder Gläubige bestätigen wird. Aber es gibt auch weltliche Beispiele in Fülle, wenn man etwa an die Rolle des englischen Königshauses als symbolischer Repräsentanz der ganzen Nation oder an die militaristische Symbolik des früheren Preußen denkt. Symbole spielen auch beim Film und bei der Werbung eine bedeutende Rolle. Symbole können tabuisiert werden: so ist es verboten, ehemalige Nazi-Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen. Um sich zu einem Symbol zu bekennen, bedarf es keiner besonderen Verheißung oder einer besonderen "Reife": Groß und Klein, Alt und Jung, Mann und Frau, Gebildete und weniger Gebildete sind dafür ansprechbar. Es würde sich also lohnen, diesem Bedürfnis nach emotional fundiertem vorrationalem Einssein bzw. Einswerden und seinen Formen der Befriedigung in unserem Alltag einmal nachzugehen, und vielleicht würde sich herausstellen, daß unsere Gesellschaft zumal nach der Zerschlagung des deutschen Nationalbewußtseins in diesem Punkte einen vielleicht sogar gefährlichen Mangel aufweist.

Symbole sind oft keineswegs nur relativ äußerliche soziale Signale, wie etwa die Vereinsfahnen auf Fußballplätzen. Nationale Symbole, z.B. National-Flaggen, repräsentieren ein ganzes Volk und werden auch von Außenstehenden respektiert und geachtet.

Andererseits kann man durch Verachtung oder Vernichtung von Symbolen auch Feindschaft signalisieren. So werden bei Demonstrationen gelegentlich gegnerische Symbole verbrannt. Möglicherweise hat Baeumler die "Bücherverbrennung" 1933 auch als eine symbolische Handlung verstanden, aus der reale Handlungen z.B. gegen die Autoren nicht unbedingt folgen müssen, und ohne den kriminellen Gesamtkontext des NS-Regimes wäre die Bücherverbrennung uns heute vielleicht nur als eine politische Albernheit erschienen.

Die sozio-emotionale Bindung an Symbole kann also von erheblicher politischer Bedeutung sein, und das zeigte sich

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im negativen Sinne deutlich in der Weimarer Zeit. Es gelang der Republik nicht, sich symbolisch in den Menschen festzusetzen, im Gegenteil, das Bedürfnis danach verlagerte sich auf Teilgruppen der Gesellschaft, nicht zuletzt auf politische Parteien und Verbände, so daß die innere Auseinandersetzung am Ende der Republik auch zu einem Bürgerkrieg der Symbole wurde (Rote Fahne gegen Hakenkreuzfahne).

Auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß konservative Intellektuelle wie Baeumler fasziniert waren von der scheinbar unaufhaltsamen Hitler-Bewegung mit ihrer augenscheinlich so kraftvollen symbolischen Repräsentanz.

Politisch gesehen war jedoch Baeumlers Rechtfertigung der Hitler-Bewegung von ihren Symbolen her, die er schon in seiner Antrittsvorlesung vortrug, ein verhängnisvoller Irrtum. Zum einen erhob er damit die von Goebbels und anderen zynisch inszenierten Massenrituale in den Rang einer philosophischen Legitimation. Zum anderen rechtfertigte er damit nicht nur politischen Irrationalismus, sondern erklärte ihn auch noch für unvermeidlich. So konnten sich die Machthaber einer rationalen Begründung ihres Handelns wie selbstverständlich entziehen. Baeumler hatte zwar in seiner Antrittsvorlesung seine Aufgabe u.a. darin gesehen, durch das Wort die Symbole zu erklären und damit auch aufzuklären, aber davon war später nicht mehr die Rede. So nahm sich Baeumler selbst - wie auch seinen Lesern und Hörern -jede Möglichkeit zu einer wenn auch nur innerparteilichen Kritik, wie sie ja bis zu einem gewissen Grade - wie Krieck gezeigt hatte - durchaus möglich war. Er konnte z.B nicht mehr die Grenze zwischen gläubiger Anteilnahme und skrupelloser Instrumentalisierung erkennen, geschweige denn über sie aufklären.

Dieser politische Irrtum darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß Baeumler mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Symbole eine damals wie heute vernachlässigte Seite der menschlichen Existenz ansprach, ein Bedürfnis, das gefährlich werden kann, wenn es zur politischen Gewalt wird; fraglich bleibt nämlich, ob man Symbole, die Menschen etwas bedeuten, wirklich aufklären kann, ohne daß sie dabei ihre eigentümliche Kraft verlieren. Vielleicht sind sie gerade wegen ihrer dumpfen Unaufgeklärtheit wirksam.
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Handeln und Werte

Baeumlers anthropologische These war, daß der Mensch ursprünglich ein handelndes Wesen sei und daß sein Handeln nicht durch einen Wert gedeckt werde, nicht der Realisierung von Werten diene, sondern gleichsam einen Schuß ins Blaue darstelle. Diese These formulierte er gegen den Typus des "theoretischen" Menschen, der sich einbilde, außerhalb des Geschehens zu stehen, der sich ab und zu in das Getümmel der Wirklichkeit begebe, um darin wertgebunden einzugreifen, und sich anschließend wieder auf seine Beobachterposition außerhalb der schnöden Realität zurückziehe.

Baeumlers Kritik richtete sich also auf einen bestimmten Begriff der "Werte" In der sogenannten "Wertphilosophie" war es üblich, nach zeitlosen, immer gültigen Werten z.B. des "Guten", "Schönen" oder "Wahren" zu fragen, die Ergebnisse dann der Pädagogik zu offerieren mit der Erwartung, daß diese sie dann zum Maßstab der Erziehung machen werde.

Die "Werte" wurden in diesem Verständnis als über der empirischen Wirklichkeit angesiedelte ideelle Mächte angesehen, die für das Denken und Handeln des Menschen normative Gültigkeit haben, an die er emotional gebunden sei bzw. durch Erziehung gebunden werden müsse. Diesem abstrakten Wertbegriff, der bar jeder sozialen Differenzierung und historischen Relativierung präsentiert wurde, war Baeumlers Kritik durchaus angemessen.

Normalerweise aber wollen wir, wenn wir handeln, durchaus Werte realisieren, - welche immer das sein mögen. Unser Handeln - soll das heißen - beruht, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewußt sind, auf einer normativen Fundierung, die einerseits seiner Begründung, andererseits seiner Rechtfertigung dient; ohne eine solche Fundierung könnten wir über die Ziele unseres Handelns nicht mit anderen diskutieren und sie dafür zu gewinnen versuchen. Das ist vielmehr nur möglich, weil die dem Handeln zugrundeliegenden Werte eine kollektive Dimension haben, so daß andere sie ebenfalls akzeptieren können. Diesen Zusammenhang von Handeln und Wert kann man nur leugnen, wenn der Begriff des Wertes abstrakt gefaßt wird, also losgelöst von den tatsächlichen sozialen Interaktionen.

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Richtig ist allerdings, daß jedem sozialen Handeln - und darum geht es ja hier im Unterschied zum technischen Handeln - ein mehr oder weniger großes Moment der Unsicherheit im Hinblick auf das Resultat innewohnt. Das gilt von der Liebe bis zur Politik. Soziales Handeln mobilisiert nämlich das Handeln anderer, die mit- oder gegenhandeln können. Diese Unsicherheit wird aber andererseits auch begrenzt, und zwar nicht nur durch die Regeln und Erwartungen der Gemeinschaften - wie Krieck meinte -, sondern vor allem auch durch Institutionen, die in Baeumlers Denken ebenso wenig einen Platz fanden wie bei Krieck.

Wenn wir handeln, wollen wir also im allgemeinen etwas verwirklichen, was wir für wertvoll halten. Eine andere Frage ist allerdings, in welchem Maße uns das auch gelingt. Weil wir dabei das Handeln anderer mobilisieren, kann es sein, daß wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir ursprünglich wollten; oder wir verlieren im Spiel von Handeln und Gegenhandeln unser eigentliches Ziel aus den Augen; oder wir können nur Teilerfolge erringen. Die Politik liefert uns täglich derartige Beispiele. Insofern gibt es tatsächlich keine Garantie dafür, daß das Ergebnis unseres Handelns am Ende durch den Wert gedeckt ist, dem wir ursprünglich folgen wollten.

Zur Ehrenrettung der von Baeumler so spöttisch attackierten "Gebildeten" muß jedoch auch gesagt werden: So weltfremd ihr politisches und soziales Bewußtsein auch gewesen sein mag, so konnte es doch auch eine normativ fundierte Distanz zum Aktivismus der Nazi-Bewegung begründen, und die "Werte", um die sich ihre Bildung gruppierte, waren für nicht wenige Menschen ein normatives Potential, aus dem sie wenn nicht Widerstand, so doch eine Art von innerem Vorbehalt gewinnen konnten.

Mit seinem Handlungsbegriff erklärte Baeumler also keineswegs das normale bürgerliche, auch politische Handeln im Rahmen von Institutionen und allgemeinen oder besonderen sozialen Erwartungen. Vielmehr lieferte er eine politische Rechtfertigung für die Eigentümlichkeiten des politischen Handelns der Nazis -  jedenfalls ihrer höheren Führer; denn die schalteten nicht nur die Kontroll-Institutionen wie Parlament und unabhängige Rechtsprechung aus, sie überlagerten auch alle anderen Institutionen durch Parteikompetenzen und unterhöhlten somit deren handlungsorientie-
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rende Funktion. Auf diese Weise entstand ein Kampffeld für rivalisierende Führer, das letztlich nur noch eine Begrenzung kannte: ob Hitler es erlaubte oder nicht.

Für "normales" bürgerliches Handeln, also auch für politisches Handeln, gilt jedenfalls in den westlichen Demokratien, daß versucht wird, die Folgen möglichst vorauszusehen, zu antizipieren. Das hängt damit zusammen, daß in modernen Demokratien das Wohl der Bürger und gerade auch die von Baeumler so verhöhnte wirtschaftliche Sekurität und Prosperität ein zentraler Wert dieses Handelns sind. Wie schon Hitler, so orientierte sich auch Baeumler mit seinem Handlungsbegriff an Ausnahmesituationen, die es auch in der gegenwärtigen Politik geben kann. Ein gutes Beispiel ist der Beitritt der DDR zur alten BRD; das war tatsächlich ein in seinen Folgen schwer zu kalkulierendes "Wagnis" mit noch ungewissem Ausgang. Aber auch in diesem Falle ging es ganz offensichtlich um die Realisierung von Werten. Baeumlers Begriff des politischen Handelns war orientiert am Beispiel des letztlich einsam entscheidenden Führers, der dabei keiner parlamentarischen oder sonstigen Kontrolle unterliegt, der nur durch massives Gegenhandeln zu stoppen ist - so wie man sich das bei einem germanischen Heerführer vorstellen mag. In einem funktionierenden parlamentarischen System sind dem politischen Handeln jedoch vielfache institutionell-rechtliche Grenzen gesetzt. Wenn allerdings solche Regeln nicht mehr funktionieren, wie am Ende der Weimarer Zeit, und insofern eine revolutionäre Situation entsteht, wird der politische Handlungshorizont offen und Macht steht gegen Macht. Dennoch bleibt eine Handlungstheorie, die von solchen Grenzssituationen ihren Ausgang nimmt, für den Normalfall unrealistisch.

Auch damals hatten lediglich Hitler und schon sehr viel weniger die anderen Parteigrößen einen solchen institutionell entgrenzten Handlungsspielraum zur Verfügung; die "Normalbürger", die ihrer Arbeit nachgingen, wären in erhebliche Schwierigkeiten geraten, wenn sie sich diese Handlungstheorie ebenfalls zu eigen gemacht hätten. Dann hätten sie etwa den nach ganz anderen Handlungsregeln organisierten Industriebetrieb ins Chaos gestürzt. Zweifellos hat Baeumler mit seiner Handlungstheorie zunächst einmal das "Ausnahme-Handeln" der Naziführer - vor allem Hitlers - gerechtfertigt - ob das nun Absicht war oder nicht.

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Ein anderer Aspekt dieser Handlungstheorie ist nicht minder problematisch. Baeumler wies zu Recht darauf hin, daß menschliches Handeln irrationale Elemente enthalte, nicht voll der Vernunft unterworfen sei. Der Mensch denke nicht irgendetwas sorgfältig zu Ende, um dann dementsprechend zu handeln, vielmehr spielten dabei Spontaneität und Emotionalität eine große Rolle.

Das ist im Prinzip richtig. Gleichwohl ist diese Einsicht einseitig, weil nicht die Verantwortung, sondern nur der Erfolg zum Maßstab des Handelns wird. Wenn es auch zutrifft, daß der Mensch als handelndes, tätiges Wesen nicht nur seiner Vernunft folgt, so gilt andererseits doch auch, daß wir nur durch den Einsatz unserer Vernunft, durch Denken und Nachdenken unser Handeln zu steuern und vor allem in moralischen und rechtlichen Grenzen zu halten vermögen. Sonst ist blinder Aktionismus das Ergebnis, und in Baeumlers Begriff des "Einsatzes", bei dem nicht viel nach Sinn, Zweck und Ziel gefragt wird, kommt eine solche Tendenz auch zum Ausdruck.

Im Blick steht nur die "Richtung" des Handelns, nicht ein bestimmtes Ziel. Insofern kommt Baeumler Krieck wieder nahe: Baeumler erwartete die Festlegung der Handlungsziele von der politischen Führung, Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution.

Gleichwohl soll nicht verkannt werden, daß Baeumler mit seinem anthropologischen Handlungsansatz - der Mensch sei ein ursprünglich handelndes Wesen - der Pädagogik neue, realistische Perspektiven eröffnet hat, die er allerdings selbst nicht weiter verfolgte. Nötig wäre etwa gewesen, diesen Ansatz zu differenzieren im Hinblick auf die jeweiligen sozialen Orte - Schule, Jugendarbeit, Betrieb usw. -, wobei die Schule sich im besonderen Maße angeboten hätte, weil Baeumler über sie und über die Stellung der Lehrer mehrmals geschrieben hat. So wie Krieck versäumt hat, an seinem soziologischen Ansatz weiterzuarbeiten, so verfolgte auch Baeumler das handlungsorientierte Konzept nicht weiter. Ein Grund dafür mag sein, daß er nicht über angemessen differenzierte Vorstellungen über Institutionen und über soziale Strukturen verfügte, was wiederum daraus resultierte, daß er sich auf die Tatsache der modernen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gar nicht erst einließ, weil er diese ja für

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ein Produkt "westlicher Zivilisation" und insofern für "undeutsch" hielt. Gelungene Sozialität konnte er sich nur als unmittelbar personales System vorstellen, wie es im Führer-Gefolgschafts-Modell und im Verbande der "Mannschaft" seinen Ausdruck finden sollte. Daß in modernen Gesellschaften die Menschen in erster Linie Funktions- und Rollenträger sind, also im guten Sinne des Wortes Funktionäre", wollte er nicht einsehen.

Das hatte Folgen für die Verantwortung des Handelns. Soziales Handeln muß vor anderen gerechtfertigt werden können, und dafür muß es Maßstäbe, Regeln und Verfahrensweisen geben, wie sie etwa im parlamentarischen System vorgesehen sind. "Verantwortung" ist in Baeumlers Konzept nicht vorgesehen, weil sie gar keinen institutionellen Ort hätte. Die Verantwortung übernimmt der Führer, dem unterstellt wird, daß er seine "Treuepflicht" gegenüber den Geführten wahrnimmt - was Hitler zur späteren Überraschung Baeumlers eben nicht getan hat.

In den Notizen aus der Internierungszeit gesteht Baeumler diesen "Irrtum" ein:

"Ich habe das Geld als die verächtlichste Form der Macht angesehen. Das ist abstrakt. Ich habe den Personalismus in seiner idealen Gestalt gegen die Geldherrschaft in ihrer schlimmsten Gestalt gesetzt. Aber die personale Herrschaft hat Möglichkeiten des Absinkens, die noch grauenhafter sind als die der Geldherrschaft" (1991, 194).

Pädagogik für Mitläufer

Baeumler war nach Berlin geholt worden, um unter anderem "politische Pädagogik" zu lehren. Darunter verstand er etwas ganz anderes, als wir heute unter "politischer Erziehung" oder "politischer Bildung" verstehen; heute meinen wir damit das Erlernen solcher Kenntnisse und Fähigkeiten, die den Bürger instand setzen, seine politischen Teilhabemöglichkeiten auch optimal nutzen zu können.

Dies meinte Baeumler nicht, auch nicht in dem für ihn naheliegenden Sinne, daß die Menschen nun für die Nazi-Bewegung zu indoktrinieren seien. Vielmehr meinte er damit die anthropologische Umorientierung der Pädagogik vom an

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Idealen orientierten, kontemplativen Menschen zum handelnden, politisch tätigen Menschen, wobei er unverhüllt, wie wir sahen, zum "Einsatz" für die Hitlerbewegung aufforderte, nur dies als politisches Handeln gelten ließ. Weitere Präzisierungen etwa im Hinblick auf die Bedeutung von Institutionen, oder auf unterschiedliche soziale Handlungsformen, Mittel und Ziele, auf Machterwerb und Machtkontrolle, auf Rechtsfragen usw. haben ihn nicht interessiert, so daß alles eigentlich darauf hinauslief, die politische Führung fraglos anzuerkennen und im übrigen an seinem jeweiligen Platz in der Volksgemeinschaft nicht nur den individuellen Nutzen anzustreben, sondern sich immer auch als Glied der Gemeinschaft zu verstehen. So total sein Handlungsbegriff auch gemeint war - Handeln sei immer ein Wagnis und nicht durch Werte gedeckt -, so führte er doch nur zum Typus des entpolitisierten Mitläufers.

Weil Baeumler die gesellschaftliche Arbeitsteilung für einen Verfall hielt, konnte er seine Handlungstheorie und damit das Politische auch nicht weiter differenzieren, denn diese gesellschaftliche Ausdifferenzierung der öffentlichen Handlungsorte setzt dem menschlichen Handeln Chancen und Grenzen: in der Politik, der Rechtsprechung, der Verwaltung oder auch der Erziehung. Wenn der Begriff des Politischen einen Sinn ergeben soll, dann hätten solche Unterschiede geklärt oder zumindest fraglich gemacht werden müssen.

Baeumler ließ jedoch nicht nur die institutionellen und sozialen Randbedingungen des Handelns außer Acht, sondern auch die menschlichen Motive. Handeln erscheint bei ihm wie eine Art von irrationalem Trieb oder Antrieb. Aber warum handeln die Menschen so, wie sie es tun, welche Ziele verfolgen sie dabei?

Ein solches Motiv wollte er ausdrücklich nicht gelten lassen: das materielle Interesse, den Wunsch nach Wohlstand, nach einem guten Leben. Das gehörte für ihn zur weiblich-urbanen Kultur und galt deshalb als "undeutsch", als "nicht heroisch". Hier zeigt sich, daß die Handlungstheorie so realistisch gar nicht war, weil sie fundamentale Bedürfnisse zumindest des modernen Menschen ignorierte. Als ob die meisten Menschen Hitler wegen des symbolischen Mummenschanzes gefolgt wären, und nicht, weil er Arbeit und Brot und da

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mit die Aussicht auf ein halbwegs befriedigendes materielles Leben versprochen hatte!

Bildung als Individualisierung

Weder eine "politische" noch eine nationalsozialistische Pädagogik hat Baeumler vorgelegt. Als er 1933 seinen Lehrauftrag in Berlin übernahm, war das Feld der Erziehung von Krieck bereits besetzt, und zu pädagogischen Fragen hatte er sich bis dahin nicht geäußert. Ins "Amt Rosenberg" ging er mit dem Vorsatz, eine "Deutsche Geschichte" zu schreiben. Als er dann über pädagogische Fragen schrieb, behandelte er Einzelprobleme, ohne damit auf eine systematische "nationalsozialistische" Erziehungswissenschaft zuzusteuern. Es geht dabei vor allem um die Begriffe "Bildbarkeit", "Bildung" und "Allgemeinbildung" als Aufgabe der Schule.

a) Das Problem der "Bildbarkeit" des Menschen ist ein Grundproblem der Erziehungswissenschaft. Nur insofern und insoweit ein Mensch "bildbar" ist, können entsprechende pädagogische Maßnahmen - wie der Schulunterricht - auch eine Erfolgschance haben. Jede Pädagogik muß also ein Mindestmaß an "Bildbarkeit" des Menschen unterstellen, das gilt sogar für die Sonderpädagogik, die es zum Beispiel mit geistig behinderten Menschen zu tun hat.

Wovon hängt die Bildbarkeit eines Menschen ab, wodurch wird sie bestimmt? Im wesentlichen von drei Faktoren - sagen wir heute: Von der erblichen Ausstattung, von den darauf gerichteten Umwelteinflüssen - zu denen auch Maßnahmen der Erziehung und Bildung gehören - und von der Tätigkeit des Menschen, also von dem, was er aus den gegebenen Bedingungen durch Handeln zum Vorschein bringt.

Dieser modernen Auffassung kam Baeumler recht nahe. Allerdings hatte er die genetische Ausstattung stärker im Blick als die Umwelteinflüsse, aber er machte klar, daß die genetisch vorgegebenen Möglichkeiten sich nicht von selbst realisieren, sondern durch Erziehung und Bildung herausgefordert werden müssen. "Rasse" war dabei für ihn so etwas wie eine kollektive genetische Grundsubstanz, die allen Mitgliedern einer Rasse zu eigen sei. Das trifft nicht zu, aber in dieser Form war der "Rassismus" der Nazis einigermaßen ent-

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schärft, denn ob nun im Einzelfall das erkennbare körperliche und geistige Erscheinungsbild auf rassische oder auf irgendwelche anderen genetischen Vorgaben zurückgeht, ist für die pädagogische Praxis unerheblich. Gefährlicher wirkte sich allerdings der Umkehrschluß aus: Im Umgang mit den sogenannten "Asozialen" oder den schwer geistig Behinderten zogen vor allem Mediziner von den äußerlich erkennbaren Merkmalen unbewiesene Rückschlüsse auf genetische Defekte, so daß solche Menschen in großer Zahl sterilisiert oder gar ermordet wurden.

Baeumlers Betonung der genetischen Ausstattung richtete sich gegen den vor 1933 vor allem in der Reformpädagogik herrschenden Erziehungsoptimismus, der der Umwelt und damit auch der Erziehung einen Vorrang bei der Entwicklung der Persönlichkeit einräumte. Über das Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander gibt es eine bis heute dauernde Diskussion unter den Fachleuten. Vermutlich wird die moderne Genforschung hier größere Klarheit bringen können. Aber verständlicherweise neigen Pädagogen eher dazu, den Umwelteinflüssen ein größeres Gewicht zu geben, weil das Ansehen ihres Berufes um so bedeutender ist, je mehr er angeblich zu bewirken vermag.

b) Auch dem Tätigsein der Kinder maß Baeumler eine eigenständige Bedeutung zu. Das wird an seinem subjektorientierten Bildungsbegriff erkennbar. Während nach der bildungsbürgerlichen Tradition unter "Bildung" der "Besitz" eines bestimmten Kanons von "Bildungsgütern" wie Griechisch, Latein, klassische Literatur verstanden wurde, bezog Baeumler den Bildungsbegriff auf das lernende, sich bildende Subjekt. Diese Wendung kommt besonders zum Ausdruck in dem Aufsatz "Jugenddienstpflicht, Hitler-Jugend und Schule" (Weltanschauung und Schule, 1943). Thema ist hier die Abgrenzung der Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Hitlerjugend. Aufgabe der Schule sei der Unterricht, der mittelbar immer auch erziehe, und zwar im Durchgang durch die Sachzusammenhänge. Dabei sei der "Selbstbildung des Schülers" hohe Bedeutung zu schenken. Der Lehrer "muß die Masse als Einheit zu beherrschen verstehen, und darf doch keinen Augenblick seine Hauptaufgabe vergessen, die darin besteht, jeden einzelnen Schüler anzusprechen, nach seiner Individualität zu behandeln, in seiner Entwicklung zu fördern, und, wo es notwendig ist, zu strafen.

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 Dogmatischer Unterricht kann sich an ein Kollektiv wenden; lebendiger Unterricht führt nur über die Individualität, denn er ist nichts anderes als Erweckung und Lenkung der Selbständigkeit des Einzelnen" (161).
Die Form der schulischen Betätigung sei "Arbeit", die der HJ "Dienst", die Schule wirke "mittelbar" erzieherisch, die HJ "unmittelbar"; die pädagogischen Ergebnisse der Schule lägen wesentlich in der Zukunft, die Formationserziehung der HJ sei "gegenwartsorientiert".

Aus den unterschiedlichen Funktionen folge auch eine unterschiedliche Form von "Kameradschaft".

"Die Kameradschaft zwischen Lehrer und Schüler, sowie der Schüler als Schüler untereinander, ergibt sich aus der gemeinsamen Verpflichtung zu konkreten, genau umschriebenen und in begrenzten Zeiteinheiten zu erfüllenden Leistungen" (160).

In dieser "Leistungskameradschaft" habe der Lehrer eine bestimmte Funktion:
,Er ist Kamerad - aber er steht doch zugleich in seiner Funktion als Lehrer den Schülern in einer gewissen Ferne gegenüber. Er ist nicht nur der Ältere, er ist auch der, der das schon ,kann', was verlangt wird; er hat das Pensum bereits hinter sich" (161).

Baeumler verlagerte also den Bildungsbegriff und damit die Aufgabe der Schule auf die subjektive Seite, die Individualisierung des Schülers betonend.

Der traditionelle Bildungsbegriff war dagegen bezogen auf einen inhaltlichen Kanon und insofern auf eigentümliche Weise sachlich begrenzt. Er schloß zum Beispiel die Naturwissenschaften im Prinzip aus, d.h. diese wurden nur insofern berücksichtigt, als sie sich - z.B. in ethischer Hinsicht - den humanistischen Werten unterordneten. Die Frage war also nicht, welche wichtigen Ergebnisse die Naturwissenschaften vorzuweisen hatten und auf welchen methodischen Wegen sie dazu gekommen waren, und schon gar nicht, was man mit diesen Erkenntnissen technisch z.B. im Rahmen der modernen Industrie bewirken könne; gefragt wurde vielmehr nach dem "Bildungswert" dieser neuen Wissenschaften und die Maßstäbe dafür wurden von außen, aus dem

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Blickwinkel der einschlägigen Geisteswissenschaften, an die Naturwissenschaften herangetragen. Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hat die besten philosophischen Köpfe der Zeit bewegt, und es war allgemein klargeworden, daß die Unterordnung der Natur- unter die Geisteswissenschaften nicht länger haltbar war. Kriecks Versuch einer Kombination beider Wissenschaftsformen in seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" gehört in diesen Zusammenhang.

Wegen des stürmischen Vormarsches der Naturwissenschaften war der am humanistischen Kanon orientierte Bildungsbegriff längst brüchig geworden; äußerer Ausdruck dafür war die 1900 erfolgte Einrichtung des naturwissenschaftlichen Gymnasiums (Realgymnasium) als neben dem humanistischen Gymnasium gleichberechtigte Form der höheren Schule. Je brüchiger der Bildungskanon wurde, um so deutlicher wurde sein sozial-separativer Charakter: die nach dem alten Kanon "Gebildeten" verstanden sich als geistige Elite. Und die spöttische Kritik Baeumlers wie auch Kriecks an dem Typus des so "Gebildeten" hatte durchaus eine gewisse Berechtigung.

Baeumler glaubte offenbar nicht, auf der objektiven Ebene der Fächer und Stoffe das Problem der Bildung lösen zu können, und deshalb ist seine Wendung zur subjektiven Seite, also zum lernenden Individuum hin, durchaus beachtenswert, weil sie in die Zukunft wies. Kriecks pädagogische Theorie war - wie wir gesehen haben - nicht zuletzt deshalb wenig ergiebig für die Praxis, weil sie die Perspektive des lernenden Individuums gar nicht kannte.

Allerdings hat Baeumler das nun entstandene Problem nicht weiter thematisiert: an was soll der junge Mensch sich denn nun bilden in der Schule, an welchen Stoffen und Fächern, und warum gerade an diesen? Der Unterricht in der Schule ist ja nun einmal auf Stoff- und Lehrpläne angewiesen, und wer sollte diese nun nach welchen Maßstäben festsetzen?

Die gesellschaftliche Bedeutung des alten Bildungskanons bestand darin, daß die Kultur- und Wirtschaftselite Deutschlands über eine annähernd gleiche Allgemeinbildung verfügte. Es war keineswegs so, daß die Naturwissenschaftler per se sich bzw. ihre Kinder vom humanistischen Gymna-

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sium fernhielten. Im Gegenteil gaben noch nach dem Zweiten Weltkrieg viele diesem Gymnasium für ihre Kinder den Vorzug - oft mit der vordergründigen Erklärung, dort sei die Allgemeinbildung besser aufgehoben als bei anderen Gymnasien, und je besser diese Allgemeinbildung sei, um so besser gelinge später z.B. an der Technischen Universität dann die berufliche Spezialisierung. Es ging dabei jedoch um mehr, nämlich um eine gemeinsame Bildungsgrundlage für die beruflich unterschiedlich plazierten Eliten. Sie kannten alle "ihren" Cicero, Cäsar, Platon, Goethe und Schiller einschließlich der zu jeder Lebenslage passenden Sinnsprüche, und das gab das Gefühl einer bei aller sonstigen beruflichen, religiösen und politischen Verschiedenheit grundlegenden kulturellen Gemeinsamkeit.

Mit der Wendung auf die Subjektivität des Bildungsvorgangs zerbrach diese gemeinsame geistige Fundierung unserer Führungsschichten, und die Folge sind jene Individualisierungs-Prozesse, wie wir sie vom gegenwärtigen Gymnasium her kennen, in deren Oberstufe z.B. Fächer mit einem gewissen Spielraum von den Schülern gewählt werden können. Diese Konsequenz der Individualisierung hat Baeumler zweifellos nicht vorausgesehen.

c) Gegen den Expansionsdrang der HJ, die ihre Erziehungsvorstellungen in die Schule hineintragen wollte, und gegen einen vordergründigen Praktizismus aus Kreisen der Industrie, die an einer frühen qualifizierten beruflichen Spezialisierung interessiert waren, weil Ende der 30er Jahre Mangel an Facharbeitern herrschte, verteidigte Baeumler den schulischen Auftrag der Allgemeinbildung. Damit stellte er sich in eine lange schulpädagogische Tradition. Erst müsse der Mensch seine allgemeinen Fähigkeiten entwickeln und allgemeine Kenntnisse erwerben, danach sei eine berufliche Spezialisierung angebracht - so hatte Wilhelm von Humboldt es sinngemäß formuliert.

Diese Idee der Allgemeinbildung ist eine wichtige Voraussetzung für die Demokratisierung des Bildungswesens, aber auch für berufliche Mobilität; denn nur eine allgemeine, möglichst für alle Kinder geltende schulische Grundbildung ermöglicht sozialen Aufstieg durch persönliche Leistung, die frühe Fixierung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit dagegen würde die Möglichkeiten der Berufswahl frühzeitig

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verkürzen und Berufswechsel - im horizontalen wie vertikalen Sinne - erheblich erschweren.

Diese demokratische Implikation des Bildungsbegriffs widersprach der NS-Ideologie nicht unbedingt; denn mit der Feindschaft gegen den Parlamentarismus konnte sie durchaus ein gewisses Maß an "sozialer Demokratisierung" vereinbaren, also Begabten Chancen des sozialen Aufstiegs zu ermöglichen und die herkömmlichen Führungseliten sozial zu öffnen.

Ansätze einer pluralistischen Erziehung

Baeumlers Trennung der Erziehungsfunktionen, wie er sie im eben genannten Aufsatz präsentierte, war für die damalige Zeit ungewöhnlich und in die Zukunft weisend. Die herrschende pädagogische Meinung vor 1933 war, daß alle Erziehungsinstanzen an einem Strick ziehen müßten, und in Herman Nohls berühmtem "Pädagogischen Bezug", der die Beziehung des Erziehers zum Zögling beschreibt, wird im Grunde das familiäre Beziehungsmodell auf die pädagogischen Berufe ausgedehnt. Baeumler stellt dagegen fest:

"Die Klasse ist keine Familie, sondern eine Arbeitskameradschaft, und der Lehrer ist weder ein Vater noch ein Führer, sondern eben Lehrer, d.h. Erzieher im Medium des Unterrichts. Man nützt dem ganzen nicht, sondern schadet ihm nur, wenn man das Spezifische des Lehrerseins aufhebt, und durch den Ehrennamen des Klassen-Vaters oder der Klassen-Mutter die Seins-Sphären verwischt und die Würde der Funktionen aufhebt" (160).

Damit hatte Baeumler angesprochen, was wir heute "pluralistische Erziehung" bzw. "pluralistische Sozialisation" nennen. Unsere Kinder wachsen auf in Familie, Kindergarten, Schule, unter Gleichaltrigen, unter dem Einfluß der Massenmedien, und die Wirkungen dieser Faktoren sind widersprüchlich, sie ziehen eben nicht an einem Strang. Die Folge davon ist, daß "Erziehung" kein einheitliches Geschehen mehr ist, das von einem Ort - Familie oder Schule - im ganzen zu steuern wäre; vielmehr lebt das Kind unter unterschiedlichen, widersprüchlichen Erwartungen, zwischen denen es balancieren muß.

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Indem Baeumler nun die Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Jugendverband strikt voneinander unterschied mit der zutreffenden Begründung, sie seien nicht auseinander ableitbar, machte er den Weg frei für eine pluralistische Betrachtung des Erziehungsprozesses. Zwar ging er davon aus, daß alle drei Instanzen im Rahmen der NS-Ideologie und insoweit in einem einheitlichen Sinne wirken würden. Aber wie sollte das geschehen und welche Instanz sollte dafür Sorge tragen? Wir werden sehen, daß Schirach in diesem Punkte eine entgegengesetzte Position vertrat, er wollte nämlich die "Einheit der Erziehung" unter Zugrundelegung der Erziehungsprinzipien der HJ auch in der Schule realisieren.

Baeumler hat jedoch die Konsequenzen seines pluralistischen Ansatzes nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Dabei war schon in den Friedensjahren zu bemerken, wie gegensätzlich die Erziehungsabsichten und die Erziehungswirkungen der HJ und der Schule waren, und Baeumler hat diesen Widerspruch auch deutlich gesehen. Aber er hat ihn zwar beschrieben, aber doch auch ideologisch zu harmonisieren versucht.

Baeumlers Äußerungen zu pädagogischen Fragen sind also prinzipieller Natur - wie es für einen systematisch denkenden Philosophen naheliegt, aber um die daraus resultierenden pädagogischen Konsequenzen im einzelnen hat er sich nicht weiter gekümmert. Dies zeigt, daß er den pädagogischen Auftrag, den er mit seiner Berliner Professur übernommen hatte, nicht sonderlich ernstnahm.

Baeumlers und Kriecks Positionen und grundlegende Argumentationen sind nur zu verstehen auf dem Hintergrund ihrer Kritik am damals herrschenden Erziehungs- und Bildungsverständnis. Sie sahen die Hitler-Bewegung auch als eine kulturelle Revolution, die Erziehung und Bildung einschließen müsse.

Gründe für eine solche Kritik gab es genug. Der Enthusiasmus der Reformpädagogik war einer Ernüchterung gewichen. Der Versuch, "vom Kinde aus", also unter Berücksichtigung seiner Interessen und Bedürfnisse die Schule zu organisieren, hatte vielfach dazu geführt, die Objektivität der Welt, also die "Sachen" nicht mehr ernst zu nehmen. Lernen, so stellte sich heraus, war nur bis zu einem gewissen Grade

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zu erleichtern, aber ohne Anstrengung führte es nicht weit. Über die "Grenzen der Erziehung" wurde nachgedacht. Dem pädagogischen Denken waren soziale Dimensionen fremd, es sah den Menschen in der Tat abstrakt-individualistisch, als "Werte verwirklichendes Wesen". Auch eine reformpädagogische Erfindung wie die Gruppenarbeit führte nicht zu einer realistischen Einschätzung der außerhalb der Schule geltenden sozialen Differenzierungen in der Gesellschaft. Wie viele Erfindungen der Reformpädagogik war auch die Gruppenarbeit letztlich ein formalistisches Prinzip, sozusagen ein methodischer Trick der Lehrer.

Der Unterricht, vor allem auch auf dem Gymnasium, war rationalistisch ausgerichtet, sprach also die emotionale Seite der Schüler wenig an. Beispielhaft dafür war etwa das philologische "Zerpflücken" der großen Dichtung in alle möglichen Einzelheiten ohne Rücksicht auf den künstlerischen Gesamteindruck, bis Faust oder "Wallenstein" den Schülern zum Halse heraus hingen.

Nur auf diesem Hintergrund lassen sich Kriecks und Baeumlers pädagogische Argumentationen verstehen und trotz aller Kritik, die hier gegen beide vorgebracht wurde, muß auch betont werden, daß sie im Vergleich zur damaligen Erziehungstheorie und Erziehungspraxis so schlecht nicht aussehen. Kriecks soziologischer und Baeumlers anthropologischer Ausgangspunkt hätten durchaus tragfähig für die Zukunft der Erziehungswissenschaft sein können, wenn sie weiter präzisiert worden wären. Tatsächlich etablierte sich nach 1945 aber jene Erziehungswissenschaft wieder, die schon 1933 weitgehend am Ende ihres Lateins war. In Bewegung geriet das pädagogische Denken erst wieder, als Ende der 50er Jahre die Soziologie und ein Jahrzehnt später die Psychoanalyse sich in die Diskussion pädagogischer Probleme einschaltete.

Obwohl Krieck und Baeumler ihre politischen und pädagogischen Vorstellungen als zusammengehörig betrachteten, ist es nützlich, das eine vom anderen zu unterscheiden und auch getrennt zu beurteilen. Ihre politischen Irrtümer teilten sie mit vielen ihrer zeitgenössischen Intellektuellen, die sich ebenfalls in der Tradition des deutschen national-konservativen Denkens bewegten. In diesem vorgegebenen Bewußtseins-Rahmen versuchten sie den politischen Verfall der Re-

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publik und die daraus hervorwachsende Hitlerbewegung zu verstehen, und sie taten dies auf dem Hintergrund ihres geistigen bzw. wissenschaftlichen Repertoires, das ihnen im Laufe ihres Lebens zugewachsen war. So interpretierten sie die Hitlerbewegung nach ihren Wünschen und Hoffnungen - ein Umgang mit der eigenen Gegenwart, der auch heute keineswegs ungewöhnlich ist.

Rückblickend läßt sich - wie Baeumler es tat - sagen, daß ihr Verstand hätte ausreichen müssen, die Zeichen rechtzeitig zu erkennen, die auf Auschwitz und die Kriegsverbrechen hindeuteten. Aber für die planmäßige Inszenierung des Terrors und des Völkermordes gab es in Deutschland keine Tradition, die hätte warnen können. Die politische Kriminalität des NS-Regimes war bis dahin einmalig und so nicht vorauszusehen. Als Propagandisten des Regimes wurden sie dennoch mitschuldig an seinen Untaten, die sie selbst nicht gewollt und auch nicht für möglich gehalten haben.

Bemerkenswert bleibt aber, daß mit Krieck und Baeumler zwei Professoren sich als pädagogische "Chefideologen" in der NS-Zeit etablieren konnten, deren Positionen sich in wichtigen Punkten ausschlossen.

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Teil 2
Pädagogische Felder



























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4. Zwischen Ideologie und Sachzwang: Das Schulwesen

Bisher war von den beiden pädagogischen "Chefideologen" der NS-Bewegung die Rede. Aber welchen Einfluß hatten sie auf die pädagogische Praxis in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen? Die Nationalsozialisten übernahmen 1933 ein Schulwesen, das nicht nur eine Reihe von ungelösten Problemen mit sich herumschleppte, sondern auch in komplizierter Weise rechtlich und organisatorisch verfaßt war. Diese Ordnung konnte nicht einfach über Nacht geändert werden. Abgesehen von den personellen Säuberungen, von denen noch die Rede sein wird, wurde die Praxis in den Schulen, Hochschulen und Lehrerausbildungsstätten von einer Vielzahl von Menschen bestimmt, die ihre beruflichen Konzepte und Vorstellungen längst erworben hatten und nun entsprechend danach handelten. Sie besaßen keineswegs ein einheitliches, gemeinsames weltanschauliches Fundament. Viele, vielleicht sogar die meisten, machten weiter wie bisher und legitimierten dies mit den neuen weltanschaulichen Parolen; andere wurden überzeugte Nationalsozialisten und verfolgten dabei ihre Karriere. Kaum einer von ihnen ging jedoch der Frage nach einer spezifisch nationalsozialistischen Pädagogik so grundsätzlich nach wie Krieck und Baeumler. Die meisten orientierten sich pragmatisch-technokratisch und versuchten die Probleme entsprechend zu lösen, ohne sich dabei in nennenswerte ideologische Auseinandersetzungen zu begeben. Die Schriften von Krieck und Baeumler gehörten - neben anderen - zum Kanon der "weltanschaulichen Schulung", aber sie bestimmten die pädagogische Praxis nur teilweise, denn diese unterlag einer Reihe von Sachzwängen, die durch ideologische Wunschbilder nicht einfach hintergangen werden konnten. Deshalb müssen die beiden wichtigsten pädagogischen Praxisfelder, die nun vorgestellt werden sollen - Schule und au-

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ßerschulische Jugendarbeit -, zunächst einmal im Rahmen ihrer eigenen Entwicklung untersucht werden.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, fanden sie beide pädagogische Felder in einer bestimmten Verfassung vor. Was haben sie warum daraus gemacht? Zunächst soll von der Schule die Rede sein.

Die Entwicklung des Schulwesens

Im Jahre 1933 war die bildungspolitische Zuständigkeit aufgeteilt auf die Länder und auf das Reich - hier im Innenministerium verankert. Erst am 1.5.1934 wurde das "Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung" (REM) eingerichtet, das Bernhard Rust übernahm, ein ehemaliger Studienrat, der zu dieser Zeit preußischer Kultusminister war und dieses Amt auch beibehielt, also als Doppelminister fungierte. Durch das "Gesetz zur Neuordnung des Reiches" (30.1.34) wurden die bisherigen Rechte der Länder weitgehend ausgeschaltet; sie konnten nur noch insoweit tätig werden, als das Reich keine Verfügungen erließ.

Rust vereinheitlichte 1937 das höhere Schulwesen, was schon in der Weimarer Zeit angestrebt worden war. Es gab eine Vielzahl gymnasialer Oberstufenformen, die nun auf drei reduziert wurden: das humanistische Gymnasium, das allerdings nur dort erhalten bleiben sollte, wo die Schule über eine besondere Tradition verfügte, und die naturwissenschaftliche sowie die neusprachliche Oberschule. Für die Mädchen blieb übrig ein neusprachlicher und ein hauswirtschaftlicher Oberschulzweig. Vor allem in ländlichen Gebieten gab es Aufbauschulen in Oberschulform - für Mädchen nur in hauswirtschaftlicher Form. Diese Neuregelung sorgte geraume Zeit für Verwirrung, weil Übergangsregelungen nötig waren.

Die bis dahin in Preußen eingerichteten grundständigen, also mit dem fünften Schuljahr beginnenden sechsklassigen Mittelschulen führte Rust für das ganze Reich ein. Als diese Schulform sich einigermaßen konsolidiert hatte, mußte auf "Führerbefehl" von 1940 nach österreichischem Vorbild

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1941 die Hauptschule als Pflichtschule eingeführt werden, der begabtere Volksschüler zugewiesen werden sollten. Hitler wünschte die Einführung dieses neuen Schultyps zunächst nur für die dem Reich angegliederten neuen Reichsgaue, aber Bormann drängte auf sofortige Einführung im ganzen Reich. Diese Schule sollte eine Bildungsgrundlage vermitteln, "auf der die Ausbildung für alle mittleren und gehobenen praktischen Berufe in Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Technik, Industrie und Verwaltung sowie alle hauswirtschaftlichen, pflegerischen, sozialen und technischkünstlerischen Frauenberufe aufbauen kann". (Ottweiler 1980, 202). Dazu waren aber nun Fachlehrer nötig, die im Kriege so schnell und so zahlreich nicht zu beschaffen waren, so daß der Ausbau dieses neuen Schultyps bald stagnierte. Im Grunde handelte es sich hier um eine Aufteilung der Volksschule: die begabteren Schüler - man rechnete mit einem Drittel - sollten von den Leitern der Volksschulen für die Hauptschule ausgesucht werden. Offenbar war damals das Begabungsprofil der Volksschüler sehr differenziert, wenn man etwa bedenkt, daß 40 Prozent von ihnen den Volksschulabschluß nicht erreichten. Die Parteikanzlei hielt die Einführung der Hauptschule für das Kernstück der NS-Bildungsreform, weil sie eine Mobilisierung von Begabungsreserven ermögliche - eine Hoffnung, die angesichts des Mangels an Facharbeitern verständlich war.

In der Praxis führte die Einführung dieses Schultyps vor allem in den südlichen Reichsländern, die gerade auf Anweisung Rusts die Mittelschule einigermaßen flächendeckend eingeführt hatten, zur Verwirrung, zumal das Verhältnis zwischen diesen beiden Schultypen ungeklärt blieb. Beide bauten auf der vierjährigen Grundschule auf, aber die Hauptschule sollte nur vier Klassen umfassen, die Mittelschule war dagegen auf sechs Klassen angelegt.

Im Zuge dieser Vereinheitlichung des Schulsystems wurde auch das Privatschulwesen erheblich zurückgedrängt zugunsten der "Deutschen Heimschulen", die auf Anordnung Hitlers insbesondere für Kinder von Offizieren und anderer Berufe eingerichtet wurden, die mit häufiger Versetzung zu rechnen hatten. Die Privatschulen befanden sich überwiegend in kirchlicher Trägerschaft und stellten insofern eine ideologische Konkurrenz zum staatlichen Schulwesen dar.

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Neue, reichseinheitliche Richtlinien für die einzelnen Schulformen erschienen verhältnismäßig spät, nämlich ab 1937. Bis dahin waren die Länder in unterschiedlicher Weise tätig geworden. Einige ordneten an, den bestehenden Geschichtsunterricht zu unterbrechen zugunsten eines mehrwöchigen Kurses über die "nationale Revolution", für die bis in die Sprachregelung hinein Vorgaben gemacht wurden.

An einer Neufassung des gesamten Geschichtsunterrichts wurde besonders aktiv gearbeitet, weil er zum Kernfach der gewünschten politischen Erziehung werden sollte. Die Gesamtkonzeption des gewünschten Geschichtsunterrichts hat Eilers treffend zusammengefaßt:

"Geschichtsunterricht bedeutete von nun an Betrachtung der deutschen Geschichte bzw. der Geschichte der nordischen Rasse. Der gesamte Geschichtsverlauf wurde zur Exempelsammlung für ihren Wert und ihre Bedeutung. Als bestimmender Faktor alles Geschehens wurde neben der rassischen Substanz nur noch die Führerpersönlichkeit anerkannt. Das pädagogische Ziel dieser Art der Geschichtsbetrachtung wurde mit 'Weckung einer begeisterten, heldischen Weltanschauung, planmäßige Förderung des Wehrgedankens und Rassebewußtseins' umrissen. Der Stoff konzentrierte sich zunächst in der Urgeschichte bei der Entstehung der Rassen. Über den Nachweis der politischen und kulturellen Bedeutung nordischer Völker in allen Kulturen des Altertums ging der Weg zur Erkenntnis, daß Rassenmischung zum Kulturverfall führe (Spätantike). Die rassenreinen, germanischen Völker traten als Gegenbild zu den degenerierten Südländern auf. Völkerwanderung, Italienpolitik und Kreuzzüge wurden zu sinnlosen Blutverlusten der hochwertigen Rasse, die Ostsiedlung zur Erweiterung ihres Lebensraumes. Nach den unter 'Niedergang und Auflösung' geführten Zeiten wandte sich die Aufmerksamkeit dem heroischen Aufstieg Preußens zu. Der 'Preußengeist' erschien als eine neue Ausformung des echten deutschen Wesens. Nach dem Zeitalter der Revolution rettete dann Bismarck Deutschland und führte es zu Einheit und Größe. Den gigantischen Aufstieg Deutschlands - so setzte sich diese Betrachtungsweise fort -, der nun auf allen Lebensgebieten einsetzte, neideten uns 'die Erbfeinde', die Deutschland systematisch einkreisten, bis es dann im Ersten Weltkrieg gegen eine Welt von Feinden in heldenmütigem Kampf unterlag,

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zwar unbesiegt im Feld, doch zu Boden geworfen durch den Dolchstoß der marxistischen Revolution. Vom Diktat von Versailles mit seinen demütigenden und ausbeuterischen Bedingungen, von der Herrschaft des volksfremden Parteienstaates erlöste Hitler Deutschland" (15).

Ferner wurde - Hitlers Forderung in "Mein Kampf` entsprechend - Rassenkunde eingeführt - zugeordnet dem Fach Biologie, als Unterrichtsprinzip auch für die Fächer Deutsch, Geschichte und Erdkunde vorgeschrieben. Der Deutschunterricht sollte "volkhafte Dichtung" in den Mittelpunkt stellen, und "psychologisierende und ästhetisierende Literatur" ausschließen.

Eine Aufwertung erfuhr der Schulsport. Die Turnstunden wurden auf drei, später auf fünf erhöht. Auch Boxen wurde wie Fußball und Geländesport in die "Leibesübungen" aufgenommen. Die sportliche Leistungsfähigkeit spielte bei Aufnahme- und Abschlußprüfungen eine immer größere Rolle. Schweres körperliches Leiden sowie ständige Leistungsunfähigkeit in den "Leibesübungen" hatten den Verweis von der höheren Schule zur Folge.

Derartige noch nicht in allen Fällen reichseinheitliche Teilregelungen durch Erlasse oder Richtlinien der Länderkultusminister versuchten offensichtlich, Hitlers bereits beschriebenen pädagogischen Vorstellungen gerecht zu werden. Im übrigen aber galten die in der Weimarer Republik in Kraft gesetzten Richtlinien weiter. Erst 1937 erschienen aus dem REM die ersten umfassenden Richtlinien, und zwar für die Grundschule, die aber 1939 durch neue Richtlinien für die gesamte Volksschule ersetzt wurden.

Diese Richtlinien bestehen aus einem allgemeinen Teil und aus grundlegenden Hinweisen für zehn Unterrichtsfächer (Leibeserziehung; Deutsch; Heimatkunde; Geschichte; Erdkunde; Naturkunde; Musik; Zeichnen und Werken; Hauswirtschaft; Rechnen und Raumlehre), sowie aus Stundentafeln für Jungen bzw. Mädchen.

Der allgemeine Teil begründet zunächst die Erziehungsaufgabe der Volksschule im Rahmen der übrigen NS-Erziehungsmächte:

"Die Aufgabe der deutschen Schule ist es, gemeinsam mit den anderen nationalsozialistischen Erziehungsmächten,

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aber mit den ihr gemäßen Mitteln die Jugend unseres Volkes zu körperlich, seelisch und geistig gesunden und starken deutschen Männern und Frauen zu erziehen, die, in Heimat und Volkstum fest verwurzelt, ein jeder an seiner Stelle zum vollen Einsatz für Führer und Volk bereit sind. Im Rahmen dieser Aufgabe trägt die Volksschule die Verantwortung dafür, daß die Jugend mit den grundlegenden Kenntnissen und Fertigkeiten ausgerüstet wird, die für den Einsatz ihrer Kräfte in der Volksgemeinschaft und zur Teilnahme am Kulturleben unseres Volkes erforderlich sind" (5).

In diesem Sinne soll die Volksschule den Gedanken der Volksgemeinschaft lebendig werden lassen und selbst lebensnah repräsentieren.

"Eine Erziehung zur Gemeinschaft kann nur in der Gemeinschaft erfolgen. Die Volksschule empfängt die Kinder aus dem Elternhause. Sie soll den Kindern ihre Familiengemeinschaft bewußt machen, die Beziehung zum Elternhaus pflegen und dem Familienleben dienen. Zum anderen aber sollen die Kinder schon in den ersten Jahren in der Schule lernen, sich als Angehörige einer anderen größeren Gemeinschaft zu fühlen. In den oberen Jahrgängen der Volksschule sollen die Kinder allmählich über die Sippengemeinschaft hinaus in die große politische Volks- und Wohngemeinschaft aller Deutschen hineinwachsen. Dabei sollen sie sich schon mit Stolz bewußt werden, zu dem Teil der Volksgemeinschaft zu gehören, in dem sie später als Schaffende die Verantwortung für das Ganze mit zu tragen haben" (5).

Um ihren Platz in der Volksgemeinschaft finden zu können, müssen die Kinder über "sicheres Wissen und Können" verfügen, soweit dies nötig ist, um "alle Kräfte der Jugend für den Dienst am Volk und Staat zu entwickeln und nutzbar zu machen". Damit ist auch eine Beschränkung auf das Wesentliche gemeint, denn diese Schule soll sich "von all den Stoffen freimachen, die auf Grund überwundener Bildungsvorstellungen in sie eingedrungen sind" (6).

Grundlegendes didaktisches Prinzip ist die Heimatkunde; der Unterricht soll ansetzen beim aktuellen Leben der Schüler, ihren altersgemäßen Erfahrungen und ihren sozialen Bindungen, wobei Unterschiede zwischen Stadt und Land durchaus einkalkuliert werden. Der Unterricht soll also das Älterwerden der Kinder einerseits begleiten, andererseits

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aber auch verweisen auf das Volksganze, das als oberster sozialer Horizont die Bildung des Volksschülers auch begrenzen sollte.

Die Schule bzw. Klasse müsse eine lebendige Gemeinschaft sein, wenn sie die Idee der Volksgemeinschaft repräsentieren wolle, wobei der Lehrer "Führer" ist - eine Absage an anderslautende Vorstellungen der Reformpädagogik. Als Gemeinschaft soll sie einerseits "Führerauslese und Führerbildung" betreiben, andererseits aber auch den schwächeren Schülern helfen.

"Lehrer und Schüler sollen ihren Stolz darin sehen, auch schwächere Schüler zu unterstützen, um sie der Gemeinschaft zu erhalten" (7).

Anteil nehmen soll die Schule ferner "an allen großen heimatlichen und völkischen Geschehen" sowohl im Sinne "einer frühzeitigen und planmäßigen Einführung in das Geschehen der Gegenwart" als auch durch "Schulfeiern".

Die didaktische Struktur des Unterrichts soll in der ersten Klasse vom Gesamtunterricht ausgehen, um dann zunehmend fachorientiert zu werden. Allerdings wird dabei in den Richtlinien ein Widerspruch erkennbar zwischen der Fachorientierung einerseits und der weltanschaulichen Beeinflussung andererseits.
"Bei den im engeren Sinne erziehlich wirkenden, insbesondere den nationalpolitischen Stoffen hat sich der Lehrer davor zu hüten, ihre Gesinnung und Willen bildende Wirkung durch Zerreden, Zerfragen, abstrakte Lehre oder gedächtnismäßigen Drill abzuschwächen oder zu vernichten. Die freudige Bejahung der nationalsozialistischen Weltanschauung durch den Lehrer und sein überzeugendes Vorbild sind für die erfolgreiche Vermittlung der nationalpolitischen Stoffe entscheidend. Das klare, begeisternde Lehrerwort wird als schlicht-anschauliche Erzählung und Darstellung von besonderer Wirkung sein" (8).

Die NS-Weltanschauung ist offenbar einem rationalen Unterricht nicht zugänglich. Gleichwohl wird sie im zweiten Teil der Richtlinien, der die Grundlagen der einzelnen Fächer charakterisieren soll, immer wieder eingefügt. Von der Heimatkunde wird erwartet, daß sie "in den vier unteren Jahrgängen nicht nur Kenntnisse vermittelt, sondern auch

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den festen Grund legt für den Stolz auf Heimat, Stamm, Volk und Führer" (13). Noch deutlicher beim Geschichtsunterricht:

"Die politische Erziehung in der Volksschule gründet sich in erster Linie auf den Geschichtsunterricht, der die Kinder mit Ehrfurcht vor unserer großen Vergangenheit und mit dem Glauben an die geschichtliche Sendung und die Zukunft unseres Volkes erfüllen soll. Er richtet den Blick auf den schicksalhaften Kampf um die deutsche Volkwerdung, bahnt das Verständnis für die politischen Aufgaben unseres Volkes in der Gegenwart an und erzieht die Jugend zum freudigen, opferbereiten Einsatz für Volk und Vaterland" (15).

Der Unterricht soll "die im deutschen Volke wirksamen rassischen Grundkräfte vorwiegend nordischer Artung" herausstellen.

"Heldischer Geist und der Gedanke des Führertums in germanisch-deutscher Ausprägung sollen den gesamten Geschichtsunterricht erfüllen, die Jugend begeistern und den Wehrwillen wecken und stärken" (15).
"Mit besonderer Sorgfalt ist das Bild des Führers zu zeichnen" (16).

Die Ideologisierung dieses Schulfaches wird offen eingestanden, wenn auch mit unfreiwilliger Ironie.
"Das vorzugsweise erziehliche Ziel dieses Unterrichts schließt die Gewinnung bleibender unterrichtlicher Ergebnisse nicht aus" (16). So sollen "auch einige wenige Geschichtszahlen" dauerhaft gelernt werden. Im übrigen entsprechen die Richtlinien für den Geschichtsunterricht dem erwähnten Urteil von Eilers.

"Leitgedanke" der Erdkunde ist "die Wechselwirkung von Volk und Raum, von Blut und Boden (18). "Dabei ist die Verschiedenheit der Rassen und die besondere Leistung der nordischen Rasse darzustellen". Ferner sind "die kolonisatorischen Leistungen unseres Volkes in aller Welt und unser Anspruch auf kolonialen Raum" "besonders herauszustellen" (19).

Die "Naturkunde" soll im Rahmen der "Erblehre" "Verständnis" wecken für die "Wesensverschiedenheit der Rassen" und die "Gefahren der Rassenmischung" (20).

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Es wäre jedoch falsch, die Richtlinien lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer ideologischen Sätze zu sehen, zumal zweifelhaft bleiben muß, inwieweit sie in der Schulpraxis eine Rolle gespielt haben; denn immerhin waren die Volksschulen noch weitgehend konfessionell bestimmt. Zudem sind Richtlinien damals wie heute politische Willenserklärungen, aus denen keineswegs einfach auf die Praxis in den Schulen geschlossen werden darf. Bemerkenswerter ist vielleicht, daß die Richtlinien das Bild einer Volksschule zeigen, die milieuverhaftet bleiben soll und von deren Abgängern offenbar keine nennenswerte Mobilität erwartet wird. Deshalb verzichteten die Richtlinien auch auf verbindliche Stoffpläne; diese sollten vielmehr von den Leitern der Volksschulen gemäß den allgemeinen Vorgaben der Richtlinien entwickelt werden; auf Bezirksebene sollte dann für eine gewisse Einheitlichkeit gesorgt werden. Die Stoffpläne sollten also von der Basis her entwickelt werden und dabei den volksgemeinschaftlichen Besonderheiten der Regionen angepaßt werden können.

Bayern als einziges Reichsland hielt sich jedoch nicht an diese Vorgaben, sondern stellte einen dezidierten Lehrplan auf, der als "Mindestanforderung" deklariert wurde, also von allen Volksschulen erfüllt werden mußte.

Schon ein Jahr vorher - 1938 - waren ausführliche Richtlinien für die höheren Schulen mit teilweise sehr ausführlichen Lehrplänen für die einzelnen Fächer erschienen. Der allgemeine Teil beginnt mit einer Rückschau auf die preußische Gymnasialreform, die Hans Richert, Ministerialrat im preußischen Kultusministerium, im Jahre 1925 durchgeführt hatte. Ihr lag der Gedanke zugrunde, daß den deutschen Gymnasien eine neue Sinnmitte gegeben werden müsse, nämlich ein nationalorientiertes "deutsches Bildungsgut". Dieses sollte für alle Formen des Gymnasiums im Mittelpunkt stehen und sich präsentieren in der "deutschkundlichen Fächergruppe" (Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Staatsbürgerkunde, Religion). In einem neu eingerichteten Gymnasialtyp, der "Deutschen Oberschule", sollte diese Deutschkunde sogar zum zentralen Bildungsinhalt werden.

Von diesem Reformkonzept, das in den Richtlinien durchaus auch positiv gewürdigt wird, setzen diese sich gleichwohl

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ab. Es sei "in seinem Wesen sowohl wie in seinen geschichtlichen Voraussetzungen grundverschieden von dem, was der Nationalsozialismus unter politischer Erziehung begreift" (9). Das Reformkonzept habe auf den "deutschen Idealismus als Bildungsgut zurückgegriffen in der Hoffnung, auf diese Weise eine neue Volksgemeinschaft begründen zu können. Dieser Gedanke beruhe jedoch auf der "Illusion, daß geistige Bildung einem Volke das schenken könne, was nur durch die politische Tat einer großen Persönlichkeit dem Schicksal abgetrotzt wird" (9 f.). Das tatsächliche Verhältnis von Politik und Pädagogik sei hier verwechselt worden. Die Erziehungstätigkeit könne keine politischen Ziele setzen, müsse vielmehr umgekehrt von der Politik ihre Aufgabe empfangen. "Man glaubte, durch eine Reform des Bildungswesens das einholen zu können, was wir an politischer Macht verloren hatten; man glaubte, die Einbuße des Staates an Ansehen gegenüber den Mächten der Gesellschaft durch den Aufbau einer im Grunde unverbindlichen staatsbürgerlichen Unterweisung ausgleichen ... zu können" (10). Eine neue Erziehung setze aber eine neue politische Ordnung voraus und die habe der Nationalsozialismus nun geschaffen. "Alle planende Erziehung ist ausgerichtet nach einer gegebenen Ordnung. Das nationalsozialistische Erziehungssystem ist seinem Ursprung nach nicht ein Werk der pädagogischen Planung, sondern des politischen Kampfes und seiner Gesetze" (11). SA und SS seien zunächst als Kampforganisationen entstanden und präsentierten sich nun als neue Lebensordnung, in der auch ein neues Erziehungsprinzip wirksam sei. Die nationalsozialistische Revolution habe den "Vorrang der Politik vor der Pädagogik" (11) bewiesen. Sie "hat an die Stelle des Trugbildes der gebildeten Persönlichkeit die Gestalt des wirklichen, d.h. durch Blut und geschichtliches Schicksal bestimmten deutschen Menschen gesetzt und anstelle der humanistischen Bildungsideologie, die bis in die jüngste Vergangenheit fortgelebt hatte, eine Erziehungsordnung aufgebaut, die sich aus der Gemeinschaft des wirklichen Kampfes entwickelt hatte" (12). Aus diesen politischen Prozessen sei eine neue Bildungsidee entstanden, die noch ausgeformt werden müsse. "Auch das nationalsozialistische Zeitalter wird die Schule hervorbringen, die Geist von seinem Geiste ist, aber wir müssen uns bewußt sein, daß wir am Anfang der neuen Bildung stehen" (12).

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Unschwer sind in diesem grundsätzlichen Teil die im vorangehenden Kapitel vorgestellten Argumentationen Baeumlers erkennbar, und seine Spuren sind auch sichtbar, wenn nun der Platz der Schule in diesem Bildungsverständnis markiert wird, nämlich "daß ihr Weg wesentlich über die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten führt" (13 f.). Die Aufgabe der Schule sei Unterricht, also "die Zucht des Geistes, die Entwicklung der Verstandeskräfte und die Vermittlung lebendiger Bildungsstoffe" (14). Speziell die höhere Schule solle denjenigen Teil der Jugend bilden, "der später zur selbständigen Lösung von Lebensaufgaben der Nation herangezogen werden soll" (15). Diese Führungsschicht soll aber "aus allen Kreisen des Volkes" nach dem "Gedanken der Auslese und Leistung" gewonnen werden.

Der Erziehung zur Verantwortungsfähigkeit müsse auch die Unterrichtsgestaltung entsprechen. Die spezifische Erziehung durch die höhere Schule müsse mit den "Mitteln des Erkennens" angestrebt werden. "Indem der Schüler nicht nur fertige Ergebnisse übermittelt bekommt, indem er veranlaßt wird, den Vorgang des Erkennens und Verstehens in sich selbst zu vollziehen, soll in ihm die Fähigkeit zu eigener, selbstverantwortlicher Entscheidung geweckt werden" (16). Nie dürfe aber "Wissensvermittlung, zum Selbstzweck" werden. Didaktisch soll der Unterricht "an die Umwelt des Schülers, an seiner Erlebnis- und Vorstellungswelt anknüpfen", woraus sich unter anderem die Folge ergibt, "daß die Mädchenerziehung sich nach anderen Gesetzen vollziehen muß als die Jungenerziehung" (17). Die Berücksichtigung der bereits vorliegenden Erfahrungen der Schüler dürfe aber keinen Verzicht auf Leistung bedeuten. "Die neue Höhere Schule wird den jungen Menschen in eine strenge Zucht des Geistes nehmen, sie wird nicht davor zurückscheuen, den jugendlichen Geist durch den Zwang, Tatsachen, Regeln und Zahlen zu lernen, zu kräftigen und geschmeidig zu erhalten, aber sie wird immer darauf achten müssen, daß nicht ein totes Wissen, sondern ein lebendiges Verstehen und Können das Ziel allen Unterrichts ist" (18).

Die Richtlinien versuchen offensichtlich, eine Balance zwischen der Subjektivität des Schülers und der Objektivität der Unterrichtsstoffe herzustellen und damit das Konzept einer leistungsorientierten Lernschule, mit bestimmten Ideen der

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 Reformpädagogik zu verbinden. Dazu gehört auch die Klarstellung der Rolle des Lehrers im Unterricht.

"Unterrichtsgrundsatz ist ein maßvoller, gebundener Arbeitsunterricht, bei dem der Lehrer das Ziel setzt und die Führung fest in der Hand behält. Alles, was die Selbsttätigkeit des Schülers fördert, ihn zu eigenem Denken und Urteilen führt, ist Arbeitsunterricht, mithin das lebendige Lehrgespräch und der zur Mitarbeit anspornende Lehrervortrag ebenso wie die richtig vorbereitete und geleitete Gemeinschaftsarbeit mit Arbeitsteilung und -vereinigung und die sinnvoll gestellte Hausaufgabe.

Der Arbeitsunterricht darf nicht zu verantwortungslosem Kritteln und Zerreden führen oder in überheblicher Rechthaberei und bloßem Meinungsstreit steckenbleiben. Er muß vielmehr in einem Ergebnis, in einer Wertung und Entscheidung sein Ziel sehen. Dafür trägt der Lehrer die Verantwortung" (19 f.).

Dieser Grundsatz schließt aber durchaus "lebendigen Wechsel der Arbeitsweise" ebenso ein wie die Anerkennung der Individualität des Schülers.

"Ein Sichverlieren in stoffliche Nichtigkeiten und eine unnötige Breite des Unterrichtsganges sind Zeitvergeudung und lähmen die Arbeitslust. Nicht minder schädlich ist eine Unterrichtsweise, die den Schüler, anstatt ihm Mut zu machen und sein Selbstvertrauen zu heben, durch kleinliche Zwischenfragen und vermeintliche Hilfen dauernd bevormundet und ihm Selbstvertrauen und Freude an der eigenen Leistung raubt. Jede selbständige Denkleistung ist als solche zu würdigen. Wachsenlassen und Führen sind die sich ergänzenden Grundsätze aller planvollen Erziehung" (20).

Zweifellos lassen diese Richtlinien das Bild einer für die damalige Zeit relativ fortschrittlichen Oberschule erkennen, die Einsichten der Reformpädagogik mit relativ hohen Unterrichtsanforderungen verbindet. Auffallend ist auch, daß im Unterschied zu den Volksschul-Richtlinien diese in ihrem allgemeinen Teil kaum spezifische ideologische Passagen enthalten. Die offizielle Ideologie wird lediglich als fundierende und integrierende Sinnstiftung verstanden.

"Die nationalsozialistische Weltanschauung ist nicht Gegenstand oder Anwendungsgebiet des Unterrichts, sondern sein

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Fundament. Sie ermöglicht, daß die Schlagbäume zwischen den einzelnen Fachgebieten fallen und auf eine ungezwungene Weise ein Unterricht in Querverbindung und Konzentration betrieben werden kann. Mit ihr lösen sich alle Lehrplan- und Stundenplanschwierigkeiten, die im Zeitalter des Bildungspluralismus unüberwindlich schienen. Denn die Weltanschauung gibt dem Unterricht nicht so sehr neue Bildungsstoffe, als vielmehr eine neue Sicht, ein neues Erziehungsverfahren und ein neues Ausleseprinzip für das Bildungsgut" (19). In den Lehrplänen für die einzelnen Fächer, vor allem für die Gesinnungsfächer und für Biologie sind entsprechende ideologische Verkürzungen allerdings durchaus zu finden. Hier wirkt sich die NS-Weltanschauung tatsächlich als "neues Ausleseprinzip für das Bildungsgut" zum Teil nachhaltig aus. Im ganzen jedoch versuchen diese Richtlinien, das sachorientierte Leistungsprinzip gegen allzu starke ideologische Beeinträchtigungen durchzuhalten. Ein Beispiel dafür, aber auch zugleich ein Hinweise darauf, daß offensichtlich auch in den Schulen die "Weltanschauung" bereits verkitscht wurde, ist folgende Bemerkung über den Schulaufsatz:

"Der Schulaufsatz ist weder der geeignete Prüfstein für eine propagandistische Begabung des Schülers, noch der Ort, wo er seine Gesinnung zu Markte tragen soll. Vielmehr ist jedem eitlen und berechnenden Verschleiß nationaler Werte schonungslos entgegenzutreten: für die großen nationalen Kundgebungen muß ein unverbrauchter Wortschatz zur Verfügung stehen, die Phrase, wo und wie immer sie sich hervorwagt, ist rücksichtslos zu entlarven: Worte wie heldisch, Blut, Ehre, Volksgemeinschaft und andere müssen ihren tiefen Sinn verlieren, wenn sie im Alltag des Unterrichts leichtfertig verbraucht werden" (44).

Die Richtlinien versuchen also, fachliche Leistung in den Oberschulen zu erhalten und die Abstraktheit und Lebensfremdheit des traditionellen Gymnasiums zu vermeiden. Die "Lebensnähe" der Schule ist aber eben immer auch Hinwendung zum tatsächlichen gesellschaftlichen Leben und damit auch zu dessen offizieller ideologischen Bewertung, und die war damals eben nationalsozialistisch.

Die Richtlinien zeigen, daß ein deutlicher Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule gemacht wird. Ob-

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wohl Begabten aus den unteren Volksschichten ausdrücklich der Weg in die höhere Bildung freigemacht werden sollte, war die Volksschule als Massenschule des Volkes gedacht. Deshalb sollte sie wie früher wieder im völkischen Leben verankert werden, an dessen aktuellen Ereignissen wie an den entsprechenden Festen und Feiern teilnehmen. Diese lokale wie volksgemeinschaftliche Eingebundenheit erschien den Richtlinien-Machern wichtiger als dezidiertes Wissen, das sich in Schulbüchern fand, die zum Teil noch aus der Weimarer Zeit stammten.

Die Oberschule war dagegen als Leistungsschule gedacht. Andererseits bemühte sich das Regime durchaus, erkennbaren Begabungen "aus dem Volk" gerecht zu werden mit Angeboten unterhalb der Oberschule. Die reichsweite Einführung der Mittelschule durch Rust diente auch diesem Zweck, ebenso die damit konkurrierende Einführung der Hauptschule, die für die besten Volksschüler zur Pflichtschule werden sollte. Auch die Aufbauschulen, die in ländlichen Gebieten eingerichtet wurden, sollten Begabte mobilisieren, und die im Krieg eingeführten Lehrerbildungsanstalten machten den Volksschullehrer wieder zu einem Aufstiegsberuf für Volksschulabgänger, für Abiturienten war er zu einem Abstiegsberuf geworden - ein wesentlicher Grund für den Lehrermangel.

Bei der Beurteilung dieser Schule und Bildungspolitik muß man bedenken, daß es damals - anders als heute - noch eine verhältnismäßig tiefe Kluft gab zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft bzw. Landbevölkerung, die sich unter anderem auch im Schulzugang ausdrückte. Selbst für ein unzweifelhaft begabtes Arbeiter- oder Bauernkind war der Besuch einer Oberschule ein schwieriges Unterfangen - nicht nur, weil dafür Schulgeld gezahlt werden mußte, sondern vor allem auch, weil damit eine soziale Entfremdung verbunden war. Deshalb war es keineswegs abwegig, für solche Kinder Schulformen anzubieten, die näher an ihrem sozialen Status und gesellschaftlichen Selbstverständnis lagen als die Oberschulen.

Zu den seit 1937 einsetzenden Schulreformmaßnahmen gehört auch das "Reichsschulpflichtgesetz" (6.7.38). Es setzte den Beginn der Schulpflicht auf das vollendete 6. Lebensjahr des Kindes und eine achtjährige Volksschulpflicht fest. Zwar

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hatte schon die Weimarer Verfassung im Artikel 145 eine Schulpflicht von mindestens acht Jahren vorgesehen, aber die Länder hatten diese Forderung unterschiedlich erfüllt. Bayern und Württemberg hatten die achtjährige Volksschule nur teilweise eingeführt, während in Hamburg und Schleswig Holstein eine neunjährige Schulpflicht bestand.

Die wichtigste Bestimmung dieses Gesetzes war jedoch die Neuordnung des Berufsschulwesens. Zwar hatte auch in dieser Frage der Artikel 145 der Weimarer Verfassung eine einheitliche Regelung vorgesehen, doch ein entsprechendes Reichsberufsschulgesetz kam ebenso wenig zustande wie ein Reichsschulgesetz. Das Ergebnis war eine Fülle von verwirrenden Bestimmungen, die teilweise nur lokale Geltung hatten, und die vor allem darauf zurückzuführen waren, daß die Zuständigkeiten von Handels- und Kultusministerien sich vielfach überschnitten. Etwa ein Viertel der an sich berufsschulpflichtigen Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren konnten keine Berufsschule besuchen. Nun wurde die "Berufsschulpflicht" reichsweit eingeführt. Sie begann für jeden Schüler nach dem Ende der Volksschule und dauerte drei Jahre, für landwirtschaftliche Berufe zwei Jahre. Die Kommunen wurden verpflichtet, entsprechende Schulen einzurichten, so daß auch das in Mittel- und Kleinstädten bisher vernachlässigte Berufsschulwesen ausgebaut werden konnte. Die praktische Berufsausbildung erfolgte in den Betrieben und war bisher eine Domäne des Handwerks. Nun wurde die Industrie gedrängt, sich ebenfalls an der Berufsausbildung zu beteiligen. So entstand innerhalb weniger Jahre eine vom Handwerk unabhängige Berufsausbildung. Für die einzelnen Lehrberufe wurden Berufsbilder festgelegt, aus denen dann die für nötig erachteten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten abgeleitet wurden. Auf diese Weise entstanden bis 1943 dreihundertvierzehn anerkannte Lehrberufe, die allerdings sehr spezialistisch konzipiert waren.

Es hat verschiedene Versuche gegeben, die NS-Ideologie in einem eigenen Schulfach zu lehren. Einer davon war der 1934 eingerichtete "Staatsjugendtag", der zwischen HJ und Schule aufgeteilt wurde. Die 10- bis 14jährigen Schüler, die dem Jungvolk angehörten, sollten ihre nationalpolitische Erziehung in der HJ erhalten, die übrigen blieben in der Schule, wo ein zweistündiger weltanschaulicher Unterricht, ergänzt

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durch Sport, Basteln und Wandern abgehalten wurde. Dieses Projekt scheiterte aber einerseits an der Unfähigkeit der HJ, diese Aufgabe geistig und organisatorisch zu bewältigen, zum anderen auch am Widerstand der Schule, die auf ihr Niveau nicht verzichten wollte; der "Staatsjugendtag" wurde 1936 wieder abgeschafft.

Lediglich in Württemberg wurde die NS-Weltanschauung als Schulfach eingeführt ("weltanschaulicher Unterricht" = WAU). Nach einem 1938 veröffentlichten Stoffplan-Entwurf sollte der WAU folgende Themenkreise behandeln:

"Für die Grundschule sieht der Entwurf zwei große Themenkreise vor: 1. 'Vom Erahnen Gottes in der Natur', wobei Stoffe zu den Themen 'Die Ordnung der Natur' sowie 'Die Jahreszeiten' vorgesehen sind und 2. 'Vom Erleben der Blutsgemeinschaft', wobei es um Stoffe zu den Themen 'Das Kind als Glied der Familie', 'Das Kind in der Schulgemeinschaft', 'Das Kind in der Stadt- und Dorfgemeinschaft', 'Das Kind in der Volksgemeinschaft' geht. Für die Mittelstufe (5.8. Schuljahr) werden Stoffe aus folgenden Themenkreisen vorgeschlagen: 'Göttermythen und Heldensagen', 'Aus der deutschen Geschichte', 'Deutsche Glaubens- und Lebenskunde', 'Vorbilder deutschen Wesens in Leben und Denken', 'deutsche Kunst', 'Weltanschauliche Auseinandersetzung mit anderen Mächten', 'Besprechung weltanschaulich wichtiger Tagesereignisse'. In der höheren Schule steht vor allem die nationalsozialistische Weltanschauung sowie ihre historischen und rassischen Grundlagen im Zentrum des ,Entwurfs'. Die Auseinandersetzung mit den Kirchen fand vor allem unter der Überschrift 'Weltanschauliche Auseinandersetzungen mit anderen Mächten' statt. Für das siebte Schuljahr waren da u.a. folgende Stoffe vorgesehen: 'Jüdische Weltanschauung', 'Das Wesen des Christentums', 'Der politische Katholizismus'. Schon die Untertitel zum letzten Thema wie 'Das politische Machtstreben der Kirche im Mittelalter', 'Die Beherrschung der Seelen durch Lohn und Strafe', 'Das Unfehlbarkeitsdogma' deuteten auf eine sehr gehässige, einseitige Darstellung der (katholischen) Kirche und ihrer Geschichte hin. Noch deutlicher war das im achten Schuljahr zu spüren, wo unter dem Oberthema 'Gegenbewegungen gegen den deutschen Geist' Themen wie: 'Die Jesuiten', 'Die Politik des Zentrums', 'Die katholische Aktion und ihre Tarnung im Dritten Reich', 'Protestantische Rompilger'

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zur Behandlung vorgeschlagen wurden ... (Thierfelder, S.244).

Die evangelische Kirche des Landes gestand dem Staat zwar das Recht zu, einen staatsbürgerlichen Unterricht zu erteilen, wandte sich aber scharf gegen die anti-christlichen Partien dieses Lehrplans. Der Streit zog sich bis in die letzten Kriegsjahre hin, und Bischof Wurm forderte die Pfarrer auf, Kinder nicht zu konfirmieren, die am WAU teilnahmen. Diese Auseinandersetzung bewog schließlich das REM, die geplante Einführung des WAU in Sachsen zu verbieten.

Bei den Versuchen, die NS-Weltanschauung in den Schulen zu lehren, erwies sich schnell, daß dieses "ldeengut" dafür zu diffus war bzw. daß niemand die Kompetenz hatte, es allgemeingültig zu definieren. Lediglich in den von den Nazis eingerichteten Eliteschulen (NPEA und Adolf-Hitler-Schulen) war der Spielraum dafür offener, weil die Definitionsmacht derer, die diese Schulen betrieben, entsprechend größer war.

Dem Programm der "Volksgemeinschaft" widersprachen die Bekenntnisschulen. Ihre Beseitigung stieß jedoch auf rechtliche Schwierigkeiten. Das Konkordat von 1933 sicherte den Bestand und die Neueinrichtung katholischer Bekenntnisschulen, und die evangelische Kirche ging davon aus, daß diese Regelung aus Gründen der Parität auch für sie gelten würde. Für Preußen galt zudem immer noch das "Volksschulunterhaltungsgesetz" von 1906, das die Bekenntnisschulen ebenfalls garantierte. Bis 1935 änderte sich in dieser Frage auch nichts, obwohl die Einführung der "Gemeinschaftsschule" zum Programm des "Nationalsozialistischen Lehrerbundes" (NSLB) seit 1930 gehörte. Für die Abschaffung der Bekenntnisschulen gab es nicht nur ideologische Gründe, insofern sie das Erziehungsmonopol der Nazis gefährdeten, sondern auch praktische; die Unterhaltung vieler Zwergschulen war unökonomisch. Voll gegliederte Volksschulen waren nur in den großen Städten zu finden und im ganzen in der Minderheit. Im Jahre 1940 waren nur circa zehn Prozent der Volksschulen im Reich voll ausgebaut, vierzig Prozent aller Schulen waren einklassig, zwanzig Prozent waren zweiklassig, zehn Prozent dreiklassig, acht Prozent vierklassig.

Der Kampf für die Gemeinschaftsschule begann 1935 in Bayern und dauerte bis Ostern 1941; erst dann waren die letz-

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ten Konfessionsschulen beseitigt. Die Kampagne ging nicht von einer zentralen Weisung des Reiches aus, sondern von lokalen Parteiinstanzen bzw. von den Kultusministerien der Länder. Vor allem der "Nationalsozialistische Lehrerbund" (NSLB) setzte sich dabei in Szene. Gearbeitet wurde mit Haken und Ösen. Im Grunde mußte der Anschein erweckt werden, als wolle die Mehrheit der Bevölkerung selbst die Gemeinschaftsschule. Abstimmungen unter den Eltern wurden in Schulen veranstaltet, wobei die Anwesenden kurzerhand als Repräsentanten der Gesamtbevölkerung definiert wurden. An anderen Orten wurden die Bürgermeister einfach als Vertreter des Volkswillens angesehen. Die katholische Kirche veranstaltete in ihren Gottesdiensten Gegen-Abstimmungen und veröffentlichte deren Ergebnisse. Diese Auseinandersetzung brachte teilweise erhebliche Unruhe in die Bevölkerung, so daß Heydrich die Abstimmungen 1937 verbot.

Wie bereits gesagt, ging die Initiative zu dieser Kampagne nicht vom REM aus. Im Gegenteil versuchte Rust diese Aktivitäten mit dem Hinweis zu stoppen, er bereite eine reichseinheitliche Regelung vor. Die Kampagne ist ein Beispiel dafür, daß in der NS-Zeit Schulpolitik keineswegs nur von den dafür zuständigen staatlichen Instanzen gemacht wurde, sondern auch von Parteidienststellen. Das war möglich, weil Hitler keine klaren Direktiven für die Schulpolitik erlassen hatte. Statt dessen griff er mit "Führerbefehlen" ein. Das waren oft nur Äußerungen im Kreise seiner Unterführer, die von diesen dann in ihrem Sinne ausgelegt und durchgeführt wurden. Zunehmende Bedeutung gewann dabei Martin Bormann, der zunächst Sekretär des Hitler-Stellvertreters Hess, dann Hitlers Sekretär war. Vor allem von ihm gingen die religions- und kirchenfeindlichen Tendenzen aus. Er unterstützte die erwähnte Einführung des WAU in Württemberg nachdrücklich. Er wollte Schulgebete und Schulandachten durch NS-Morgenfeiern ersetzen und eine Art von NS-Katechismus anstelle einer christlichen Sittenlehre einführen. Für die restlose Beseitigung der Bekenntnisschulen setzte er Rust schließlich ein Ultimatum.

Während Rust und sein Ministerium immerhin versuchten, eine sachorientierte Schulpolitik zu betreiben und dabei die staatliche Administration von Parteieingriffen nach Möglichkeit freizuhalten, verfolgten führende Persönlichkeiten der Partei entgegengesetzte Ziele. Baldur von Schirach, der "Reichs-

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jugendführer", verwickelte Rust nicht nur in zahllose Konflikte, die die Beziehungen der HJ zur Schule betrafen, er versuchte auch bis in die Kriegsjahre hinein ein Jugendministerium unter seiner Leitung durchzusetzen, dem auch das Schulwesen unterstellt werden sollte. Gemeinsam mit Robert Ley, dem Führer der "Deutschen Arbeitsfront" (DAF) gründete er 1936 ohne Wissen Rusts, aber gedeckt durch einen "Führerbefehl", die "Adolf-Hitler-Schulen" als reine Parteischulen, die nicht mehr der staatlichen Schulaufsicht unterstanden. Davon wird im nächsten Kapitel noch zu sprechen sein.

Die schon erwähnten "Deutschen Heimschulen" unterstellte Hitler dem SS-Gruppenführer August Heißmeyer, Chef des Hauptschulungsamtes der SS, der auch ab 1936 die Leitung der 1933 gegründeten "Nationalpolitischen Erziehungsanstalten" (NPEA) übernommen hatte. Ab 1942 bekam er auch die Leitung der "Reichsvereinigung deutscher Privatschulen" in die Hand; in diesem Verband waren die noch verbliebenen Privatschulen zusammengefaßt worden.

Die "Nationalpolitischen Erziehungsanstalten" (NPEA) waren ähnlich wie die später zu behandelnden Adolf-HitlerSchulen" als Eliteschulen des Regimes vorgesehen. Am 20.4.33 wurden die staatlichen Bildungsanstalten in Potsdam, Plön und Köslin, die früher preußische Kadettenanstalten waren, in NPEA umgewandelt. In diesen Schulen sollte das Modell einer NS-Erziehung entwickelt werden. Der Lehrkörper setzte sich zusammen aus Lehrern, die für den Unterricht zuständig waren, und aus Erziehern. Als Lehrer wurden junge, unverheiratete Studienassessoren auf drei Jahre verpflichtet, die Erzieher waren durchweg überzeugte Nationalsozialisten. Neben dem Unterricht in den üblichen Fächern - wozu hier auch ein "nationalpolitischer Unterricht" gehörte - nahm der Sport einen breiten Raum ein, einschließlich damals elitärer Sportarten wie Rudern, Segeln, Segelflug, Motorsport. Hinzu kam Geländesport im Sinne einer vormilitärischen Ausbildung. Im Herbst fanden mehrwöchige, manöverähnliche geländesportliche Übungen statt, an denen alle preußischen Anstalten beteiligt waren und die von ranghohen Offizieren begutachtet wurden. Auf dem Programm standen auch Fahrten durch Deutschland. In der Untersekunda mußte jeder Schüler sechs bis acht Wochen bei einem Bauern oder Siedler arbeiten, im nächsten Schuljahr in einer Fabrik. Längere Auslandsaufenthalte wurden durch

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einen Austauschdienst organisiert. Der Alltag im Internatsbetrieb wurde durch die typische NS-Lagererziehung bestimmt: Frühsport, Fahnenappell, Feiergestaltung, Lagerdienst, Gemeinschaftsleben. Das ganze Arrangement sollte den Schülern das Bewußtsein vermitteln, zu einer privilegierten Gruppe und zur späteren Elite zu gehören. Deshalb waren Schulplätze für diese Schulen sehr begehrt. Rust hatte die Lehrer des dritten und vierten Schuljahres angewiesen, besonders begabte Jungen dem Kreisschulrat zu melden, der dann die Eltern zu einer Bewerbung aufforderte. Vorbedingung waren Mitgliedschaft in der HJ, gute Gesundheit, sportliche Leistungsfähigkeit, Nachweis der arischen Abstammung der Eltern und ein politisches Gutachten des zuständigen Kreisleiters. Die vorgeschlagenen Jungen nahmen acht Tage am Dienst einer NPEA teil, wurden dabei beobachtet und danach endgültig ausgewählt. Im Unterschied zur Adolf-Hitler-Schule, die kein Schulgeld verlangte, mußte für die NPEA ein nach Elterneinkommen gestaffeltes Schulgeld zwischen 200 und 1.200 RM pro Jahr gezahlt werden. Allerdings gab es eine ganze Reihe von Freiplätzen, die vorzugsweise an Kinder von bewährten Nationalsozialisten vergeben wurden. Hitler wollte, daß aus diesen Schulen der Offiziersnachwuchs hervorging. Deshalb verfügte der Reichskriegsminister über eine Reihe von Stipendien für die Söhne aktiver Offiziere. Im Kriege gab es in Deutschland und in den annektierten Gebieten 35 NPEA, etwa ein Prozent der Abiturienten wurde in ihnen ausgebildet. Das war nicht viel, aber für die Zeit nach dem Kriege war an einen zügigen Ausbau dieses Schultyps gedacht.

Die Entwicklung der Lehrerbildung

Im Jahre 1933, also am Ende der Weimarer Republik, war die Lehrerbildung in den einzelnen Reichsländern unterschiedlich geregelt; jedenfalls gilt dies für die Ausbildung der Volksschullehrer, die der Gymnasiallehrer bestand im Kern aus einem Universitätsstudium in den gewählten Unterrichtsfächern und einer anschließenden Referendarzeit. Daran wurde in der NS-Zeit im Prinzip auch nichts geändert.

Die Ausbildung der Volksschullehrer wurde in der Weimarer Republik grundsätzlich auf eine wissenschaftliche

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 Grundlage gestellt - im Unterschied zu der vorher gültigen Seminarausbildung, die mit Volksschulabschluß absolviert werden konnte; diese Art der Ausbildung hatte auch Ernst Krieck genossen. Die Weimarer Verfassung hatte im Artikel 143, 2 festgelegt, daß die unterschiedlichen Ausbildungen der Lehrergruppen angeglichen werden sollten. "Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln". Nun sollte also das Abitur zur Eingangsvoraussetzung für die Ausbildung der Volksschullehrer werden. Aber zu einer reichseinheitlichen Regelung kam es nicht.

Das durch die Weimarer Verfassung vorgegebene Prinzip der Verwissenschaftlichung wurde in den einzelnen Reichsländern jedoch unterschiedlich realisiert. Braunschweig, Hamburg, Sachsen und Thüringen bildeten die Lehrer an der Universität bzw. Technischen Hochschule aus; Bayern und Württemberg hielten an der Seminarausbildung fest, die nur unwesentlich modifiziert wurde. Preußen hatte die "Pädagogische Akademie" eingeführt, eine Hochschule eigenen Typs außerhalb der Universität. Sie beruhte im wesentlichen auf einem Gutachten, das Eduard Spranger verfaßt hatte ("Gedanken über Lehrerbildung", 1920). Spranger befürchtete einerseits eine Pädagogisierung der Universität, wenn sie die Lehrerbildung übernehmen würde, andererseits glaubte er, daß der Volksschullehrer für seinen Beruf anderes brauche als ein wissenschaftliches Universitätsstudium. Die Akademie sollte eine "Bildnerhochschule", eine "Stätte der Begegnung mit den Kulturinhalten" sein. Dort sollte der angehende Lehrer sich selbst bilden können, um danach auf seine Schüler entsprechend einzuwirken. Gemäß der "Denkschrift" über "Die Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen" (1925) wurde vom Studium an den neuen Akademien "Pädagogische Schulung, Vertrautheit mit den zu vermittelnden geistigen, religiösen, sittlichen, technischen und künstlerischen Bildungswerten, Verwurzelung im heimatlichen Volkstum und eine ausgeprägte Berufsgesinnung" erwartet (7). Aus diesen Formulierungen wird erkennbar, daß die "Volksnähe" des Volksschullehrers, wie sie sich in den Richtlinien für die Volksschulen von 1939 zeigt, im Prinzip keine Erfindung der Nationalsozialisten war.

Die preußischen Akademien verwandelte Rust am 6.5.33 in "Hochschulen für Lehrerbildung" (HFL) mit der Absicht,

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diesen Typus für das ganze Reich einzuführen, was aber wegen der erwähnten unterschiedlichen Ausgangsbedingungen erst 1937 voll gelang. Auch die neuen HFL setzten das Abitur voraus und das Studium dauerte wie bisher zwei Jahre. Aber Rust verlegte die Anstalten in ländliche Gebiete und in Grenzgebiete, um so die völkisch-gemeinschaftsorientierten Erwartungen an den NS-Lehrer zu unterstreichen. Von 1936 bis 1939 mußten auch Anwärter für das höhere Lehramt zunächst zwei Semester an einer HFL studieren - im Sinne einer "Ausrichtung der gesamten Erzieherschaft auf ein einheitliches politisch-weltanschauliches Ziel". Am Ende dieses Studienabschnitts entschied der Direktor der Anstalt darüber, ob der Student zu einem weiteren Studium an der Universität zugelassen werden sollte. Mit Kriegsbeginn wurde dieser Studienanteil jedoch nicht zuletzt auf Einspruch der Rektorenkonferenz wieder zurückgenommen.

Von Anfang an gab es einflußreiche Kreise in der NSDAP, die den Ausbildungsstandard der HFL für unangemessen hoch hielten angesichts der Erwartungen, die an den Beruf des Volksschullehrers zu stellen seien. Vor allem kritisierten sie die Reifeprüfung als Zulassungsvoraussetzung. Eine ihre Argumentation stützende Tatsache sahen sie in dem eklatanten Lehrermangel, der Mitte der 30er Jahre einsetzte, nachdem Ende der 20er Jahre noch "Überfüllung" geherrscht hatte. Trotz intensiver Werbung für den Volksschullehrerberuf konnten die HFL 1938 nur etwa die Hälfte des Bedarfs decken. Im Jahre 1940 konnten die Hochschulen nur etwa 2.300 Junglehrer bereitstellen, benötigt wurden aber etwa 7.000.

Die Gründe für den Mangel lagen vor allem darin, daß das Ansehen dieses Berufes nicht zuletzt durch die Angriffe der HJ, wegen der vor allem auf dem Lande vielfach immer noch geltenden kirchendienstlichen Pflichten der Lehrer und wegen der schlechten Bezahlung auf einem Tiefpunkt angelangt war. Die Abiturienten hatten damals weit bessere berufliche Alternativen vor Augen. Aufschlußreich zu diesem Thema ist ein Bericht des Kreisleiters von Cloppenburg vom November 1940:

"Wir alle wissen, wie schwer es ist, Lehrernachwuchs zu bekommen, und eingehende Umfrage in den Ortsgruppen hat denn auch ergeben, daß wir diese Schwierigkeiten noch lange nicht überwinden werden. Ein Hauptübel ist, daß gerade

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Junglehrer miserabel bezahlt werden. Auch darüber habe ich früher schon einmal berichtet und ihr Gehalt mit den hauptamtlich angestellten Führern der HJ verglichen. Das Ergebnis war ein Entrüstungsschrei der HJ, die sich einfach verbat, daß ein Jugendführer mit einem Junglehrer auf eine Stufe gestellt werden sollte. Heute ist es nun so weit, daß kein Junge mehr Lehrer werden will; denn 16jährige Jungens verdienen genausoviel wie ein studierter Junglehrer. Auf dem Ammerland erzählt man sich z.B., ein Junglehrer bekäme das Gehalt eines Knechtes.

Es kommt hinzu, daß man den Lehrern sehr viele Nebeneinkünfte genommen hat, und das Endergebnis ist, daß heute kein Mensch mehr darum rennt, Lehrer zu werden.

Ich habe ja auch das Gefühl, als wenn man sich deshalb nicht so sehr zum Nachwuchs drängt, weil man weiß, daß der Lehrer seine ursprüngliche beherrschende Position eingebüßt hat und weil man weiter weiß, daß er heute in hervorragendem Maße für die Mitarbeit in der Partei herangezogen wird, so daß ihm bei einer gewissenhaften Ausübung seines Berufes kaum noch Freizeit bleibt ... .

Zu allerletzt führe ich dann noch einen Grund an, den man auch nicht außer acht lassen soll: Hier in unserem Bezirk machen auch die Eltern nicht mit, denn sie fürchten, daß die Jungens in der Aufbauschule ohne Religion aufgezogen werden, und dann scheidet der Lehrerberuf in den meisten Fällen aus" (zit. n. Willenborg, 96).

Auf dem Hintergrund dieses Mangels forderte die von Bormann geleitete Parteikanzlei den Abbau der akademischen Lehrerbildung, und Rust wurde erheblich unter Druck gesetzt. Er wehrte sich heftig und trat mit Entschiedenheit für eine wissenschaftsorientierte Ausbildung auch der Volksschullehrer ein. Aber Hitler verfügte Ende 1940 die Auflösung der HFL und die Schaffung von "Lehrerbildunganstalten" (LBA). Er hielt es für "völlig abwegig", "Lehrer, die ABC-Schützen zu unterrichten haben, mit Hochschulbildung auszustatten" (Ottweiler, in: Heinemann 1980, Bd.1, 206). Er wünschte außerdem, ehemalige Unteroffiziere nach einer pädagogischen Zusatzausbildung als Volksschullehrer unterzubringen.

Die LBA, die nun nicht mehr wie noch die HFL nach Konfessionen getrennt waren, nahmen Volksschul- und Haupt-

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schulabgänger auf, die Ausbildung dauerte fünf Jahre bis zur ersten Lehrerprüfung. Sie war straff schulmäßig orientiert und fand unter Internatsbedingungen statt, was - unter maßgeblicher Beteiligung der HJ - eine intensive Lagererziehung ermöglichte. Ende 1942 gab es im Reich 160 LBA. Ihr Leistungsniveau war so niedrig, daß selbst aus Kreisen der NSDAP bei der Parteikanzlei - vergeblich - interveniert wurde mit dem Ziel einer Erhöhung des geistigen Niveaus. Ein Grund für diesen intellektuellen Verfall war die permanente Inanspruchnahme der Studierenden und der Lehrenden für Aufgaben der Partei bzw. für den "Einsatz" im Rahmen kriegsbedingter Aufgaben; schließlich galt es ja, das Studium nicht akademisch-lebensfremd, sondern "volksgemeinschaftlich" zu gestalten.

Rust hatte den Lehrermangel Ende der 30er Jahre durch Notmaßnahmen überbrücken wollen, ohne das Konzept der HFL im Grundsatz anzutasten. So wurden in Preußen Anfang 1939 "staatliche Aufbaulehrgänge für das Studium an den Hochschulen für Lehrerbildung" eingerichtet, in denen Volksschulabgänger vier und Mittelschulabgänger zwei Jahre lang auf ein Studium an der HFL vorbereitet wurden. Die Auswahl der Bewerber erfolgte - analog dem Verfahren für die NPEA - in Musterungslagern, in denen sich die Jungen und Mädchen zu bewähren hatten. Eine weitere Maßnahme war die Verkürzung des Studiums an der HFL, von vier auf drei, schließlich auf zwei Semester. Anfang 1940 wurde mit den "Schulhelfern" ein ganz neues Konzept auf den Weg gebracht: 19-30jährige Männer und Frauen mit einem Mittelschul- oder gutem Volksschulabschluß wurden in dreimonatigen Kurzlehrgängen an zwei HFL als "Schulhelfer" für eine zweijährige Unterrichtspraxis vorbereitet; danach sollte ein einjähriges Studium an einer HFL folgen. Vor allem Frauen machten von diesem Angebot Gebrauch, weil die Hochschulpolitik vor dem Kriege Frauen sehr benachteiligt hatte und das Studium mit hohen Kosten verbunden gewesen wäre. Nun bekamen sie eine Ausbildungsvergütung und während der Schulhelferzeit Dienstbezüge. Aber der "Führerbefehl" zum Wechsel von der HFL zur LBA machte solche Ansätze zunichte.

Ein wesentliches Instrument der weltanschaulichen Ausrichtung waren die "Lager". Entweder waren sie von vornherein Bestandteil der Ausbildung wie bei den LBA, oder sie

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 wurden immer wieder bei allen möglichen Gelegenheiten als eine Art von Intervention in den Ausbildungsprozeß eingeschaltet. So war im zweiten Referendarjahr die weltanschauliche Grundlage der NS-Erziehung das allgemeine Ausbildungsthema, das durch ein Lager abgerundet wurde. In Lagern wurden auch die Ausbilder weltanschaulich auf Linie gebracht. Die weltanschauliche Grundlage dafür bildeten vor allem Schriften von Krieck und Baeumler.

Ein weiteres Kontrollinstrument war der freiwillige "Einsatz im Rahmen der NS-Formationen. Bei der Prüfung hatte der Kandidat darüber Rechenschaft abzulegen, und die "Reichsordnung für die pädagogische Prüfung" (7.6.37) schrieb Stellungnahmen zur politischen Einstellung ausdrücklich vor. Die bloß fachliche Qualifikation reichte nicht aus.

Der Mangel an Lehrkräften, der Mitte der 30er Jahre bemerkbar wurde, betraf nicht nur die Volksschule, sondern auch die Oberschule. Um das Jahr 1933 jedoch war das Gegenteil der Fall-, in dieser Zeit gab es für beide Schularten sehr viel mehr Lehramtsbewerber, als eingestellt werden konnten.

Schon 1930 hatte der preußische Kultusminister Adolf Grimme darauf hingewiesen, daß 1934 etwa sieben- bis achttausend Studienassessoren keine Anstellung finden würden (Nath 1988, 177). Die Nationalsozialisten übernahmen 1933 also eine "Überfüllung" nicht nur der Hochschulen, sondern auch der Oberschulen, und sie versuchten, dieser Überfülle durch restriktive Maßnahmen Herr zu werden. Im "Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen" (1933) wird festgelegt, daß die Zahl der Oberschüler und Studenten durch rigide Prüfungsauslese dem beruflichen Bedarf angepaßt werden soll. Außerdem werden Richtzahlen für die Aufnahme in Oberschulen und Hochschulen vorgegeben, die jedoch in der Praxis überschritten wurden. Leidtragende dieser rigiden Bildungspolitik waren vor allem die Studentinnen, deren Zahl auf zehn Prozent der Gesamtstudentenzahl begrenzt wurde, und die jüdischen Studenten, deren Zahl dem jüdischen Bevölkerungsanteil entsprechend auf 1,5 Prozent gesenkt wurde.

Dieses Gesetz entsprang dem Geist einer "Numerus-clausus-Fraktion" (Nath 1988, 198) unter den Nationalsozialisten, zu

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der auch der bereits erwähnte Wilhelm Hartnacke gehörte, mit dem Ernst Krieck später eine Fehde austrug; diese Gruppe hielt den Andrang zur weiterführenden Bildung und zum Hochschulstudium für einen "Bildungsfimmel". Sie verlor jedoch an Einfluß, als aus der "Überfüllung" innerhalb kurzer Zeit ein Mangel wurde. Der Bedarf an Akademikern stieg ab 1936 stark an, weil der wirtschaftliche Aufschwung und vor allem der Aufbau der Wehrmacht qualifiziertes Personal erforderten. Deshalb wird die Oberschulzeit ab Ostern 1937 um ein Jahr auf zwölf Jahre verkürzt, um zwei Abiturientenjahrgänge auf einmal zur Verfügung zu haben. Schon Ende 1936 erklärt das REM das höhere Lehramtsstudium als "aussichtsreich", und im Wintersemester 1937 blieben Studienplätze unbesetzt. Nun versuchte das REM, durch Schulgeldermäßigung, Begabtenförderung, "Begabtenprüfungen" für Berufstätige und "Sonderreifeprüfungen" für Fachschüler sowie durch "Gebührenerlaß" für begabte, aber bedürftige Studenten Oberschule und Studium attraktiver zu machen (die Studiengebühren für die Universitäten betrugen je nach Fach zwischen 157 und 250 Reichsmark pro Semester, was etwa dem Monatsgehalt eines Facharbeiters entsprach). Ferner wurden die Gehälter und die Aufstiegsmöglichkeiten verbessert. Auch die Frauenquote steigt wieder an, 1941 sind mehr als ein Viertel aller Vollzeitlehrer an höheren Schulen Frauen - ein Anteil, der erst Mitte der 60er Jahre überboten wird (Nath 1988, 156). Ab 1938 wurde allgemein unter den Abiturientinnen für das Hochschulstudium nicht nur im Hinblick auf frauenspezifische Studiengänge geworben, sondern auch für andere Fächer wie Jura und Technik. Das Reifezeugnis der Oberschulen für Mädchen, hauswirtschaftlicher Zweig, berechtigte bisher nicht zum Studium, diese Beschränkung wurde nun aufgehoben.

Während also das Niveau der Volksschullehrerausbildung erheblich absank und die materielle Lage der Lehrer sich kaum verbesserte, wurde ernsthaft versucht, das Niveau der Oberschulen auch unter Kriegsbedingungen möglichst zu erhalten, obwohl im Kriege das Studium auf sechs Semester und die Referendarzeit auf ein Jahr (statt zwei Jahre) verkürzt und auf die schriftliche Hausarbeit verzichtet wurde.

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Ausschaltung und Gleichschaltung

Nachdem die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gekommen waren, versuchten sie diese vor allem durch zwei Strategien zu festigen: durch die Ausschaltung der für Gegner gehaltenen Personen und Organisationen und durch die Gleichschaltung von Einrichtungen und Organisationen, um sie auf diese Weise für das eigene Machtstreben nutzbar zu machen. Beide Strategien betrafen auch den uns hier interessierenden Bereich des Bildungswesens.

Eine wichtige Maßnahme in diesem Zusammenhang war das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7.4.33. Es galt für alle Beamten des Reiches, der Länder und Kommunen. Danach konnten alle Beamten entlassen werden, die nicht über die nötige Qualifikation verfügten ("Parteibuchbeamte"); nichtarische Beamte mußten in den Ruhestand versetzt werden; Beamte, die aufgrund ihrer früheren politischen Tätigkeit keine Gewähr dafür boten, für den neuen Staat einzutreten, konnten ohne Ruhegehalt entlassen werden; Beamte konnten in eine niedrigere Gehaltsstufe versetzt werden, wenn "das dienstliche Bedürfnis" dies erforderlich machte; "zur Vereinfachung der Verwaltung" konnten Beamte vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden. Die vagen Begründungen wie "dienstliches Bedürfnis" machten es möglich, praktisch gegen jeden Beamten vorzugehen. Mitglieder kommunistischer Parteien oder Organisationen wurden auf diese Weise entlassen. Als auch die SPD verboten wurde, mußten die Beamten, die Mitglieder dieser Partei waren, innerhalb von drei Tagen eine Erklärung abgeben, daß sie ihre Bindungen zu dieser Partei gelöst hätten. Das preußische Kultusministerium verlangte von allen seinen Beamten die Ausfüllung eines entsprechenden Fragebogens. Die Regierungspräsidenten und Oberpräsidenten mußten Dreierkommissionen einsetzen - im Volksmund "Mordkommissionen" genannt -, die von den Gauleitern mit genehmen Personen besetzt wurden; die Zusammensetzung dieser Kommissionen blieb geheim, ihre Berichte über die einzelnen Lehrer gingen an das Kultusministerium.

Aber nicht nur unter den Lehrern wurde "gesäubert". Von 527 Schulräten in Preußen wurden 115 (=22 Prozent) entlassen. Besonders hart betraf es die HfL, 60 Prozent der Lehr-
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kräfte mußten gehen. Diejenigen Lehrer, die die Säuberungen überstanden hatten, wurden einer systematischen "Umschulung" unterworfen. Allerdings ließen sich Pläne des REM, jährlich die ganze Lehrerschaft in Schulungslagern mit der NS-Weltanschauung zu konfrontieren, schon aus Kostengründen nicht verwirklichen.

Träger der Umschulung waren das "Zentralinstitut für Erziehung" und der "Nationalsozialistische Lehrerbund" (NSLB). Das Zentralinstitut bestand schon in der Weimarer Zeit und hatte unter anderem die Aufgabe der fachlichen Weiterbildung der Lehrer aller Schularten in Kursen und Tagungen. Diese Arbeit wurde nun fortgesetzt unter besonderer Berücksichtigung der neuen Themenschwerpunkte wie Volkskunde, Rassenkunde, Heimatkunde. Diese Ausweitung weckte jedoch den Widerstand des NSLB, der die weltanschauliche Schulung für sich allein beanspruchte. Beide Träger verständigten sich 1936 über eine Aufgabenteilung: die fachliche Weiterbildung sollte das Zentralinstitut übernehmen, die weltanschauliche Schulung der NSLB. Wie jedoch in der NS-Zeit üblich, wurden solche Absprachen nicht eingehalten, der NSLB griff auch in die fachliche Weiterbildung ein, was auch deshalb nicht weiter verwunderlich ist, weil ja die "weltanschauliche Schulung" schlecht abstrakt, ohne den Bezug zu den Schulfächern erfolgen konnte. Der NSLB baute seine Schulungsarbeit schnell aus zu einem Netz von Schulungslagern. Davon gab es 41 im Jahre 1937, bis 1939 wurden davon 215.000 Mitglieder erfaßt, wobei besonders diejenigen Lehrer herangezogen wurden, die nicht Mitglieder der NSDAP waren.

Der NSLB war 1927 in Hof (Bayern) von dem Volksschullehrer Hans Schemm gegründet worden, der 1933 Kultusminister in Bayern wurde. Der Verband forderte die Beseitigung der Lehrervereine und die akademische Ausbildung der Volksschullehrer, seit 1930 auch die Einführung der Gemeinschaftsschule ( = eine nicht nach Konfessionen getrennte Volksschule) und die Beseitigung der Privatschulen. Diese Forderungen weisen darauf hin, daß der NSLB durch die Volksschullehrerschaft bestimmt wurde. Er hatte 1932 erst 6.000 Mitglieder, und nach der Machtergreifung erwies es sich als schwierig, die "Einheitsfront aller Erzieher" in einer einheitlichen Lehrerorganisation durchzusetzen, also die anderen Lehrerverbände gleichzuschalten. Eine besondere

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Schwierigkeit war steuerlicher Art: bei einer Überführung anderer Verbände in den NSLB wären hohe Schenkungssteuern angefallen. So betrieb Schemm eine korporative Lösung: er gründete im Mai/Juni 1933 die "Deutsche Erziehergemeinschaft" (DEG), der 44 Verbände beitraten. Diese Gründung war insofern ein Trick, als diese Verbände davon ausgingen, daß sie sich im Rahmen eines Dachverbandes befänden, im übrigen aber weiterhin autonom seien. Das sah Schemm jedoch ganz anders, nämlich nur als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Einheitsorganisation NSLB. Er versuchte nun, die Mitglieder der anderen Verbände abzuwerben, und Mitglieder des NSLB übten dabei unter Ausnutzung ihrer amtlichen Stellung großen Druck auf einzelne Lehrer aus. Nachdem mehrere Verbände sich daraufhin bei ihrem "Dienstherrn", Innenminister Frick, beschwerten (das REM war noch nicht gegründet), verbot dieser alle Angriffe auf die Lehrerverbände und jede Benachteiligung ihrer Mitglieder. Immerhin war die Mitgliederzahl des NSLB von Ende 1932 bis Ende 1933 von 6.000 auf 220.000 gestiegen. Die Lage änderte sich durch die Einrichtung des REM als Ausgliederung aus dem Innenministerium. Rust setzte die Politik Fricks nicht fort, der die Macht des NSLB begrenzen wollte. Er duldete z.B. eine scharfe Kampagne des NSLB gegen den Philologenverband, wozu auch gehörte, daß die Schulbehörden den Lehrern verboten, an Veranstaltungen des Philologenverbandes teilzunehmen. Anfang 1935 wurde das "Deutsche Philologenblatt" verboten, wodurch die Verbandsarbeit praktisch zum Erliegen kam. Der Widerstand des Philologenverbandes war weniger weltanschaulich-ideologischer Art als vielmehr verbandspolitisch bestimmt. Als Verband der Gymnasiallehrer wollte er Distanz zu den Volksschullehrerverbänden wahren, zumal deren Kernforderungen sich gegen sein Selbstverständnis und gegen seine Interessen richteten. Eine Nivellierung der Lehrerschaft, wie sie in der Forderung nach akademischer Ausbildung für alle Lehrer zum Ausdruck kam, wurde als Angriff auf die herausgehobene Position der Gymnasiallehrer betrachtet. Gegenüber einigen kleineren konfessionellen Lehrervereinen, die Ende 1934 noch selbständig waren, wandte der NSLB einen Kunstgriff an, den auch die HJ zeitweilig benutzte: er verbot die Doppelmitgliedschaft im NSLB und in einem anderen Lehrerverein. Daraufhin lösten sich diese Vereine entweder auf, oder gaben ihren Charakter

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als Standesorganisationen zugunsten einer religiösen Gemeinschaft auf.

Nach dem Tode von Hans Schemm - er kam 1935 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben - übernahm Fritz Wächtler - Thüringischer Volksbildungs- und Innenminister und ebenfalls ein Volksschullehrer - den NSLB. Er klärte in Verhandlungen mit dem Finanzminister die Möglichkeit einer steuerfreien Übergabe des Vereinsvermögens der anderen Verbände beim Übertritt in den NSLB. Die de jure innerhalb des NSLB noch selbständigen Lehrervereine wurden aufgelöst. Wächtler wollte das Vermögen möglichst aller Lehrervereine in die Hand bekommen, was ihm nicht durchweg gelang. Der Philologenverband z.B. hatte sein Vermögen wissenschaftlichen Institutionen vermacht und konnte mit Unterstützung des REM dem NSLB seine Gelder bis auf einen kleinen Rest vorenthalten (Eilers, 84). Nun war der NSLB zur Nachfolgeorganisation der alten Lehrerverbände geworden. Dabei hatte er aber auch deren Fonds und Selbsthilfeeinrichtungen übernommen, für die die Mitglieder der nun vereinnahmten Vereine ihre Beiträge gezahlt hatten. In den Genuß dieser Sozialmaßnahmen konnte künftig aber nur noch kommen, wer Mitglied des NSLB wurde und blieb. Bei Austritt oder Ausschluß verfielen diese Rechte. Wächtler wehrte sich wie Rust hartnäckig gegen die Abschaffung der akademischen Lehrerbildung, was ihm in der Parteiführung den Vorwurf "gewerkschaftlichen Verhaltens" eintrug. Im November 1941 wurde der NSLB durch den Schatzmeister der NSDAP unter Zwangsverwaltung gestellt, weil offensichtlich seine finanziellen Verhältnisse unübersichtlich geworden waren. Am 2.3.43 wurde seine Arbeit aus kriegsbedingten Gründen gegen den Widerstand Wächtlers stillgelegt. Er war eine der nutzlosesten NS-Organisationen.

"In seinem immensen leeren Aktivismus hat er wesentlich zur Aushöhlung der Schulerziehung beigetragen, indem er die pädagogische Diskussion lähmte und die Lehrerschaft für Aktionen, Programme und Einsätze in Dienst nahm" (Eilers, 134).

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Kritisches Resümee

1. Zweifellos war es das primäre Ziel der Nationalsozialisten, die Bildungseinrichtungen machtpolitisch wie ideologisch möglichst fest in den Griff zu bekommen. Das NS-Regime war ein "totalitäres", aber in eigentümlich pluralistischer Weise. Die Skizzierung der Schulpolitik hat gezeigt, daß die daran beteiligten Instanzen und Personen - vielleicht mit Ausnahme von Rust, der sich offensichtlich bemühte, eine sinnvolle und damit auch begrenzte Staatsverwaltung durchzuhalten - ihre Ansprüche auf das jeweilige Ganze richteten. Schirach wollte die ganze Erziehung in die Hand bekommen, der NSLB die ganze Schulung und Weiterbildung der Lehrer, die Parteikanzlei - also Bormann - das ganze Schulwesen. Jeder einzelne Anspruch war totalitär, und daß die gesellschaftliche Praxis dann doch nicht so ausgerichet wurde, wie jeder der Akteure dies nach seinen Maßstäben wollte, lag letzten Endes an der Rivalität der Beteiligten, die einander Grenzen setzten. Dieser Tatsache ist vor allem zu verdanken, daß der Alltag des Schulehaltens wesentlich normaler, nämlich sachbezogener ablief, als die Willenserklärungen der verantwortlichen Beteiligten vermuten lassen. Darauf deuten jedenfalls die bisher vorliegenden Innenansichten über die Schularbeit in der NS-Zeit hin.

Diese Rivalität innerhalb des totalitären Systems erwuchs nicht in erster Linie aus sachorientierten Meinungsverschiedenheiten über die richtige Lösung bildungspolitischer Probleme, die waren - wie der Lehrermangel - nur Auslöser oder Aufhänger von Aktivitäten, die in erster Linie der Vermehrung und Aufrechterhaltung von Macht dienten. Das politische System beruhte primär auf einer irrationalen, d.h. nicht an konkreten Zielen orientierten Tat-Philosophie, wie wir sie bei Baeumler gefunden haben. Wer im Rahmen der Partei etwas gelten wollte, mußte unentwegt etwas tun, sich durch Handeln ständig in Erinnerung bringen – unabhängig davon, wie nützlich die Ergebnisse waren, bzw. ob man dadurch andere Parteigenossen ausschaltete oder verdrängte. Das Bildungswesen war als Betätigungsfeld für einen solchen Aktionismus gut geeignet, weil es machtpolitisch in besonderem Maße offen war, nachdem die Kirchen und Lehrerverbände weitgehend ausgeschaltet waren.

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Man kann darüber spekulieren, ob etwa nach einem gewonnenen Kriege dieser pluralistische Totalitarismus, der ja immerhin gewisse Handlungsspielräume offenließ, weiter bestehen geblieben wäre. Nach der Logik eines solchem Systems pflegen sich auf Dauer nur einige wenige Personen bzw. Institutionen durchzusetzen. Man darf nicht vergessen, daß der Hauptgrund für die Pluralität darin bestand, daß 1933 Personen mit teilweise sehr unterschiedlichen Motiven und Zielvorstellungen zur "Bewegung" gestoßen waren die ihrerseits diese unterschiedlichen Vorstellungen aus dem national-konservativen Spektrum der Zeit davor gebündelt hatte, aber auf die Dauer wären diese Unterschiede wohl nach den Regeln des Sozialdarwinismus beseitigt worden.

2. Eine besondere Rolle spielten einige NS-Organisationen, die nach der Machtergreifung eigentlich überflüssig geworden waren. Alle NS-Organisationen - ob SA, Studentenbund, HJ, NSLB - die vor 1933 gegründet wurden, hatten zunächst nur eine Aufgabe: Anhänger und Wähler zu mobilisieren und so die Machtergreifung vorzubereiten. Nachdem dies nun gelungen war, waren Organisationen wie die SA oder der NSLB zunächst einmal aufgabenlos. Aber sie lösten sich nicht etwa auf - was gerade für die SA eigentlich nach der "Röhm-Affäre" nahegelegen hätte -, sondern suchten sich neue Aufgaben und fanden sie unter anderem in der "weltanschaulichen Schulung". Das galt in besonderem Maße auch für den NSLB: Er hatte die zahlreichen Lehrervereine, die es vor 1933 gab, aufgesogen und aufgelöst. Da er selbst aber keine Standesinteressen mehr vertreten durfte - was der hauptsächliche Zweck der alten Lehrervereine gewesen war -, blieb ihm wenig mehr als die "weltanschauliche Schulung" für möglichst alle möglichst oft.

Diese "Schulung", wie sie dann tatsächlich stattfand, nämlich mit ständiger Tendenz zur Expansion, war also keine irgendwie "von oben" angeordnete Dauereinrichtung, sondern gehört in den Zusammenhang der eben beschriebenen Tat-Philosophie, des ständigen "Einsatzes" als Selbstzweck. Die "weltanschauliche Schulung" resultierte also insofern aus dem Handlungsbedürfnis überflüssig gewordener Verbände, und da diese Verbände relativ machtlos waren, kompensierten sie dies mit besonderem Aktivismus - gelegentlich auch Fanatismus - auf diesem neuen Tätigkeitsfeld.

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3. Auf der anderen Seite brachten sich in der Bildungspolitik die alten bzw. neuen Machteliten zur Geltung. Dazu sind die Wirtschaftselite, die Bildungselite und vor allem die neue militärische Elite zu rechnen. Sie waren überwiegend konservativ-nationalorientiert, dem Nationalsozialismus selten weltanschaulich fanatisch verbunden, sondern eher insofern, als er nationale Machtpolitik betrieb. Von diesen Kreisen ging eine leistungs- und technokratisch orientierte Erwartung an das Bildungswesen aus, das den bewußten, gewiß weltanschaulich disziplinierten, aber in erster Linie fachlich qualifizierten Nachwuchs hervorbringen sollte. Ihr Interesse konzentrierte sich naturgemäß auf die höhere Bildung und also auch auf die Oberschule und die Hochschulen, und vielleicht ist dies ein Grund dafür, daß dem Volksschulwesen weit weniger Beachtung geschenkt wurde.

4. Sieht man von den politisch-ideologischen und machtpolitischen Zusammenhängen ab, wie sie eben erwähnt wurden, dann werden allerdings auch Sachzwänge erkennbar, denen sich die NS-Bildungspolitiker gegenüber sahen. Dazu gehörten eine Reihe von Problemen, die sie vorfanden und deren Lösung bzw. Nicht-Lösung man von heute aus auch rein fachlich erörtern kann, zumal es sich ja dabei um einen Teil der Vorgeschichte unseres gegenwärtigen Bildungswesens handelt.

a) Die Vereinheitlichung der Oberschulen auf drei Typen für Jungen und zwei für Mädchen läßt sich sachlich durchaus rechtfertigen - allerdings nur mit der Einschränkung, daß die Benachteiligung der Mädchen - die dann, wie das Beispiel der weiblichen Studienassessoren zeigt, später korrigiert werden konnte - ideologisch bedingt war. Eine Vereinheitlichung war abgesehen davon schon im Hinblick auf ein modernes Berechtigungswesen und im Hinblick auf berufliche Mobilität im ganzen Reichsgebiet nötig. Damit wurde zwar eine bunte Vielfalt geschichtlich entstandener Formen und Variationen beseitigt, aber es handelte sich dabei doch auch teilweise um einen Wildwuchs, der für die Bevölkerung nicht mehr durchschaubar war. Allerdings hat diese Maßnahme bis heute ein sehr vereinheitlichtes, staatsmonopolistisches Schulwesen zur Folge, und man kann mit vergleichendem Blick auf andere westliche Industriegesellschaften wie England und USA durchaus fragen, ob Modernität wirklich nur so realisiert werden kann, oder ob uns eine größere Vielfalt von Schulkonzepten, die untereinander in Wettbewerb stünden, nicht gut täte.

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b) Auch die Beseitigung der Konfessionsschulen zugunsten der konfessionsneutralen Gemeinschaftsschulen stand nicht nur aus ökonomischen Gründen auf der Tagesordnung. Die Argumente, die Krieck schon in der Weimarer Zeit gegen die Konfessionsschulen ins Feld geführt hatte, waren nicht mehr zu übergehen. Auf einem anderen Blatt stehen natürlich die Methoden, mit denen dann die Gemeinschaftsschule durchgesetzt wurde. Aber man mußte wahrlich kein Nazi sein, um einer konfessionellen Spaltung dieser Art ein Ende bereiten zu wollen, die vor allem in der Weimarer Zeit viel zur innenpolitischen Polarisierung beigetragen hatte und für die es eigentlich keine plausible pädagogische Begründung mehr gab. Konfessionsschulen waren vielmehr nur solange einleuchtend, wie die entsprechenden kirchlichen Milieus eine gewisse Geschlossenheit aufwiesen, so daß außerschulische Lebenswelt der Kinder und schulische Orientierung einigermaßen übereinstimmten. Spätestens aber nach dem Ersten Weltkrieg zerbrachen diese Milieus, und die Hartnäckigkeit, mit der die Kirchen, vor allem die katholische, in der Weimarer Zeit sich für ihre konfessionelle Bildungspolitik engagierten, verrät, daß sie sich längst in der Defensive befanden. Die Stabilität solcher Milieus setzt nämlich unter anderem das Fehlen von weltanschaulicher Pluralität und von Mobilität voraus. Gewiß waren diese Entwicklungen unterschiedlich weit gediehen, in den großen Städten z.B. weiter fortgeschritten als auf dem Lande, in evangelischen Regionen weiter als in katholischen, aber tendenziell waren sie nicht mehr zurückzudrängen unter den Bedingungen einer modernen Industriegesellschaft. Insofern wäre die Kritik an den "völkischen" Vorstellungen bei Krieck hier sinngemäß zu wiederholen. Das muß dann aber auch gelten für jene andere Milieuverhaftung, die die Nationalsozialisten selbst im Sinne einer heimatlich verbundenen Volksschule restaurieren wollten; die war nicht minder unzeitgemäß.
Allerdings hätte die Einführung der überkonfessionellen Gemeinschaftsschule auch eine Befriedung der Konfessionen zur Folge haben müssen - etwa dergestalt, daß den Kirchen weiterhin Religionsunterricht in diesen Schulen zugestanden worden wäre und daß auf einen anti-kirchlichen bzw. anti-christlichen Weltanschauungsunterricht verzichtet

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worden wäre. Eine Lösung in dieser Richtung hatte Rust wohl auch im Sinn, aber die Parteikanzlei - Hitler selbst hat die Auflösung der Konfessionsschule nie durch einen "Führerbefehl" verfügt -, also Bormann, aber auch Hess und Rosenberg stemmten sich dagegen. Sie wollten die Abschaffung nicht nur der Konfessionsschulen, sondern auch des Religionsunterrichts und setzten dies schließlich auch durch.

c) Die restriktiven, unter der Panik der "Überfüllung" hastig ins Leben gerufenen bildungspolitischen Maßnahmen der Jahre 1933 und 1934 durch die "NC-Fraktion" verhinderten eine rechtzeitige Umstellung auf den von Fachleuten bereits 1934 vorausgesagten Mangel an Facharbeitern wie an Akademikern. So verging nicht nur wertvolle Zeit, bis diese Einsicht die Verantwortlichen erreichte; vielmehr dauerte es dann auch noch eine Weile, bis die Bevölkerung, die durch die Kassandrarufe der Überfüllung aufgeschreckt sich der höheren Bildung gegenüber distanziert verhielt, nun vom Gegenteil überzeugt werden konnte. Der Volksschullehrermangel zeigte an, daß die Zahl der Abiturienten auf kurze Sicht nicht erheblich vermehrbar war, obwohl die Nachfrage nach ihnen bzw. nach den daraus zu erwartenden Hochschulabgängern ständig stieg. In dieser Lage konnte es durchaus als vernünftig erscheinen, die "Begabungsreserven" - wie man später in den 60er und 70er Jahren sagen wird - in der Volksschule zu mobilisieren, die immerhin mehr als neunzig Prozent der Kinder besuchten. Da der Sprung zur höheren Schule für viele Arbeiter- und Landkinder sozio-emotional wie finanziell zu groß war, lag es nahe, Angebote zu machen, die am Volksschul-Abgang anknüpften. Insofern war es - von der dahinterstehenden Ideologie einmal abgesehen - durchaus einleuchtend, durch die Einführung der LBA den Volksschulabgängern wieder den Weg zur Lehrerbildung zu öffnen. Rust versuchte dies durch Zusatzangebote unter Beibehaltung der HFL als Norm zu erreichen und reagierte damit wesentlich flexibler als die ideologisch orientierte Parteikanzlei um Bormann; denn man konnte ja zumindest in Rechnung stellen, daß der Mangel an Abiturienten demnächst behoben sein könnte, so wie sich ja ab 1933 Überfüllung und Mangel schon einmal innerhalb weniger Jahre abgelöst hatten. Auch die Einführung der Hauptschule war unter dem Aspekt der Mobilisierung von "Begabungsreserven" so abwegig nicht, wenn man bedenkt, daß damit


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auch das Fachlehrerprinzip eingeführt und der Allroundlehrer abgelöst wurde, der alle Fächer unterrichten mußte. Für die begabteren Volksschüler - man rechnete etwa mit einem Drittel - bot diese Schule sicher eine bessere Grundlage zur Vorbereitung auf eine solide Berufsausbildung im gewerblichen Bereich. Dafür wiederum waren die Mittelschulen insofern weniger geeignet, als ihre Absolventen in erster Linie Berufsperspektiven im kaufmännischen und mittleren Angestelltenbereich im Auge hatten.

Die Bildungspolitik der Nationalsozialisten begann unter dem Eindruck der Überfüllung mit einem radikalen  "Ausleseprinzip", das ihrer sozialdarwinistischen Gesellschaftsvorstellung entgegenkam, aber schnell mußten sie erkennen, daß die Berufswelt in einer modernen Industriegesellschaft nicht nur "die Besten" benötigt, sondern auch die Zweit- und Drittbesten und überhaupt möglichst viele Menschen mit einer möglichst hohen Ausbildung. Nur eine hochentwickelte Allgemeinbildung - das wußte schon Humboldt - befähigt zur beruflichen Flexibilität und Disponibilität.

5. Der geistige Niedergang der Volksschullehrerbildung in den Kriegsjahren war nicht nur eine Folge des anti-intellektuellen Affektes vieler Nazi-Führer oder  derer, die - wie Hitler selbst - Animositäten gegen den Lehrerberuf überhaupt hatten, sondern auch der permanenten Inanspruchnahme der Lehrer, Schüler und Studenten durch den inhaltslosen Aktivismus von Parteistellen. An und für sich mußte ein solcher Niedergang mit der Konzeption der LBA nicht unbedingt verbunden sein, und er ist um so bemerkenswerter, als der Bedarf der Wirtschaft nach qualifizierten Facharbeitern ständig stieg. Über den Rückgang des Niveaus der Volksschulabgänger gab es schon früh Klagen. So kam 1937 eine Untersuchung des NSLB zu dem Ergebnis, daß die Volksschulen "seit vier Jahren von Jahr zu Jahr in ihren Leistungen zurückgehen". Ein Jahr später war in einer weiteren Denkschrift davon die Rede, daß "das Bildungsniveau der Schule nicht mehr dem Stand vor 1933 entspricht". Bemerkenswert ist, daß als Gründe dafür die Beanspruchung der Schüler durch die HJ und der Lehrer durch Parteiaufgaben genannt werden. Ende 1942 teilte die Industrie- und Handelskammer Münster mit, daß "54,37 Prozent der Berufsanfänger im Deutschen und 58,45 Prozent im Rechnen den Anforderungen nicht genügen, die die Wirtschaft im Durchschnitt an

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Lehrlinge und Anlerninge stellen muß" (zit. n. Ottweiler 1980, 212).

Allerdings spielte wohl auch eine Rolle, daß das Konzept der Volksschullehrerbildung in sich selbst eine besondere Anfälligkeit für ideologische Indoktrinationen enthielt. Bei der alten Seminarausbildung vor dem Ersten Weltkrieg, wie sie Ernst Krieck noch erlebt hatte, war das offensichtlich; denn sie wirkte obrigkeitlich disziplinierend auf die angehenden Lehrer mit dem Ziel, diese Haltung und Gesinnung auch auf die Schüler zu übertragen. In gewisser Weise fand sich dieser Geist in den LBA wieder. Aber auch die "Pädagogische Akademie", wie sie in Preußen in der Weimarer Zeit etabliert wurde, blieb ihrer ganzen Konstruktion nach ideologisch anfällig. Diese Gefahr resultierte vor allem aus der Verbindung des Unterrichts mit bestimmten Erziehungszielen. Die Volksnähe und Heimatverbundenheit, die auch damals schon vom Volksschullehrer erwartet wurden, war ja nichts Naturwüchsig-Selbstverständliches oder ein Resultat wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern wurde nur greifbar im Rahmen einer im Prinzip beliebigen Definition, und die konnte nur eine ideologische bzw. weltanschauliche sein. Und sie war leicht austauschbar. Die "Pädagogische Akademie" war nur wissenschaftsorientiert, nicht, wie das Universitätsstudium der Studienräte, wissenschaftlich fundiert. Das hieß im Klartext, daß die Wissenschaft im Rahmen dieser Akademie-Ausbildung nur eine instrumentelle Bedeutung hatte, keine intellektuell disziplinierende. Sie wurde gleichsam nur "abgemolken" im Hinblick auf Erziehungs- bzw. Selbsterziehungsziele, um die es in der Ausbildung eigentlich ging. Dieser Geist wurde dann auch auf den Unterricht in der Volksschule übertragen, er diente nicht einfach der Aufklärung des Kindes über seine Welt, sondern der Herausbildung eines erwünschten Verhaltens, einer Gesinnung, einer Einstellung. Derartige erzieherische Programmierungen sind aber austauschbar, und es gibt dann - außer vielleicht einer moralischen - keine Instanz bzw. kein Kriterium mehr, das zur Abwehr eines solchen Ansinnens geeignet wäre. Räsonieren läßt sich dann nur noch über "bessere" und "schlechtere" Erziehungsziele. Warum also sollte es auf diesem Hintergrund nicht als plausibel erscheinen, daß die Nationalsozialisten nun die auch schon vorher gewünschte "Volksnähe" weltanschaulich für die Volksschulen präzisier-

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ten, sie auf Führer, Volk und Nation bezogen und ihr einen Touch ins Heroische gaben, wie es in den Richtlinien von 1939 zum Ausdruck kommt?

Die wissenschaftliche Ausbildung bietet immerhin die Möglichkeit der methodischen Disziplinierung. Auch sie schützt nicht unbedingt vor Ideologisierung und Indoktrination, wie gerade die Wissenschaft im Nationalsozialismus allenthalben gezeigt hat. Aber sie vermag noch am ehesten eine unmittelbare Instrumentalisierung von Sachen und Menschen zu relativieren. Es ist also die erzieherische Intention als solche, die Aufklärung durch Unterricht nicht als Selbstzweck zu sehen vermag, sondern sie bestimmten Zwecken unterwirft, die das Tor öffnet für ideologische Okkupationen. Welche das dann sind, ist eine reine Machtfrage.

6. Wenigstens mit einem kurzen Hinweis muß zum Abschluß dieses Kapitels daran erinnert werden, daß die deutschen Schüler jüdischer Abstammung Zug um Zug aus dem öffentlichen Schulwesen verdrängt wurden. Ende 1938, nach dem Pogrom, durfte kein jüdischer Schüler mehr eine deutsche Schule besuchen. Die jüdischen Gemeinden wurden somit gezwungen, durchweg auf eigene Kosten ihr Privatschulwesen entsprechend zu erweitern. "Im Jahre 1933 gingen von 60.000 jüdischen Schülern 15.000, also 25 %, auf jüdische Schulen. Im Jahr der Nürnberger Rassengesetze 1935 besuchten 45 % von insgesamt 44.000 jüdischen Schülern die ca. 130 jüdische Schulen. 1937 erreichte die Schülerzahl in jüdischen Schulen ihren Höchststand mit 23.670 schulpflichtigen jüdischen Kindern (61 %)" (Scharf, 1). Am 1. Juli 1942 wurden die jüdischen Schulen auf Anordnung der deutschen Behörden geschlossen - die "Endlösung" nahm Gestalt an.


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5. Der volksgemeinschaftliche Jugendstaat: Die Hitler-Jugend

Mehr noch als die Schule sollte die HJ die neue Form einer NS-Erziehung verkörpern. Dafür standen ihre Chancen 1933 insofern gut, also sie im Unterschied zur Schule kaum an Traditionen und administrative Vorgaben gebunden war, sondern ihr erzieherisches Konzept im Rahmen eines verhältnismäßig großen Handlungsspielraumes entwickeln konnte. Dabei war von vornherein keineswegs klar, daß sie zu dem werden würde, was sie dann geworden ist, nämlich zu einem monopolistischen Jugendverband, zu einem Jugend-Staat, der sich - anders als die Schule - dem Zugriff anderer Parteiorgane und Parteiführer weitgehend entziehen konnte. So, wie die HJ sich entwickelte, war sie das Ergebnis der bereits erwähnten Tat-Philosophie, Resultat entschiedener Handlungen, wie Hitler es liebte. Vor allem ein Mann hat ihre Idee und Gestalt geprägt: der Reichsjugendführer Baldur von Schirach. Bis zu einem gewissen Grade läßt sich sogar sagen, daß die HJ die Erfüllung seines Traumes von einer großen, harmonischen, Klassen- und Konfessionsunterschiede integrierenden deutschen Jugendgemeinschaft war. Jedenfalls ist ohne seine Person das Phänomen HJ nicht zu verstehen. Deshalb soll dieses Kapitel sich zunächst mit ihm beschäftigen.

Baldur von Schirach

Er wurde am 9.5.1907 als jüngstes von vier Geschwistern in Berlin geboren. Ein Jahr später übernahm sein Vater Carl die Leitung des Großherzoglichen Hoftheaters in Weimar, nachdem er zuvor im Königlich Preußischen Garde- Kürassier-

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 Regiment gedient hatte, das er als Rittmeister verließ. Baldurs Mutter war Amerikanerin, die zeitlebens die deutsche Sprache mehr schlecht als recht beherrschte und deshalb Englisch zur Muttersprache ihrer Kinder machte, so daß Baldur noch mit 6 Jahren kaum deutsch konnte.

Da die Schirachs über genügend privates Vermögen verfügten, konnten sie sich in Weimar einigermaßen repräsentativ einrichten. Materielle Not war kein Erlebnis, das den Sohn Baldur hätte prägen können, so daß er auch später zu den sozial-revolutionären Tendenzen der HJ und des NS-Studentenbundes von sich aus zunächst keinen Zugang fand.

Prägend wurden für ihn aber zwei Schicksalsschläge innerhalb der Familie. Nach dem Krieg wurde sein Vater aus dem Amt des Intendanten entlassen, und im Oktober 1919 erschoß sich sein älterer Bruder Karl, an dem er sehr gehangen hatte und der ihm in vieler Hinsicht Vorbild gewesen war. Als Grund für seinen Selbstmord gab der Bruder das "Unglück Deutschlands" an, das ihn persönlich insofern betraf, als ihm durch den Versailler Vertrag die ersehnte Offizierslaufbahn verschlossen war. Beide Ereignisse haben wohl Schirachs Republikfeindschaft wesentlich mitbestimmt.

Das kulturelle Leben Weimars war damals stark antisemitisch orientiert, und als 17jähriger las Schirach die entsprechende Literatur. Vor allem Hitlers "Mein Kampf` - 1925 erschienen -verschlang er in einem Zuge. Hitler selbst lernte er ebenfalls im Jahre 1925 in Weimar kennen, er war von ihm fasziniert, wurde von nun an sein kritikloser Gefolgsmann und trat im selben Jahr in die NSDAP ein.

Für sein späteres Konzept der HJ waren wohl auch die Erfahrungen bedeutsam, die er einige Jahre als Schüler des "Waldpädagogium" in Bad Berka machen konnte; diese Schule war nach den pädagogischen Leitmotiven des Reformpädagogen Hermann Lietz gestaltet: neben der Wissensvermittlung sollte die körperliche und charakterliche Bildung zum Zuge kommen, den Schülern wurde Mitbestimmung zugestanden, das Lehrer-Schüler-Verhältnis war kameradschaftlich gehalten, Lehrer und Schüler verkehrten per Du miteinander - eine Anrede, die Schirach später auch in die HJ einführte.

Im Frühjahr 1927 begann er sein Studium in München, um in Hitlers Nähe zu sein; er interessierte sich unter anderem für

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Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte, aber zu einem Abschluß kam es nicht, weil er sich sofort politisch betätigte. Er stieß zum "Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund" und wollte mit ihm die Studenten für Hitler gewinnen. Aber Hitler blieb zunächst skeptisch, weil er nicht glaubte, daß diese "Intellektuellen" für seine Bewegung im nennenswerten Maß zu gewinnen seien. Nur widerwillig und nur unter der Bedingung, daß der Saal gefüllt sein müsse, gab er Schirachs Drängen nach, vor Studenten in München zu sprechen. Nachdem dieser erste Auftritt vor einem derartigen akademischen Publikum für Hitler sehr erfolgreich verlaufen war, setzte Schirach seinen ganzen Ehrgeiz daran, seinen Teil zur Machtergreifung beizutragen. 1928 trat er an die Spitze des NS-Studentenbundes, und es gelang ihm, mit einer Serie von Wahlerfolgen bis zum Sommer 1931 die Mehrheit im Rahmen der deutschen Studentenschaft zu gewinnen. So wenig wie er selbst den NS-Studentenbund gegründet hatte, war er der Initiator der HJ. Im Jahre 1931 gab es sie längst, ihr Führer hieß Kurt Gruber, aber sie fand in der Gymnasialjugend wenig Resonanz. Kaum besser erging es dem 1929 gegründeten "NS-Schülerbund" unter Adrian von Renteln; auch er stagnierte.

Am 30.10.1931 ernannte Hitler den - nunmehr 24jährigen - Schirach zum "Reichsjugendführer der NSDAP", ein Jahr später übernahm er auch persönlich die HJ und gliederte ihr den Schülerbund ein. Sein Ziel war, möglichst rasch diese Jugendorganisation auszubauen - immer im Hinblick auf die erwartete Machtübernahme Hitlers.

Mit einem Schlage gelang es Schirach, die HJ aus ihrer Kümmerexistenz herauszuführen, als er sie am 1. und 2. Oktober 1932 zum "Reichsjugendtag" nach Potsdam rief. Mit 40.000 Teilnehmern aus dem ganzen Reich hatten die Veranstalter gerechnet, aber bis zum Abend des 1. Oktober - einem Sonnabend - kamen ca. 70.000, zu denen Hitler in einer nächtlichen Kundgebung im Stadion sprach. Am darauf folgenden Sonntag marschierten etwa 100.000 Jungen und Mädchen siebeneinhalb Stunden lang an Hitler vorbei - dreimal mehr, als die HJ damals Mitglieder zählte.

Die Idee, auf diese Weise eine Jugendorganisation öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen, stammte nicht von Schirach. Erfunden und praktiziert hatte sie die Sozialisti-

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sche Arbeiterjugend (SAJ), die Jugendorganisation der SPD. Ihre "Reichsjugendtage" standen jeweils unter einem Motto und fanden zum ersten Male 1920 in Weimar ("Das Weimar der arbeitenden Jugend") und 1931 ("Gegen den Krieg") zum letzten Mal in Frankfurt statt. Mehr als 30.000 Teilnehmer konnte die SAJ allerdings nie mobilisieren.

Bis zur Machtergreifung Hitlers ging es Schirach nur darum, zunächst die Studenten und dann einen möglichst großen Teil der übrigen Jugend für die "Bewegung" zu gewinnen. Irgendwelche darüber hinausgehenden pädagogischen Ziele oder Konzepte sind in dieser Zeit nicht erkennbar. Sie gewinnen vielmehr erst nach der Machtergreifung allmählich Konturen.

Schirachs Bindung an Hitler war inzwischen auch privat enger geworden. Im Jahre 1932 hatte er Henriette Hoffmann geheiratet, die Tochter von Heinrich Hoffmann, der als Hitlers "Leibfotograf" zu seiner engsten Umgebung gehörte.

Am 17.6.33 - also nach der Machtübernahme - ernannte Hitler den jetzt 26jährigen Schirach zum Jugendführer des Deutschen Reiches". Nun stand er an der Spitze aller Jugendverbände, Neugründungen mußten von ihm genehmigt werden. Am 1.12.1936 wurde das Hitlerjugend-Gesetz erlassen; es etablierte die HJ als eigenständige Erziehungsinstanz neben Elternhaus und Schule, die "Reichsjugendführung" wurde obere Reichsbehörde mit Schirach als Staatssekretär und einigen wenigen weiteren Beamten. Dennoch wurde die HJ nicht im strengen Sinne Staatsjugend, sondern blieb eine Gliederung der Partei, Schirach wurde Hitler unmittelbar unterstellt. Die HJ stand nun gewissermaßen auf zwei Beinen. Als Reichsbehörde war sie eingebunden in den Staatsapparat und konnte in diesem Rahmen tätig werden. Als Gliederung innerhalb der Partei blieb sie Parteijugend und finanziell abhängig vom Schatzmeister der NSDAP.

Nach Kriegsausbruch bat Schirach Hitler, sich freiwillig zur Wehrmacht melden zu dürfen. Nach anfänglichem Zögern stimmte Hitler Anfang 1940 zu, aber schon im August dieses Jahres holte er ihn zurück und machte ihn zum Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien. Sein Nachfolger als Reichsjugendführer wurde auf seinen Vorschlag hin Artur Axmann, der das Sozialreferat der HJ geleitet und unter anderem den "Reichsberufswettkampf" initiiert hatte; er war freiwillig zur

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Wehrmacht gegangen, aber mit einer Kriegsverletzung (Verlust eines Armes) wieder an die "Heimatfront" zurückgekehrt. Schirach blieb aber der HJ verbunden, insofern Hitler ihn zum "Beauftragten für die Inspektion der gesamten HJ' ernannte.

In Wien gelang es ihm, eine beachtliche kulturelle Aktivität zu entfalten; er holte namhafte Künstler (wieder) in die Stadt, die in seinem Hause ein- und ausgingen. Sein Verständnis von moderner Musik und Kunst war weitaus liberaler und toleranter, als es dem Geschmack der Parteigrößen und auch Hitler sonst entsprach. Als er 1943 eine Kunstausstellung mit Arbeiten junger Künstler zuließ, von denen einige den Maßstäben "entarteter Kunst" nahekamen, zitierte ihn Hitler wütend zu sich. Er zeigte ihm eine Ausgabe der HJ-Zeitschrift "Wille und Macht", die einige der Arbeiten reproduziert hatte; besonders ärgerlich war Hitler über einen grün gemalten Hund. Die Ausstellung mußte geschlossen werden. Schirach hielt irrtümlich den Dissens zu Hitler in Kunstfragen für generationsbedingt, in Reden hatte er mehrfach betont, daß Kunst mehr und anderes sei als das Abfotografieren der Wirklichkeit.

Das Jahr 1943 brachte ihn auch aus anderen Gründen in Ungnade bei Hitler. Schon bei Kriegsausbruch war Schirach skeptisch im Hinblick auf den militärischen Erfolg. Der Angriff auf die Sowjetunion bestärkte bei ihm diesen Eindruck. Spätestens seit dem Kriegseintritt der Amerikaner war er davon überzeugt, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei. Deshalb forderte er eine Änderung der Besatzungspolitik in den Ostgebieten mit dem Ziel, den dort lebenden Völkern eine relative Autonomie zu gewähren und sie so zum Kampf gegen den Bolschewismus zu gewinnen; dafür sollten auch die Amerikaner motiviert werden. Schirach hatte diese Überlegungen Hitler in einem Brief mitgeteilt, sie aber auch im Kreise seiner Vertrauten geäußert. Abgesehen von der Frage, ob solche Überlegungen - jedenfalls im Hinblick auf die USA - politisch überhaupt eine Chance gehabt hätten, wußte Schirach noch nicht, daß Hitler mit der längst begonnenen Ermordung der europäischen Juden alle Brücken für diplomatische Alternativen abgebrochen hatte. Insofern hatte Hitler nicht unrecht, wenn er anläßlich einer Tafelrunde auf dem Berghof - Ostern oder Fronleichnam 1943, das ist umstritten - Schirach anherrschte, er solle sich nicht

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um Dinge kümmern, von denen er nichts verstehe. Als seine Frau Henriette bei dieser Gelegenheit auch noch die Judendeportationen zur Sprache brachte, die sie aus einem Hotel in Amsterdam beobachtet hatte - in der Hoffnung, Hitler würde für eine würdevollere Behandlung sorgen -, fragte Hitler sie wütend, was sie denn diese "Judenweiber" angingen. Seit diesem Tag entstand eine Distanz zwischen Schirach und Hitler, die sich zunehmend vergrößerte.

Hitlers Völkermord an den Juden sollte auch Schirach zum Verhängnis werden. Als er Gauleiter von Wien wurde, gab es dort noch etwa 60.000 Juden. Diese sollte er nach Hitlers ausdrücklichem Willen in den Osten deportieren lassen, für das Verfahren selbst sei Himmler zuständig. Schirach ging zunächst davon aus, daß es sich dabei um eine Umsiedlung handele in Gebiete, wo die Juden dann relativ autonom würden leben können. Diese Einschätzung ist insofern glaubhaft, als Schirachs Antisemitismus - den er auch später im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß nicht ableugnete - kein rassistischer, sondern ein kultureller war, wie wir ihn bei Krieck schon kennengelernt haben: wie das deutsche Volk so sollte auch das jüdische einen eigenen Lebensraum haben, in dem es nach seinen eigenen kulturellen Maßstäben leben konnte. Eine Vermischung der Völker jedoch sei abzulehnen. Diese völkisch-nationalistische Position war auch vor 1933 unter normalen "gebildeten" Deutschen weit verbreitet. Der Gedanke einer physischen Vernichtung war damit nicht verbunden, er konnte vielmehr nur auf dem Hintergrund einer biologistisch-rassistischen Grundannahme sich entfalten, wie sie Hitler vertrat und ernst meinte.

Von solchen Vorstellungen war Schirach weit entfernt. Das zeigte sich u.a. darin, daß er schon 1933 der HJ die Lektüre des "Stürmer" verbot - des von Julius Streicher herausgegebenen antisemitischen Hetzblattes. Als 1938 - von Goebbels inszeniert - die SA den Pogrom gegen die in Deutschland lebenden Juden beging, drohte Schirach jedem HJ-Führer den Rausschmiß an, der sich daran beteiligte. Schirach hielt die ganze Sache für ein Bubenstück von Goebbels und glaubte ernsthaft, daß damit dessen Karriere beschädigt werde.

Was wirklich mit den Juden geschah, auch mit denen, die er aus Wien deportieren ließ, erfuhr Schirach zum ersten Mal am 15. Mai 1942. Routinemäßig hatte er den Gauleiter des

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Warthegaues" (das Gebiet um Posen, das von deutschen Truppen erobert worden war und als deutsches Gebiet reklamiert wurde) Arthur Greiser eingeladen, vor den oberen Parteifunktionären Wiens über seine Arbeit zu berichten. Greiser schilderte nun das Verfahren, die Juden auf abgedichteten Lastwagen zu verladen und sie während der Fahrt zum Massengrab durch die eingeleiteten Abgase zu töten. Endgültige Klarheit verschaffte ihm dann die berühmt-berüchtigte Rede Himmlers vor den Gauleitern in Posen im Oktober 1943, in der dieser das Programm der "Endlösung" ungeschminkt vortrug und die Ermordung von Frauen und Kindern damit rechtfertigte, daß man künftiger Rache entgegenwirken müsse. Nun war Schirach zum Mordkomplizen geworden.

Als die Rote Armee Wien besetzte, setzte er sich ab und hielt sich unter falschem Namen als vorgeblicher Schriftsteller versteckt; die Alliierten hielten ihn für tot. Als er jedoch erfuhr, daß die Alliierten im Nürnberger Prozeß die HJ als "verbrecherische Organisation" (wie die SS) anklagen wollten und deshalb damit begannen, die höheren HJ-Führer zu verhaften, stellte er sich den Amerikanern. Es gelang ihm, das Gericht davon zu überzeugen, daß die HJ keine verbrecherische Organisation gewesen sei und auch nicht kriegsvorbereitend gewirkt habe. Verurteilt zu zwanzig Jahren Haft wurde er nicht wegen der HJ, sondern wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Dazu zählte das Gericht seine Mitverantwortung an der Deportation der Juden, vor allem aber einige antisemitische Reden, die er in Wien gehalten hatte.

Schirach erklärte diese Äußerungen damit, daß er wegen seiner politisch angeschlagenen Position sich nach Berlin hin habe absichern müssen. So hatte er im September 1942 - ein halbes Jahr nach der Rede Greisers, die die Ermordung der Juden beschrieben hatte - die Vertreter faschistischer Jugendorganisationen aus dreizehn europäischen Ländern nach Wien eingeladen, um mit ihnen einen europäischen Jugendverband zu gründen. Das Vorhaben stieß in Berliner Parteikreisen auf Ablehnung und auch Hitler verhielt sich reserviert. In Schirachs Eröffnungsrede am 14.9.42 findet sich nun folgende Passage:

"Die Nachkriegszeit war für ganz Europa eine Epoche skrupelloser jüdischer Geldgeschäfte, eine Hoch-Zeit des jüdi-

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schen Schiebertums. Damals hat das Judentum mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, die gesunde Jugend zu verderben. Alle Ideale, die unserem Kontinent heilig sind, wurden öffentlich beschmutzt, lächerlich gemacht und als unzeitgemäß verworfen. Durch die korrupten Gazetten kursierte das jüdische Wort: 'Es gibt kein dümmeres Ideal als das des Helden'. Der jungen Generation wurde dafür schrankenlose Freiheit im sexuellen Genuß gepredigt. Je grauer der Alltag wurde, um so strahlender entwickelte sich das Nachtleben. Der amerikanische Film und die amerikanische Revue, drüben von Juden geschaffen, hier von Juden importiert, appellierten immer von neuem an die Sinne halbwüchsiger junger Menschen, diese verderbend und in den Strudel des Chaos hineinziehend, aus dem sie nie mehr zu ihrer Nation zurückgekehrt sind. Wo immer der Jude versucht hat, ein Volk in seiner nationalen Substanz zu verletzen, hat er das durch die Erweckung der niedrigsten Instinkte, durch die Propagierung einer ungezähmten Geschlechtsgier und Verächtlichmachung jeder sittlichen und ethischen Zucht getan ... . Jeder Jude, der in Europa wirkt, ist eine Gefahr für die europäische Kultur! Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentums gewesen ist, Zehntausende und Aberzehntausende von Juden ins Getto abgeschoben habe, muß ich antworten, ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur" (Zit. n. Wortmann, 212).

Als einziger Angeklagter in Nürnberg distanzierte er sich unmißverständlich von Hitlers Nationalsozialismus und vom Antisemitismus; er hatte nämlich durch den Zeugen Rudolf Höß - Kommandant des KZ in Auschwitz - nun auch noch die technischen Details über die Massenmorde erfahren. Unter dem Eindruck dieser Zeugenaussage erklärte er vor dem Gericht:

"Es ist der größte und satanischste Massenmord der Weltgeschichte... . Es ist ein Verbrechen, das jeden Deutschen mit Scham erfüllt. Die deutsche Jugend trägt daran keine Schuld. Sie dachte antisemitisch, aber sie wollte nicht die Ausrottung des Judentums. Sie wußte und ahnte nichts davon, daß Hitler diese Ausrottung durch tägliche Morde an Tausenden von unschuldigen Menschen durchführte. Die jungen Menschen, die heute ratlos zwischen den Trümmern ihrer Hei-
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mat stehen, haben von diesen Verbrechen nichts gewußt und haben sie nicht gewollt. Sie sind unschuldig an dem, was Hitler dem jüdischen und dem deutschen Volk angetan hat... . Ich habe diese Generation im Glauben an Hitler und in der Treue zu ihm erzogen. Die Jugendbewegung, die ich aufbaute, trug seinen Namen. Ich meinte, einem Führer zu dienen, der unser Volk und die Jugend groß, frei und glücklich machen würde. Mit mir haben Millionen junger Menschen das geglaubt und haben im Nationalsozialismus ihr Ideal gesehen. Viele sind dafür gefallen. Es ist meine Schuld, die ich fortan vor Gott, vor meinem deutschen Volk und vor unserer Nation trage, daß ich die Jugend dieses Volkes für einen Mann erzogen habe, den ich lange, lange Jahre als Führer und als Staatsoberhaupt als unantastbar ansah, daß ich für ihn eine Jugend bildete, die ihn so sah wie ich. Es ist meine Schuld, daß ich die Jugend erzogen habe für einen Mann, der ein millionenfacher Mörder gewesen ist. Ich habe an diesen Mann geglaubt, und das ist alles, was ich zu meiner Entlastung und zur Erklärung meiner Haltung sagen kann. Diese Schuld ist aber meine eigene und meine persönliche. Ich trug die Verantwortung für die Jugend. Ich trug den Befehl für sie und so trage ich auch allein für diese Jugend die Schuld. Die junge Generation ist schuldlos. Sie wuchs auf in einem antisemitischen Staat mit antisemitischen Gesetzen. Die Jugend war an diese Gesetze gebunden, sie verstand deshalb unter Rassenpolitik nichts Verbrecherisches. Wenn aber auf dem Boden der Rassenpolitik und des Antisemitismus ein Auschwitz möglich war, dann muß Auschwitz das Ende der Rassenpolitik und das Ende des Antisemitismus sein" (Zit. n. Wortmann 13 f.).

Er wurde aus dem Spandauer Gefängnis als gebrochener Mann entlassen, das eigens für die in Nürnberg Verurteilten von den vier Alliierten eingerichtet worden war; er war auf einem Auge erblindet, das andere Auge war geschädigt. Er diktierte für die Illustrierte STERN seine Memoiren, die dann unter dem Titel "Ich glaubte an Hitler'' 1967 auch als Buch herauskamen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem bescheidenen Hotel in Kröv an der Mosel, das von zwei ehemaligen BDM-Führerinnen betrieben wurde, die den fast Erblindeten pflegten. Seine Frau hatte sich schon im Jahre 1950 von ihm scheiden lassen. Er starb am 8.8.1974. Auf seinem Grabstein steht: "Ich war einer von Euch".
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 Das politisch-pädagogische Konzept

Bis zur Machtergreifung Hitlers ist kein besonderes pädagogisches Konzept in den Handlungen und Äußerungen Schirachs zu erkennen. Die HJ war eine jener zahlreichen Jugendverbände, wie sie in der Weimarer Zeit entstanden. Jeder Erwachsenen-Verband, der etwas auf sich hielt, versuchte, eine Jugendabteilung zu gründen, um seinen Nachwuchs zu sichern. Auf diese Weise wurden die ursprünglichen Ideen des Wandervogel, der seinen Höhepunkt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erreichte, popularisiert und zugleich für die Zwecke der jeweiligen Erwachsenenorganisation instrumentalisiert. Wenn die HJ gerade nicht in Wahlkämpfe und andere politische Aktivitäten verwickelt war, betrieb sie wie die anderen Jugendorganisationen auch ein "Jugendleben", d.h. ihre Mitglieder trafen sich auf Heimabenden, machten Umzüge zur Eigenwerbung oder "gingen auf Fahrt".

Was sich nach dem 30. Januar 1933 aus der HJ entwickelte, beruhte zweifellos in erster Linie auf den Ideen Schirachs, er war der führende Kopf. Allerdings verfügte er, der ein unregelmäßiger Arbeiter war und bürokratischer Tätigkeit lieber aus dem Wege ging, über einen Mitarbeiterstab, der ihn offensichtlich gut ergänzte und seine Schwächen kompensierte. Die weibliche HJ, also der BDM, wurde von den beiden "Reichsreferentinnen" Trude Mohr und Jutta Rüdiger geprägt, letztere löste ihre Vorgängerin 1937 ab, als diese wegen Heirat ausschied. Sie waren die höchsten Führerinnen des BDM, formell Schirach unterstellt, tatsächlich jedoch weitgehend selbständig.

Schirachs Ziele, die nach 1933 offenbar werden, lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:
1. Die Jugend auf die Person Hitlers zu verpflichten.
2. Eine die ganze deutsche Jugend umfassende Organisation aufzubauen.
3. Das Prinzip der Selbst-Führung durchzusetzen ("Jugend muß von Jugend geführt werden").
4. Verbesserung der sozialen Lage der Jugend.
5. Musische und kulturelle Differenzierung.
Die ersten vier Ziele sind von Anfang an erkennbar (vgl. Schirach 1934), das fünfte kommt im wesentlichen erst nach 1936 dazu.

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Verpflichtung auf die Person Hitlers

Dieses Ziel ist von heute aus gesehen wohl am schwersten zu verstehen, aber es ist das ursprünglich erste und vielleicht das einzige, das in den Jahren vor 1933 eine bedeutende Rolle gespielt hat. Es hat einen biographischen und einen politischen Aspekt. Hitler war ja Schirach als 17jährigem wie eine Offenbarung erschienen, und zweifellos entstand zwischen ihnen eine besondere persönliche Beziehung - auch von Hitlers Seite aus. Vielleicht sah Hitler in ihm so etwas wie einen Sohn, jedenfalls galt er noch bis in die Kriegsjahre hinein als Kronprinz - bis zu jenem bereits erwähnten Auftritt auf dem Berghof 1943. Politisch gesehen war ihm Hitler als Person wie als Symbol die schlechthin unantastbare Integrationsfigur des deutschen Volkes, die garantieren sollte, was er sich erhoffte: Wiederherstellung der "Ehre" des deutschen Volkes, die durch den Versailler Vertrag verloren gegangen sei, und die volksgemeinschaftliche Einigung des Volkes als Rettung aus der erlebten inneren Zerrissenheit. Die Verpflichtung der Jugend auf Hitler war - so gesehen - identisch mit ihrer Verpflichtung auf das deutsche Volk überhaupt. Nationale Integrationsfiguren sind ja an sich nichts außergewöhnliches, wenn man etwa an die Rolle des britischen Königshauses oder auch des deutschen Kaisers vor 1914 denkt. Aber ihre persönliche Unantastbarkeit ist normalerweise eingebunden in eine komplexe politische Kultur von Regierung und Opposition, von pluralistischen Normen und Organisationen, von liberalen gesellschaftlichen Freiheitsspielräumen. Gerade diese politischen Voraussetzungen aber hatten die Nazis außer Kraft gesetzt, so daß nun das an sich legitime Bedürfnis nach einer personalen Repräsentanz das Wir-Gefühl ins Kultisch-Mystische abdriften ließ. Gerade die inszenierte Entrückung der Person Hitlers erwies sich später - vor allem auch in den Kriegsjahren - als wichtiges Bindemittel, wenn es galt, Kritik herunterzuschlucken oder gar die längst fällige Distanzierung vom Regime dann doch wieder zu vertagen. "Wenn das der Führer wüßte!" war bis in die letzten Kriegsjahre ein verbreiteter Seufzer. Und auch im Führerkorps der Hitlerjugend war bis zum Schluß die Idee im Schwange, nach dem Kriege gemeinsam mit Hitler unter den Partei-Bonzen aufzuräumen. In der geschilderten Szene auf dem Berghof 1943 hatten auch die Schirachs noch entsprechende Illusionen im Hinblick auf die Juden-Deportationen.

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Daß gerade Hitler der Täter, der millionenfache Mörder war - wenn auch nicht allein - und eben nicht die Integrationsfigur, wofür man ihn jahrelang gehalten und als den man ihn geradezu verehrt hatte, mußte wie ein tiefer Schock wirken, dem ja Schirach auch vor dem Nürnberger Tribunal Ausdruck verliehen hat. Nicht alle seine HJ-Kameraden sind ihm da übrigens gefolgt. Manche haben das nicht wahrhaben wollen - vielleicht, um auf solche Weise ihre Identität wie mühsam auch immer zu retten. Auch Baeumler und Krieck sind ja - wenn auch weniger leidenschaftlich als Schirach - dieser Faszination durch die Integrationsfigur Hitler erlegen.

Von heute aus gesehen - und das heißt: gerade auch aufgrund der Erfahrungen mit der NS-Zeit - mag es ganz unverständlich erscheinen, wie man ohne jede demokratische Absicherung einen einzelnen Menschen in eine solche jeder Kritik und moralischen Grenzsetzung enthobene Position nicht nur versetzen, sondern ihn geradezu enthusiastisch immer wieder darin bestätigen kann. Aber mit dieser katastrophalen Fehleinschätzung befand sich Schirach damals sozusagen "in bester Gesellschaft", denn nicht wenige Kirchenführer, Gelehrte, Industrielle und andere Personen des öffentlichen Lebens taten es ihm gleich. Daß dieser Wunsch nach einer "reinen" Integrationsfigur so massenhaft anzutreffen war, lag einerseits sicher an der mangelnden politischen Erfahrung der meisten Menschen, andererseits aber wohl auch daran, daß viele die Weimarer Demokratie nach ihren Alltagserfahrungen für abgewirtschaftet hielten, sich vor dem Kommunismus fürchteten und ihre Zukunftshoffnungen mit emotionaler Intensität auf Hitler projizierten, von dem man sich Rettung aus der Not versprach.

Jedenfalls profitierte Schirach von seiner besonderen persönlichen Beziehung zu Hitler insofern, als er weitgehend freie Hand bekam, seine Konzeption der HJ zu realisieren und alle Einmischungen von außen - Partei, Wehrmacht - abzuwehren.

Volksgemeinschaftliche Einheitsorganisation

Dieses zweite Ziel hing mit dem ersten aufs engste zusammen: Wollte Schirach die deutsche Jugend auf Hitler verpflichten, so brauchte er dafür eine einheitliche Organisa-

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tion. Aber dies war nicht der einzige Grund. Eines der politischen Ziele, mit dem die Hitler-Bewegung angetreten war, war die Herstellung der "Volksgemeinschaft", als deren Garant und Symbol die Integrationsfigur ja dienen sollte. Auf diese Weise sollte die parteipolitische, konfessionelle und klassenmäßige Zerrissenheit des Volkes überwunden werden. Diese Sehnsucht war in der Weimarer Zeit weit verbreitet, und der Begriff "Volksgemeinschaft" findet sich im politischen Spektrum von rechts bis links - wenn auch natürlich in unterschiedlichen politischen Versionen.

Nach der Machtergreifung ging Schirach sofort dazu über, die "Volksgemeinschaft" in einer einheitlichen Jugendorganisation - seiner HJ - zu realisieren. Dazu mußten aber die anderen Jugendorganisationen erst einmal beseitigt oder eingegliedert werden. Zur Zeit der Machtergreifung hatte die HJ etwa 100.000 Mitglieder. Das war nicht viel im Vergleich zu anderen Organisationen. Etwa 600.000 waren in evangelischen, über 800.000 in katholischen Verbänden organisiert, die meisten, nämlich etwa 1.5 Millionen, machten in Sportverbänden mit. Die Jugendverbände hatten sich in der Weimarer Zeit im "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände" auf Reichsebene zusammengeschlossen -dem Vorläufer des heutigen Bundesjugendrings. Nach den Angaben des Reichsausschusses waren 1927 etwa 40 Prozent der Jugendlichen, also etwa 3,6 Millionen von insgesamt 9,1 Millionen, in den ihm angeschlossenen Verbänden organisiert.

Am 5.4.33 ließ Schirach durch einen Trupp Hitlerjungen die Geschäftsstelle des Reichsausschusses in Berlin besetzen, die Akten beschlagnahmen und den Geschäftsführer Maaß - einen Sozialdemokraten - entlassen. Dieser Schritt war rechtswidrig, aber Widerstand blieb aus. Am 22.7.33 löste er den Reichsausschuß offiziell auf. Die beschlagnahmten Akten gaben ihm Einblicke in den Mitgliederstand und die Führerschaft der Verbände. Gefährlich werden für seinen Monopolanspruch konnten ihm jedoch nur drei Gruppen: die rechten Bünde, die evangelische und die katholische Jugend.

Schirach kam jedoch recht schnell ans Ziel. Nach dem Reichstagsbrand und dem daraufhin beschlossenen "Ermächtigungsgesetz" ging der Kommunistische Jugendverband in den Untergrund, die sozialistische Jugend wurde durch die Polizei ausgeschaltet. Die rechten bündischen

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Gruppen - im wesentlichen Oberschüler und Studenten - schlossen sich Ende März 1933, um ihre Selbständigkeit zu erhalten, zum "Großdeutschen Bund" zusammen und versuchten, die HJ mit Ergebenheitsadressen rechts zu überholen. Ihr Führer war Admiral von Trotha, der über gute Beziehungen zur Reichswehr verfügte. Aber das nutzte nichts, denn am 7.6.33, an dem Tag, an dem Schirach zum Reichjugendführer ernannt wurde, löste er diesen Bund auf. Das war wiederum rechtswidrig, Trotha protestierte auch beim Reichspräsidenten von Hindenburg, aber Hitler konnte diesen überzeugen, daß es dabei doch um eine gemeinsame nationale Sache gehe. Noch reibungsloser verlief die Eingliederung der meisten evangelischen Jugendverbände - einige lösten sich lieber auf -, die Anfang 1934 per Vertrag erfolgte. Die rein religiöse Arbeit durfte weiter in den Kirchengemeinden betrieben werden, für alle andere Jugendarbeit war nun die HJ zuständig.

Mehr Schwierigkeiten bereitete die katholische Jugend. Im Frühjahr/Sommer 1933 verhandelte die Reichsregierung mit dem Vatikan - erfolgreich - über ein Konkordat, das zunächst der katholischen Jugendarbeit noch einen gewissen Schutz bot, aber spätestens 1938 war auch sie wie die evangelische reduziert auf die bloße kirchliche Unterweisung bzw. die Meßdiener-Schulung. Das schon erwähnte Hitlerjugendgesetz von 1936 erhob die HJ in den Rang einer dritten Erziehungsinstitution neben Elternhaus und Schule.

Von heute aus gesehen mag überraschen, wie einfach es für Schirach war, die anderen Jugendverbände auszuschalten bzw. einzugliedern. Gewiß gab es auch Übergriffe von HJ-Kommandos gegen andere Jugendverbände, vor allem gegen die katholische Jugend, und auch Polizei und Gestapo erzeugten durch Verhaftungen, Hausdurchsuchungen usw. eine Atmosphäre des Terrors und der Einschüchterung. Aber das reicht zur Erklärung nicht aus. Vielmehr muß man den Eindruck gewinnen, daß Schirach gleichsam ein morsch gewordenes Gebäude mit einigen Fußtritten zum Einsturz gebracht hatte. Abgesehen von der katholischen Jugend zeigte sich kaum Widerstand, und auch aus deren Reihen gab es Ergebenheitsadressen an Hitler, die Zweifel aufkommen lassen mußten, warum sie sich eigentlich noch gegen einen Übertritt zur HJ wehrte. Zudem hatte gerade die katholische Kirche bzw. ihre politische Partei - das Zentrum - in der

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 Weimarer Zeit nicht wenig zur "Zerrissenheit" des Volkes beigetragen, weil sie ihre bildungs- und kulturpolitischen Eigeninteressen einigermaßen rücksichtslos durchzusetzen trachtete. Aus nahezu allen Jugendorganisationen liefen 1933 ohne jeden Zwang Scharen von Jugendlichen zur HJ über, deren Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres von 100.000 auf über 3 Millionen anstieg. Der Sog der "nationalen Erhebung" war offensichtlich unwiderstehlich. Zudem muß man bei der Betrachtung der Jugendverbände am Ende der Weimarer Republik den Eindruck gewinnen, daß ihr Elan weitgehend erloschen war, daß sie sich irgendwie überlebt hatten, jedenfalls stagnierten. Entweder waren sie zu reinen Freizeitvereinen geworden, oder sie hatten sich wie die politischen Jugendverbände bürokratisiert, oder sie schmorten - wie die Bünde - im eigenen Saft.

Wollte die HJ nun eine volksgemeinschaftliche einheitliche Jugendorganisation und insofern eine wirklich integrierende Größe sein, so hätte sie eigentlich politisch und weltanschaulich neutral bleiben müssen, um mit bestimmten Gruppen der Bevölkerung nicht von vornherein im Konflikt zu liegen - so wie heute etwa unsere Schulen parteipolitisch und konfessionell neutral sind, um ebenfalls möglichst niemanden von vornherein auszuschließen. Diesem Grundsatz blieb die HJ nach dem Willen Schirachs auch im Prinzip treu -jedenfalls so, wie sie es selbst verstand. Sie sah sich nicht als politische Jugendorganisation im Sinne etwa der NSDAP als Partei, sondern als Jugendorganisation des gesamten deutschen Volkes. Politik im Sinne von Außen- oder Innenpolitik sollte bei ihr keine Rolle spielen. Was sie als "weltanschauliche Schulung" betrieb, bezog sich auf die nationalsozialistische Weltanschauung, insofern sie als ideelle Integration des ganzen Volkes gemeint war.

Besonders deutlich wird das im Umgang mit den christlichen Kirchen. Eigentlich hätten diese - vor allem die katholische - im schroffen Gegensatz zur NS-Weltanschauung stehen müssen, und Konflikte gab es auch genug. Aber das, was von der NS-Weltanschauung in die Arbeit der HJ einging, war gleichsam pädagogisch gefiltert. Rassenhetze, Agitation gegen bestimmte Gruppen des Volkes - z.B. gegen die Kirchen - oder ähnliche polarisierende Strategien wurden vermieden, so daß vor allem nach den organisatorisch etwas chaotischen Anfangsjahren auch bei den Kirchen der Eindruck ent-

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stehen konnte, die Weltanschauung der HJ sei wirklich nur auf Integration der Volksgemeinschaft angelegt, so daß auch der Widerstand der Kirchen gegen die HJ immer weniger plausibel wurde.

Zudem hatte Schirach wiederholt betont, daß die HJ die kirchlich-religiöse Einstellung ihrer Mitglieder respektiere und bereit sei, den Dienst so zu organisieren, daß Teilnahme am Gottesdienst für jeden möglich sei, der es wolle.

Anläßlich des Hitlerjugend-Gesetzes von 1936 wandte er sich "An deutsche Eltern" und sagte unter anderem, daß er keine Konfession für die Jugend verbindlich machen könne, "da wir nun einmal mehrere Konfessionen besitzen, ... wie ich überhaupt alles vermeiden muß, was in die Jugend Zwiespalt und Uneinigkeit hineintragen könnte. Ich überlasse es also den Kirchen, die Jugend im Sinne ihrer Konfessionen religiös zu erziehen und werde ihnen auch in dieser Erziehung niemals hineinreden. Mein Auftrag wurde mir vom Deutschen Reich gegeben. Ich bin dem Reich dafür verantwortlich, daß die gesamte Jugend im Sinne der nationalsozialistischen Staatsidee körperlich, geistig und sittlich erzogen wird. Für die Durchführung dieser erzieherischen Aufgabe wird ein bestimmter Dienst angesetzt werden. Und ich habe nichts dagegen, daß außerhalb dieses Dienstes jeder Jugendliche religiös dort erzogen wird, wo das seine Eltern wollen oder er selbst will. An den Sonntagen wird während der Kirchzeit grundsätzlich kein Dienst angesetzt werden, so daß jedem Gelegenheit gegeben ist, die Kirchen seiner Konfession besuchen zu können" (Schirach 1938, 62 f.).

Von dieser grundsätzlichen - keineswegs praktisch immer befolgten - Einstellung hing die Glaubwürdigkeit der HJ als einer der "Volksgemeinschaft" dienenden Organisation ab. Sie hätte es sich nicht leisten können, ihre minderjährigen Mitglieder etwa in einen offenen Kirchenkampf zu manövrieren. Selbst in den KLV-Lagern - von denen noch zu sprechen sein wird -, in denen Kinder und Jugendliche weitab von ihren Eltern in den Kriegsjahren untergebracht waren, hielt Schirach - nicht ohne Konflikte mit anderen Parteigrößen wie Bormann - dieses Prinzip durch: Gottesdienstbesuche wie auch persönliche Gespräche mit Priestern sollten ohne Diskriminierung möglich sein.

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Natürlich lag diesem Konzept eine enorm reduzierte Vorstellung von Religiosität bzw. Kirchenmitgliedschaft zugrunde, die die Kirchen eigentlich nicht akzeptieren konnten und die schon beim Kampf gegen die kirchlichen Jugendverbände erkennbar war: Religion als reine Privatsache bzw. als seelische Tankstelle ohne jede kritische öffentliche Relevanz und Konsequenz. Andererseits war natürlich auch bekannt, daß viele HJ-Führer persönlich durchaus kirchenfeindlich eingestellt waren und daraus keinen Hehl machten, und daß gelegentlich in der Führerzeitschrift "Wille und Macht pointierte Angriffe gegen Maßnahmen und Handlungen von Kirchenführern zu lesen waren.

Auf der politischen Ebene ging die HJ durchaus - auch mit Hilfe von Polizei und SS - gegen die Kirchen bzw. gegen deren Jugendführer vor, wenn sie ihren Monopolanspruch bedroht sah. Das galt vor allem für die katholische Kirche, die zunächst nicht nur in begrenztem Rahmen weiter Jugendarbeit betreiben, sondern auch weiterhin Zeitschriften für ihre Mitglieder mit teilweise beachtlicher Auflage vertreiben durfte. Aber in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen - z.B. in dem dafür geschaffenen Schulungsmaterial - wurden religions- und kirchenfeindliche Propaganda vermieden. Das wäre "Politik" gewesen, und dafür waren die entsprechenden Organe der Erwachsenen zuständig.

So jedenfalls war es im Prinzip, als offizielle Linie verkündet. Da aber auch in der HJ die Tat-Philosophie galt, gab es auf der unteren Ebene nicht selten Übergriffe, wurde z.B. "Dienst" zur Kirchgangszeit angesetzt, aber immerhin konnten Eltern sich in solchen Fällen auf Schirachs öffentliche Erklärungen berufen.

Aus dem Konzept einer einheitlichen, volksgemeinschaftlich gedachten Jugendorganisation folgte aber noch ein weiteres Problem, das schwieriger zu lösen war und das dann ab 1937 zur "kulturellen Wende" führte. In einer solchen Einheitsorganisation, die für alle Jugendlichen gedacht war, konnte nur das zum Veranstaltungsprogramm werden, was alle auch ohne besondere Vorkenntnisse und Fertigkeiten zu tun in der Lage waren. Jeder, ob nun Lehrling oder Gymnasiast, ob mit höherer oder nur mittlerer Intelligenz ausgestattet, mußte also von vornherein einen chancengleichen Zugang

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zum Programm der HJ haben können. Die Möglichkeiten dafür waren jedoch beschränkt auf Marschieren, Singen, sportliche Spiele und auf Themen in den Heimabenden, die die anwesenden Oberschüler nicht sofort zu Lehrern der ungelernten Jungarbeiter oder der Lehrlinge machte. Das Erlebnis der Volksgemeinschaft ließ sich also nicht auf der sachlich-intellektuellen, sondern nur auf der emotional-erlebnishaften Ebene herstellen. Die dafür möglichen Inszenierungen wie Aufmärsche, Feiern usw. verlieren jedoch durch ständige Wiederholung leicht ihre Wirkung, und das Interesse an dem, was alle gleichermaßen können, geht ebenfalls bald zurück. Ab etwa 1937 zeigte sich diese Entwicklung in zunehmenden Klagen von Führern über Disziplinlosigkeit und Desinteresse an den Angeboten der HJ.

Diese Schwierigkeit hatten zumindest diejenigen Jugendorganisationen vor 1933 auch erfahren, die wie die politischen oder kirchlichen eine Massenorganisation sein, also möglichst viele Jugendliche erreichen wollten. Sie mußten dafür mehr bieten als nur ihr weltanschauliches oder politisches Credo, nämlich davon im Prinzip unabhängige Freizeitangebote. Im übrigen hatten die jungen Leute damals ja die Möglichkeit, einen Bund oder eine andere Jugendorganisation ihres politischen, weltanschaulichen, kulturellen oder sportlichen Standards zu wählen. Demgegenüber hatte die HJ als monopolisierte Freizeitorganisation die Last sich aufgeladen, derartige innere Differenzierungen im Rahmen einer Einheitsorganisation anzubieten, was sie dann auch versuchte. Doch davon später.

Das Prinzip der Selbstführung


Vor der Machtergreifung - bis 1932 - war die HJ der SA unterstellt und wurde mit dieser auch von Fall zu Fall verboten. Sie war also eine reine Parteijugend. Nach 1933 jedoch konnte Schirach in Übereinstimmung mit Hitler, der in "Mein Kampf" festgestellt hatte, daß Jugend von Jugend geführt werden müsse, die HJ zu einer von anderen Partei- und Staatsinstanzen relativ unabhängigen Organisation entwickeln.

Allerdings hatte dieses Prinzip vor 1933 - wie Schirach (1934) selbst eingestand - auch einen praktischen Hintergrund. "Das fast gleichzeitige Entstehen der großen nationalsoziali

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stischen Organisationen band alle Führungskräfte in ihre eigenen Altersklassen. Politische Organisation, SA und SS waren außerstande, Führer an die entstehende Jugendorganisation abzugeben" (60).

Das Prinzip der Selbstführung der Jugend war nicht neu. Seitdem die bürgerliche Jugendbewegung in Gestalt des Wandervogel es mit Beginn des Jahrhunderts für sich reklamiert und praktiziert hatte, war es selbst dort zur Geltung gekommen, wo es sich um Jugendverbände von Erwachsenenorganisationen wie etwa der politischen Parteien handelte. In diesen Fällen jedoch war der Autonomiespielraum begrenzt durch die jeweiligen Interessen des Erwachsenenverbandes. Aber gegen Ende der Republik war bei großen Teilen der Bevölkerung alles verdächtig, was nach "Partei" roch. Auch die HJ verdankte ihren Zulauf 1933 nicht der Tatsache, daß sie eine Partei-Jugend war, sondern daß sie sich als Teil einer weit darüber hinausgehenden völkisch-nationalen "Bewegung" verstand, die Hitler in seiner Person repräsentierte. Mit einer Partei-Jugend hätte Schirach keine öffentliche Legitimation gehabt, andere Jugendverbände aufzulösen und eine einheitliche Jugendorganisation zu fordern.

Unter Berufung auf das Prinzip der Selbstführung gelang es Schirach tatsächlich, fast bis zum Ende des Krieges Einwirkungen anderer Parteidienstellen oder der Wehrmacht zurückzuweisen. Dies wäre jedoch ohne die besondere persönliche Beziehung, die Schirach zu Hitler hatte, nicht möglich gewesen.

So konnte Schirach seine Idee eines eigenen Jugend-Staates realisieren: Jugend gestaltet ein eigenes Jugendleben, nach eigenen Ritualen und Regeln, durch Jugend geführt. Politik im Sinne von Außen- und Innenpolitik hat dort nichts zu suchen, ist eine Sache der dafür zuständigen Partei- und Staatsorgane der Erwachsenen. Jugend organisiert sich in diesem Sinne selbst als pädagogische Provinz. Zweifellos spielten hier Erfahrungen eine Rolle, die Schirach im reformpädagogischen Waldpädagogium Bad Berka machen konnte. Für die erwachsenen Mitglieder des Führerkorps galt die politische Abstinenz natürlich nicht, wie ein Blick in ihre Zeitschrift "Wille und Macht" zeigt. Hier wurden allgemeine politische Fragen durchaus diskutiert.

Die Selbstführung wurde auch in zahlreichen Einzelheiten durchgesetzt. Es gab Uniformen für verschiedene Ränge,

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Rangabzeichen, eine eigenständige Disziplinargewalt, die Verstöße gegen die HJ-Disziplin ahndete - im schlimmsten Falle durch Ausschluß aus der HJ. Ein "Streifendienst" überwachte, ob HJ-Mitglieder sich in der Öffentlichkeit korrekt verhielten, ob die Jugendschutzgesetze z.B. in Gaststätten eingehalten wurden usw. Polizeilich-exekutive Gewalt hatte er jedoch nicht.

Die in HJ und BDM verbrachte Lebenszeit sollte sinnlich erfahrbar eine eigentümliche biographische Phase sein, bevor dann die nächste begann. Dem diente auch die Aufteilung in Altersgruppen. Für die Jungen gab es die Altersklassen "Jungvolk" (10-13 Jahre) und "Hitler-Jugend" (14-18 Jahre), für die Mädchen deren drei: "Jungmädel" (10-13 Jahre), "BDM" (14-18), und "Glaube und Schönheit" (17-21 Jahre) als freiwilliges Angebot. Die Aufteilung in Jahrgangsgruppen hatte die HJ nicht erfunden, sie geht auf die Neupfadfinder in der Weimarer Zeit zurück. Ab 1936 wurden die Mitglieder jahrgangsweise erfaßt, und analog einem schulischen Lehrplan versuchte die HJ, das Aufwachsen der Jungen und Mädchen zu begleiten mit altersmäßig gestaffelten Proben, Aufgaben und Leistungswettbewerben, um so auch den Prozeß des "Älter- und Größerwerdens" erlebbar zu machen. Wir haben es hier also zu tun mit einem ausgeklügelten Konzept einer pädagogischen Provinz, die gleichwohl kein Selbstzweck sein sollte; denn dieser Jugendstaat sollte ja zugleich dem ganzen Volke dienen.

Dies geschah durch "Dienste", die die HJ leistete. Dazu gehörten in erster Linie Sammlungen für unterschiedliche Zwecke - vor allem auch für das "Winterhilfswerk", einen Wohlfahrtsfonds, der bedürftige "Volksgenossen" unterstützen sollte. Aber auch Ernteeinsätze und Sammelaktionen zur Wiedergewinnung wertvoller Rohstoffe - heute Recycling genannt - standen auf dem Programm. Im Kriege erweiterten sich solche Einsätze dann z.B. auf den Post-, Gesundheits- und Sozialdienst.

Verbesserung der sozialen Lage der Jugend


Die seit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zunehmende Verelendung breiter Bevölkerungsschichten - nicht etwa nur der Arbeiterschaft, sondern auch von Teilen der bürgerli-

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chen Mittelschicht - traf nicht zuletzt auch viele Kinder und Jugendliche. Das spürte auch die HJ, zumal sie als Jugendorganisation des ganzen deutschen Volkes mit dem Ziel auftrat, die Klassen- und Standesunterschiede zu überwinden. Vor 1933 hatte die HJ einen großen Mitgliederanteil aus der Arbeiterschaft, so daß deren wirtschaftliche und soziale Verfassung unmittelbar erfahrbar wurde. Schirach selbst stand von seiner sozialen Herkunft her diesem Problem einigermaßen fremd gegenüber, anders als Artur Axmann, der selbst aus diesem Milieu stammte. Unter seiner Leitung entstand schon 1932 in der HJ ein "soziales Amt", das bis Kriegsende bestehen blieb. Bereits 1933 begannen auf Axmanns Initiative hin medizinische Reihenuntersuchungen, für die bereits detaillierte Richtlinien ausgearbeitet waren (Schirach 1934, 199 ff.). Ziele dieser Untersuchungen waren, den Gesundheitszustand der Jugend im ganzen zu erfassen, eine vorbeugende Gesundheitsfürsorge zu betreiben, so daß Krankheiten früh erkannt und entsprechend behandelt werden konnten - sei es medizinisch, sei es im Sinne einer vorbeugenden Erholungsfürsorge durch Kuraufenthalte oder durch Erholungsangebote auf dem Lande, z.B. bei Pflegefamilien. Eine Rolle spielte allerdings auch die Überlegung, solche Kinder zeitweise oder ganz aus der HJ auszuschließen, die den Dienstanforderungen körperlich nicht gewachsen waren. Zugleich sollte im Rahmen dieser Maßnahmen auch ermittelt werden, welche körperlichen Anstrengungen Jungen und Mädchen eines bestimmten Alters überhaupt zugemutet werden konnten, ohne sie gesundheitlich zu überfordern. Daraus ergaben sich dann detaillierte Anweisungen an die Führerschaft z.B. über die zulässige Länge von Marsch- und Wanderstrecken. Bis 1938 wurden auf diese Weise jährlich etwa eine Million Jugendliche untersucht, das Ergebnis wurde in einem "Tauglichkeitspaß" festgehalten, der bei HJ-Veranstaltungen mitzuführen war. Zum Konzept der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge gehörte auch die Gesundheitserziehung in der HJ selbst, wofür Aufklärungsmaterial entwickelt wurde, das dem jeweiligen Alter angemessen war. Das Jahr 1939 wurde zum "Jahr der Gesundheit" proklamiert und Schirach erfand dafür im Rahmen von "10 Geboten" das Motto: "Du hast die Pflicht gesund zu sein!". Die "10 Gebote" lauteten:

"1. Dein Körper gehört Deiner Nation, denn ihr verdankst Du Dein Dasein. Du bist ihr für Deinen Körper verantwortlich.

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 2. Du mußt Dich stets sauber halten und Deinen Körper pflegen und üben. Licht, Luft und Wasser helfen Dir dabei.
3. Pflege Deine Zähne. Auf ein kräftiges, gesundes Gebiß kannst Du stolz sein.
4. Iß reichlich rohes Obst, rohe Salate und Gemüse, nachdem Du sie gründlich mit sauberem Wasser gereinigt hast. Im Obst sind wertvolle Nährstoffe enthalten, die beim Kochen verloren gehen.
5. Trink flüssiges Obst. Laß den Kaffee den Kaffeetanten. Du hast ihn nicht nötig.
6. Meide Alkohol und Nikotin, sie sind Gifte und hemmen Dein Wachstum und Deine Arbeitskraft.
7. Treibe Leibesübungen! Sie machen Dich gesund und widerstandsfähig.
8. Du mußt jede Nacht mindestens neun Stunden schlafen.
9. Übe Dich in der "Ersten Hilfe" bei Unglücksfällen. Du kannst dadurch der Lebensretter Deiner Kameraden werden.
10. Über all Deinem Handeln steht das Wort: Du hast die Pflicht gesund zu sein!" (Rüdiger 1993, 201).

Im selben Jahr wurde allen Führern und Führerinnen sowie den im Gesundheitsdienst Tätigen zur Pflicht gemacht, das Rauchen aufzugeben - getreu der von Schirach vertretenen Erziehungsmaxime, daß das Vorbild das beste Erziehungsmittel sei. Ob diese "Pflicht" bei so manchem nicht lediglich zur Heuchelei führte, darf nach unserer heutigen Lebenserfahrung gewiß vermutet werden.

Wie die "10 Gebote" zeigen, hatte dieses Gesundheitsprogramm eine ideologische und eine praktische Komponente. Die ideologische war von Hitler vorgegeben, indem er, wie schon erwähnt wurde, der körperlichen Ertüchtigung den Vorrang vor anderen Erziehungszielen einräumte - nicht um des einzelnen willen, sondern um des starken, wehr- und gebärtüchtigen Volkes willen.

Die praktische Komponente hatte zwei Aspekte - aus der Sicht der Veranstalter und aus der Sicht der Jugendlichen und deren Eltern. Wir wissen heute, daß der NS-Staat eine umfassende gesundheitliche Bestandsaufnahme der ganzen Bevölkerung angestrebt und zum Teil verwirklicht hat. Vorrangiges Ziel war, diejenigen zu erfassen, die den Vorstellungen der Rassereinheit bzw. der Erbgesundheit widersprachen, um sie aus der "Volksgemeinschaft" auszugrenzen

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oder gar - wie im Falle der geistig schwer Behinderten - zu ermorden.

Nichts spricht dafür, daß Schirach und Axmann solche Konsequenzen im Auge hatten, als sie diese Reihenuntersuchungen begannen. Aber immerhin verbanden sie von vornherein damit den Gedanken der Ausgrenzung. Wer nicht in einem vorgegebenen Durchschnittstempo mitmarschieren konnte, mußte draußen bleiben. Was aber ist von einer "volksgemeinschaftlichen" Jugendorganisation zu halten, die z.B. körperlich behinderte junge Menschen nur wegen dieser Behinderung von vornherein ausschließt? Denkbar wäre doch auch gewesen, für solche Jugendlichen spezielle Angebote zu machen, so wie dies etwa für die Motorrad- oder Flugzeug-Interessierten auch geschah. Aber das für alle HJ- und BDM-Mitglieder Gemeinsame war eben der regelmäßige "Dienst", der in militärähnlicher Form betrieben wurde und eine bestimmte körperliche Verfassung voraussetzte.

Aus der Perspektive der Jugendlichen und deren Eltern ergab sich jedoch ein anderes Bild. Vor allem in den unteren sozialen Schichten herrschte damals weitgehend Unkenntnis über gesundheitliche und hygienische Fragen. Hinzu kam oft Gleichgültigkeit, die teilweise einfach aus der Überforderung durch den Lebenskampf resultierte: aus Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Not, geringer Bildung usw. Kinderkrankheiten, soweit sie nicht zur Bettlägrigkeit führten und damit offensichtlich wurden, wurden oft nicht erkannt, und die Folgen, z.B. bei der weit verbreiteten Rachitis, nicht behandelt. Tuberkulose wurde vielfach erst in einem späten Stadium wahrgenommen. Vor der Hitlerjugend hatte sich niemand öffentlich um diese Probleme so nachhaltig und systematisch gekümmert. Deshalb mußte die Gesundheitsfürsorge der HJ und des BDM bei vielen Menschen als ein Fortschritt verstanden werden, der er ja insoweit auch war. Allerdings galt das wohl weniger für diejenigen Familien, die als "asozial" angesehen wurden; denn die hatten meistens gelernt, daß eine derartige Fürsorge auch eine Form sozialer Kontrolle war, der man sich am besten entzog.

Wir können heute überhaupt die Popularität vieler Maßnahmen nicht nur der HJ, sondern auch anderer NS-Organisationen nicht verstehen, wenn wir uns nicht klarmachen, auf welche sozial-ökonomische Situation sie damals trafen. So mag

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uns trivial erscheinen, wenn die NS-Frauenschaft Koch-, Näh- und Hauswirtschaftskurse anbot, oder wenn ähnliche Themen beim BDM eine Rolle spielten. Aber vor allem wiederum in den unteren sozialen Schichten waren damals elementare Kenntnisse darüber, wie man Geld einteilen muß, wie man sich richtig ernährt, wie man Kleidung pflegt und repariert usw. keineswegs selbstverständlich. Und wenn beim BDM oder im Rahmen von "Glaube und Schönheit" versucht wurde, durch Handarbeiten, Basteln und Raumgestaltung kostengünstig eine bescheidene Alltagsästhetik zu finden, so mag uns das heute folkloristisch erscheinen, aber damals empfanden viele Menschen das als durchaus nützlich und pädagogisch sinnvoll.

Das gilt auch für die zweite Aktion, die Axmann ins Werk setzte: den "Reichsberufswettkampf". Die Sache selbst hatte er nicht erfunden, sondern schon in der Weimarer Zeit der "Deutsche Handlungsgehilfenverband (DHV)", aber Axmann machte daraus eine Massenveranstaltung. Das ganze beruhte auf einem Ausscheidungssystem: die Besten kamen jeweils in die nächste Runde. Die Anforderungen bestanden aus beruflicher Praxis, Berufstheorie, Deutsch, Rechnen, Allgemeiner Staatskunde und Sport (bei Mädchen kam noch Hauswirtschaft hinzu). Der Wettbewerb wurde in Zusammenarbeit mit der DAF - die hatte das Geld dafür aus ihren Mitgliedsbeiträgen - erstmals 1934 mit ca. 500.000 Teilnehmein veranstaltet. Die Teilnehmerzahl nahm von Jahr zu Jahr zu und erreichte 1937 1,8 Millionen. Höhepunkt war die Endausscheidung auf Reichsebene, die Sieger wurden am 1. Mai Hitler in der Reichskanzlei vorgestellt.

Auch hier läßt sich eine ideologische und eine praktische Komponente unterscheiden. Ideologisch ging es sicher um die Inszenierung von "Volksgemeinschaft", vor allem um die Mobilisierung der Arbeiterschaft (ab 1938 konnten auch Erwachsene an dem Wettbewerb teilnehmen), deren Loyalität sich das Regime nicht sicher sein konnte. Außerdem ging es um die Mobilisierung von "Leistung" und "Einsatz".

Aber vieles spricht dafür, daß der junge Axmann solche Absichten allenfalls am Rande im Sinn hatte. Vermutlich war ihm die praktische Seite der Sache zumindest zunächst wichtiger; denn er wußte aus eigener Erfahrung, welch geringes

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Ansehen der Arbeiter und zumal der jugendliche damals hatte, wie egoistisch die Betriebe mit ihm umgingen und vor allem, wie viele berufliche Talente verkümmern mußten, weil niemand sie zur Kenntnis nahm oder förderte. Noch nie zuvor war der arbeitenden Jugend so viel öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteil geworden wie durch diese jährliche Aktion. Und die praktischen Folgen blieben nicht aus. Viele Betriebe fühlten sich unter Druck gesetzt, ihre Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen zu überprüfen. Begabungen wurden erkennbar, die dem Betrieb bisher entgangen waren, in nicht wenigen Fällen zeigte sich, daß junge Leute beruflich unterfordert waren, weil sie diejenige Arbeit annehmen mußten, die ihnen den Lebensunterhalt sicherte.

Die DAF, die Nachfolgeorganisation der ehemaligen Gewerkschaften, konnte keine Tarifverhandlungen führen, also keine Lohnforderungen stellen. Deshalb verlegte sie ihre Aktivität darauf, das öffentliche Ansehen der "Arbeiter der Faust" zu heben. Sie versuchte dies durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen ("Schönheit der Arbeit") und der Freizeitbedingungen ("Kraft durch Freude"). In diese Ambitionen paßte der Reichsberufswettkampf gut hinein. Sieht man sich nämlich an, was die DAF unter dem Slogan "Schönheit der Arbeit" unternahm, dann gewinnt man einen guten Eindruck davon, wie damals viele Betriebe ihre Arbeiter behandelten und wie uninteressiert sie vielfach an deren Arbeitsbedingungen waren. Daß eine Verbesserung keineswegs nur eine Frage der Kosten war, zeigte die DAF mit ihren Vorschlägen: Wie man die sanitären Einrichtungen verbessern, wie man die Beleuchtung am Arbeitsplatz effektiver machen, wie man für mehr frische Luft sorgen, mit ein wenig Farbe, ein paar Blumen die Pausenräume freundlicher gestalten kann usw. Solche uns heute entweder banal oder selbstverständlich erscheinenden Maßnahmen waren damals für das Bewußtsein vieler Unternehmer neu. Nicht zuletzt am Widerstand der Unternehmer war vor 1933 auch der Versuch gescheitert, den arbeitenden Jugendlichen bzw. den Lehrlingen einen angemessenen bezahlten Urlaub zu gewähren. Der schon erwähnte "Reichsausschuß der deutschen Jugendverbände" hatte dafür im Jahre 1925 ein Programm vorgelegt, das von allen wichtigen Wohlfahrtsorganisationen unterstützt wurde. Über kaum ein anderes gesellschaftliches Pro-

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blem hatte es einen derartig großen Konsens gegeben. Aber eine entsprechende gesetzliche Regelung kam in der Weimarer Zeit nicht zustande, die Gewährung von Urlaub blieb in das Belieben des jeweiligen Arbeitgebers gestellt. Eine gesetzliche Regelung war deshalb nötig, weil eine tarifvertragliche Lösung für die Lehrlinge nicht möglich war, da rechtlich der Lehrlingsstatus nicht als Arbeitsverhältnis, sondern als Ausbildungsverhältnis galt.

Der "Reichsausschuß" hatte u.a. gefordert, jugendlichen Arbeitern und Lehrlingen unter 16 Jahren drei Wochen und den 16-18jährigen zwei Wochen bezahlte Ferien zu gewähren. Nach der Machtergreifung setzte die HJ die Betriebe unter Druck, von sich aus für vernünftige Urlaubsregelungen zu sorgen. Die Resultate waren durchaus beachtlich, denn schon 1934 konnten ca. 100.000 und 1936 ca. 560.000 Jungen an dreiwöchigen Zeltlagern teilnehmen. Da nach Angaben der Reichsjugendführung 62,5 Prozent der Teilnehmer berufstätig bzw. Lehrlinge waren, mußten sie dafür auch Urlaub bekommen haben. Das Jugendschutzgesetz von 1938, an dessen Zustandekommen die HJ maßgeblich mitgewirkt hatte, regelte nicht nur den Urlaub für Jugendliche, sondern erfüllte praktisch auch alle anderen Forderungen, die der "Reichsausschuß" seinerzeit gestellt hatte.

Diese freizeitpolitische Aktivität der HJ läßt sich ebenfalls ideologisch und praktisch deuten. Wollte die HJ eine Erziehungsinstitution für die gesamte Jugend sein, so mußte diese Jugend auch Zeit haben, an Veranstaltungen teilzunehmen - vor allem eben auch an den Sommerlagern, die für die Jungen in Zeltlagern, für die Mädchen in Jugendherbergen stattfanden; denn die Lagererziehung war ein Kernstück der NS-Erziehung - nicht nur für die Jugend, sondern auch für die Erwachsenen. Nur im Lager nämlich, nicht am Wohnort, ließen sich die Lebensbedingungen so konsequent arrangieren und kontrollieren, wie es dem Ideal der HJ-Erziehung entsprach.

Praktisch gesehen war eine Urlaubsregelung für jugendliche Arbeiter und Lehrlinge längst überfällig. Das hatte schon der hohe Konsens in dieser Frage in der Weimarer Zeit bewiesen. Dagegen waren eigentlich nur die Arbeitgeber, die nach 1933 ihren Widerstand auf so bemerkenswerte Weise aufgaben. Hier konnte sich die HJ mit Recht rühmen, eine wich-

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tige soziale Frage gelöst zu haben, wozu "die Systemzeit" trotz des großen Konsenses nicht im Stande war. Für viele Jugendliche standen sicher nicht die Ideologie und das Erziehungskonzept im Vordergrund, das die HJ zu der Freizeitaktivität motivierte, sondern das Erlebnis, oft zum ersten Mal die häusliche Umgebung verlassen und in einer anderen Umgebung Ferien machen zu können. Auch nach dem Kriege blieben viele Jugendliche aus finanziellen Gründen noch auf öffentlich subventionierte Zeltlager und andere Ferienmaßnahmen der Jugendverbände angewiesen, wenn sie überhaupt verreisen wollten.

Im September 1940 beauftragte Hitler Schirach mit der "Erweiterten Kinderlandverschickung". Durch diese Maßnahme sollten möglichst viele Kinder bis zum 14. Lebensjahr - später auch ältere - aus den bombengefährdeten Großstädten in nicht vom Luftkrieg bedrohte Gebiete verschickt werden. Eigentlich handelte es sich hier um eine Evakuierung, aber um der Sache ein positives Image zu geben, schlug Schirach vor, von "Erweiterter KLV" zu sprechen. Auch in den Friedensjahren gab es bereits eine "KLV", in deren Rahmen z.B. gesundheitsgefährdete Kinder zur Erholung aufs Land geschickt wurden. Daran ließ sich im Bewußtsein der Bevölkerung anknüpfen.

Für diese Kriegsmaßnahme gab es keinerlei Vorbereitungen, wie etwa für den Luftschutz oder für andere Notmaßnahmen. Schirach wurde deshalb von Hitler bevollmächtigt, die dafür nötigen Partei- und Staatsinstanzen zu koordinieren.

Für Kleinkinder mit ihren Müttern sowie für Kinder von 6 bis 10 Jahren war die NSV - der nationalsozialistische Wohlfahrtsverband - zuständig, die sie entweder in Heimen, Hotels oder in Familien unterbrachte. Wer Verwandte auf dem Lande hatte, konnte seine Kinder dort unterbringen.

Kernstück dieser Maßnahmen, die auf Freiwilligkeit beruhten, waren aber die KLV-Lager, in die ganze Schulklassen mit ihren Lehrern einzogen. Der Aufenthalt dauerte mindestens sechs Monate, und im Jahre 1943 waren in über 5.000 Lagern über 1 Million Kinder und Jugendliche von 10 - 16 Jahren untergebracht. Das größte wurde im Staatsbad Podiebrad in Böhmen mit fast 10.000 Jugendlichen eingerichtet, die sich dort auf Hotels und Pensionen verteilten. Die Beschaffung geeigneter Unterkünfte wurde dadurch erleichtert, daß wäh-

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rend des Krieges der Fremdenverkehr praktisch nicht mehr existierte.

Schwieriger war die personelle Besetzung zu lösen. Die wehrfähigen Männer zwischen 18 und 40 Jahren standen nicht zur Verfügung. Zurückgreifen konnten die Planer also nur auf Mädchen und Frauen sowie auf ältere Männer und nicht wehrfähige Jungen. "Lagerleiter" waren die aus der Heimat mitgekommenen Lehrer(innen) bzw. Schulleiter(innen). "Lagermannschaftsführer" waren ausgesuchte Jungvolkführer, die meist nicht älter als 16 Jahre waren. Die "Lagermädelschaftsführerinnen" konnten etwas älter sein, da sie ja nicht wehrpflichtig waren.

Die Lager waren also eine gemeinsame Veranstaltung von Lehrerschaft und HJ: Die Lehrer waren für den Unterricht zuständig und natürlich als Lagerleiter für rechtlich relevante Entscheidungen - schließlich galt auch hier das "Führerprinzip" -, während die HJ für die Freizeit und für die allgemeine Disziplin verantwortlich war. Die Zusammenarbeit zwischen beiden Instanzen scheint im großen und ganzen funktioniert zu haben, was sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, daß es sich hier um eine Notsituation handelte, die für Kompetenzrivalitäten wenig Raum ließ. Schließlich waren die Väter Soldaten und die Mütter zu Hause an der "Heimatfront". Außerdem konnte die HJ ihre Erziehungsprinzipien in den Lagern durchsetzen. In einer für alle Lager gültigen Lagerordnung war festgelegt, daß es verboten war, schwere Arbeiten verrichten zu lassen, körperlich zu züchtigen, Kinder und Jugendliche in den Augen anderer herabzuwürdigen oder ihr Ehrgefühl zu verletzen, sowie Strafexerzieren und Nahrungsentzug zu verhängen.

Sensibilität war ohnehin geboten angesichts der relativ langen Trennung der Kinder von ihren Eltern, zudem noch unter Kriegsbedingungen. Man mußte darauf achten, die Eltern möglichst nicht zu beunruhigen. So bestand Schirach gegen Bormann darauf, daß Gelegenheit zum regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes und zum seelsorgerischen Gespräch mit einem Geistlichen möglich war, und er wehrte auch Versuche von Wehrmacht und SS ab, die Lager zur vormilitärischen Ausbildung zu benutzen.

In der Literatur findet sich gelegentlich die Behauptung, Schirach und die HJ hätten die Lager zur besonders intensi-

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ven weltanschaulichen Agitation und Indoktrination benutzt. Nun war in der Tat das Lager normalerweise das beliebteste nationalsozialistische Erziehungs-Arrangernent. Aber die kriegsbedingten Randbedingungen der KLV setzten hier enge Grenzen; denn "die HJ" in Gestalt junger, aber erwachsener Führer war praktisch nicht vorhanden und allenfalls von den Lehrern hätten entsprechende Einwirkungen ausgehen können; allein die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß dies von Fall zu Fall auch geschehen ist, aber Schirachs verkündeten Absichten und Plänen entsprach dies nicht.

Das KLV-Projekt, an dem insgesamt etwa 4 Millionen Kinder und Jugendliche teilnahmen, dürfte vielen von ihnen das Leben gerettet haben und war eine bemerkenswerte soziale Leistung u.a. der HJ. Problematisch wurde die rechtzeitige Rückführung der Lager angesichts des Vormarsches der Roten Armee. Ohne Hitlers ausdrückliche Zustimmung durfte kein Lager zurückgeführt werden, aber Hitler war ab Ende 1944 nicht mehr erreichbar für die Verantwortlichen. Sie mußten auf eigene Faust handeln. Soweit bekannt ist es gelungen, die Kinder und Jugendlichen rechtzeitig ins "Alt-Reich" zurückzuführen. Lediglich in Ost-Brandenburg wurden zwei Lager von der Roten Armee überrollt.

Die größten Schwierigkeiten entstanden nach der Kapitulation, weil die Lager nun zum Beispiel im Hinblick auf die Verpflegung auf sich selbst angewiesen waren. Viele Kinder machten sich selbständig auf den Weg nach Hause, den geschlossenen Rücktransport mußten die Heimatgemeinden organisieren, was wegen des zusammengebrochenen Verkehrs wochenlang dauern konnte.

Die musisch-kulturelle Wende


Bis etwa 1936, als das HJ-Gesetz erlassen wurde, hatte sich die HJ organisatorisch einigermaßen konsolidiert. Nun aber tauchte das schon erwähnte Problem auf, was man mit einer Millionen-Organisation wie dieser nun eigentlich machen sollte, oder genauer: was diese Millionen von Mitgliedern nun in dieser Organisation tun sollten. Die "Kampfzeit" war längst vorbei. Zwar hielt sich die HJ für eine völkisch-nationale, in diesem Sinne also für eine politische Organisation,

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 aber aus der Sicht der Jugendlichen war sie eine Freizeitorganisation, und die wird auf die Dauer eben an der Attraktivität ihrer Angebote bewertet. Bisher beruhte der "Dienst" auf dem, was alle können, nämlich marschieren, singen, spielen und Sport treiben, aber das begann gerade deshalb uninteressant zu werden, weil alle es konnten, also für individuelle Interessen kein Raum war - jedenfalls nicht im Rahmen der Organisation. Damit war ein Dilemma entstanden. Blieb die HJ das, was sie war, dann drohte die Gefahr, daß viele Jugendliche zwar mehr oder weniger ihren "Dienst" versahen, mit ihren individuellen Interessen aber aus der HJ auszogen, um sie anderswo zu befriedigen. Gab die HJ aber solchen sachbezogenen Interessen nach, drohte sie zu einer riesigen Freizeitorganisation mit jeweils individuell wählbaren Angeboten zu werden und den Anspruch zu verlieren, eine einheitliche nationale Organisation für alle Jugendlichen zu sein. Schirach versuchte einen Kompromiß: Der für alle gültige gemeinsame "Dienst" blieb bestehen; er sollte weiterhin dazu dienen, die Jugendlichen "gemeinschaftsfähig" zu machen. Aber darüber hinaus sollten sie auch die Möglichkeit erhalten, sich zur "gemeinschaftsbezogenen Persönlichkeit" zu entwickeln.

Diese Wende zur sachorientierten Individualisierung, also zu dem, was eben nicht alle können oder wollen, ist bis zum Kriegsausbruch nur in Ansätzen zum Zuge gekommen. Speziell für die Jungen wurden über den normalen Dienst hinaus Sondereinheiten wie die Motor-, Marine-, Flieger-, Nachrichten- und Reiter-HJ geschaffen - gleichsam als zusätzliches Freizeitangebot.

Für die älteren Mädchen sollten die Arbeitsgemeinschaften von "Glaube und Schönheit" im freiwilligen Rahmen die individuelle Bildung fördern. Dabei war die Thematik prinzipiell nicht begrenzt - z.B. auf sogenannte "frauenspezifische" Themen. Es konnte sich auch um wissenschaftliche oder spezielle kulturelle Interessen handeln. Zunächst war man davon ausgegangen, daß die Mädchen mit 18 Jahren in die NS-Frauenschaft eintreten sollten. Es zeigte sich jedoch, daß viele Mädchen dieses Alters sich dazu noch nicht zugehörig fühlten, sich noch nicht als "Frau" im Sinne jener zum Teil wesentlich älteren Frauen und Mütter verstanden, die in der NS-Frauenschaft anzutreffen waren. Deshalb sollte ihnen Gelegenheit gegeben werden, noch einige Zeit unter Gleich-

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altrigen individuellen Neigungen und Interessen nachgehen zu können - durchaus verstanden im Sinne einer Bildung der Persönlichkeit.

H. Lauterbacher berichtet in seinen Memoiren, Vorbild für "Glaube und Schönheit" sei eine englische weibliche Jugendorganisation namens "Health and Beauty" gewesen, die er bei einem Englandbesuch kennengelernt und über die er Schirach berichtet habe.

Aber die "musisch-kulturelle Wende" - Schirach selbst spricht von einer "Wende nach innen" - war grundsätzlicher gemeint, nämlich vom "soldatischen" Typus hin zum "musischen und soldatischen Typus". Der Ausdruck "Wende" könnte allerdings mißverstanden werden. Musisch-kulturelle Elemente hatte die HJ von Anfang an schon im Rahmen ihrer Fest- und Feiergestaltung aufzuweisen. Zudem war das Singen ein wichtiger Bestandteil jedes Heimabends. Aber bis 1936 hatten diese Elemente eine eher untergeordnete, instrumentelle Bedeutung, jedenfalls waren sie nicht konstitutiv für das erzieherische Selbstverständnis zumindest der männlichen HJ.

Anders allerdings bei den Mädchen: Man muß bedenken, daß die deutsche Jugendbewegung von Anfang an ein männliches Phänomen war, zugeschnitten auf die männliche Pubertät. Die Leitbilder des "Fahrenden Scholaren" - wie beim Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg - oder des "Weißen Ritters" - wie bei einem Teil der "bündischen Jugend" nach dem Ersten Weltkrieg - waren für Mädchen wenig attraktiv. Das gilt auch für das "soldatische" Leitbild der männlichen HJ, in dem Mädchen ebenfalls keinen rechten Platz fanden - ganz abgesehen davon, daß im Gleichschritt marschierende Mädchen, die dann im Geländespiel miteinander raufen, weder dem Frauenbild der Nazis noch dem Geschmack der damaligen Mehrheit der Bevölkerung entsprachen. Auch das Ideal der "Mutter", die den heimischen Herd umsorgt, möglichst viele Kinder zur Welt bringt und aufzieht - das schon damals eher ein männliches als ein weibliches NS-Leitbild war -, läßt sich schwerlich in den Alltag von 10-14jährigen Mädchen umsetzen. In der Tat spielte dieses Ideal in der Arbeit der Jungmädel und des BDM eine untergeordnete Rolle und trat erst in der Altersphase von "Glaube und Schönheit" deutlicher hervor. Wollte man damals vielmehr

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den Mädchen wie den Jungen ein eigentümliches Jugendleben arrangieren und dies wieder unter dem Aspekt des chancengleichen Zugangs für jedes Mädchen, dann blieb neben dem Sport und der damit verbundenen Gesundheitserziehung nur der musisch-kulturelle Bereich übrig, der hier tatsächlich von Anfang an eine größere Bedeutung hatte als bei den Jungen. Während die Jungen noch die Marschlieder aus der Kampfzone ertönen ließen, sangen die Mädchen eher Volkslieder, die der Jahreszeit und den Festtagen entsprachen. Gemeinsame Spiele, Handarbeiten, Basteln - z.B. Weihnachtsgeschenke für Kinder armer Familien - kamen hinzu.

Diesen eher musischen als soldatischen Stil wollte Schirach ab etwa 1937 auf die ganze HJ übertragen, und zwar im Sinne einer Spitzen- und Breitenarbeit. Äußere Höhepunkte dieser neuen Entwicklung waren die seit 1937 jeweils im Juni stattfindenden "Kulturtage" in Weimar. Eingeladen wurden dazu das Führerkorps von HJ und BDM, die besten Schülerinnen und Schüler und die Sieger des Reichsberufswettkampfes. Auf dem Programm standen Theateraufführungen mit Werken der deutschen Klassik, Meisterkonzerte, Lesungen und Leistungsschauen junger Künstler.

Schirach nutzte diese Gelegenheit zu programmatischen Reden. Dabei stützte er das neue musische Konzept vor allem auf Goethes Anschauungen über Bildung und Erziehung mit dem Ziel, die HJ in der nationalen Tradition der deutschen Klassik kulturell zu verankern. Seine Berufung auf Goethe war nicht das Ergebnis wissenschaftlich-philologischer Analysen, sondern - wie bei Schirach üblich - eher intuitiv und emotional, und sie war insofern nicht ganz unproblematisch, als Hitler ein gespaltenes Verhältnis zu Goethe hatte; er verübelte ihm seine weltbürgerliche Haltung und sein Freimaurertum. Trotzdem ließ er Schirach gewähren.

Ab 1937 wurde auch die musisch-kulturelle Breitenarbeit forciert. Die Jungen und Mädchen wurden aufgefordert, ein Instrument spielen zu lernen. Zu diesem Zweck wurden ab 1937 in Zusammenarbeit mit KdF - der Freizeitorganisation der DAF - "Musikschulen für Jugend und Volk" eingerichtet, in denen im Unterschied zum teuren Privatunterricht der Instrumentalunterricht relativ preiswert erteilt werden konnte. Bis 1939 gab es bereits 66 Schulen mit 700 Lehr-

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kräften, Mitte der 40er Jahre waren es 120 Schulen, aber nun gab es kriegsbedingt auch einen Mangel an Lehrkräften. Zudem wurde ab Oktober 1943 die Herstellung von Musikinstrumenten aus kriegsbedingten Gründen verboten.

Auch diese Musikschulen, die es bis heute gibt, waren keine Erfindung der HJ. Sie waren schon vor 1933 im Rahmen der "Jugendmusikbewegung" gegen den starken Widerstand der Berufsmusiker entstanden, die dadurch für sich wirtschaftliche Nachteile befürchteten. Diese "Jugendmusikbewegung" stand in Frontstellung zum offiziellen bürgerlichen Konzertbetrieb, der auf der Trennung von Musikern und Publikum beruhte. Demgegenüber wollte die neue Bewegung die Gemeinschaftsbezogenheit des Singens und Musizierens wieder zur Geltung bringen. Ziel war nicht professionelle Perfektion, sondern das gemeinsam geschaffene musikalische Erlebnis. Durch das sogenannte "offene Singen" sollte die Distanz von Musikern und Publikum überwunden werden. Bekannte und neugeschaffene, einfach zu singende Lieder konnten von allen Anwesenden mitgesungen werden, die Chor- und Instrumentalsätze wurden entsprechend komponiert - ähnlich wie die Orgel den Gesang der Gemeinde in der Kirche begleitet. Eine ganze Reihe von jungen Komponisten und "Liedermachern" - von denen Hans Baumann am bekanntesten wurde - stellten sich für Schirachs Konzept zur Verfügung, der sich im übrigen nicht scheute, sich auch mit fremden Federn zu schmücken; so wurde etwa der berühmte Leipziger Thomanerchor zu einer "Einheit" der HJ.

Das Ideal des "musischen Menschen" war der gemeinschaftsbezogene Mensch, der Körper, Geist und Seele harmonisch ausbalancieren kann. Diese aufs Laientum setzende "Jugendkultur" der HJ wurde von Fachleuten schon damals kritisiert, etwa mit der Begründung, daß der rein erlebnishafte Zugang zum Dilettantismus führe und das sachbezogene Verständnis von Kunst und Musik verhindere.

Es wäre jedoch einseitig zu sagen, die HJ sei in einer jugendspezifischen, von der offiziellen Kunst strikt getrennten Kultur steckengeblieben. Bei den "Spielscharen", die sie gründete - Theater- oder Chor/Instrumentalgruppen -, waren die Übergänge fließend - je nach künstlerischem Ehrgeiz. "Werktreue" war jedenfalls nicht verpönt. Im Jahre 1942 gab

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es 550 solcher Einheiten, in denen ca. 130.000 Jungen und Mädchen tätig waren.

Eine Brücke zur offiziellen Kunst-Kultur bildete ein "Veranstaltungsring" der HJ, der den Mitgliedern preiswerte Besuche von Konzerten und Theateraufführungen ermöglichte.

Mit der Rückbesinnung auf die eigene klassische nationale Tradition ging einher die Öffnung nach außen, zu anderen Völkern, so auch zu den früheren Kriegsgegnern Frankreich und England. Das Heft Nr. 6/1938 von "Wille und Macht" war dem Thema England gewidmet und enthielt Grußworte von Premierminister Chamberlain und von Lord Halifax.

Das Jahr 1938 steckte bekanntlich voller außenpolitischer Krisen, die dann ein Jahr später auch zum Krieg führten. So mag aus der Rückschau die Zuwendung der HJ zu den ehemaligen - und auch wieder künftigen! - Kriegsgegnern als taktisches Spiel erscheinen, ja, als Heuchelei. Nichts spricht jedoch dafür, daß die HJ diese Kontakte nicht ehrlich gemeint hat. Schirach glaubte tatsächlich an eine friedliche Zusammenarbeit mit der Jugend anderer Völker. Die nationalsozialistische Weltanschauung verstand er nicht imperial, vielmehr bezeichnete er sie öffentlich als eine rein deutsche Sache, die auf andere Völker nicht übertragbar sei.

Daß Hitler - wie wir heute wissen - 1938 bereits zum Krieg entschlossen war, steht auf einem anderen Blatt und läßt die Vermutung zu, daß er Schirachs Verständigungsversuche in sein taktisches Kalkül einbezogen hat.

"Einheit der Erziehung"


Schirachs pädagogischer Ehrgeiz blieb nicht auf die HJ beschränkt, er wollte auch die Schule verändern. Bis in die Kriegszeit hinein unternahm er Versuche, ein Jugendministerium unter seiner Leitung zu etablieren, dem auch das Schulwesen unterstehen sollte. In den Jahren von 1933 - 1939 war das Verhältnis von HJ und Schule mehr oder weniger gespannt. In den Schulen selbst entstanden Konflikte einfach schon dadurch, daß den Lehrern vielfach HJ-Mitglieder und -Führer gegenübersaßen, die sich nicht mehr als "Pennäler" behandeln ließen. Jugendliche Überheblichkeit
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und gesundes Selbstbewußtsein lagen dicht beieinander, und viele Lehrer fürchteten, wegen ideologisch mißliebiger Äußerungen denunziert oder zumindest vor der Klasse in unangenehme Diskussionen verwickelt zu werden; beides kam vor.

Auf der oberen Ebene - Reichsjugendführung und Erziehungsministerium - waren Konflikte schon deshalb unvermeidlich, weil in Gestalt der HJ zum ersten Mal ein außerschulischer Jugendverband den Anspruch erhoben hatte, neben der Schule als eigenständiger Erziehungsfaktor anerkannt zu werden - was ja auch im HJ-Gesetz zum Ausdruck gekommen war. Vor 1933 war ein solcher Anspruch mit Blick auf die Schulen nie gestellt worden; Wandervogel und bündische Jugend hielten ihre Veranstaltungen in der Freizeit der Jugendlichen ab, und es konnte den Schulen ziemlich gleichgültig bleiben, was sie dabei an pädagogischen Vorstellungen und Praktiken entwickelten, solange die inneren Normen, Regelungen und pädagogischen Grundsätze der Schule davon nicht berührt wurden.

Diese klare Trennung - Schule ist Schule und Jugendarbeit ist Freizeit - ließ sich nun nicht mehr einfach aufrechterhalten, weil die HJ ja einen völkisch-nationalen Erziehungsanspruch in einem gesamtpolitischen Sinne erhob, sie wollte mehr als nur ein außerschulischer Freizeitverein sein. Deshalb mußte die Frage auftauchen, ob und in welcher Weise auch die Schule Grundsätze der nationalsozialistischen Erziehungskonzeption übernehmen müsse, wie sie die HJ entwickelt hatte. Es ging "um die Einheit der Erziehung", wie der Titel einer Rede hieß, die Schirach am 24. Mai 1938 vor der Führerschaft der HJ in Weimar gehalten hat. Diese Rede löste eine breite öffentliche Diskussion gerade auch in der Lehrerschaft aus. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie im Unterschied zu anderen Reden Schirachs verhältnismäßig systematisch aufgebaut, weniger sprunghaft und auch relativ unpathetisch ist. Zudem galt sie in den Reihen der HJ als eine vielzitierte programmatische Äußerung, so daß sie hier etwas ausführlicher dokumentiert werden soll.

Damals - 1938 - gab es mehr oder weniger deutliche Kritik an der HJ. Zunehmendes Desinteresse am "Dienst" und steigende Disziplinschwierigkeiten wurden schon erwähnt. Gravierender aber war, daß ein erheblicher Lehrermangel einge-

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treten war, was um so schwerer wog, als die seit 1936 erfolgende Aufrüstung qualifizierte Facharbeiter erforderte, an denen es nun mangelte. Der HJ wurde vorgeworfen, durch ihre schulfeindliche Haltung zu diesem Übel beigetragen zu haben. Der pädagogische Wind begann sich zu drehen, und die Erziehungsansprüche der HJ drohten zu einem Hemmnis zu werden. Wie wir gesehen haben, begann auch Kriecks Stern ab 1936 nicht zuletzt deshalb zu verblassen, weil seine pädagogische Konzeption für die Effektivierung des Schulunterrichts und der beruflichen Qualifizierung nichts hergab. Schirachs "musische Wende" kollidierte allmählich mit der von Wirtschaft und Partei geforderten technokratischen Wende.

Auf diesem Hintergrund bestimmte Schirach in seiner Rede das Verhältnis der HJ zur Schule so:

"Die Hitlerjugend will nicht der alleinige Erziehungsfaktor für die Jugend unseres Volkes sein. Ihre sachlichen Auseinandersetzungen mit der Schule sind nicht durch Machtstreben bedingt. Es ist notwendig, zu erkennen, daß die Führerschaft unserer Jugend nicht aus Verwaltern von Organisationsdienststellen besteht, sondern aus Trägern und Bekennern einer erzieherischen Anschauung, die ohne weiteres auch im schulischen Leben verwirklicht werden kann. Die Selbstverantwortung der Jugend ist auch in der Schule denkbar" (Schirach 1938, 112).

Das Prinzip, Jugend solle von Jugend geführt werden, sollte also auch in die Schule einziehen - nicht, um die Qualität des Unterrichts zu beeinträchtigen, wie Schirach ausdrücklich beteuerte, sondern um den Geist der Schule, das "Schulleben", zu verändern. Seine Kritik der bestehenden Schule faßte er in folgenden Punkten zusammen:

Sie habe im allgemeinen die falschen Lehrer. "Was wir brauchen, ist eine Lehrerschaft, die eine charakterliche Auslese bedeutet. Leider entscheidet sich mancher Student für den Lehrberuf, weil er an die Versorgung denkt. Es liegt auf der Hand, daß solche Naturen keine positiven erzieherischen Fähigkeiten besitzen können, denn wer den Lehrberuf ausschließlich wegen der späteren Pensionierung erwählt, dürfte kaum geeignet sein, der heranwachsenden Generation eine idealistische Lebensauffassung zu vermitteln. Das Amt des Erziehers verlangt nach Selbstlosigkeit und völliger Hingabe

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an ein höchstes Ideal; der wahre Erzieher wird zuletzt nach Versorgung fragen. Jener, leider nicht seltene Typ des Lehrbeamten wirkt nach absolviertem Staatsexamen gleichsam als Automat für wissenschaftliche Bildung, indem er seine sämtlichen Dienstjahre hindurch seinen Lehrstoff, das geheiligte 'Pensum', in täglichen Dosen jahraus, jahrein verabfolgt. Wenn aus der Klasse heraus, die das Objekt dieser sogenannten Erziehung darstellt, ein leiser Widerspruch laut wird, wird sie mit dem in napoleonischer Haltung verkündeten Satz 'Wissen ist Macht', zur Raison gebracht. Mit diesem Schlagwort sind ganze Jahrgänge von Natur aus selbständiger junger Deutscher in der Schule niedergeschmettert worden" (114).

"Gerade die selbständigen Naturen" würden "in der Schule meist als störend empfunden". "Oft wurde als Böswilligkeit und Trotz hart unterdrückt, was in Wirklichkeit nichts anderes als die erste Offenbarung einer wirklichen Führernatur war. Und leider wurde oft in frühester Jugend diese Selbständigkeit einer erwachenden Persönlichkeit brutal gebrochen, damit das Schema siege und mit dem Schema die brave Mittelmäßigkeit" (115). Aber die Musterschüler dieser Art von Schule seien keineswegs auch immer die gewesen, die dann den Aufgaben des Lebens standgehalten hätten. Viel Wissen sei noch lange nicht Bildung.

"Wer die Jugend erziehen will, muß sie ehrfürchtig machen und begeistern können. Denn ohne Ehrfurcht und Begeisterung ist ebensowenig eine Erziehung wie ein höheres menschliches Dasein denkbar. Wie weit aber hat sich das humanistische Gymnasium von diesem Ideal entfernt! Livius Geschichte Roms wird auf den lateinischen Satzbau hin wissenschaftlich untersucht, und die ewige Dichtung Homers wird auf Befehl amusischer Studienräte zergliedert und auswendig gelernt, statt erlebt. Gelingt es doch, selbst die Deutschstunde zu einer im Sinne Lessings tragischen Begebenheit, das heißt zu einem Mitleid und Furcht erweckenden Schauspiel zu veröden. Wir wollen keine Einzelfälle verallgemeinern, aber ist es nicht so, daß der Mehrzahl unserer höheren Schüler die große klassische Dichtung ihrer Nation systematisch verekelt wurde? Muß ein Nationalheiligtum wie der 'Faust' unbedingt so zerpflückt und 'erklärt' werden, daß er 18jährige deutsche Jungen mit einer Angstpsychose vor ihrer Deutschstunde erfüllt? Ganz zu schweigen von den belieb-

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ten Aufsatzthemen ,In wieweit lassen sich Schillers Wilhelm Tell und Goethes Egmont vergleichen, und worin unterscheiden oder ähneln sich die Freiheitsideen beider?'" (115 f.).

Da könne es nicht verwundern, wenn Schüler und Lehrer sich feindlich gegenüberstünden und wenn selbst gutwillige Lehrer davon ausgingen, daß das Prinzip der Selbstführung nach aller pädagogischer Erfahrung versagen müsse.

Aber "dieselbe Klasse, die am Vormittag einen verdienten Studienrat bei der Klassenarbeit beschwindelte, in die Schulbänke vielerlei Unsinn schnitzte und sich ganz allgemein rüpelhaft betrug, ist am Abend desselben Tages in einem Heim der Hitlerjugend versammelt, um einen Schulungsvortrag anzuhören, und gibt dabei ein Musterbeispiel jugendlicher Zucht und Disziplin. Das Heim selbst, das von einem Gleichaltrigen verwaltet wird, befindet sich in musterhafter Ordnung, und es ist ganz undenkbar, daß ein Angehöriger der Gemeinschaft einen Einrichtungsgegenstand mutwillig beschädigen würde. Dieselbe Klasse, die einem gereiften Mann inneren und äußeren Widerstand entgegensetzt, wenn er sie zur Ordnung ruft und im Verfolg des ihm vom Staat erteilten Auftrags disziplinieren möchte, folgt am Abend mit innerer Bereitschaft und Freude dem Befehl eines jungen Kameraden, der wesentlich höhere Ansprüche an ihre Disziplin stellt als auch der strengste Lehrer" (117 f.).

In der Schule jedoch kenne die Klasse nur eine "Ehre: unbedingter Zusammenhalt gegen den Lehrer als Feind und kompromißloser Kampf gegen jeden Verräter der Klassengemeinschaft. Es ist dies nichts anderes als eine natürliche Reaktion auf die dauernde Beaufsichtigung und Gängelung, zu der der Lehrer verpflichtet ist. Die Stellung eines Ordnungsbeamten, eines Polizisten in der Klasse, ist der Klasse genauso unwürdig wie des Lehrers selbst".

Ganz anders wiederum bei der Hitlerjugend: "In den Führerschulen der Hitlerjugend ist der Vortragende ein Freund und Kamerad seiner Zuhörer. Der Gedanke, daß diese Zuhörer während seines Vortrags Schabernack üben oder es an der nötigen Ehrerbietung fehlen lassen, erscheint jedem, der unsere Führerschulen kennt, lächerlich. Das Bild einer solchen Unordnung würde gegen den Geist der Gemeinschaft verstoßen, und die Gemeinschaft selbst würde einen Störenfried

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zurechtweisen und mit der Verachtung strafen. Es ist wunderbar und beglückend, daß die Jugend nichts so sehr anspornt als das Vertrauen, das man in sie setzt. Sobald sie empfindet, daß man ihr mehr Vertrauen schenkt, als sie zu empfangen gewohnt ist, wächst in ihr der Trieb, sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen. Nun wird mancher Lehrer aus seiner Erfahrung heraus hiergegen einwenden, daß sich doch in jeder Klasse auch Elemente minderen Wertes befinden, eben jene Elemente, die ihm fortgesetzt Schwierigkeiten bereiten. Ich erwidere hierauf. Diese Elemente kann niemals der Lehrer überwinden, sondern nur die Klasse selbst. Welcher vernünftige Mensch könnte annehmen, daß ein oder zwei Böswillige auf die Dauer stärker sein könnten als dreißig Anständige?" (119 f.).

Und schließlich die Quintessenz aus allem: "Wenn man ein Schulsystem aufbauen würde, innerhalb dessen die Jugend selbst für die Schülerschaft verantwortlich ist, würde es zwischen Lehrerschaft und Schülerschaft im allgemeinen keine Feindschaft mehr geben. Und der Lehrer erhielte damit jene Freiheit und Würde, die mit seinem Amt verbunden sein sollte, aber nicht verbunden ist" (120).

Die HJ sehe im Lehrer keinen Feind, denn schließlich arbeiteten in ihr über 10.000 Lehrer freiwillig mit.

"Ich bin nicht glücklich darüber, daß die Stellung des Lehrers schwindet und die des Jugendführers steigt. Es befriedigt mich weder das eine noch das andere. Ich will auch nicht die Jugend gegen die Schule mobilisieren, wie sich mancher Lehrer vorstellen mag. Auch dieses Führerkorps soll nicht mit Worten oder Handlungen gegen die bestehende Einrichtung der Schule Opposition treiben. Ich spreche hier nur, um Klarheit zu schaffen, nicht um zu opponieren" (123).

Klarmachen wollte Schirach vor allem dies: Der hauptberufliche Jugendführer, dessen Ausbildung an der "Akademie für Jugendführung" in Braunschweig bereits geplant war, sollte einem Mangel aus dem Wege gehen können, der dem Lehrerberuf so nachhaltig anhatte: der ausschließlichen Fixierung auf eine bestimmte pädagogische Tätigkeit bis zur Pensionierung:

"Wir glauben an die Sendung des nationalsozialistischen Jugendführers. Wir glauben, daß eine unaufhaltsame Entwick-

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lung dahin treibt, daß der Erzieher der Zukunft während der verschiedenen Stationen seines Lebens und Dienstes auch verschiedene erzieherische Funktionen ausüben wird. So sehen wir ihn zunächst als Jugendführer, der durch jährliche Übungen sich für seine spätere Funktion als Volksschullehrer vorbereitet. Wir sehen ihn dann in diesem Amte, wie er als Jugendlicher und durch Dienst und Rang mit der Jugend verbundener Nationalsozialist im gleichen Gerste unterrichtet, in dem er bisher geführt hat. Wir sehen ihn dann nach einigen Jahren auf der weiteren Wanderschaft wieder im aktiven Dienst der Jugendführung, aber diesmal mit höherer Verantwortung. Dann als Erzieher an einer Adolf-Hitler-Schule, später in einer deutschen Schule des Auslandes oder im Amt für weltanschauliche Schulung. Vielleicht begegnen wir diesem Mann später auf einem Lehrstuhl der Akademie für Jugendführung, ... ganz genau kann man den Weg dieses Mannes nicht bezeichnen, weil wegen der ungeheuren Weite dieser Ausbildung der Möglichkeiten so viele sind, daß sie sich gar nicht übersehen lassen. Eines weiß ich ganz genau: Dieser Mann wird nicht bis zu seinem vollendeten 65. Lebensjahr Tag für Tag auf dem Katheder sitzen! Er wird nicht tagtäglich um 12.45 Uhr das Buch zuklappen, aus dem er zum siebenhundertunddreiundvierzigsten Mal seine Lektion verkündet hat, um nach Hause zu gehen, gut und reichlich zu essen, ein Mittagsschläfchen zu halten, Kaffee zu trinken, seine Zeitung zu lesen, seine Zigarre zu rauchen usw., kurz um mit dem Zeichen einer Glocke das für 24 Stunden zu vergessen, was er niemals auch für eine Stunde seines Daseins vergessen darf: die erzieherische Sendung." (124 f.)

Solche Schulmeister-Kritik mußte natürlich die jungen Leute begeistern, und sie konnte als dunkle Folie dienen, auf der sich um so strahlender das eigene Konzept des neuen Allround-Erziehers projizieren ließ:

"Der Jugendführer und Erzieher der Zukunft wird ein Priester des nationalsozialistischen Glaubens und ein Offizier des nationalsozialistischen Dienstes sein. Er wird aber auch Träger sein jener weltweiten Bildung, die für alle Generationen und auch für alle Völker jener große Deutsche verkörpert, der in dieser Stadt seine irdischen Augen schloß, um seine ewigen für immer zu öffnen und auf uns zu richten. Im Bannstrahl dieser Sterne wird der Erzieher der Zukunft für die ihm anvertraute, nicht nach Wissen, aber Bildung hun-

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gernde Jugend jenes höchste Glück bringen, das nach Goethes ewigem Gesetz den Erdenkindern nur durch die Persönlichkeit offenbart werden kann. Ich sehe sie alle vor mir, diese körper- und geistgestählten Kameraden, die nicht Schulmeister sein werden, sondern Meister des Lebens. Ihrer Gemeinschaft angehören zu dürfen, wird so viel Ehre bedeuten, daß zehntausend junger Menschen mit heißem Herzen kämpfen werden, um dieser Ehre würdig zu werden. Diese Mannschaft von morgen wird nicht mit erhobenem Zeigefinger vor die Jugend treten und sie mit lateinischen Sprüchen ermahnen" (125).

Schirach schob den "schwarzen Peter" also an die Schule zurück: nicht die HJ sei für den Lehrermangel und für das Desinteresse am Lehrerberuf verantwortlich; vielmehr sei die Schule in ihrer gegenwärtigen pädagogischen Verfassung unattraktiv geworden, und nur durch einen Lehrertypus, der über die HJ heranwachse und dem später nicht die Fixierung auf eine bestimmte pädagogische Tätigkeit drohe, sei Abhilfe möglich.

Schirach konnte den Mund nicht zuletzt deshalb so voll nehmen, weil er seit eineinhalb Jahren selbst Schulträger geworden war. Nachdem er bis 1936 erfolglos über eine Reform der Schule mit Erziehungsminister Rust verhandelt hatte, gründete er gemeinsam mit Robert Ley am 17.1.1937 die "Adolf-Hitler-Schulen" (AHS); Hitler hatte dieses Vorhaben zwei Tage vorher genehmigt. Ley hatte deshalb ein Interesse daran, weil er mit den sogenannten "Ordensburgen" bereits Erwachsenenbildungsstätten für den Führernachwuchs eingerichtet hatte, denen aber der Unterbau fehlte.

Die AHS unterstanden nicht Erziehungsminister Rust - der von diesem Projekt überfahren wurde -, sondern der HJ als deren "Einheiten". Sie umfaßten sechs Schuljahre, nahmen solche Jungen ab vollendetem 12. Lebensjahr auf, die sich im Jungvolk bewährt hatten, und schlossen mit einer dem normalen Abitur vergleichbaren Reifeprüfung ab, die allerdings erst 1942 von Rust als gleichwertig anerkannt wurde, nachdem im Lehrplan der AHS einige Veränderungen vorgenommen worden waren. Dieser Schultyp galt - im Unterschied zu den erwähnten NPEA - als leistungsschwach, und Rust wollte - wie im vorausgehenden Kapitel erwähnt - den Leistungsstandard der Oberschule unbedingt hochhalten. Den Absolventen

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der AHS sollten alle Laufbahnen in Partei und Staat offenstehen. Auch für Mädchen waren solche Schulen geplant, aber ihre Realisierung wurde durch den Krieg verhindert.

Anders als in den staatlichen Schulen ließ sich hier Schirachs "Einheit der Erziehung" zumindest zum Teil verwirklichen. Der Lehrplan unterschied sich zwar nicht wesentlich von dem der staatlichen Gymnasien. Aber die Beziehung zwischen Lehrern (hier "Erzieher" genannt) und Schülern war von besonderer Art, es sollte ein Führer-Gefolgschaftsverhältnis sein, der Pädagoge sollte sich als Lehrer und Jugendführer in einer Person verstehen - ein "Vorbild" sein, dem von der Seite des Jungen "Vertrauen" entgegengebracht werden konnte. Äußerer Ausdruck dieser Art von pädagogischer Beziehung war die für die HJ im ganzen charakteristische Du-Anrede. Das Zusammenleben sollte erzieherisch gestaltet werden, und zwar durch die Jungen selbst im Sinne einer "Selbsterziehungsschule". Normativer Kern dieser Selbsterziehung sollte die "Ehre" sein. So wurden die Klassenarbeiten ohne Lehreraufsicht geschrieben, "mogeln" galt als unehrenhaft. Wichtige reformpädagogische Ideen aus der Zeit vor 1933 wurden wieder aufgegriffen. Der Frontalunterricht wurde durch das Arbeitsgespräch ersetzt, die starre, auf den Lehrer orientierte Sitzordnung zugunsten einer Hufeisenform der Tische abgeschafft. Gruppenarbeit wurde eingeführt. Der Unterricht sollte "erlebnisorientiert", das Lernen in Form eines geistigen Wettbewerbs gestaltet werden. Neben der intellektuellen Ausbildung und dem Sport nahm die musische Bildung einen verhältnismäßig breiten Raum ein, der HJ-Dienst und andere "Einsätze" fanden in den Einheiten außerhalb des Internates statt, um eine soziale und geistige Isolierung der Schüler zu vermeiden. Nicht der Typus des individuellen "Intellektuellen" sollte aus der Schule hervorgehen, sondern ein harmonisch gebildeter, dabei bescheidener und disziplinierter junger Mann, der selbständig, verantwortungsbereit und kritisch zu denken und zu handeln gelernt hatte. Die "Elite" für Partei und Staat, die aus diesen Schulen hervorging, sollte nicht dogmatisch borniert sein, sondern Führungsqualitäten erworben haben. Dazu gehörte auch die Auseinandersetzung mit gegnerischen politischen und weltanschaulichen Positionen; entsprechende Literatur, die sonst verboten war, stand den Schülern dafür zur Verfügung.

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Auch im Falle der AHS - die im übrigen einschließlich Unterkunft und Verpflegung kostenlos war - gelang es Schirach, Parteieinflüsse weitgehend auszuschalten. Mit Robert Ley, der die Schulen zunächst finanzierte und formell auch zusammen mit Schirach Schulträger war - ab 1942 übernahm das die Kasse der NSDAP - gab es zwar Anfangs Kontroversen über den Lehrplan und das pädagogische Konzept, aber die RJF konnte sich durchsetzen und Schirach ließ dem Erzieherkorps einen weiten Spielraum dafür, Erfahrungen zu machen; denn für viele Einzelheiten gab es keine rechten Vorerfahrungen, an die man hätte anknüpfen können. Zwar waren fast alle pädagogischen Einfälle, die hier zum Zuge kamen, bereits in der Reformpädagogik vor 1933 vorgedacht und teilweise praktiziert worden - nicht zuletzt in den an Hermann-Lietz orientierten Schulen, von denen Schirach eine als Schüler besucht hatte -, aber das Konzept im ganzen war neu und bedurfte der allmählichen Konsolidierung und Korrektur. Es war gewissermaßen ein schulpädagogisches Experiment.

In späteren literarischen Äußerungen damals Beteiligter (z.B. Klüver, Rüdiger 1983, 1984) wird unter anderem betont, daß die Erziehung zur Kritikfähigkeit durchaus ernst gemeint gewesen sei. Dabei wird auf folgendes Paradebeispiel hingewiesen:

Nach der Abiturprüfung der AH-Schüler 1941 in Sonthofen habe Ley zu einem Bierabend eingeladen. Dabei sei er mit kritischen Fragen zu seiner Person konfrontiert worden: Ob er wisse, daß er im Volk als Trinker gelte; ob es richtig sei, daß er seine treue Gattin verlassen und eine jüngere Frau geheiratet habe. Ley habe diese Fragen geduldig und offen beantwortet. Am nächsten Morgen habe - vorher nicht geplant - ein Appell aller AH-Schüler vor Ley stattgefunden. Bei dieser Gelegenheit habe er erklärt, die vorangegangene Unterhaltung mit den Abiturienten habe ihn erkennen lassen, daß er nicht mehr die charakterliche Integrität besitze, um Vorbild für die AH-Schüler zu sein; er trete deshalb von der Leitung der AH-Schulen zurück.

Dieser Vorfall scheint hinreichend verbürgt, unter anderem durch eine eidesstattliche Erklärung eines Lehrers, der dabei war (Rüdiger 1983, Anhang S. 59). Aber was sagt er über "Kritikfähigkeit" aus? Gewiß gehörte damals Mut dazu, mit einer

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 Parteigröße wie Ley derart zu reden; das wird schon daraus deutlich, daß Ley am Ende jenes Bierabends ausdrücklich erklärte, er verbitte sich jede Maßnahme gegen AH-Schüler und deren Lehrer in dieser Sache. Andererseits war Gegenstand der Kritik rein Privates, nichts Politisches, gemessen zudem an Maßstäben, die "systemimmanent" waren: Wenn charakterlich einwandfreie "Führer" die pädagogische Norm sein sollten, dann mußten eben auch solche Personen zumindest aus erzieherischen Zusammenhängen zurücktreten, die dieser Norm gerade auch in den Augen der Öffentlichkeit nicht entsprachen; denn Leys Sauf- und Frauengeschichten waren kein Geheimnis. Insofern zeigten die Abiturienten in dieser Szene nur, daß sie den Anspruch, ein Führer müsse in jeder Hinsicht Vorbild sein, ernstnahmen, eine darüber hinausgehende, zum Beispiel sachlich-politische Kritikfähigkeit läßt sich daraus aber nicht ableiten - was wiederum nicht heißen muß, daß es sie nicht etwa im Arbeitsunterricht der Schule gegeben habe.

Diese Szene läßt aber vielleicht noch etwas anderes erkennen. Es ist bekannt, daß im Führerkorps der HJ vor allem in den Kriegsjahren die Hoffnung zunahm, man könne nach dem Krieg gemeinsam mit Hitler unter den "Bonzen" aufräumen. Das in der HJ und vor allem auch in den AHS gezüchtete Elitebewußtsein hätte sich auf Dauer also auch innenpolitisch bemerkbar machen können, zumal auch darüber nachgedacht wurde, was eigentlich mit dem NS-Staat geschehen solle, wenn Hitler einmal abgetreten sei; denn wer immer sein Amtsnachfolger hätte werden sollen, die integrierende charismatische Ausstrahlung und Bedeutung Hitlers hätte er nicht erben können, so daß von daher schon strukturelle innenpolitische Veränderungen notwendig geworden wären. Aber dazu ist es bekanntlich nicht gekommen.

Für das ehrgeizige Projekt der AHS wurde ein Erziehertyp gebraucht, der nicht leicht zu finden war: eine Kombination von Jugendführer, wissenschaftlich qualifizierter Lehrkraft und überdurchschnittlich qualifiziertem Pädagogen. Aus dem normalen Philologiestudiengang an der Universität war dieser Typ nicht zu gewinnen. Deshalb wurde 1937 eine eigene "Erzieher-Akademie" gegründet.

Ausgesuchten HJ- und DJ-Führern wurde eine zweiphasige Ausbildung angeboten. Die ersten vier Semester wurden an

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dieser Akademie in Sonthofen. absolviert - mit Praxisorientierung vom ersten Semester an. Für die Lehre wurden junge Dozenten gewonnen, die sich bereits habilitiert hatten oder kurz davor standen, außerdem Gastprofessoren vor allem von der benachbarten Universität München. Diese erste Phase des Studiums konnte deshalb besonders intensiv und effektiv sein, weil sie unter Internatsbedingungen stattfand und wegen der vergleichsweise geringen Studentenzahlen - zu wenig z.B. für Vorlesungen, so daß die dominante Lehrform das Seminar war.

In der zweiten Phase konnten die Studierenden vier bis sechs Semester nach eigener Entscheidung an einer Universität studieren mit dem Abschlußziel der Lehrbefähigung und der Promotion.

Das Beispiel der "Erzieher-Akademie" verweist auf ein weiteres Charakteristikum der HJ-Aktivitäten: die Schulungs- und Fortbildungsarbeit. Es gab so gut wie keine Aktivität - vom normalen "Dienst" über die sachbezogenen Spezialprojekte wie die "Spielscharen" bis hin zur KLV -, die nicht mit einem derartigen Schulungsangebot bzw. mit einer entsprechenden Verpflichtung verbunden waren. Noch nie zuvor hatte es in Europa eine außerschulische pädagogische Mobilisierung solchen Ausmaßes gegeben. Man arbeitete dabei nicht intuitiv, sondern nach Lehr- bzw. Schulungsplänen, und da es für die meisten Projekte dieser Art keine Vorbilder gab, mußte experimentiert werden, d.h. Schulungskonzepte mußten immer wieder aufgrund neuer Erfahrungen revidiert werden. Da solche offenen Handlungssituationen gerade für junge Menschen eine gewisse Faszination ausstrahlen, weil sie Chancen eines persönlichen Erfolges enthalten, die einem fest reglementierten System wie der Schule weitgehend fehlen, kann es nicht verwundern, daß junge Erzieher, Künstler und Wissenschaftler sich für solche Konzepte nicht ungern ehrenamtlich oder nebenamtlich zur Verfügung stellten, zumal für Schirach "Parteizugehörigkeit" eine untergeordnete Rolle spielte.

Natürlich war dieser Aktivismus wie alle Aktivitäten während des Dritten Reiches doppeldeutig. Einerseits wirkte er ideologisch bindend und integrationsfördernd. Andererseits erhielten aber auch viele junge Menschen Chancen, sich auf irgendeinem Gebiet außerhalb von Schule oder Beruf weiter-

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zubilden. Diese unmittelbare Erfahrung dürfte bei den meisten dominiert haben, weniger die Tendenz der ideologischen Bindung, die man entweder kaum wahrnahm oder gegen die man nichts einzuwenden hatte, solange die damit verbundenen Erlebnisse positiv waren. Jedenfalls umgab die HJ zumindest in den wenigen Friedensjahren eine Aura von "pädagogischem Reizklima", das die Bereitschaft zum Lernen und zur Fortbildung animierte und honorierte.

Es würde zu weit führen, diese Aktivitäten hier im einzelnen zu beschreiben, zumal dies an anderer Stelle bereits geschehen ist (Rüdiger 1983). Erwähnt sei nur noch eine im historischen Sinne weitere Neuheit der HJ: der/die hauptamtliche Jugendführer(in).

Vor 1933 gab es wohl schon hauptamtliche Funktionäre in Jugendverbänden, aber keine ausgebildeten pädagogischen Fachkräfte. Lediglich haupt- und nebenamtliche, vom Staat eingestellte "Jugendpfleger" waren bereits tätig, aber die hatten eine andere Aufgabe. Sie sollten dafür sorgen, daß die von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Jugendpflegemittel vor Ort unter den verschiedenen Jugendverbänden zweckmäßig verwendet wurden; denn vor 1933 veranstaltete der Staat selbst keine Jugendarbeit, er unterstützte lediglich die staatsfreien Jugendverbände (nach dem sogenannten "Subsidiaritätsprinzip"), insofern diese pädagogische Ziele verfolgten, wobei das Angebot eines Jugendlebens mit Heimabend, Fahrt und Lager schon als ein solches Ziel galt. Das Verhältnis von Staat und Jugendverbänden war vor 1933 also im Prinzip so geordnet wie heute auch. Heute allerdings verfügen die Jugendverbände in der Regel über hauptamtliche pädagogische Mitarbeiter, vor 1933 wären sie zumindest in der bürgerlichen Jugendbewegung auf Unverständnis gestoßen, man hätte einfach nicht gewußt, wozu sie gut sein sollten.

Schirach wollte - davon war schon die Rede - mit dem Typus des hauptamtlichen Jugendführers Mobilität in die pädagogische Berufsstruktur bringen. Dazu bedurfte es aber einer besonderen Ausbildung, für die die herkömmlichen Ausbildungsstätten (Universität; HfL) nicht geeignet waren. Deshalb wurde in Braunschweig eine "Akademie für Jugendführung" errichtet; der Neubau sollte zugleich Vorbild für das architektonische Selbstverständnis, das eigentümliche

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 "Raumerleben" der HJ sein. Kurz vor Kriegsbeginn begann der erste Kurs in der nur teilweise fertiggestellten Anlage, er mußte aber wegen des Kriegsausbruchs abgebrochen werden, die Teilnehmer gingen zur Wehrmacht. Erst ab 1942 wurden wieder Kurse abgehalten - nun mit kriegsversehrten HJ-Führern. Wegen des Krieges blieb das Konzept ein Torso. Erkennbar ist jedoch, daß Schirach hier einen Führertypus heranbilden wollte, der - sportlich, musisch und geistig gebildet - sich weltläufig verhalten konnte, der nicht nur sich beim Geländespiel wohlfühlte, sondern sich auch im Frack auf dem Parkett zu bewegen verstand - jeder gesellschaftlichen Situation gewachsen. Dabei hat er offensichtlich auch an das Auftreten seines Führerkorps im Ausland gedacht. Unverkennbar ist jedenfalls Schirachs Bemühen, den seit der "Kampfzeit" überkommenen "soldatischen" Modus der HJ zu relativieren.

Für die Mädchen war eine "Hochschule des BDM" geplant, die in Wolfenbüttel errichtet werden sollte, wozu es nicht mehr kam. Da die Kurse für die männliche HJ aber seit Kriegsbeginn ausfielen, benutzte der BDM zunächst das leerstehende Haus in Braunschweig.

Während die Führerausbildung der Jungen - wie erwähnt - einen bestimmten Typus im Blick hatte, scheinen entsprechende Erwartungen an die Mädchen nicht gestellt worden zu sein. Deren Ausbildung war eher pragmatisch orientiert: Vermittlung einer Reihe von praktischen Kenntnissen über Gesundheitsfragen, Rechtsfragen, Feiergestaltung usw. Ferner standen - wie auch schon bei "Glaube und Schönheit' - Angebote zur allgemeinen historischen, musischen und literarischen Bildung auf dem Programm.

Emanzipation durch den BDM?

Die Aufmerksamkeit, die man bisher der Hitlerjugend entgegengebracht hat, hat sich lange Zeit auf die männliche HJ bezogen, sehr viel weniger auf die weibliche. Dabei galt der erwähnte freiwillige Zustrom zur Hitlerjugend nach der Machtergreifung auch für die Mädchen. Ihr Anteil am Gesamtverband betrug Ende 1932 mit 23.900 Mädchen nur 22,13 %, er stieg bis Ende 1934 mit 593.232 Mitgliedern auf 25,88 % und

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bis Ende 1934 mit 1.334.261 Mitgliedern sogar auf 37,29 % an (Jürgens, 68). Dieser Zuwachs ist deshalb bemerkenswert, weil bis dahin der Anteil von Mädchen in Jugendorganisationen sehr gering war. Gleichwohl finden sich selbst in manchen Forschungsarbeiten mehr oder weniger stark ausgeprägt die verbreiteten Klischees: Entsprechend den bekannten gegenemanzipatorischen "Männerphantasien" der Nazis habe die Frau Gefährtin des Mannes zu sein, ihm möglichst viele Kinder zu schenken und im übrigen ihren Horizont auf Familie und Haushalt zu beschränken. Der BDM - so meist die Schlußfolgerung - müsse irgendwie die Mädchen auf dieses Leitbild abgerichtet haben.

Wir haben schon gesehen, daß das so nicht zutrifft. Das "Mutterideal" spielte in der Arbeit von JM und BDM eine untergeordnete Rolle, und der BDM propagierte eine Berufsausbildung für möglichst jedes Mädchen. Das war damals vor allem in der Arbeiterschaft keineswegs selbstverständlich, vielmehr war die Erwartung eher die, daß die Tochter der Mutter im Haushalt hilft und allenfalls bis zur möglichst schnellen Heirat eine ungelernte Arbeit annimmt, um auf diese Weise zu einer kleinen Aussteuer zu kommen. In den bürgerlichen Familien war eine solide Berufsausbildung der Mädchen - vielleicht auch ein Studium - eher üblich geworden, aber meist auch unter dem Aspekt einer künftigen "guten Partie". Auf seine Weise war das bürgerliche Mädchen ebenso auf den künftigen Mann fixiert, für den es unter der Obhut von Mutter, Tante und Großmutter "rein" bleiben und attraktiv werden sollte.

Sicher ging die BDM-Führung davon aus, daß das Mädchen, wenn es heiratete, und vor allem, wenn ein Kind kam, aus dem Arbeitsprozeß ausschied und sich dann der Familie widmete; und gewiß hatte der BDM, wenn er eine Berufsausbildung propagierte, eher "frauenspezifische" Berufe im Sinn, also solche, die im Erziehungs-, Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich angesiedelt waren. Aber diese Einstellung war nicht originell, sondern entsprach durchaus der Tradition der bürgerlichen Frauenbewegung - mit der sich im übrigen der BDM nur bedingt identifizierte -, die gerade im Hinblick auf die Sozialarbeit "Mütterlichkeit als Beruf" propagiert hatte und der es nur auf dieser ideologischen Schiene mühsam gelungen war, eine berufliche Emanzipation der Frau durchzusetzen.

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Im übrigen hatte der Erste Weltkrieg eine wichtige Erfahrung hinterlassen. Da viele junge Männer gefallen waren, gab es in den entsprechenden Jahrgängen einen Frauenüberschuß, und nicht jede Frau, die vielleicht gerne Mutter geworden wäre, konnte einen Partner finden. Schon aus diesem Grund mußte es zweckmäßig erscheinen, möglichst jedes Mädchen einen Beruf lernen zu lassen, was sich im Rahmen der Nazi-Ideologie auch mühelos begründen ließ: wer nicht als Mutter seinem Volk dienen konnte, konnte dies ebenso durch einen nützlichen Beruf tun.

Die an sich mögliche Lösung durch ein uneheliches Kind wurde vom BDM nie propagiert, und als gegen Kriegsende in Parteikreisen - vor allem auch durch Bormann - die Idee aufkam, auf diese Weise die Kriegsverluste an jungen Männern zu kompensieren, hat sich die BDM-Führung dem widersetzt. Zwar wurde die ledige Mutter im Dritten Reich besser behandelt und entschieden weniger diskriminiert als vorher, aber zum Vorbild wurde sie nicht.

Überhaupt ist zu erkennen, daß die von Nazi-Männern propagierten Parolen über die Rolle der Frau, die wir heute lesen und die unser Bild von der Sache weitgehend bestimmen, von den NS-Frauenorganisationen, vor allem auch vom BDM weitaus zurückhaltender aufgegriffen wurden. Schirach war jedenfalls kein "Macho", und er hat in dieser Mädchenfrage offenbar einigermaßen sensibel operiert und den dafür zuständigen weiblichen Mitgliedern in der RJF weitgehend freie Hand gelassen. Die BDM-Führung versuchte eine stärkere Mitbeteiligung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft zu erreichen und strebte somit ein anderes Frauenideal an als die NS-Frauenschaft. Der BDM wandte sich sowohl gegen die anfänglichen Studienbeschränkungen für Frauen als auch gegen Benachteiligungen für Mädchen auf den höheren Schulen, die durch die Neuordnung des höheren Schulwesens von 1938 durchgesetzt wurden. Demnach mußten in allen Schulformen für Mädchen Lehrstoffe aufgenommen werden, die der praktischen hausfraulichen Bildung dienten. Zudem wurden die Mädchen vom Lateinunterricht der Unter- und Mittelstufe ausgeschlossen, weshalb sie die allgemeine Hochschulreife nur noch erreichen konnten, wenn sie aus eigenem Antrieb und auf eigene Kosten Latein lernten. Diese Regelung wurde erst 1940 für die Kriegszeit wieder außer Kraft gesetzt. Weil der BDM seine Vorstel-

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lungen im staatlichen Schulwesen nicht durchsetzen konnte, versuchte er, auch für Mädchen Eliteschulen zu schaffen. Das gelang mit Hilfe der SS. Im Jahre 1939 wurde eine erste NPEA in Österreich und zwei Jahre später eine weitere eröffnet. Seit September 1942 wurde auf Betreiben der Staatskanzlei erwogen, Adolf-Hitler-Schulen für Mädchen zu eröffnen.

Die männliche HJ gab zwar immer den Ton an, spielte eine Vorreiterrolle, aber in ihrem Windschatten zogen die Mädchen mit. Der Reichsberufswettkampf war in erster Linie für die Jungen organisiert, aber die Mädchen waren auch dabei. Die AHS als Elite-Schulen wurden zunächst nur für die Jungen eingerichtet, aber für die Mädchen waren sie auch geplant, und selbstverständlich mußte die Berufsausbildung zum Jugendführer auch für die Mädchen gelten.

Nach meinem Eindruck ist die weibliche HJ im Vergleich zur männlichen das interessantere Phänomen und auch das relativ fortschrittlichere. Für Jungen war es auch vor 1933 kein Problem, in irgendeinem Bund oder Verband ein "Jugendleben" unter Gleichaltrigen zu führen. Die Frage war eigentlich nur, ob sie es wollten. Für Mädchen dagegen war dies keineswegs selbstverständlich. Zwar gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Wandervogel Mädchengruppen, die unter Leitung von erwachsenen Frauen - meist der eigenen Mütter - Wanderungen unternahmen. Und die sozialistischen Jugendverbände - z.B. die der SPD nahestehende Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) - nahmen prinzipiell auch Mädchen auf, weil sie von der uneingeschränkten Gleichberechtigung der Geschlechter ausgingen. Auch in der "bündischen Jugend" der Weimarer Zeit waren Mädchen vertreten, bei der "Deutschen Freischar'' sollen es gar 15 Prozent gewesen sein. Aber das waren Minderheiten, die fast ausschließlich aus bürgerlichen Familien kamen. Auch die Kirchen hatten natürlich weibliche Jugendliche organisiert, aber weniger zum Zwecke eines "Jugendlebens" als zum Zwecke der konfessionellen Loyalitätssicherung. Die große Masse der Mädchen, vor allem aus der Arbeiterschaft und aus der Landbevölkerung, blieb jedoch von einem "Jugendleben" unter Gleichaltrigen ausgeschlossen. Die Mobilisierung der Mädchen, und zwar im Prinzip jedes deutschen Mädchen vom 10. Lebensjahr an, gelang erst der HJ. Sie bot diesen Mädchen einen pädagogisch kontrollierten Lebens-

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 raum an, der durch eigene Regeln bestimmt war, die nicht aus dem Familienstatus abgeleitet waren. Das war ein sehr wichtiger Schritt zur Emanzipation von der eigenen Familie. Während für den Jungen diese Emanzipation auch früher nicht nur erwünscht war, sondern auch gefordert wurde - sonst blieb er ein "Muttersöhnchen" -, bestand das Leben des Mädchens im wesentlichen darin, daß es von seiner Herkunftsfamilie an die Familie weitergereicht wurde, die es dann mit seinem Mann selbst gründete. Eine Erziehung zu öffentlichem Handeln und Verhalten war in dieser Tradition nicht vorgesehen.

Nun aber verließ das 10- oder 12jährige "Jungmädel" nachmittags das Elternhaus mit der Begründung, daß es zum "Dienst" müsse. Vielleicht fragte es schon nicht mehr um Erlaubnis, denn schließlich handelte es sich ja nicht um eine beliebige Freizeitbeschäftigung, sondern um eine der Öffentlichkeit geschuldete Pflicht, eben um "Dienst". Dort, wo es hinging, fand es Gleichaltrige und eine um weniges ältere "Führerin". Es wurde gesungen, gespielt und vielleicht etwas Nützliches getan, z.B. einfaches Spielzeug als Weihnachtsgeschenk für andere, arme Kinder gebastelt. Paradoxerweise war es gerade der Zwang, die "Dienstpflicht", die viele dieser Mädchen aus dem Elternhaus holte, denn vor 1933 wäre den meisten von ihnen gar nicht erlaubt worden, an einem Angebot der Jugendarbeit teilzunehmen, weil sich dies für Mädchen eben nicht schicke. Obwohl Eltern nicht befürchten mußten, daß ihre Töchter gewaltsam zum Dienst aus dem Haus geholt wurden, wurden sie doch durch den Anspruch des "Dienstes" unter Begründungszwang gesetzt - zumindest der eigenen Tochter gegenüber.

So kann es nicht verwundern, daß sehr viele ehemalige Mitglieder von JM und BDM gute Erinnerungen an diese Zeit haben, während ähnlich positive Urteile ehemaliger DJ- und HJ-Mitglieder wesentlich seltener anzutreffen sind. Im Kontext der deutschen Jugendbewegung seit dem Beginn des Jahrhunderts bedeutete die männliche HJ eher einen Niedergang, wenn man das doch relativ eintönige militärähnliche Ritual vergleicht mit den Möglichkeiten, die die Jungen vor 1933 angesichts der Fülle unterschiedlicher Jugendbünde und Jugendverbände hatten. Der normale "Dienst" in der HJ begann für die Jungen unattraktiv zu werden - für die 10 bis 14jährigen vielleicht weniger als für die älteren. Inso-

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fern waren Schirachs Bemühungen, das ursprünglich rein soldatische Leitbild musisch zu relativieren, durchaus notwendig.

Bei den Mädchen gab es solche Probleme offenbar kaum. Ihr Vorbild sollten die Frauen des Ersten Weltkriegs sein, die an der "Heimatfront" die an der äußeren Front stehenden Männer vertraten und deren Arbeit weitgehend übernommen hatten. Aber dieses Vorbild blieb schon deshalb diffus, weil es schwer an einzelnen Personen zu symbolisieren und weil es zu sehr auf eine bestimmte Generation bezogen war. Wichtiger war für die Mädchen ohne Zweifel das Gemeinschaftserlebnis unter Gleichaltrigen. Für sie waren die Angebote von JM und BDM also zu diesem historischen Zeitpunkt deutlich attraktiver, im Sinne einer neuen Erfahrung, die die meisten ihrer Mütter nicht hatten machen können.

Um den damaligen Erfolg des BDM zu verstehen, muß man sich die fundamentale Bedeutung der Emanzipationsproblematik vergegenwärtigen. Das Ideal der bürgerlichen Familie, an dem sich dann auch die aufstrebende Arbeiterschaft orientierte, hatte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Es beruhte auf der bekannten Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau. Der Mann verläßt die Familie, um ihr "draußen" den Lebensunterhalt zu verschaffen, bzw. um öffentliche Aufgaben wahrzunehmen. Die Frau war zuständig für das Haus einschließlich der Dienstboten, falls man sie sich leisten konnte, für Stil und Kultur und vor allem für die emotionale Betreuung der Kinder. Eine "öffentliche" Rolle spielte sie nicht, es sei denn, man würde ihre Pflichten als Gastgeberin so verstehen. Diese Arbeitsteilung konnte so lange befriedigend für beide Beteiligten sein, wie sie daraus ihre gegenseitige Achtung und Anerkennung sowie soziales Ansehen in ihrer Umgebung gewinnen konnten. Wenn aber diese Balance brüchig wurde, geriet nicht nur die Frau z.B. wegen ihrer ökonomischen und rechtlichen Abhängigkeit vom Mann in eine prekäre Lage, auch der Mann konnte leicht an Selbstachtung verlieren, wenn er nämlich - aus welchen Gründen auch immer - die Erwartungen nicht erfüllte, die an seinen beruflichen Erfolg geknüpft waren. Der Arbeitsplatz konnte verloren gehen, Karriere-Hoffnungen blieben vielleicht unerfüllt, oder ein Konkurs stand gar ins Haus. Die Identität, die beide Seiten aus dieser Familien- bzw. Ehe-

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konstellation bezogen, war also leicht auch ohne persönliche Schuld gefährdet.

Nur auf diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Emanzipation der Frau ein so schwieriger Prozeß bis auf den heutigen Tag gewesen ist. Als die Frau bzw. die bürgerliche Tochter begann - teils zunächst aus Langeweile oder aus Bildungshunger, vor allem aber zum Zwecke der eigenen Existenzsicherung, weil eine Versorgung durch Heirat immer mehr zu einem va-banque-Spiel wurde -, wie der Mann das Haus zu verlassen, um ebenfalls einen Beruf wahrzunehmen, mußte sie sich einige fundamentale Fragen stellen und beantworten, die aus ihrer traditionellen weiblichen Erziehung erwuchsen: Was unterscheidet mich gesellschaftlich noch vom Mann, wenn ich meinen Lebensunterhalt selbst verdiene? Was ist mein besonderes weibliches "Wesen", und muß ich dies in der Wahl meines Berufes ausdrücken oder in der Art und Weise, wie ich ihn ausübe? Wie gehe ich zum Beispiel am Arbeitsplatz mit anderen Frauen und vor allem mit Männern um? Und vor allem: Wie kann ich die öffentliche und private Rolle (Beruf und Familie) miteinander verbinden?

Aber auch für den Mann stellten sich entsprechende Fragen: Was macht meine Rolle als Mann noch aus, wenn sich meine Frau ihren Lebensunterhalt selbst verdienen kann und will? Wie gehe ich mit der Tatsache um, daß meine Frau von mir unkontrolliert "draußen" mit anderen Männern umgehen muß?

Manche dieser Fragen haben sich heute historisch erledigt, aber am Anfang berührten sie tiefe Schichten des persönlichen Selbstverständnisses, also der Identität, und der Weg von der "patriarchalischen" zur "partnerschaftlichen" Ehe bzw. Familie der Gegenwart war ein mühsamer und schwieriger und mußte mit Ungewißheit, Zweifeln und Desorientierung erkauft werden. Der Auszug der Frau aus dem alten Leitbild der bürgerlichen Familie in die Öffentlichkeit machte für beide Geschlechter neue Fundierungen ihrer Identität notwendig. Wie schwierig dies für Männer sein konnte, haben wir schon am Beispiel Baeumlers gesehen, dem die sich gleichberechtigt in der Öffentlichkeit bewegende Frau als eine Zerstörerin des öffentlichen Selbstverständnisses des Mannes galt. Nun ist Baeumler gewiß ein ex-

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 tremes Beispiel, aber das Problem eines neuen Verhältnisses der Geschlechter zueinander in der Familie wie in der Öffentlichkeit war ein wichtiges Thema nicht zuletzt auch in der Jugendbewegung.

Aus der Sicht des Mädchens ging es unter anderem darum, neben familiären auch öffentliche Verhaltensweisen zu lernen. Wie schwierig solche Lernprozesse waren, zeigt das Beispiel der schon erwähnten SAJ, in der Mädchen formal als gleichberechtigt angesehen wurden. Die SAJ verstand sich aber als eine politische Organisation und eine ihrer wichtigsten Verhaltenskategorien war deshalb "Solidarität". Diese Verhaltensnorm war gegenüber jedermann geboten, der sich in derselben Klassenlage befand, also Arbeiter war - gleichgültig, ob man ihn persönlich kannte oder ob er ansonsten ein "mieser Typ" war; war er dies, dann konnte man ihn ruhig verprügeln, ohne daß dabei die "Solidarität" aufs Spiel gesetzt werden mußte.

Die Mädchen konnten diese Trennung von privat und öffentlich damals kaum nachvollziehen. Sie waren fixiert auf das familiäre Denken und Fühlen, wozu sie ja auch erzogen worden waren. Das äußerte sich z.B. darin, daß sie meistens versuchten, sich einen Jungen aus der Gruppe zu angeln, und wenn dies gelungen war, erlosch das Interesse an der Arbeit der Gruppe zugunsten privater Zweisamkeit. Schon damals gab es deshalb in der SAJ Überlegungen, eigene Mädchengruppen zu gründen, um dem ständigen Vergleich und der Konkurrenz mit den Jungen zu entgehen. Aber die Koedukation von Jungen und Mädchen galt als ein wichtiges sozialistisches Prinzip. Heute finden wir eine spezifische Mädchenarbeit nicht nur in der außerschulischen Jugendarbeit, auch in der Schule hat sich herausgestellt, daß Mädchen vor allem in naturwissenschaftlichen Fächern besser zum Zuge kommen, wenn sie unter sich bleiben.

Während also die Männer traditionell dazu erzogen worden waren, öffentliche Rollen zu lernen und sie strikt von privaten zu trennen, hatten die Mädchen nur private gelernt, und deshalb neigten sie verständlicherweise dazu, an öffentliche Situationen private Erwartungen zu richten. Noch im gegenwärtigen Feminismus ist dies in Gestalt einer "Intimisierung der Öffentlichkeit" oder einer Moralisierung von Politik und Gesellschaft zu beobachten, wobei die Maßstäbe

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 unverkennbar aus der Privatheit stammen und deshalb oft die jeweilige Sache verfehlen.

Der Erfolg der NS-Ideologie beruhte nun offensichtlich darauf, daß sie in diesem Widerspruch von traditioneller Familienorientierung und moderner Öffentlichkeitsorientierung eine Balance anbot. Die traditionelle Rolle wurde wieder aufgewertet, zugleich wurde der Frau aber auch eine öffentliche Bedeutung offeriert - beides aufgehoben in der Idee der Volksgemeinschaft, wobei der Begriff des "Dienstes" für beide Rollen wenn auch in unterschiedlicher Weise gleichermaßen Sinn ergab. Die NS-Ideologie bot so eine Lösung für massenhafte Identitätskrisen an. Für die Männer war dies natürlich auch eine Lösung; sie wurden in ihrer alten, dominierenden Rolle beruflich wie als "politische Soldaten" bekräftigt und konnten so auch akzeptieren, daß den Frauen nun eine wenn auch begrenzte öffentliche Rolle zugestanden wurde.
Wir dürfen diese "Lösung" des männlichen und weiblichen Identitätsproblems nicht vom heutigen Stand der Emanzipation aus betrachten und beurteilen. Abgesehen davon, daß der Prozeß der Emanzipation der Frau bis hin zu radikal feministischen Positionen der Gegenwart Männer und Frauen nicht eben glücklicher im Vergleich zu früher gemacht zu haben scheint, wäre die Ansicht ganz irrig, die Nazis hätten ein frauenfeindliches, machistisches Regime geführt. Im Gegenteil: Im Alltag des Dritten Reiches wurde Frauen mehr Respekt und Achtung entgegengebracht als vorher - was sich in den Kriegsjahren noch steigerte,

Über Hitlers Ansehen bei den Frauen gibt es inzwischen viele Deutungen, auch einigermaßen abwegige, die es als massenerotisches Phänomen interpretieren, so, als hätten die Frauen damals kein wichtigeres Problem gehabt, als sich diesen Herrn Hitler - und sei es nur unbewußt - ins Bett zu wünschen. Die Sache war wohl viel trivialer. Die Frauen, die Hitler um 1933 zujubelten, hatten meist ihre arbeitslosen Männer zu Hause und mußten trotzdem - ohne unsere heutigen "sozialen Netze" - ihre Familien über die Runden bringen. Und die ihm später zujubelten, hatten die Erfahrung gemacht, daß es ihnen wirtschaftlich besser ging und daß sie öffentliche Achtung genossen.

Im Kontext dieser langfristigen Emanzipationsproblematik muß auch die weibliche Hitlerjugend gesehen werden. Sie bot den Mädchen neben Familie und Schule einen öffentlichen Raum für ihr Aufwachsen an, der einerseits durch die Intimität der Gleichaltrigkeit Geborgenheit ausstrahlen konnte, andererseits aber mit der Kategorie des "Dienstes" an der Allgemeinheit eine öffentliche Dimension bekam.

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Stichworte einer "Gebrauchspädagogik"

Schirach hat seine pädagogischen Vorstellungen über die HJ nicht systematisch ausformuliert. Dennoch fällt es nicht schwer, sein Konzept zu rekonstruieren.

Die NS-Ideologie im ganzen war ja - wie eingangs am Beispiel der pädagogischen Ideen Hitlers schon gezeigt wurde - ein Konglomerat aus allen möglichen Versatzstücken des bürgerlich-kleinbürgerlichen "gesunden Volksempfindens".
Schirachs pädagogische Konzeption der HJ ist deshalb ebenfalls am besten dadurch zu beschreiben, daß man diesen Populismus sinngemäß überträgt. Demnach verkörperte die HJ im wesentlichen das, was das erwähnte "Volksempfinden" für richtig hielt. Was war ein "anständiger" deutscher Junge bzw. ein "anständiges" deutsches Mädchen? Wer den Verführungen der Straße auswich und sich stattdessen in die Obhut von HJ bzw. BDM begab, dort neben körperlicher Ertüchtigung - was ja nie verkehrt sein kann - alle möglichen nützlichen Dinge lernte, jedenfalls "sinnvoll beschäftigt" wurde und deshalb nicht auf Abwege geriet oder "auf dumme Gedanken" kam. Auch gegen "Disziplin" und "Ordnung" sowie gegen für die Allgemeinheit nützliche "Dienste" hatte das "Volksempfinden" nichts einzuwenden, solange dies alles "maßvoll" blieb. Während Schirach - wie wir sahen - an der damaligen Schule teilweise massive öffentliche Kritik übte, versuchte er von Anfang an die Zustimmung der Eltern zu gewinnen. Das aber wäre mit einem unverhüllten Indoktrinationsprogramm auf die Dauer nicht erfolgreich gewesen.

Auf diesem populistischen Hintergrund müssen die pädagogischen Leitmotive gesehen werden, die immer wieder auftauchen: "Erlebnis", "Vorbild", "Kameradschaft", "Ehre", "Dienst". Alle diese Stichworte spielten schon vorher in der

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Reformpädagogik und in der bürgerlichen, teilweise auch in der sozialistischen Jugendbewegung eine Rolle, sie lagen sozusagen in der Luft.

Wie Krieck und Baeumler ging es auch Schirach im Kern um die Neufundierung eines Gemeinschaftslebens und eines Gemeinschaftsbewußtseins - von den unteren HJ-Einheiten bis hin zur Volksgemeinschaft im ganzen. Der junge Mensch sollte sich erfahren als Mitglied solcher Sozialitäten, von daher seine Identität erwerben und in diesem Rahmen auch seine individuellen Fähigkeiten entwickeln. Wie schon bei Krieck und Baeumler machte dieses Gemeinschaftskonzept Front gegen die gemeinschaftsungebundene Individualisierung (polemisch "Individualismus" genannt), wie sie bei Jugendlichen vor allem erkennbar war in der Beliebigkeit des relativ unkontrollierten Freizeitverhaltens. Die nun zu erörternden pädagogischen Stichworte bekommen nur Sinn, wenn man sie im Rahmen dieses Gemeinschaftskonzeptes sieht.

Die Bedeutung der Gemeinschaft kann man nicht lehren, man muß sie "erleben". Dieser Gedanke Schirachs war nicht neu. "Erlebnis" war z.B. ein zentrales Motiv der Reformpädagogik. Der Reformpädagoge Kurt Hahn etwa, der u.a. das Internat "Schloß Salem" gründete, nach England emigrierte und dort seine pädagogische Arbeit fortsetzen konnte, forderte ausdrücklich eine "Erlebnispädagogik". In kritischer Distanz zur "verkopften" Schule, die ihren Bildungsauftrag auf die Vermittlung abstrakten Wissens ohne Bezug zum Leben reduziert habe, sollte die emotionale und ästhetische Dimension des Menschen wieder zur Geltung kommen, der Mensch in seiner Ganzheit wieder in den Blick treten können. Schirachs Schulkritik lag auf dieser Linie. Nur ging es ihm primär nicht um die Schule, sondern um das außerschulische Jugendleben. Die "weltanschauliche Schulung" sollte nicht im Stile des Unterrichts erfolgen, sondern Gefühle wie Ehrfurcht, nationale Zugehörigkeit, Freude und Trauer ansprechen. Diese Erlebnisorientierung war - übrigens auch schon bei Kurt Hahn und anderen Reformpädagogen - gegenaufklärerisch orientiert. Nicht rationale Aufklärung - z.B. über historische oder politische Probleme - sollte ermöglicht werden, sondern die gemeinsam-emotional erlebte Erfahrung sozialer Zugehörigkeit. Die rationale Aufklärung wurde dagegen erlebt als sozial-zersetzend.

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Nun kann man bekanntlich Erlebnisse und bestimmte Gefühle nicht dadurch hervorrufen, daß man sie verbal propagiert. Sie bedürfen bestimmter Situationen, in denen sie zum Vorschein kommen können, und solche Situationen müssen hergestellt, arrangiert werden. Auf diesem Hintergrund gewinnen die vielfältigen Rituale ihre pädagogische Bedeutung: Aufmärsche mit entsprechender "kultischer" Musik und den dazugehörigen mehrdeutigen bzw. inhaltlich unbestimmbaren gesprochenen Texten; die Lageratmosphäre; die Uniformierung sowie die an Rangabzeichen erkennbaren Führer-Karrieren schon für "Pimpfe" und "Jungmädel"; die Feier- und Weihestunden; der Fahnenkult; die Lagerfeuerromantik, das gemeinsame Singen und so fort. Solche Inszenierungen vermochten Erlebnisse zu produzieren, die teils durchaus individueller Natur waren, vor allem aber kollektive Gestimmtheiten hervorrufen konnten, die etwa einen Satz wie: "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" unmittelbar erfahrbar werden ließen. Oder ein anderes Beispiel: Was "Deutschland" ist, erfährt man nicht hinreichend im Geographieunterricht, sondern dadurch, daß man durch das Land wandert, mit den Menschen spricht und möglichst zeitweilig an ihrem Alltagsleben teilnimmt - z.B. durch einen "Ernteeinsatz". "Erlebnis" ist also ein Gegensatz oder zumindest eine notwendige Ergänzung zur bloß verbalen Belehrung.

In diesem Sinne ist "Erlebnispädagogik" seit geraumer Zeit wieder aktuell, um nicht zu sagen: zu einer "Mode" geworden. Auch dabei geht es um die Suche nach Alternativen zur bloß verbalen, rationalen Kommunikation, auf der ja sogar die therapeutischen Verfahren beruhen. So versucht man etwa, mit dissozialen Jugendlichen Segel-Touren zu unternehmen, bei denen sie von der täglichen Verpflegung bis zum Segelsetzen ihr Leben selbst in die Hand nehmen müssen. Man setzt dabei auf positive Erlebnisse und Erfahrungen z.B. im Hinblick auf die individuelle Leistungsfähigkeit und auf das Gemeinschaftsleben. In der Jugendarbeit gibt es auch weniger spektakuläre Beispiele, z.B. Alternativen zum üblichen Komfort-Tourismus in Gestalt von Kanu- und Radtouren. Auch die Schule bemüht sich um Erlebnisorientierung, indem sie z.B. Schullandheimaufenthalte oder Studienfahrten organisiert, oder vor Ort Dichterlesungen, Theater- und Museumsbesuche, Betriebsbesichtigungen usw. ermöglicht.

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 Es handelt sich hier offensichtlich um ein pädagogisches Thema und Problem, das über die HJ hinausreicht, und deshalb wollen wir uns diesem Aspekt später noch einmal gründlicher zuwenden.

Im "Erlebnis" der Gemeinschaft als Inbegriff der sozialen Zugehörigkeit, verbunden mit entsprechenden Rechten und Pflichten, sollte auch eingeschlossen sein die Erfahrung des - fast altersgleichen - "Führers" als "Vorbild" Im Idealfall repräsentierte der Führer in seiner Person und in seinem Verhalten optimal das, was die Gemeinschaft an positiven Erwartungen über sich selbst hegte. Führer sollte derjenige werden, der - ohne formal demokratisch gewählt zu werden - dem "Geist" der Gemeinschaft am besten entsprach. Wie "Erlebnis" war auch "Vorbild" anti-rational gemeint: "Richtiges" Verhalten sollte nicht gepredigt, sondern vorbildhaft vorgeführt und vorgelebt werden.

Nun ist in der modernen Pädagogik die Bedeutung von Vorbildern für Kinder und Heranwachsende unbestritten; sie werden gebraucht als Orientierungen für die eigene Lebensperspektive und für die Identitätsbildung. Im allgemeinen gehen wir jedoch davon aus, daß die Vorbilder erwachsen sind, weil nur dann die nötige Spannung und Differenz zur Lage des Jugendlichen entstehen kann, die eine produktive Perspektive "nach vorne", also für den Lebensentwurf herzugeben vermag. Die HJ jedoch erhob nun auch Gleichaltrige in den Rang von Vorbildern - nämlich die Führer bzw. die, die es wegen ihres vorbildhaften Verhaltens werden sollten. Diese Vorstellung war in der vorhergehenden Jugendbewegung allenfalls in ersten Ansätzen zu finden. Im allgemeinen jedoch blieb es dabei, daß man Vorbildwirkungen von den wenn auch relativ jungen Erwachsenen erwartete, nicht jedoch von den Gleichaltrigen, die sich eher als untereinander gleichrangig ansahen. Die Idee des Gleichaltrigenvorbildes wurde nun massenhaft propagiert, und sie erwuchs aus der Idee des Jugendstaates, der eben auch von Jugendlichen wenigstens auf der unteren Ebene geführt werden sollte. Schon damals ist öffentlich diskutiert worden, ob eine derartige Erwartung nicht zu einer massenhaften Überforderung führen müsse oder nicht gar zu einer dem Alter nicht angemessenen Frühreife. Auch darauf wird noch näher einzugehen sein, hier sei nur festgehalten: Die Vorbild-Erwartungen an die Gleichaltrigen bezogen sich zunächst einmal lediglich auf

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das "Jugendleben" in der HJ, nicht auch auf die künftigen Erwachsenen-Rollen.

Die dienstliche Beziehung der HJ-Mitglieder untereinander - auch zwischen Jungen und Mädchen - sollte "kameradschaftlich" sein. Der Begriff "Kameradschaft" hatte bei Schirach zwei Quellen: Einmal die "Front-Kameradschaft" aus dem Ersten Weltkrieg, die unter den "Stahlgewittern" (E. Jünger) der Materialschlachten die traditionellen Standes- und Klassenunterschiede zusammenschmelzen ließ; zum anderen die reformpädagogische Version einer neuen pädagogischen Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, wie sie Schirach in Bad Berka erlebt hatte und deren äußerer Ausdruck das kameradschaftliche "Du" war. Im Unterschied zur Freundschaft - Freunde muß man sich wählen können - war kameradschaftliches Verhalten gegenüber jedermann angezeigt, der zur eigenen Gruppe gehörte - also in diesem Falle zur HJ.

Die öffentliche Beziehung von Jugendlichen und Erwachsenen war also nur dann den Normen der "Kameradschaft" unterworfen, wenn sie wie bei der HJ, der Wehrmacht oder beim Reichsarbeitsdienst zur dienstlichen Beziehung wurde. Dann ging es im wesentlichen darum, den "Kameraden" als Mitglied der Gruppe zu respektieren, ihn bei der Durchführung der gemeinsamen Aufgaben (des "Dienstes") zu unterstützen, ihn vor Angriffen von außen zu schützen und ihm innerhalb der Gruppe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unbeschadet bestehender Rangunterschiede hatte der "Kamerad" als gleichrangig zu gelten. Für die HJ bedeutete Kameradschaft in Verbindung mit dem zu leistenden "Dienst' eine nicht-private, öffentliche Verhaltensnorm, die jedem Mitglied der HJ zustand - ob man ihn nun persönlich ausstehen konnte oder nicht. Auch diese Verhaltensnorm war schon vorher in der bürgerlichen Jugendbewegung anzutreffen, aber dort überwogen doch eher introvertierte, auf persönliche Freundschaften gegründete Gruppenbeziehungen. Diesen eher privatistisch-individualistischen Normen setzte die HJ mit der Norm der Kameradschaft für die 10- bis 18jährigen eine nicht private, kollektive Norm gegenüber, was zumindest in diesem Umfange neu in der modernen Jugendgeschichte war und ein Gegengewicht bildete zur spontanen Freundes- bzw. Cliquen-Gruppe, wie sie unter Jugendlichen im allgemeinen zu finden ist. Wie jede auf eine bestimmte Gruppe begrenzte Verhaltensnorm grenzte auch diese an-

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dere Personen aus: Mit Juden und Kommunisten oder anderen von den zuständigen Organen der Erwachsenen definierten Feinden konnte es keine kameradschaftliche Beziehung geben, im Gegenteil: In solchen Fällen wäre sie als Verrat bewertet und unter Umständen auch entsprechend geahndet worden.

In diese Vorstellungen fügt sich das Stichwort "Ehre" zwanglos ein. "Ehre" gebührte dem Einzelnen, insofern er Mitglied einer Gruppe war, aber auch der Gruppe selbst. Beide - Einzelner wie Gruppe - konnten ihre "Ehre" verlieren. So hatte angeblich das deutsche Volk durch den Versailler Vertrag seine "Ehre" verloren.

Bis heute ist "Ehre" diskreditiert und wird allenfalls von Rechtsradikalen noch öffentlich verwendet. Damit ist die Sache nicht verschwunden. Jede soziale Gemeinschaft braucht nämlich ein Leitbild ihrer Integritätr eine Vorstellung von ihrer Vollkommenheit. An diesem Selbstanspruch werden das einzelne Mitglied wie die Gemeinschaft im Ganzen gemessen. "Vorbild" ist demnach der, der dieses normative Leitbild optimal in seiner Person zu repräsentieren vermag. Das Individuum als solches kann also keine Ehre haben, sondern nur, insofern es einer Gemeinschaft angehört.

Zwei praktische Beispiele für die Ehre eines HJ-Mitgliedes sind uns schon begegnet: Es galt in den Adolf-Hitler-Schulen als unehrenhaft, bei Klassenarbeiten zu "mogeln". Andererseits war es gemäß der Rede von Schirach über die "Einheit der Erziehung" nicht unehrenhaft, in der üblichen Schule Widerstand gegen den Lehrer zu leisten und ihn auch bei Klassenarbeiten zu beschummeln. Die Erklärung für diesen scheinbaren Widerspruch liegt auf der Hand: Die normale Schulklasse war eben keine von der HJ selbst geführte soziale Gemeinschaft und konnte deshalb auch nicht an deren Ehrbegriffen gemessen werden; deren Ehre begründete sich vielmehr im Widerstand gegen den Lehrer und seine Ansprüche.

Sieht man die erwähnten pädagogischen Stichworte im Zusammenhang, so zeigt sich, daß die HJ-Erziehung im Sinne von Ernst Krieck eine "funktionale" war, d.h. sie setzte nicht auf rationale Belehrung, sondern auf das Arrangement von Erlebnis-Situationen, von denen sie sich eine bestimmte Pädagogische Wirkung erhoffte, nämlich im Hinblick auf die

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 Stabilisierung einer erwünschten sozialen Gemeinschaft. Nur aus der Perspektive dieser Gemeinschaft ergeben die pädagogischen Einzelheiten einen Sinn.

Da wir es hier jedoch nicht mit einer rational durchgeformten pädagogischen Theorie zu tun haben, sondern mit intuitiv und emotional fundierten Überzeugungen, läßt sich das Gemeinte auch nur in Stichworten andeuten; einer rationalen Analyse ist es nur begrenzt zugänglich, wie Baeumlers Versuch zeigt, den Begriff "Kameradschaft' für das Lehrer-Schüler-Verhältnis als "Leistungskameradschaft" zu präzisieren. Das Ergebnis weiterer Analysen dieser Art wäre eine differenzierte soziale Beziehungsstruktur, die durch den Begriff der "Kameradschaft" nur notdürftig auf einen Nenner zu bringen wäre. Was heißt es dann beim Militär oder im Industriebetrieb?

Nun bekommen Gemeinschaften ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung nur dadurch, daß sie eine Funktion ausüben, daß ihre Mitglieder also im Rahmen einer Aufgabe tätig werden können. Dafür stand bei der HJ der Begriff "Dienst'.

Mit ihm sollte das "Jugendleben" auf die Volksgemeinschaft im ganzen bezogen werden. Einmal galt das organisierte Jugendleben selbst als Dienst, insofern es ja im Sinne einer allgemeinen Lebensertüchtigung der Vorbereitung der Heranwachsenden auf ihre künftigen Aufgaben in Staat und  Volk diente. Zum anderen aber sollten die Jugendlichen darüber hinaus bereits nützliche Dienste z.B. im Rahmen von Sammelaktionen und Ernteeinsätzen für die Allgemeinheit leisten - auch dies in Konsequenz der "Erlebnis-Pädagogik".

Der "Dienst" öffnete also den "jugendeigenen Raum" zur Öffentlichkeit hin, räumte dem Jugendlichen einen öffentlichen Status ein. Ähnlich wie die Schulpflicht einerseits dem Kinde die pädagogische Atmosphäre eines Schonraumes gewähren soll, aber gleichzeitig schon ein Stück vom Ernst des Lebens in Gestalt der Leistungserwartungen in sich enthält, sollte auch das außerschulische Leben der Jugend sich in dieser Kombination von Schonraum und allgemeiner Pflichterfüllung entfalten.

Der für die gesamte, entsprechend gesunde deutsche Jugend arrangierte Dienst war ein Novum in der deutschen Jugendgeschichte. Vor 1933 gab es zwar auch schon die Möglichkeit

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für Jugendliche, sich für öffentliche Aufgaben zu engagieren, z.B. im Rahmen politischer Jugendverbände. Aber dies geschah freiwillig und so, daß jeder dabei zwischen den verschiedenen weltanschaulichen und politischen Positionen und Organisationen wählen konnte.

Ich möchte Schirachs pädagogisches Konzept im Unterschied zu einer wissenschaftlich oder wenigstens systematisch entwickelten und fundierten Pädagogik eine "Gebrauchspädagogik" nennen. Das ist nicht von vornherein abwertend gemeint. Die bürgerliche und die proletarische Jugendbewegung, die zu Beginn unseres Jahrhunderts entstanden, verstanden sich ebenfalls primär als Lebensformen und nicht als geplante pädagogische Veranstaltung, erste Versuche einer erziehungswissenschaftlichen Theorie der außerschulischen Jugendarbeit gab es erst in den sechziger Jahren. Den Begriff der "Gebrauchspädagogik" kann man also getrost für diese ganze Zeit verwenden - in Analogie etwa zur "Gebrauchsmusik". Er weist auf den eher funktionalen Charakter dieser Pädagogik hin, auf ihre eher sekundäre Bedeutung. Im Vordergrund steht immer die Herstellung bestimmter Lebens- und Erlebnissituationen. Die HJ war nicht primär eine pädagogische Veranstaltung, sondern eine Lebensform, weshalb es eigentlich zutreffender wäre, von "HJ-Sozialisation" statt von "HJ-Erziehung" zu sprechen.

Kritisches zur HJ-Pädagogik

Ich habe bisher versucht, Schirachs Konzept der HJ möglichst aus seiner Sicht darzustellen - ohne die moralische Voreingenommenheit, die uns die politische Kriminalität des NS-Regimes eigentlich abverlangt. Auf diese Weise erscheint es auch zunächst plausibel, in sich schlüssig; denn jeder Mensch, der handelt und die Wirklichkeit gestaltet, tut dies mit einer für ihn sinnvollen und logischen Stimmigkeit.

Dieses und das folgende Kapitel sollen nun dieses Programm kritisch erörtern. Dazu sind aber einige Vorbemerkungen nötig, weil die Darstellung des HJ-Konzeptes notwendigerweise idealtypisch erfolgen mußte - eher in der Weise einer logischen als einer empirischen Rekonstruktion.

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1. Die Praxis der HJ entsprach keineswegs immer, vielleicht sogar nicht einmal überwiegend den öffentlich geäußerten Intentionen Schirachs. Das ist bei einer so großen Organisation nicht weiter verwunderlich, zumal sehr junge Leute in ihr Führungspositionen übernommen hatten und die HJ immer Probleme hatte, genügend Führer zu rekrutieren, so daß sie vor allem auf dem Lande auf junge Lehrer zurückgreifen mußte. Von der alltäglichen Praxis wissen wir nicht viel, weil sie eben von Ort zu Ort unterschiedlich sein konnte. Berichte von Menschen, die damals dabei waren, fallen - wie nicht anders zu erwarten - höchst unterschiedlich aus, nämlich teils zustimmend, teils ablehnend. Verfälscht werden solche Erinnerungen unter anderem dadurch, daß es nach dem Kriege nicht opportun war, sich positiv an die HJ zu erinnern, zumal die HJ-Generation ja auch diejenige war, die den Wiederaufbau in Westdeutschland in Angriff nehmen mußte, da wären positive Erinnerungen an die HJ-Zeit nicht gerade karrierefördernd gewesen. Für die ehemaligen HJ-Mitglieder und HJ-Führer, die nach dem Kriege in der SBZ bzw. DDR lebten, mochte es sogar lebensgefährlich sein, positive Erinnerungen zu äußern.

Hinzu kommt, daß die wenigen Friedensjahre bis 1939 überschattet wurden durch ebenso viele Kriegsjahre, und für die meisten, die beides in jungen Jahren erlebt haben, wird es in ihrem biographischen Erleben eine Einheit bilden, wobei die Kriegsjahre wohl das Urteil über die Friedensjahre wesentlich mitbestimmen dürften. So oder so müssen wir jedenfalls davon ausgehen, daß die Praxis den Intentionen Schirachs keineswegs immer entsprochen haben kann. Es. gab bornierte und arrogante Führer, es gab solche, die ihre "Gefolgschaft" dazu aufforderten, politisch mißliebige Äußerungen und Handlungen der Eltern oder anderer Erwachsener zum Zwecke der politischen Verfolgung preiszugeben. Es gab Hitlerjungen, die absichtlich oder unabsichtlich ihre Eltern denunzierten.

Die bereits mehrfach erwähnte Tat-Philosophie gab es auch hier, nämlich einen sich selbst genügenden Aktivismus, dessen Folgen um so prekärer werden konnten, je länger der Krieg dauerte und z.B. Denunziationen als vaterländische Pflicht erscheinen ließen.

2. Überhaupt darf man Schirachs "Jugendstaat" nicht isoliert sehen; er befand sich ja im Rahmen einer Staats- und Gesell-
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schaftsverfassung, die - wie uns das Kapitel über Hitler gezeigt hat - die Gestalt einer Erziehungsdiktatur angenommen hatte bzw. annehmen sollte. Pädagogik und Polizei waren da nur verschiedene Seiten derselben Medaille, und wenn die HJ halbwegs "rein" bleiben konnte mit ihrem zweifellos vorhanden gewesenen pädagogischen Idealismus, dann vor allem deshalb, weil die "Drecksarbeit" von den dafür zuständigen Organen der Erwachsenen - Polizei, Gestapo, SS - erledigt wurde. Der Vater, den sein HJ-Filius denunzierte, wurde nicht innerhalb der HJ "behandelt", sondern unter Ausschluß der Öffentlichkeit von der Gestapo. Ein unerwünschter politischer Witz konnte da ausreichen. Vor allem in den Kriegsjahren hat Schirach die Nähe der SS gesucht, und zwar nicht zuletzt wegen deren polizeilicher Funktionen. Überhaupt reagierte die RJF sehr empfindlich auf jede Art von jugendlicher Gruppenbildung außerhalb der HJ. Sie fürchtete sogenannte "bündische Umtriebe", also das Weiterbestehen ehemaliger Gruppen der "Bündischen Jugend" in einem Maße, das die reale Bedeutung solcher Gruppen weit übertraf. Vor allem während des Krieges bildeten sich Gruppen von Jugendlichen, die nicht im engeren Sinne als "politischer Widerstand", sondern eher als Auflehnung gegen das Freizeitmonopol der HJ bezeichnet werden können. Bekannt geworden sind - vor allem aus Polizeiakten bzw. Prozeßunterlagen - unter anderem die "Meuten", die "Edelweiß-Piraten" und die" Swing-Jugend". Sie wurden von Gestapo und SS mit Unterstützung der RJF mit unverhältnismäßiger Härte verfolgt.

3. Je mehr die HJ die Gemeinschaftsorientierung betonte, umso schlimmer wurde das für diejenigen, die nicht dazugehören wollten oder durften. "HJ-Fähigkeit" wurde zu einer Grenze der Selektion. Dazugehören durften schon die nicht, die nicht oder nicht schnell genug marschieren konnten, weil sie etwa körperlich behindert waren. Hinzu kamen die dissozialen Jugendlichen, die in Fürsorgeerziehungsanstalten saßen oder im Jugendgefängnis. Gewiß: Die HJ hat sich bemüht, im Bündnis mit aufgeschlossenen Sozialpädagogen die Möglichkeiten der Resozialisierung zu verbessern, um den im landläufigen Sinne "erziehbaren" Jugendlichen eine bessere Chance zu geben. Aber "HJ-Fähigkeit" war die Grenze, jenseits derer die RJF sich nicht mehr für zuständig hielt, und erst jenseits dieser Grenze kann man studieren,

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wes Geistes Kind der biologisch-rassistische Nationalsozialismus wirklich war - im Umgang mit Behinderten, Geisteskranken, Unangepaßten, Andersrassigen. Wenn man den Nationalsozialismus insgesamt pädagogisch würdigen will, dann muß man diese dunkle Seite mitsehen. Die HJ war nur ein Teil der NS-Pädagogik, und gemessen an dem, was jenseits ihrer Grenze lag, war sie in der Tat ein Paradestück, das sich international vorführen ließ.

Ausgeschlossen waren "selbstverständlich" auch die Juden. Sie durften in den Friedensjahren noch eigene Jugendorganisationen unterhalten, an ihrem bekannten weiteren Schicksal ist auch Schirach mitschuldig geworden. HJ-Führer bzw. BDM-Führerin konnte nur werden, wer seine arische Abstammung nachweisen konnte. Zu welch absurden Konsequenzen das führen konnte, zeigt folgendes Beispiel. In einem Interview im Jahre 1980 schilderte Trude Bürkner-Mohr - bis 1937 Reichsreferentin des BDM, also höchste BDM-Führerin - folgenden Fall:

"Ich entsinne mich eines Falles in Berlin, der sich ungefähr 1936 ereignete. Dr. Goebbels rief mich an, weil ein Vater, der Parteigenosse war und in einem östlichen Vorort von Berlin ein sehr bekannter und vermögender Geschäftsmann war, ihm mitteilte, daß er beim Erbringen des Ahnennachweises auf eine jüdische Urgroßmutter gestoßen war. Seine beiden Töchter waren begeisterte und sehr tüchtige Mädel- und Jungmädelringführerinnen, die unter diesen Umständen nicht hätten im BDM bleiben dürfen. Der Vater wagte überhaupt nicht, seine Töchter von dieser Entwicklung zu unterrichten, und ich schlug Dr. Goebbels und dem Vater vor - es waren noch etwa drei Monate bis zur Versetzung -, die Mädchen ab Ostern in einem Internat in der Schweiz anzumelden, ohne den Mädchen die näheren Umstände zu sagen. So wurde dann auch verfahren. Die Mädchen blieben bis Kriegsende in der Schweiz. In Einzelfällen konnte ähnlich geholfen werden" (Rüdiger 1984, 56). Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, ob Frau Mohr wenigstens nachträglich die Absurdität dieser Geschichte klar geworden ist.

Diese Zusammenhänge, die wir jetzt nicht weiter verfolgen können, müssen immer im Blick bleiben, wenn wir Schirachs Konzept der HJ beurteilen wollen. Dann läßt sich folgendes feststellen:
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 1. Für die damalige Zeit war es nicht ungewöhnlich, eine nationale oder auch nationalistisch orientierte Jugendorganisation zu schaffen. Alle europäischen Länder waren mehr oder weniger nationalistisch orientiert, und die Menschen bezogen aus dieser nationalen Einstellung ein wichtiges Stück ihrer Identität. Den Nationalstaat übergreifende Orientierungen konnten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt auf dem Hintergrund des "Kalten Krieges" durchsetzen. Als Beispiel dafür mag der Prozeß der europäischen Integration dienen. Aber bis heute schlummern in den meisten europäischen Ländern nationale Gefühle, die nur eines Anlasses bedürfen, um sich zu artikulieren. Lediglich in Deutschland sind nach dem Zweiten Weltkrieg als eine seiner Folgen nationale Orientierungen weitgehend verschwunden, wie sich bei der deutschen Vereinigung zeigte, bei der nationale oder gar nationalistische Töne so gut wie gar nicht zu hören waren. Gleichwohl müssen wir erkennen, daß andere Völker in diesem Punkte eine relativ ungebrochene Tradition aufweisen.

Für die Zeit vor und nach 1933 waren nationale Orientierungen bis weit in die Arbeiterbewegung hinein selbstverständlich, und die anderen europäischen Völker hielten es für verhältnismäßig normal, daß die Deutschen nach der Niederlage von 1918 wieder ihre nationale Identität suchten.

Ungewöhnlich war nur, daß die HJ sich eine Monopolstellung sicherte und alle anderen - auch die national orientierten - Jugendverbände auflöste oder sich einverleibte. Das wäre in den anderen westeuropäischen Ländern an ihren demokratischen Traditionen gescheitert.

Diese Monopolisierung in Verbindung mit der späteren "Dienstpflicht" war die entscheidende politische Vorgabe für die von der HJ betriebene Jugendarbeit; denn auf diese Weise brach sie mit zwei Traditionen der bisherigen Jugendarbeit in Deutschland, nämlich mit der pluralistischen Angebotsstruktur und mit dem Prinzip der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft bzw. der Teilnahme.

Diese Monopolisierung aber wurde schon in den letzten Friedensjahren zum Problem - in den Kriegsjahren traten spezielle Aufgaben in den Vordergrund, was aber über den beginnenden Leerlauf Ende der dreißiger Jahre nicht hinwegtäuschen kann. Trotz der von Schirach eingeleiteten
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"musischen Wende", die auf die Dauer, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, die HJ vielleicht zu einem Freizeitverein mit differenzierten Angeboten hätte machen können, stellte sich einfach heraus, daß die "Volksgemeinschaft" im regelmäßigen "Dienst", der ja aus einer Mischung von Militärritual und Pfadfinderei bestand, nicht zu repräsentieren war. Je öfter ein solcher Dienst erlebt wurde, desto seltener konnte er zum "Erlebnis" werden. So wurde der HJ gerade ihre Monopolstellung zum pädagogischen Verhängnis, weil sie auf Dauer - wie die Jugendverbände vor 1933 auch schon - an den sonst üblichen und zugänglichen Freizeitmöglichkeiten gemessen wurde. Solange die HJ in diesem Punkte - also als Freizeitverein -attraktiv blieb, konnte sie auf freiwilligen Zulauf hoffen. Und viele Jungen und Mädchen waren, wenn sie ihre Ferien außerhalb der eigenen Wohnung verbringen wollten, schon aus finanziellen Gründen auf die Angebote der HJ angewiesen. Andererseits war die Monopolstellung natürlich hilfreich bei der Durchsetzung jugendpolitischer Ziele wie der Urlaubsregelung für jugendliche Lehrlinge und Arbeiter.

2. Wie wir schon bei Ernst Krieck gesehen haben, war "Volksgemeinschaft" eine soziale Fiktion, der keine Wirklichkeit entsprach. Es gab in der damaligen Gesellschaft alle möglichen Gemeinschaften und Organisationen, aber keine, die das ganze Volk zu repräsentieren vermochte: die unterschiedlichen Generationen, Klassen, Berufe, Einkommensgruppen, Religionszugehörigkeiten, landsmannschaftlichen Teilkulturen und Traditionen usw.. Aber was war "Volksgemeinschaft" im ganzen? So mußte nach dem Ende der "Kampfzeit" der normale und regelmäßige Dienst Züge von wirklichkeitsfremder Spielerei, einer Art von "Als-ob" annehmen, übrig blieben eigentlich nur vordergründig-pragmatische Aspekte, wie daß es nicht verkehrt sein kann, sich in frischer Luft zu bewegen. Lediglich die gemeinnützigen Tätigkeiten wie Sammlungen abhalten konnten als sinnvoller "Dienst" erfahren werden. Selbst das ursprüngliche Paradebeispiel von "Volksgemeinschaft", nämlich der gemeinsame Dienst aller Jugendlichen ohne Rücksicht auf Klassen- und Standeszugehörigkeit, fand seine Grenzen. Da die Rekrutierung für die HJ nach Wohngebieten erfolgte und damals die Wohngebiete sehr viel stärker als heute nach Stand und Einkommen getrennt waren, blieb die Durchmischung auf der unteren Ebene notwendigerweise beschränkt. Auf

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der Führungsebene war, mit zunehmendem Rang umso stärker, die Oberschuljugend überrepräsentiert. Wie also sollte "vor Ort" im normalen "Dienst" die "Volksgemeinschaft" "erlebbar" werden?

3. Offensichtlich war das Programm der HJ ein generationsspezifisches. Schirach und die anderen jungen Leute in der Reichsjugendführung hatten als Kinder den Ersten Weltkrieg erlebt, der sie ebenso prägte wie die politischen Wirren der Nachkriegszeit und ihre "Kampfzeit" vor 1933. Diese Erfahrungen schlugen sich nieder in ihrem HJ-Konzept: Die Anknüpfung an ein idealisiertes Frontsoldatentum (Beispiel "Langemarck") oder beim BDM an die Frauen der "Heimatfront". Das waren ihre Väter und Mütter, teilweise auch Brüder und Schwestern gewesen. Aber die Generationserfahrungen wechseln schneller als die Generationen, und schon Ende der dreißiger Jahre zeichnete sich ab, daß sie nicht einfach übertragbar waren. Wer 1938 zum "Jungvolk" kam, hatte den Krieg nicht mehr und die Weltwirtschaftskrise nur als Säugling oder Kleinkind erlebt, und was die noch gar nicht so alten Führer der ersten Stunde wie Schirach noch selbst erfahren hatten, war für den Zehnjährigen von 1938 bereits "Geschichte".

Schirach scheint dieses Problem verstanden zu haben und reagierte darauf mit der "Musischen Wende" und mit dem Versuch, der HJ in der Gestalt Goethes und damit der deutschen Klassik eine generationsunabhängige Tradition zu stiften. Für die Führungsgeneration der ersten Stunde um Schirach bedeutete die HJ-Tätigkeit einen persönlichen Aufstieg - weniger im materiellen Sinne, denn die Gehälter für die Hauptamtlichen waren bescheiden, sondern eher im politisch-kulturellen Sinne. Sie erhielten in relativ jungen Jahren - im Alter unserer Studenten! - Chancen für eine selbständige, alle Fähigkeiten herausfordernde und zudem öffentlich hoch angesehene Tätigkeit, wie sie Menschen dieses Alters nur selten zuteil wird. In der Weimarer Zeit hätten sie eine derartige Chance kaum bekommen, weil damals die Führungskräfte bis hin zur Arbeiterbewegung ein hohes Alter hatten und jungen Leuten das Nachrücken verwehrten. Während diese junge Führergruppe also diese Zeit verständlicherweise als "erfülltes Leben" ansehen konnte, stellte sich die Sache für die Jüngeren durchaus anders dar. Sie kamen zu einer etablierten und durchaus schon bürokratisierten Or-

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ganisation, in der sie ihren "Dienst" ableisten sollten. Wenn sie Glück hatten, trafen sie auf einen pfiffigen Führer, der die Sache einigermaßen spannend machte, sonst konnte es recht langweilig werden.

Das Schicksal der Generationsabhängigkeit eines pädagogischen Konzeptes galt übrigens nicht nur für die HJ, das Problem stellte sich auch vorher und nachher. Die "Wandervogel-Generation" vor dem Ersten Weltkrieg z.B. war ganz anders geprägt und entwickelte andere Bedürfnisse als die "Bündische Jugend" nach dem Krieg. Die Gegensätze waren so groß, daß sich die Älteren und die Jüngeren kaum mehr verstanden. Ein weiteres Beispiel ist die FDJ in der ehemaligen DDR, die ja ebenfalls ein weitgehend monopolisierter Jugendverband war. Gegründet und getragen zunächst von einer Generation, die im Widerstand gegen die Hitler-Diktatur und damit auch gegen die HJ mit einem "anti-faschistischen" Denk- und Handlungsmodell Politik und Staat in Deutschland neu ordnen wollte, wurde diese Massenorganisation immer mehr zu einer differenzierten Freizeitorganisation, in der die ursprünglichen politisch-moralischen Ausgangswerte zu ritualisierten Phrasen verkamen, weil sie die Generationserfahrung der Jüngeren nicht mehr trafen.

Mit diesem Problem der wechselnden Generationserfahrungen haben alle pädagogischen Berufe ihre Mühe, auch die Schule; sie muß darauf z.B. mit neuen didaktischen und methodischen Strategien reagieren. Aber für eine Jugendorganisation wie die HJ ist es von existentieller Bedeutung, weil Programme und Methoden, die zunächst "erfolgreich" waren, innerhalb weniger Jahre ins Leere laufen können, eben weil sie auf einmal an einer neuen Generationsgestimmtheit vorbeigehen.

4. Dieses Dilemma mußte sich insbesondere für die zentrale pädagogische Kategorie "Erlebnis" bemerkbar machen. Wie jemand eine bestimmte arrangierte Situation, z.B. eine Feierstunde oder einen Lageraufenthalt, "erlebt", kann man ihm nicht vorschreiben. Man kann es durch emotional-kalkulierte Inszenierungen provozieren. Dennoch muß aber immer wieder ein Funke überspringen, und das geschieht nur dann, wenn eine entsprechende "Gestimmtheit" vorliegt. Eine emotional ansprechbare Grundgestimmtheit ist aber abhängig von der erwähnten grundlegenden Generationser-
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fahrung. Um das Jahr 1933, als viele Menschen geradezu in einen Rausch gerieten und in Hitler und seiner Bewegung den Hoffnungsträger sahen, der sie aus ihrer Notlage befreien würde, war die Stimmung auch bei jungen Menschen anders als etwa im Jahre 1938. Nun war Alltag eingekehrt, die Menschen gingen ihren Aufgaben und Pflichten nach und versuchten, ihre Alltagsprobleme zu lösen. Jetzt war auch der HJ-Dienst zu etwas Alltäglichem geworden, von dem keine besondere Faszination mehr ausging. Die positiven Erlebnisse wollten sich nicht mehr so recht einstellen.

Wer sein pädagogisches Konzept auf "Erlebnis" baut, macht sich abhängig von der Gestimmtheit seiner Partner. Trifft er diese nicht, provoziert er Widerstand oder zumindest innere Distanz. Das gilt nach wie vor. Heute allerdings muß sich die Jugendarbeit als Teil eines komplexen Freizeitmarktes sehen, im Wettbewerb stehend mit zahlreichen kommerziellen Angeboten. Insofern sind "erlebnispädagogische" Angebote heute Versuche, sich marktgerecht zu verhalten, Marktlücken wahrzunehmen und auf diese Weise Teilnehmer zu gewinnen. Hier wird die Abhängigkeit der Pädagogik von ihren Partnern im Ausmaß der Nachfrage erkennbar. Derartige regulierende Mechanismen kannte die HJ nicht, sie mußte sozusagen im Rahmen einer pädagogischen Planwirtschaft agieren, mußte versuchen, entweder die wirklichen Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen zu antizipieren, oder sie zu leugnen. Solange also der eher pflichtorientierte "Dienst" mit subjektiven "Erlebnissen" verbunden blieb, entstand kein besonderes Problem. Fielen beide aber auseinander, dann mußte zwangsläufig der Pflicht- und Disziplinarcharakter des Dienstes stärker hervortreten. Dies wurde in den letzten Jahren vor dem Kriege erkennbar, und der Krieg hat hier möglicherweise einen pädagogischen Offenbarungseid verhindert.

Mit dem Konzept der "Erlebnispädagogik" ist aber noch ein weiteres prinzipielles Problem verbunden. Wie weit tragen solche Erlebnisse eigentlich? Üblicherweise sind pädagogisch inszenierte Erlebnissituationen ja künstliche, d.h. sie werden gerade deshalb pädagogisch arrangiert, weil sie sich im normalen Leben nicht oder nicht im gewünschten Umfange ergeben. Sie beziehen sich zunächst einmal nur auf diese jeweilige Situation. Wen also das Gemeinschaftserlebnis einer HJ-Feier beeindruckte, der ging ja anschließend

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wieder nach Hause, zu seiner Familie, in die Schule, an den Arbeitsplatz. Mag sein, daß ihm eine Weile das positive Erlebnis Mut und Motivation zur Alltagsbewältigung gab, oder daß er die tristen Seiten seines Alltags besser ertrug unter dem Aspekt der baldigen Wiederholung dieses positiven Erlebnisses. Aber es blieben doch eben "Sonntagserlebnisse", die nicht ohne weiteres den Alltag beeinflußten, der nach ganz anderen Regeln und Normen ablief. So muß es doch auch nachdenklich stimmen, wenn Schirach die Disziplin in seinem HJ-Heim preist, während dieselben Jungen am nächsten Morgen in der Schule wieder zur üblichen Rasselbande und zu infantilen Pennälern werden. Der Glanz des HJ-Heimes strahlte nicht auch in die Schulstube hinüber; die Jungen verhielten sich in unterschiedlichen Situationen jeweils nur angemessen. Das ist übrigens heute genauso. Zu Hause verhalten sie sich anders als in der Schule und wieder anders in der Disco. Diese Verhaltensdifferenzierung - sich an dem jeweiligen sozialen Ort angemessen nach den dort üblichen Regeln und Erwartungen verhalten zu können - ist ein bedeutsames Stück sozialen Lernens.

Man kann also davon ausgehen, daß im allgemeinen die Erlebnisse der HJ auf das Leben in der HJ beschränkt blieben. Anders verhielt es sich mit vielem, was man praktisch lernte: Sport, Gesundheitsinformationen, handwerkliche Techniken, künstlerische Fertigkeiten usw. Solche Kenntnisse und Fähigkeiten waren durchaus auf den Alltag übertragbar. Aber sie machten eben nicht den Kern dessen aus, was die HJ-Erziehung eigentlich erreichen wollte.

5. Das Konzept des "Vorbildes" muß ähnlich gesehen werden. Das Vorbild des HJ-Führers war zunächst einmal nur im Rahmen der HJ verwendbar. Schon beim Militär, dem die HJ äußerlich so ähnlich war, galten ganz andere Regeln - von Schule und Beruf ganz zu schweigen. Aber bezogen lediglich auf das HJ-Leben vermochte der Appell, sich vorbildlich für andere Gleichaltrige zu verhalten, sicher bei vielen Jungen und Mädchen Selbstbewußtsein und Motivationen für sozial angemessenes Handeln freizusetzen. Bei Licht besehen handelte es sich jedoch um partikulare Vorbilder, die keineswegs alle wesentlichen Probleme des jugendlichen Lebens ansprachen. Von einem guten dreizehnjährigen Jungvolkführer konnte ein zwölfjähriger Pimpf vielleicht lernen, wie man taktisch geschickt ein Geländespiel gewinnt, wie man Diszi-
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plin durchsetzt, wie man Befehle erteilt, oder wie man einen Konflikt in der Gruppe entschieden, aber auch kameradschaftlich löst. Aber schwerlich konnte man von ihm lernen, wie man mit Mädchen umgeht, zu Hause einen Konflikt löst, oder mit den Leistungserwartungen der Schule umgehen soll; dies hätte die dienstliche Dimension überschritten. Und hätte sich unser Pimpf wirklich nahezu total mit seinem jungen Führer identifiziert, hätte ihn dies eher in seiner eigenständigen Entwicklung behindern können.

Aber Schirach hatte mehr im Sinn als ein solches doch eher individuell orientiertes Vorbild-Konzept. Seine Absicht war, einen kollektiven Führer-Typus zu schaffen, mit einer gemeinsamen Haltung, Lebenseinstellung, mit einheitlichem Wertbewußtsein. Zur Ausprägung eines solchen Typus sollten nicht zuletzt die Adolf-Hitler-Schulen und die Braunschweiger Akademie für Jugendführung dienen. Die dahinterstehende Idee des "Ordens", die auf ihre Weise auch die SS zu realisieren suchte, war schon in Teilen der "Bündischen Jugend" der Weimarer Zeit zu finden - dort wie hier mit einem unübersehbaren Elite-Anspruch. Soziologisch gesehen ging es darum, erwünschte und idealisierte Lebenswelten und Lebensformen, die in der modernen, arbeitsteilig organisierten und auf persönlicher Konkurrenz beruhenden Gesellschaft nicht mehr von selbst sich einstellten, mit pädagogischen Mitteln wieder einzuführen. Insofern waren sie teilkulturelle Kunstprodukte, und es ist sehr fraglich, ob sie in Friedenszeiten auf die Dauer eine wirkliche Chance gehabt hätten; denn auch hier - wie schon beim "Erlebnis" - stellt sich die Frage nach der gesellschaftlichen Brauchbarkeit. Wäre ein solcher Führer-Typus, wie er Schirach vorschwebte, z.B. tauglich gewesen für die in einem modernen Industriebetrieb erforderlichen Haltungen und Einstellungen? Oder hätte er hier nicht eher weltfremd gewirkt?

Die grundsätzliche pädagogische Frage ist, ob man überhaupt mit pädagogischen Mitteln, also durch eine bestimmte Erziehung, eine erwünschte gesellschaftliche Realität produzieren kann, die sich sonst, nämlich im normalen gesellschaftlichen Leben - in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Kultur - nicht mehr von selbst ergibt. Diese Frage ist nicht nur an Schirach, sondern an die moderne Pädagogik überhaupt

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 bis auf den heutigen Tag zu stellen. Gerade im deutschen Begriff von "Erziehung" war immer der Gedanke virulent, man müsse Kinder und Jugendliche in allgemeiner, sozusagen prinzipieller Weise sittlich und moralisch erziehen, damit sie - mit diesem Fundus ausgestattet - als Erwachsene die Welt nach solchen moralischen Maßstäben zu gestalten in der Lage sind. Versittlichung der Welt durch richtige Erziehung war das Programm. Aber spätestens seit Beginn unseres Jahrhunderts, mit dem Einsetzen der Reformpädagogik, wurde dieses pädagogische Weltverbesserertum auch weltfremd, stemmte sich gegen die dominierenden gesellschaftlichen Tendenzen der Individualisierung, Pluralisierung, Arbeitsteilung und Mobilität. Pädagogik wurde zur Zivilisationskritik schlechthin. "Menschenbilder" als Wunschbilder entstanden in den Köpfen von Pädagogen, die der gesellschaftlichen Realität, den in ihr erforderlichen Denk- und Handlungsnotwendigkeiten immer weniger entsprachen. Kriecks und Baeumlers Kritik an diesem Bildungsverständnis war keineswegs unberechtigt. Gerade die Reformpädagogik liefert eine Fülle anschaulicher Beispiele für den illusionären Versuch, die gesellschaftliche Realität ausgerechnet z.B. durch zivilisationsferne Landerziehungsheime verbessern zu wollen. In dieser Tradition steht auch Schirachs Absicht, einen besonderen Führertypus auszubilden. Welche Verhaltensweisen, Charakterzüge, Tugenden sollten in diesem Typus zum Zuge kommen, und warum gerade diese und keine anderen? In der gesellschaftlichen Wirklichkeit spielt sich das anders ab. Dort bilden sich zum Beispiel Typen von Handlungskompetenz von selbst heraus, weil sie gebraucht werden; sie werden jedenfalls nicht auf Ober- und Hochschulen fabriziert. Darin ist Krieck zuzustimmen, daß der Anteil der planmäßigen, absichtsvollen Erziehung an der menschlichen Persönlichkeit eher gering ist; das meiste und wichtigste ergibt sich durch soziales Tätigsein in den jeweils zugänglichen Handlungsfeldern, also "funktional" im Sinne Kriecks. Eigentlich war die HJ wie auch die Jugendbewegung vorher ein Freizeitarrangement für ein Jugendleben, mit dem sich pädagogisch nicht viel verderben ließ. Der Einfluß dieses Arrangements war begrenzt, weil seine Wirkung zeitlich recht begrenzt war. "Dienst" fand höchstens ein- oder zweimal in der Woche statt, der Rest der Zeit wurde zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz, vielleicht in der Kirche, mit Freunden verbracht. Selbst die "Lager" in den Fe-

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rien waren nach spätestens drei Wochen wieder zu Ende. Die "Führer" an der Basis waren so, wie eben junge Leute damals waren. Was sie in "Führerschulungen" an Nützlichem und Praktischem für ihre Führungstätigkeit lernten, konnte das "Jugendleben" unten bereichern und Spaß machen. Mit der Absicht jedoch, über das Praktische und Nützliche hinaus mit pädagogischer Planmäßigkeit einen Vorbild-Typus als eigenständige Lebensform zu schaffen, erhielt die Sache eine neue Qualität, die allerdings wegen des Krieges nicht mehr durchschlagen konnte. Dieser Führer-Typ wäre nämlich auf die Dauer zu einer Art von "Berufs-Führer" geworden, der die Naivität der üblichen HJ-Arbeit an der Basis zum Verschwinden gebracht hätte zugunsten einer beruflichen Profilierung, die am ehesten noch in Richtung Indoktrination und Agitation, jedenfalls auf der ideologischen Ebene zu erwarten gewesen wäre. Es war nämlich gerade die Nicht-Professionalität der unteren HJ-Führer, die solche Einwirkungen in Grenzen hielt.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß wir bei der pädagogischen Beurteilung der HJ unterscheiden müssen zwischen dem, was unten an der Basis geschah, und den Ideen, Plänen und Praktiken auf der Ebene der oberen Führer, des "Führer-Korps", von denen hier die Rede ist. Solange unten die erwähnte Naivität Ton und Stil angab, gab es zwar Übergriffe, Ungereimtheiten, auch mal Unverschämtheiten, aber dies hatte noch kein System, sondern war eher spontanen Ursprungs. Gerade das theoretisch und professionell Imperfekte war das Humane daran.

Aber kehren wir zum Problem des Vorbildes zurück. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene vor Augen, die etwas erreicht haben, was sie selbst anstreben. Das können Menschen aus dem familiären Umfeld sein, aber auch solche Personen, die man persönlich nicht kennt, die nur auf dem Fernseher oder in Büchern auftauchen. Auch Erwachsene haben Vorbilder, sie gestehen es sich nur selten ein. Sie orientieren sich ebenfalls an Menschen, die irgend etwas besser können als sie selbst. Auch in der NS-Zeit haben junge Menschen sich Vorbilder gesucht, mit denen sie sich identifizieren konnten, und das waren sicher nicht nur HJ-Führer. Gleichwohl legt der jeweilige Zeitgeist einen bestimmten Typus des Vorbildes nahe, damals wohl nicht zuletzt den Typus des Offiziers.

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 Im Einzelfälle ist die Wahl von Vorbildern ein kompliziertes Unterfangen, hängt nicht nur vom jeweiligen Zeitgeist ab, sondern auch von dem im jungen Menschen sich entwickelnden Lebensentwurf. Eine falsche Wahl dabei zu treffen, gehört zu den Risiken des jugendlichen Lebens; auch Terroristen haben ihre Vorbilder. Wer als junger Mensch in der NS-Zeit sich der Nazibewegung zugehörig fühlte, suchte sich andere Vorbilder als jemand, der in Distanz oder gar in innerem Widerstand zu ihr stand.

Kompliziert wird die Vorbildsuche auch deshalb, weil ein einziges Vorbild nicht mehr ausreicht für alle Aspekte des eigenen Lebensentwurfes. Vorbilder müssen pluralisiert werden, das eine imponiert z.B. wegen seines beruflichen Könnens, das andere als verläßlicher Ehepartner, ein drittes wegen seines souveränen öffentlichen Auftretens (z.B. im Fernsehen). Vorbilder zu finden ist kein einmaliger Akt, sondern ein zeitlicher, also biographischer Prozeß, zu dem auch das Abstoßen oder Wechseln von Vorbildern gehört. Es wäre also abwegig, Vorbilder für andere pädagogisch einplanen zu wollen, wie es Schirach vorhatte. Junge Leute montieren sich das, was sie zu brauchen glauben.

Keineswegs abwegig jedoch war die Idee, Gleichaltrige zum vorbildhaften Verhalten gegenüber ihresgleichen zu ermuntern; denn damals wie heute brauchen Kinder und Jugendliche die Ermutigung durch diejenigen, die etwas besser können als sie selbst, die aber nicht so weit entfernt sind wie ein Erwachsener. Um ein Beispiel aus dem Sport zu nehmen: Ein Junge, der ein guter Fußballer werden will, orientiert sich sicher an einer Spielerpersönlichkeit wie Beckenbauer, aber auch an seinem Mittelstürmer in der Jugendmannschaft, von dem er das Dribbeln lernen kann.

Ähnlich muß man wohl urteilen über die Leitmotive "Ehre" und "Kameradschaft", die auch in Verbindung mit "Ritterlichkeit" die Norm für den Umgang zwischen Jungen und Mädchen sein sollten. Für die damaligen jungen Leute enthielten diese Worte Vorstellungen, die sowohl zur inneren Stabilität wie zu einem angesehenen Sozialverhalten führen konnten. Solange die damit verbundenen Erwartungen, Bilder und Mythen auf das Jugendleben beschränkt blieben, handelte es sich um eine Art von Pfadfinderei. Daß sie letztlich wie die Volksgemeinschaft auf sozialen Fiktionen beruhten, kann dann außer acht gelassen werden.

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Problematisch wurden diese Attitüden erst, als sie auch die Vorstellungswelt von Erwachsenen beherrschen konnten wie wir am Beispiel des "Germanismus" von Baeumler gesehen haben. Problematisch war ferner, daß die soziale Werthaltung, die in den Begriffen zum Ausdruck kam, nur in bezug auf die eigene Gruppe galt und insoweit die Ausgrenzung anderer einschloß. Die Frage ist jedoch, ob dies den Jüngeren bewußt geworden ist. Folgenreicher jedenfalls war, daß diese auf die eigene Gruppe begrenzte Moral auch das Wertbewußtsein von Erwachsenen bestimmte. Diese Moral war nicht an der demokratischen Tradition der Menschenrechte orientiert, die dem menschlichen Individuum vor jeder sozialen Zugehörigkeit eine grundsätzliche Würde zubilligt. Die Folgen sind bekannt.

6. Mit seiner scharfen Schulkritik sprach Schirach in seiner Rede über die "Einheit der Erziehung" sicher vielen jungen Menschen aus der Seele. In der Tat traf diese Kritik insbesondere das humanistische Gymnasium keineswegs unverdient.

Unsere heutigen pädagogischen Maximen, daß an den Bedürfnissen und Interessen der Schüler angeknüpft werden müsse, daß der Unterricht zwar auch auf das künftige Leben vorbereiten, zugleich aber auch das gegenwärtige Leben der Schüler kritisch-fördernd begleiten müsse, waren damals weitgehend unbekannt, obwohl die Reformpädagogik sie längst propagiert hatte. Zwar bemühte sich eine jüngere Generation von Lehrern zumindest teilweise um moderne Formen des Unterrichts und der Beziehung zu ihren Schülern, dennoch waren die Schulen noch weitgehend Disziplinierungsanstalten geblieben. Nicht von ungefähr war das Gymnasium ein beliebtes Motiv für Spott und Satire, wie sie etwa in der "Feuerzangenbowle" von Spoerl oder in "Professor Unrat" von H. Mann zum Ausdruck kommen. Jedenfalls stand die erzieherische Disziplinierung der Schüler im Vordergrund, die sich einmal aus der Sache und zum anderen aus der Institution rechtfertigte. Die "Sache", also die Unterrichtsstoffe - gerade auch die scheinbar weltfremden wie die alten Sprachen - sollten die Schüler zwingen, ihre eigenen Interessen, Gefühle und Bedürfnisse für bedeutungslos zu halten angesichts der Bedeutungsschwere der sittlichen, kulturellen und ästhetischen Gehalte, die der Unterricht präsentierte. Die Schule als Institution sollte dafür sorgen, daß der Schüler sich diesen allgemeinen Prinzipien gemäß ver-

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 hielt - nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Schule.

Paradoxerweise war es aber gerade diese von heute aus gesehen "rückständige" und teilweise auch "reaktionäre" pädagogische Grundhaltung, die dann Möglichkeiten des Widerstandes oder zumindest der Distanz gegenüber der NS-Ideologie eröffnete. Lehrer konnten streng bei ihrer Sache bleiben, scheinbar ohne jede Rücksicht auf die aktuellen Zeitläufe, und doch hier und da eine Bemerkung fallen lassen, die zum Nachdenken über die Aktualität anregen konnte, ohne daß sie sich allzu gefährlich damit hervorwagen mußten. Die Schuldisziplin andererseits vermochte bis zu einem gewissen Grade Einflüsse von außen abzuwehren, weil der Begründung schwer zu widersprechen war, daß Disziplin nun einmal nötig sei. Nach allem, was wir heute wissen, scheint das traditionelle Gymnasium weniger von der NS-Ideologie okkupiert worden zu sein als etwa die Volksschule. Während das Gymnasium sich immer von seiner Sache her verstand, also von den Inhalten des Unterrichts, verstand sich die Volksschule primär vom Schüler her, und die Ideen der Reformpädagogik hatten deshalb hier erheblich mehr Resonanz gefunden. Je weniger jedoch in diesen Schulen der Eigenwert der Sache geltend gemacht werden konnte, um so weniger Widerstandsmöglichkeiten bestanden gegen ideologischen Druck von außen. Das führt zu der vielleicht überraschenden Einsicht, daß gerade die "fortschrittliche" Pädagogik, die sich um die Subjektivität des Schülers besonders bemühte, auch besonders schutzlos war gegen ideologische Verführungen. Indem die Reformpädagogik die Sachverhalte zu erzieherischen Zwecken instrumentalisierte - was davon ist gut und nützlich für das Kind, dient seiner sittlichen Entwicklung -, machte sie diese pädagogischen Zwecke auch fast beliebig austauschbar. An die Stelle des reformpädagogischen Ideals der optimalen individuellen Entwicklung konnte mühelos das kollektive Ideal des "Volksgemeinschafts-Menschen" treten. Dieses Problem stellt sich übrigens bis heute. Die bildungspolitischen Auseinandersetzungen in den 70er Jahren zum Beispiel zwischen "Linken" und "Konservativen" beruhten schlicht darauf, daß bestimmte pädagogische Zwecke im Hinblick auf ein erwünschtes Verhalten der Schüler vorgegeben wurden, nach denen dann die Stoffe des Unterrichts bzw. die Fragestellun-
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 gen an diese Stoffe ausgewählt werden sollten. Mit anderen Worten: Es ist die erzieherische Absicht selbst, die disponibel macht für ideologische Einbrüche, weil sie nicht auf sachliche Aufklärung aus ist, sondern auf die Herstellung eines erwünschten Verhaltens bzw. einer erwünschten Gesinnung.

Schirach hielt sich jedoch nicht für einen ideologischen Verführer, sondern für einen pädagogischen Reformator. Dabei hat er ein Dilemma der pädagogischen Berufe durchaus richtig gesehen: Die professionelle Deformation, die geradezu unvermeidlich dadurch eintritt, daß man auf einen in jungen Jahren gewählten pädagogischen Beruf bis zum Ende seines Berufslebens im allgemeinen fixiert bleibt. Wer heute offen mit älteren Lehrern oder Sozialpädagogen sprechen kann, erfährt meist schnell, eine wie schreckliche Perspektive das ist. Ein Hochschullehrer kann mit der ständigen Erfahrung, daß seine StudentInnen immer jünger werden, die andere verbinden, daß er durch seine Studien und Forschungen sich selbst weiterbildet und dadurch vielleicht doch auch wertvoller für seine Hörer werden kann. Ein Schullehrer hat es da weitaus schwerer, weil er zwar auch seine zunehmende lebensgeschichtliche Erfahrung und seine Weiterbildung in den Umgang mit Schülern einbringen kann, jedoch in einem weit geringeren Maße, weil der Schulunterricht thematisch relativ begrenzt ist. Der Typ des Lehrers, der Jahr für Jahr dieselben Lektionen aus der Schublade zieht, sich nach Ferien und Freizeit sehnt, möglichst keine Zeit investiert, die nicht unabweisbar dienstlich gefordert ist, ist auch heute massenhaft verbreitet, und wer sich darüber mokiert, möge bedenken, daß ein solches Verhalten von einem bestimmten Zeitpunkt an schon aus Selbstschutz notwendig wird.

Gegen Schirach muß deshalb klargestellt werden, daß diese Notwendigkeit in das professionelle Selbstbild mit übernommen werden muß, um Fehleinschätzungen oder gar psychosomatische Erkrankungen zu vermeiden. Erzieherisches Dauer-Engagement, wie Schirach es sich vorstellte, ist nur relativ kurze Zeit durchzuhalten, was darüber hinausgeht, droht schnell neurotische Züge anzunehmen. Insofern ist der "Unterrichtsbeamte", wie Schirach ihn karikierte, bis zu einem gewissen Grade eine professionelle Notwendigkeit.

Trotz solcher Einwände ist Schirachs Idee einer größeren Mobilität innerhalb der pädagogischen Berufe keineswegs

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von vornherein abwegig. Es wäre sicher ein Glück für alle Beteiligten, vor allem auch für die betroffenen Kinder, wenn die jahrzehntelange Fixierung auf einen pädagogischen Teilberuf - bei den Lehrern noch wieder unterteilt in Grundschul-, Hauptschul-, Realschul- und Gymnasiallehrer - zugunsten einer gewissen Fluktuation verändert werden könnte. Warum sollte - um Schirachs Beispiel zu variieren - nicht jemand bis zum Abitur in einem Jugendverband mitwirken, mit 22 Jahren Sozialpädagoge sein, nach fünf oder sechs Jahren Berufserfahrung in der Jugendarbeit oder in einem Jugendgefängnis nach einem Zusatzstudium Lehrer werden, nach weiteren fünf oder sechs Jahren in die Erwachsenenbildung gehen, mit etwa 40 nach einem weiteren Fortbildungsstudium wieder an die Schule - diesmal vielleicht in einer anderen Schulform - und mit etwa 50 in die Verwaltung gehen oder als Leiter einer pädagogischen Einrichtung tätig werden? Und dies nicht etwa im Sinne einer behördlich festgeschriebenen Laufbahn-Karriere, sondern einer individuellen freiwilligen, aber auch vom Dienstherrn zu honorierenden beruflichen Mobilität.

Dagegen sprechen heute eigentlich nur die äußeren Bedingungen: die Laufbahn- und Besoldungsvorschriften, das Interesse der Administration an kalkulierbarem Personal und sicher auch das gewerkschaftliche Interesse an klaren Dienststellenbeschreibungen und an einer eindeutigen Klientel für Gehaltsforderungen. Gewiß gibt es solche Mobilität in eingeschränkter Form auch heute: Ein Hauptschullehrer kann sich zum Realschullehrer, dieser zum Gymnasiallehrer fortbilden, und einigen wenigen gelingt es, in der Schulverwaltung tätig zu werden.

Jedenfalls lehrt uns unsere Erfahrung, daß bestimmte pädagogische Tätigkeiten im allgemeinen optimal in einem bestimmten Lebensalter erledigt werden können. Aufgaben, die eines besonderen persönlichen Einsatzes bedürfen, können eher von Jüngeren als von Älteren erfüllt werden. Es gibt heute an unseren Schulen Kollegien, deren Mitglieder kaum jünger als 50 sind. Es fehlen die Jüngeren, die z.B. engagiert und mit Spaß an der Sache einen Schullandheimaufenthalt arrangieren würden. Fortbildung durch Berufswechsel hätte jedenfalls eine andere Qualität als jene Fortbildung, die der Dienstherr heute wünscht und die die Fixierung auf den pädagogischen Teilberuf nur verstärkt. "Fortbildung" in diesem

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 Sinne ist nämlich nicht, wenn ein Geschichtslehrer an einem Historiker-Kongreß teilnimmt, sondern wenn er unter seinesgleichen bleibt und mit ihnen über neue methodische Finten des Unterrichts nachsinnt.

Schirachs Forderung nach einer Mobilisierung der pädagogischen Berufe, nach der Aufhebung ihrer bornierten Arbeitsteiligkeit ist auch heute noch einer ernsthaften Diskussion würdig. Aber unter dem Stichwort der "Einheit der Erziehung" wollte er mehr, nämlich die Integration dieser Berufe mit Parteitätigkeiten unter der leitenden Idee der übergreifenden nationalsozialistischen Weltanschauung. Darin steckt wie in anderer Weise bei Hitler und Krieck die Wunschvorstellung eines Erziehungsstaates, dessen Realität im ganzen nach den gleichen weltanschaulichen Prinzipien gestaltet werden soll. Die in der HJ entwickelten Erziehungsmaßstäbe sollten auch auf die Schule übergreifen und dann über das in den Adolf-Hitler-Schulen und der "Akademie für Jugendführung" geprägte Führerkorps im ganzen Volk, in Staat und Gesellschaft wirksam werden. Das war nicht nur im Sinne einer Anpassung gemeint, einer ständigen Reproduktion des Bestehenden, sondern durchaus auch im Sinne einer Erneuerung bzw. Verbesserung der in der Partei und ihren Organisationen anzutreffenden Haltungen und Gesinnungen, in der Art eines "jungen Nationalsozialismus" mit durchaus elitären Zügen. Ähnlich sah sich damals die noch junge SS, mit der Schirach nicht zuletzt deshalb auch zu kooperieren versuchte.

Der Krieg ließ - außer in Ansätzen im Rahmen der KLV-Lager - diese "Einheit der Erziehung" nicht Wirklichkeit werden. Vieles spricht dafür, daß sie gescheitert wäre. Zum einen wäre die Massenorganisation der HJ gar nicht in der Lage gewesen, einen derartig hohen Anspruch einzulösen. Sie war eine Jugendorganisation, und wollte sie als solche erfolgreich sein bzw. bleiben, mußte sie sich im wesentlichen auf ihre eigenen Probleme konzentrieren. Zum anderen beruhte die Anziehungskraft der HJ - wie auch der Jugendbewegungen vor ihr - gerade darauf, daß sie weder Elternhaus noch Schule war, was in Schirachs Rede ja auch unfreiwillig deutlich wurde, wenn er auf das unterschiedliche Verhalten der Jungen in Schule und HJ-Heim hinweist. Vermutlich hätte sich auf die Dauer auch in den Adolf-Hitler-Schulen das übliche "Pennäler-Verhalten" eingestellt, wenn dieser Schultyp

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 sich erst einmal bürokratisch auf Dauer gestellt hätte. Die Erziehungsutopie von der "Einheit der Erziehung" ignorierte den arbeitsteiligen Charakter der damaligen Gesellschaft. Verstand man in diesem arbeitsteiligen Rahmen die Schule primär als Stätte des Unterrichts - wofür auch Baeumler plädierte -, dann war auch das "Schulleben" auf diese Aufgabe auszurichten, und ein demgegenüber gleichberechtigter oder gar übergeordneter pädagogischer Anspruch, wie ihn die HJ vertrat, hätte diese Aufgabe nur beeinträchtigen können. In den ersten Jahren hat es derartige Konflikte auch wiederholt gegeben, aber im wesentlichen hatte sich dabei die Schule gegen die HJ durchgesetzt. Als nun am Ende der 30er Jahre die Schulleistungen gesunken waren, während gleichzeitig der Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs zunahm, hatte Schirachs Anspruch auf die Schule keine Chance mehr, zumal seiner HJ und ihrer schul- und lehrerfeindlichen Agitation öffentlich eine Mitschuld an dieser Entwicklung angelastet wurde.

Während Baeumler zu Recht zwischen den Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und HJ strikt unterschied, weil sie nicht auseinander ableitbar seien, plädierte Schirach im Gegenteil für eine Art von HJ-Pädagogisierung der Schule. Dabei übersah er, was Baeumler ausdrücklich betonte, daß weder dem Schüler noch dem Lehrer damit gedient ist, wenn die Lehrer sich als "Freunde" oder "Kameraden" der Schüler verstehen und damit die nötige Distanz aufheben, die nicht nur darin begründet liegt, daß die Lehrer "das Pensum schon hinter sich haben", wie Baeumler es ausdrückte, sondern daß der Lehrer auch über die Vergabe von Berechtigungen entscheidet, auf die der Schüler angewiesen ist. Der Lehrer tritt also dem Schüler nicht nur als Person gegenüber, sondern auch als Repräsentant einer im Prinzip unpersönlichen Institution, die als solche Forderungen an den Schüler stellt.

Die HJ im Kontext der Jugendgeschichte

Bisher habe ich das HJ-Konzept im einzelnen einer kritischen Würdigung zu unterziehen versucht. Dieses Kapitel soll nun der Frage nachgehen, wie die HJ im Zusammenhang

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der Jugendgeschichte unseres Jahrhunderts zu sehen ist. Die Historiker diskutieren diese Frage u.a. unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität bzw. der Diskontinuität. War die HJ im wesentlichen eine plausible Weiterentwicklung von Strömungen und Tendenzen, die längst vorher eingesetzt hatten, die sich in ihr nur fortsetzten bis auf unsere Tage? Oder bedeutet sie einen Bruch innerhalb einer solchen Kontinuität, so daß diese erst nach 1945 wieder fortgesetzt werden konnte? Die Beantwortung dieser Frage ist auch für die politisch-moralische Beurteilung jener Zeit von großer Bedeutung. Die Problematik der Mitschuld der Deutschen an der politischen Kriminalität des Nazi-Regimes stellt sich anders dar, wenn wir die NS-Herrschaft als einen Bruch mit der damaligen deutschen Tradition, vielleicht sogar als einen Überfall auf politsch Ahnungslose ansehen, als wenn wir von der Vermutung einer Kontinuität ausgehen, also davon, daß die NS-Zeit ihre plausible Vorgeschichte hatte und in gewisser Weise Vorgeschichte für die Entwicklung nach 1945 gewesen ist.

Ich will dieses Problem hier nicht im allgemeinen aufgreifen, sondern bezogen auf unser Thema, die Organisation der Jugend. Schon an mehreren Stellen war deutlich geworden, daß die HJ nicht einfach "vom Himmel gefallen" ist, sondern das allermeiste, was für sie charakteristisch war, gar nicht selbst erfunden, sondern vorgefunden hatte.

Das hängt mit der Tatsache zusammen, daß gegen Ende des vorigen Jahrhunderts "Jugend" als eine eigenständige soziale Gruppe ins Bewußtsein der Öffentlichkeit trat - ähnlich wie "die" Arbeiter oder "die" Frauen. Das 19. Jahrhundert kannte nur Kinder und Erwachsene. Die pädagogischen Bemühungen waren auf die Kinder konzentriert, vor allem auf die der unteren Schichten, der Proletarier. Die des Bürgertums oder gar des Adels schienen keiner besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit zu bedürfen, für ihr Aufwachsen waren ihre Familien zuständig. Die Proletarierkinder aber hatten einen solchen familären Rückhalt kaum, deshalb fielen sie auf. Sie gingen nicht oder sehr unregelmäßig zur Schule, weil sie so früh, wie es ihre körperliche Verfassung zuließ, zum Lebensunterhalt beitragen mußten. Für diese Kinder die längst eingeführte Schulpflicht auch praktisch durchzusetzen und die Kinderarbeit abzuschaffen, war ein wesentliches sozialpolitisches und schulpädagogisches Ziel dieser Zeit.

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 "Die Jugendlichen" traten erst gegen Ende des Jahrhunderts ins öffentliche Bewußtsein. Die sich vergrößernden Industriestädte hatten eine zunehmende Zahl jugendlicher Arbeiter angezogen, die mit ihren Eltern oder allein in speziellen Wohngebieten wohnten. Die jugendlichen Arbeiter wurden dadurch öffentlich auffällig, daß sie über eigenes Geld verfügten, das sie in ihrer Freizeit ausgeben konnten, und daß sie in ihren Wohnvierteln charakteristische Formen subkulturellen Verhaltens entwickelten, die das Bürgertum als bedrohlich empfand, das durch die immer größer und mächtiger werdende Arbeiterbewegung (Gewerkschaften auf der einen Seite, SPD auf der anderen) sich ohnehin an die Wand gedrückt fühlte; denn immerhin forderte diese Bewegung eine revolutionäre Umgestaltung der "kapitalistischen" in eine "sozialistische" Gesellschaft. Die relativ unkontrollierte Freizeit dieser jungen Arbeiter in den Griff zu bekommen, wurde bis zum Ersten Weltkrieg ein vorherrschendes pädagogisches Thema. Dabei wurden gleichsam "Zuckerbrot" und "Peitsche" kombiniert: die "Peitsche" war die Einführung der modernen Fürsorgeerziehung in Heimen, die seit 1900 in Preußen verhängt werden konnte, auch wenn der Jugendliche gar keine Straftat begangen hatte, aber zu "verwahrlosen" drohte. Das "Zuckerbrot" war die Einführung der "Jugendpflege" vor dem Ersten Weltkrieg, also der Jugendarbeit im heutigen Sinne. Unsere moderne Jugendarbeit geht also zurück auf Versuche des Staates, die Freizeit der Arbeiterjugendlichen "sinnvoll" zu gestalten, sie von der Straße zu holen, vor "Verwahrlosung" zu bewahren und vor allem auch von der revolutionären Arbeiterbewegung fernzuhalten.

Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Arbeiterschaft - und das galt auch für die jugendlichen Arbeiter - ausdifferenziert. Einem Großteil von angelernten, kaum ausgebildeten Arbeitern stand eine zunehmende Zahl qualifizierter und somit auch selbstbewußter Facharbeiter gegenüber, die für ihre Betriebe wichtig geworden waren. Diese Gruppe der jungen, aufstiegsorientierten Facharbeiter war es, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die Arbeiterjugendbewegung gründete und - wenn auch nur in Minderheiten - bis 1933 in verschiedenen Jugendorganisationen der SPD und der Gewerkschaften zu finden war.

Diese Jugendbewegung war von ihrem Ursprung her eine Organisation zur Durchsetzung wirtschaftlicher und Bildungs-

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 interessen junger Arbeiter und Lehrlinge. Da sie einerseits möglichst viele ihresgleichen für eine starke Organisation gewinnen, andererseits aber auch die Öffentlichkeit auf ihre Forderungen aufmerksam machen wollte, erfanden ihre Mitglieder bestimmte Formen der öffentlichen Selbstdarstellung, nämlich Kundgebungen wie die schon erwähnten "Jugendtage". Diese Formen der öffentlichen Präsentation hatte die Arbeiterjugend natürlich von der Arbeiterbewegung der Erwachsenen übernommen. Massenaufmärsche und Massendemonstrationen beruhten auf der Erfahrung, daß nur so die Öffentlichkeit auf die eigenen Probleme und Forderungen aufmerksam gemacht und daß zugleich das kollektive Selbstbewußtsein in den eigenen Reihen gefestigt und gesteigert werden konnte. Neu war also nicht die Massenkundgebung selbst, sondern daß auch eine Jugendorganisation sich ihrer bediente, und Schirach übernahm diese Form der Selbstdarstellung zum ersten Mal bei dem schon erwähnten "Jugendtag von Potsdam" im Oktober 1932.

Nicht minder bedeutsam für unser Thema war aber die Entstehung der bürgerlichen Jugendbewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts. Der "Wandervogel" - offiziell 1901 gegründet -entwickelte und praktizierte ein eigenständiges "Jugendleben", wie es die HJ - zumindest im Hinblick auf die äußeren Formen - dann aufgriff. Während bis dahin die Überzeugung herrschte, daß "Erziehung" nur dort stattfinden könne, wo Erwachsene auf Kinder und Jugendliche einwirken könnten, und daß deren Aufwachsen möglichst umfassend von Erwachsenen beobachtet und kontrolliert werden müsse - deshalb auch das Unbehagen über die relativ unkontrollierte Freizeit der Arbeiterjugend! -, erhoben nun junge Menschen aus bürgerlichen Familien den Anspruch, zumindest bis zu einem bestimmten Ausmaße sich selbst erziehen zu können und sogar zu müssen. Sie taten dies, indem sie sich in Gleichaltrigen-Gruppen zusammenfanden, in Distanz zur großstädtischen Zivilisation traten und statt dessen auf Wanderungen und Fahrten die Natur in Gestalt von Wäldern, Wiesen, Seen und Bergen entdeckten, indem sie in Distanz zur offiziellen Mode sich bequem kleideten, eigene Lieder und einen eigenen Jargon entwickelten; bei den Liedern handelte es sich im wesentlichen um alte, weitgehend unbekannt gewordene Volkslieder, die Hans Breuer, einer der Wandervogel-Führer, als Liederbuch unter dem Titel "Zupfgeigen-

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 hansl" schon vor dem Ersten Weltkrieg herausgab. Dieses Buch wurde ein Bestseller und bis 1933 über eine Million Mal verkauft.

Heute nennen wir eine solche Gruppierung wie den Wandervogel eine "Subkultur" oder "Teilkultur", deren vielfältige Erscheinungsformen sind uns inzwischen selbstverständlich geworden. Damals handelten die jugendlichen Gruppen aus ihrem spontanen Erleben heraus, nicht um eine neue pädagogische Theorie zu verwirklichen, die Einflüsse von Erwachsenen suchten sie möglichst fernzuhalten; gleichwohl fühlten sie sich ein wenig elitär, weil sie auch lebensreformerische Forderungen wie Alkohol- und Nikotinabstinenz zu realisieren trachteten. Sie konnten jedoch nicht wissen, daß sie mit ihren relativ harmlosen Freizeit-Erfindungen eine Entwicklung einleiteten - bzw. ihr Ausdruck gaben -, die die Stellung der Jugendlichen in der Gesellschaft nachhaltig verändern sollte. Diese Veränderungen sollen nun knapp skizziert werden, wobei die besondere Rolle der HJ in diesem historischen Prozeß im Blick bleiben soll; sie lassen sich mit den Begriffen "Vergesellschaftung", "Pluralisierung" und "lndividualisierung" darstellen.

Vergesellschaftung der Jugendphase

"Die Jugend" als besondere soziale Gruppe entsteht also um die Jahrhundertwende. Vorher gab es natürlich auch schon jugendliche Menschen, aber sie wurden nicht als besondere soziale Gruppe klassifiziert. Das konnte vielmehr erst geschehen, als man "den" Jugendlichen gemeinsame Merkmale zuschrieb, die sie von anderen sozialen Gruppen unterscheidbar machte. Man kann diese Merkmale unter dem Stichwort der "Pädagogisierung" zusammenfassen. Das Jugendalter wird nun definiert als eine eigentümliche Lebensphase, die in besonderer Weise produktiv und für die weitere Lebensgeschichte von spezifischer Bedeutung ist, andererseits aber auch als eine Phase, die besonders gefährdet ist. Die Gefährdung wurde vor allem in der unkontrollierten Freizeit der Arbeiterjugend gesehen, die produktive Seite in den Selbsterziehungsversuchen der bürgerlichen Jugendbewegung. Die pädagogische Definition des Jugendalters enthielt also von vornherein zwei Seiten: das Bemühen um eine

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dem Alter angemessene Förderung, aber auch um eine besondere soziale Kontrolle. Solange sich die Jugendlichen in den von Erwachsenen geprägten sozialen Feldern bewegten - in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Militär -, konnte diese besondere Kontrolle als entbehrlich erscheinen. In der Freizeit jedoch waren die Jugendlichen einer solchen Kontrolle nur noch begrenzt unterworfen. Hier entstanden vielmehr Spielräume der Selbstbestimmung unter Gleichaltrigen.

Ausgangspunkt der damals zum öffentlichen Thema werdenden "Jugendfrage" war also die Freizeit. Als im Jahre 1891 der arbeitsfreie Sonntag eingeführt wurde, gab es in bürgerlichen Kreisen - unter Professoren, Pfarrern, Lehrern, Ärzten, Unternehmern - eine Diskussion darüber, ob die erwachsenen Arbeiter diese freie Zeit nicht zu ihrem Schaden, nämlich zur Trunksucht oder zur politischen Rebellion nutzen würden, und es gab alle möglichen Programme, wie man sie dazu bewegen könne, ihre Freizeit auch "sinnvoll" zu verbringen - nämlich im Sinne bürgerlich-kultureller Leitvorstellungen. Diese Sorge galt natürlich erst recht den Jugendlichen. Freizeit war nicht nur einfach ein Stück Zeit, mit der man tun konnte, was man wollte. Sie wurde schnell auch zu einem eigentümlichen Raum, in dem sich die Regeln des Marktes durchsetzten - gegen die Regeln des Militärs, der Schule oder der Fabrik. Wie bescheiden zunächst auch die finanziellen Möglichkeiten für die meisten Menschen sein mochten, sie erlebten ihre Freizeit als Zeit persönlicher Freiheit, in der man wählen konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten und Angeboten. Wählen konnte man aber nicht nur zwischen Konsumgütern, sondern auch zwischen politischen und weltanschaulichen Positionen, und für diese konnte man nun auch geworben werden. Der Zugriff auf die Freizeit der anderen - auch und gerade der Jugendlichen - wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg und erst recht danach zu einem Hauptthema der Öffentlichkeitsarbeit aller möglichen Verbände und Organisationen. Die Freizeit der anderen rief nicht nur ökonomische, sondern auch weltanschauliche und politische Interessen auf den Plan, und die Monopolisierung der Jugendarbeit durch die HJ war eine Kombination von Freizeitkontrolle, Ausschalten anderer Wettbewerber und des Versuches, die Freizeitaktivitäten im gewünschten Sinne "sinnvoll" zu kanalisieren - alles Absichten, die schon vor dem Ersten Weltkrieg erkennbar sind. Rück-

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 blickend muß man sagen, daß die zunehmende Freizeit in Verbindung mit steigendem Wohlstand und mit der Massenproduktion technisch hochwertiger Gebrauchsgüter - vom Auto bis zum Fernseher - den Charakter einer kulturellen Revolution gehabt hat, die unsere menschlichen Beziehungen, unsere Einstellungen und Verhaltensweisen, unsere Normen und Werte entscheidend verändert hat.

Die neue Aufmerksamkeit für das Jugendalter um die Jahrhundertwende zeigte sich in verschiedenen Formen. Die sogenannte "Jugendgerichtsbewegung" wollte den jugendlichen Straftäter anders behandeln als den erwachsenen, nämlich "erzieherisch". Diese Bestrebungen fanden Ausdruck im Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923, das in wesentlichen Punkten bis 1991 galt und dann durch das "Kinder- und Jugendhilfegesetz" (KJHG) abgelöst wurde. In den schon erwähnten Fürsorgeerziehungs-Anstalten versuchte man, sogenannte "verwahrloste" Jugendliche - die fast ausschließlich aus der Arbeiterschaft kamen - nach den Prinzipien bürgerlicher Wohlanständigkeit umzuerziehen. Die Reformpädagogik richtete ihre Aufmerksamkeit auf die besonderen Bedürfnisse, Probleme und Schwierigkeiten jugendlicher Menschen, und die Wissenschaft wollte auch nicht zurückstehen und leistete ihren Beitrag zum Thema in Gestalt einer zunächst vor allem psychologisch orientierten Jugendkunde.

Überwölbt wurden alle diese Einzelbestrebungen durch eine Art von öffentlicher Philosophie, den sogenannten "Jugendkult". Er entstand um die Jahrhundertwende vor allem in Kreisen des protestantischen Bildungsbürgertums. Das Jugendalter wurde gepriesen als Garant einer besseren Zukunft. Während die Erwachsenen zu sehr verstrickt seien in vordergründigem Materialismus, in wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Sonderinteressen, seien Jugendliche von solchen "Verunreinigungen" des Charakters noch befreit; deshalb könnten sie sich große und edle Ziele setzen, Ideen und Haltungen entwickeln, die als sittliche Erneuerung später dem ganzen Volk zugute kommen könnten. Kein geringerer als Nietzsche gehörte zu den Propagandisten einer solchen Kulturkritik, die die bürgerliche Welt verdammten, zugleich aber ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft auf die Jugend projizierten.

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Hintergrund dieses Jugendkultes waren die besonders vom Bildungsbürgertum als unangenehm und bedrohlich empfundenen sozialen und kulturellen Veränderungen, die seit 1870 wegen der rapiden Industrialisierung entstanden waren; sie brachten den gesellschaftlichen Status aller Schichten der Bevölkerung in Bewegung, was - wovon noch die Rede sein wird -zur massenhaften Gefährdung von Identität führte. So verlor das humanistisch orientierte Bildungsbürgertum mehr und mehr seine Position als moralischer "Sinn-Lieferant" und wurde überrundet durch ein neues Wirtschaftsbürgertum, das sich auch an den Hochschulen nicht mehr an den humanistischen Idealen orientierte, sondern an der modernen Technik und an den damit gegebenen kapitalistischen Erfolgschancen - ganz zu schweigen von der als bedrohlich empfundenen, immer größer und mächtiger werdenden Organisation der Arbeiterbewegung.

Im Sog dieser kulturkritischen Strömung etablierten sich spezifische Konzepte der Jugenderziehung, z.B. in Gestalt der "Landerziehungsheime". Fernab von der städtischen Zivilisation und den von ihr ausgehenden "Gefährdungen" sollten junge Menschen sich geistig und sittlich bilden können. Gustav Wyneken wollte gar in seinem Landerziehungsheim die "schädlichen" Einflüsse der Erwachsenen weitgehend ausschalten und setzte auf eine eigentümliche "Jugendkultur", gemäß der seine Schüler in Gemeinschaft miteinander, mit ihren Lehrern und in Auseinandersetzung mit den großen geistigen Ideen ihre Bildung in die eigenen Hände und Köpfe nehmen sollten.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg bekam dieser Jugendkult neue Impulse. Nun setzten sich auch politische Hoffnungen auf die "junge Generation", daß sie nämlich das deutsche Volk wieder zu neuem Ansehen führen werde. Der Höhepunkt dieses Jugendkultes verschmolz mit dem Aufstieg der Hitlerbewegung, und ohne diese jugendzentrierte Grundstimmung ist der Enthusiasmus, der zunächst von der HJ ausging und ihr zugleich entgegenkam, nicht zu verstehen.

Der Jugendkult ging von Erwachsenen aus, und er bezweckte nicht etwa revolutionäre Neuerungen, sondern im Gegenteil die im wörtlichen Sinne "Wieder-Herstellung" alter Verhältnisse. Das Bildungsbürgertum wünschte sich die Wiederge-

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burt seiner alten humanistischen Werte und damit natürlich des Ansehens derer, die diese Werte öffentlich verkündeten. Nach 1918 erwartete das Bürgertum von der Jugend nicht etwa die unbefangene Gestaltung der neuen demokratischen Möglichkeiten, sondern im Gegenteil die Wiederherstellung jenes Deutschlands, wie es vor der militärischen Niederlage war. Die HJ dagegen verstand sich als revolutionäre Jugendbewegung, die zwar auch das Ansehen des deutschen Volkes wiederherstellen wollte, aber eben nicht im Sinne der alten humanistischen Werte oder jenes alten Deutschlands der Klassengegensätze und der Adelsprivilegien, sondern mit einem neuen, in die Zukunft weisenden Konzept - das allerdings wie auch bei Krieck letztlich unklar blieb.

Nur am Rande sei vermerkt, daß der Jugendkult den Erziehungsberufen eine neue Bedeutung gab. Insofern waren seine Erfinder zugleich auch seine Nutznießer. War der Lehrer z.B. früher eher so etwas wie ein wenig angesehener "Steiß-Trommler", der das ungebärdige Jungvolk in die Fußstapfen der Väter zu treiben hatte, so arbeitete er nun an der großen Aufgabe der Zukunft des ganzen Volkes. Die hohe Aufmerksamkeit, die den jungen Menschen entgegengebracht wurde, ließ auch diejenigen im neuen Glanze erstrahlen, die von berufswegen mit ihnen zu tun hatten.

Aber in unserem Zusammenhang ist etwas anderes wichtiger. Wir sehen um die Jahrhundertwende das Jugendalter als eine besondere, pädagogisch definierte soziale Größe entstehen, und wir sehen heute sein Verschwinden. Diesen Prozeß möchte ich die Vergesellschaftung des Jugendalters nennen, und er bedarf einer Erklärung.

In dem Maße, wie die Jugend ins Blickfeld der Öffentlichkeit trat, wurde sie dem Zugriff von Erwachsenen und ihrer Organisationen ausgesetzt. Die andere Seite der Fürsorge für die Jugend war ein ständiger "Kampf um die Jugend". Schon der Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg war solchen politischen, antisemitischen, pädagogischen oder lebensreformerischen Ansinnen ausgesetzt, und ein Hauptzweck der staatlich subventionierten Jugendpflege damals war, die Arbeiterjugendlichen von den Organisationen der Arbeiterbewegung fernzuhalten. In der Weimarer Zeit gab es kaum einen Erwachsenenverband, der sich nicht eine Jugendabteilung zu halten versuchte. Die möglichst vollständige Mobilisierung

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der jungen Generation für eigene Zwecke war keine Erfindung der HJ, sondern längst vorher angelegt. Die HJ trieb diese Entwicklung jedoch durch Massenmobilisierung und durch weitgehende Monopolisierung auf den Höhepunkt, danach war eine Steigerung nicht mehr möglich. Nach 1945 war der Jugendkult wegen seiner Inanspruchnahme durch die HJ verbraucht, erhalten blieb jedoch zunächst noch die Pädagogisierung des Jugendalters, d.h. die öffentlich anerkannte und legitimierte Definition "der'' Jugend als einer Lebensphase, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit und Kontrolle bedürfe. Schon in den 50er Jahren vermischten sich die Verhaltensstile von jungen Arbeitern und Bürgerkindern weitgehend, wie der Soziologe H. Schelsky in seinem 1957 erschienenen Buch "Die skeptische Generation" feststellte. Was die HJ pädagogisch zu organisieren und zu erzwingen versuchte, die "Volksgemeinschaft" innerhalb der jungen Generation im ganzen, setzte sich also in den 50er Jahren in anderer Weise von selbst durch - nicht zuletzt durch die industrielle Massenproduktion von auf die junge Generation zugeschnittener U-Musik und einschlägiger Moden. Schelsky hatte in dem genannten Buch aber noch eine andere wichtige Feststellung getroffen: daß nämlich das Jugendalter als besondere soziale Gruppe im Verschwinden begriffen sei und daß es künftig nur noch den Status der Kindheit und des Erwachsenen geben werde. In den 60er und 70er Jahren vollzog sich dieser Prozß dann schnell. Die Jugendlichen eroberten sich die wichtigsten Erwachsenenprivilegien - Freizeitautonomie und das Recht auf Sexualität -, die pädagogische Definition des Jugendalters mußte Zug um Zug aufgegeben werden. Es war ein Sieg des Marktes, vor allem des Freizeitmarktes über die traditionelle Pädagogik. Die Jugendlichen sind heute kaum noch ein Objekt von "Erziehung" im überlieferten Sinne - nicht einmal mehr in den Schulen -, sie gelten als junge Erwachsene, die zwar noch ihrem Alter entsprechende spezifische Probleme haben, aber nicht mehr in erster Linie pädagogisch definiert werden. Man könnte sagen, daß sich das Jugendalter von der Erziehung emanzipiert hat. Wie jeder Fortschritt - wenn man ihn denn dafür hält - hat aber auch dieser seine Schattenseiten. Verschwunden ist nämlich auch das öffentliche Interesse an der Jugend. Galt z.B. noch nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeitslosigkeit von Jugendlichen unter allen Erwachsenen als eine pädagogische Katastrophe, die mit allen verfügbaren Mitteln

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und so schnell wie möglich beseitigt werden müsse, so ist sie heute eher ein statistisches Problem, - jedenfalls keines, daß die Pädagogen oder gar die Politiker aus ihren Sesseln reißt. Noch bis in die 60er Jahre galt die Altersstufe der Jugend als Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Davon ist längst keine Rede mehr.

Welche Rolle spielte die HJ in diesem historischen Prozeß von der Entstehung des Jugendalters bis zu seinem Verschwinden?

Die Emanzipation der Jugend von ihren traditionellen Erziehungsmächten und damit ihre Vergesellschaftung stellt sich uns heute dar als ein Prozeß, der über Jahrzehnte im Rahmen einer pädagogischen Begleitung ablief, die nun überflüssig geworden ist, weil die Sache zu ihrem historischen Ende gekommen ist. Diese pädagogische Begleitung hatte immer die doppelte Bedeutung von verständnissuchender Ermutigung einerseits und Kontrolle andererseits. Hätte es diese Begleitung in Gestalt der Jugendbewegungen, der Jugendpflege, der Jugendverbände einschließlich der HJ nicht gegeben, so wäre die Emanzipation sehr abrupt und zu einem Zeitpunkt - vor dem Ersten Weltkrieg - erfolgt, wo weder die Erwachsenen noch die Jugendlichen noch die mit Jugend befaßten Institutionen darauf vorbereitet gewesen wären. Über mehrere Generationen hinweg konnten so Erfahrungen gesammelt werden, konnte in den Gleichaltrigengruppen experimentiert werden.

Die HJ ist in diesem historischen Kontext zu sehen, sie trieb den öffentlichen Zugriff der Erwachsenen auf die junge Generation durch Monopolisierung und Verpflichtung auf die Spitze. Auch die Doppelbödigkeit von Fürsorge einerseits und sozialer Kontrolle andererseits behielt sie bei, wobei der Akzent in besonderer Weise auf der Kontrolle lag.

Das Konzept des "Jugend-Staates" war jedoch nicht zukunftsträchtig, sondern eine rückwärtsgewandte romantische Vision, eine soziale Fiktion wie die Idee der Volksgemeinschaft, deren Ableger sie ja auch nur war. Jedenfalls hatte sie nicht die Perspektive des Endes der Jugendphase im Blick, sondern im Gegenteil ihre Dauerstellung.

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Pluralisierung

Moderne demokratische Industriegesellschaften sind pluralistisch verfaßt. Das gilt nicht nur für die politische Ebene, für politische Parteien, die sich in Parlamenten zusammenfinden, oder für vielfältige Interessengruppen, die sich in einem System von Vereinen und Verbänden ordnen. Vielmehr gilt der Pluralismus auch für das kulturelle Alltagsleben im weitesten Sinne. Nicht nur Interessen, sondern auch Werte und Normen, nach denen die Menschen ihr Leben ausrichten, dürfen verschieden, also pluralistisch sein. Dies ist uns heute selbstverständlich geworden. Aber es hat Jahrzehnte gedauert, bis der kulturelle Pluralismus sich durchsetzen konnte, der parlamentarische hat sich sehr viel früher etabliert. Insbesondere die christlichen Kirchen, und hier besonders die katholische, hielten zäh an ihrer historisch gewonnenen kulturellen Hegemonie fest, z.B. an Konfessionsschulen und überhaupt an moralischen Alltagsnormen, die religiös fundiert waren und deshalb eigentlich nur für die jeweiligen Glaubensanhänger verbindlich sein konnten, gleichwohl aber z.B. per Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft zur Geltung gebracht wurden. Die gegenwärtige Diskussion um den § 218 ist noch ein Nachklang davon.

Als die Nazis und damit auch die HJ nach 1933 diesen Pluralismus eindämmten und eine Alltagskultur des "gesunden Volksempfindens" propagierten, was ein Verbot der für "undeutsch" gehaltenen Werte und Strömungen einschloß - erinnert sei u.a. an die Bücherverbrennung -, da fand dies breite Zustimmung in der Bevölkerung. Tatsächlich stand die Liste dessen, was nun erlaubt bzw. verboten sein sollte, dem recht nahe, was die Kirchen und andere konservative Mächte auch vorher schon gefordert hatten.

Insbesondere in Fragen der Erziehung war Pluralismus bis in die 60er Jahre verpönt. Man ging davon aus, daß Kinder und Jugendliche erst einmal in einem normativ geschlossenen System heranwachsen müßten, bevor sie dann als Herangewachsene mit anderen normativen Lebensstilen konfrontiert werden dürften. Man nannte diese Systeme "Grundrichtungen der Erziehung". Schon in der Weimarer Zeit, erst recht aber nach 1945 erwies sich jedoch die Erwartung, man könne ernsthaft inmitten einer normativ pluralistischen Gesellschaft ein davon unberührtes normativ einigermaßen ein-

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deutiges Aufwachsen arrangieren, als Illusion. Die Massenmedien, insbesondere das Fernsehen, die allen alles mitteilen, eben auch die von den eigenen Normen abweichenden Lebensstile, unterhöhlten solche pädagogischen Absichten von Jahr zu Jahr mehr. Im selben Maße wurde ein dem sich entgegen stemmender "Jugendschutz" etwa beim Fernsehen zur Farce. Man könnte diesen Prozeß u.a. dadurch beschreiben, daß man überprüft, was zur "Jugendschutz-Zeit", also vor 21 Uhr, im Fernsehen in den vergangenen Jahrzehnten gesendet werden durfte.

Pluralität - das wurde schon erwähnt - wird vor allem in der Freizeit erfahrbar. Erst als die Arbeiter mehr Freizeit erhielten, als sie zur bloßen Rekreation ihrer Kräfte benötigten, konnten sie auch in die Lage geraten, andere politische Positionen, Meinungen, Lebensstile und Werte zur Kenntnis zu nehmen.

Ähnlich erging es den Jugendlichen, die nun in ihrer Freizeit in die Öffentlichkeit traten und dort dem Wettbewerb auch normativ unterschiedlicher Lebensstile und Lebensperspektiven ausgesetzt wurden. Da Jugendliche anders als Erwachsene im allgemeinen weltanschaulich noch wenig festgelegt sind, erschienen ihnen solchen Lebensstile als jeweils individuell wählbar. Das katholisch erzogene Mädchen konnte Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes werden, ein evangelisch erzogener Junge konnte zum Katholizismus übertreten usw. Oder um ein Beispiel aus der Gegenwart zu nehmen: Beide - das katholische Mädchen wie der evangelische Junge - könnten nolens volens in die Drogenszene geraten, die ja auch ein Teil des - wenn auch illegalen - Freizeitmarktes ist.

Damals wie heute waren und sind solche Karrieren nicht die Regel. Aber sie deuten die Gefährdung an, die jedenfalls nach Meinung der Erwachsenen von der normativen Pluralität von Lebensstilen und Lebensentwürfen ausgeht; sie liegt nämlich in der Wählbarkeit und damit in der Möglichkeit, das eigene soziale Herkunftsmilieu, die bisher in der Erziehung erworbenen politischen, weltanschaulichen und religiösen Einstellungen zugunsten anderer auf legale Weise aufzugeben. Da kann es nicht verwundern, daß der pluralistische Charakter der Gesellschaft, der nun auch das Jugendalter erfaßt hatte, von vielen Erwachsenen und ihren Organisationen nicht gerade mit Freude begrüßt wurde.

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Vom Standpunkt des Jugendlichen aus gesehen forderte der Pluralismus der Werte eine individuelle Lebensplanung heraus, im Rahmen dieser Angebote - wozu nicht zuletzt die berufliche Perspektive gehörte - eine subjektiv plausible Lebensvision zu riskieren und danach zu leben. Das Herkunftsmilieu garantierte weder mehr noch bestimmte es ohne weiteres die Zukunft. Das galt durchweg für die bürgerliche Jugend, für die proletarische zunächst nur mit Einschränkungen, weil für diese teils aus ökonomischen, teils aus bildungspolitischen Gründen derartige Wahlmöglichkeiten begrenzt waren. Erst als bildungspolitisch die "Chancengleichheit" durchgesetzt war, konnten sich solche Wahlmöglichkeiten auch in großem Stile für diese Jugendlichen eröffnen. Dieser Zustand ist heute im wesentlichen erreicht, jedenfalls kann kaum noch ein Arbeiterkind behaupten, es habe aus finanziellen Gründen nicht das Gymnasium besuchen können. Innerhalb der Emanzipation der Jugend läßt sich also eine spezifische Teilemanzipation erkennen, nämlich die der Arbeiterjugend; sie mußte erst einmal auf das Optionsniveau der bürgerlichen Jugend gehoben werden. Und in diesem Prozeß hat die HJ zweifellos eine fortschrittliche Rolle gespielt, indem sie in großer Zahl auch Mädchen und Jungen aus der Arbeiterschaft und aus der Landbevölkerung in ihr "Jugendleben" einbezog.

Im Hinblick auf die mit der normativen Pluralisierung auftretenden Probleme war die HJ jedoch rückständig bzw. unmodern. Die Neigung zur Gruppenbildung mit Gleichaltrigen, die mit dem Wandervogel begann, resultierte aus den mit den neuen Wahlmöglichkeiten entstandenen Orientierungsproblemen. Man suchte sich solche Gleichaltrigen aus, bei denen man Solidarität fand, weil sie die gleichen Probleme hatten und zu einer ähnlichen Lösung dieser Probleme tendierten.

Überblickt man die Jugendszene in der Weimarer Zeit, dann erkennt man eine bunte Vielfalt von kirchlichen, politischen, bündischen, gewerkschaftlichen Jugendverbänden, in denen Jugendliche nach ihrer Wahl mitwirkten. Diese Vielfalt entsprach der pluralistischen kulturellen Gesamtsituation, so wie ein Markt sich eben auf Bedürfnisse von Menschen einzustellen pflegt. Und wer als junger Mensch glaubte, ohne solche "pädagogische Begleitung" zurechtzukommen, konnte sich auch fernhalten, denn die Teilnahme an diesen Angeboten war damals wie heute freiwillig.

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 Gemessen nun an der bereits vor 1933 erreichten, der pluralistischen Ausgangslage entsprechenden Ausdifferenzierung der Jugendszene brachte die HJ eine enorme Verarmung hervor. Der Versuch, die moderne Pluralität weitgehend abzuschaffen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie für eine moderne, arbeitsteilige und dadurch hochentwickelte Gesellschaft konstitutiv ist. Die Disfunktionalität dieses Versuches wäre auch in der NS-Zeit deutlicher geworden, wenn der Krieg mit seinen eigenen Gesetzen und Regeln dieses Problem nicht wie so viele andere verdeckt hätte.

Als geradezu pädagogisch monströs muß aber in diesem Zusammenhang der Versuch erscheinen, die mit der öffentlichen Mobilisierung der Jugend notwendig mitgegebenen Wahlmöglichkeiten mit einer einzigen Jugendorganisation begleiten zu wollen, die zudem im wesentlichen auf militärähnlichen Ritualen beruhte. Dieses Manko wurde auch schon bald erkennbar, und Schirach versuchte mit der "musischen Wende" darauf zu reagieren. Aber was dabei zutage trat, war allemal ärmlich im Vergleich zu dem, was vor 1933 bereits vorlag. Nicht einmal die Kirchen durften einen eigenen Beitrag zur Jugendarbeit mehr leisten. Schirach hatte die Pluralität, den "Markt" der Lebensstile abgeschafft zugunsten einer eindimensionalen "Jugendwelt", in der das Nachdenken über alternative Lebensentwürfe kaum noch Platz hatte. Man könnte fast sagen, Schirach habe mit der Pluralität auch die gerade erst entstandene "Kulturpubertät" wieder abgeschafft, also jene jugendliche Lebensphase, die u.a. durch das Durchspielen alternativer Lebensentwürfe geprägt ist und durch die Notwendigkeit, sich für einen dieser Entwürfe dann auch zu entscheiden. Aber richtiger wäre wohl zu sagen, die HJ habe sich für die Pluralität und die daraus resultierenden Probleme gar nicht interessiert, weil ihr ursprüngliches Ziel die politische Mobilisierung der Jugend für die Hitlerbewegung war und weil sie dieses Image, als das Ziel der Machtergreifung erreicht war, nicht wieder los wurde.

Individualisierung

Das Aufwachsen unter den Bedingungen normativer Pluralität macht individuelle Entscheidungsfähigkeit und entsprechende Verantwortungsbereitschaft nicht nur möglich, sondern auch nötig.

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Pädagogisch gesehen muß diese Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit gelernt werden, und das ist nur in dem Maße möglich, wie im Laufe des Kindes- und des Jugendalters die erzieherische Stellvertretung durch die zuständigen Erwachsenen zurücktritt. Dies aber war ein schwieriger geschichtlicher Prozeß. Zäh hielten Elternhaus und Schule noch bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein an ihren Erziehungsansprüchen fest, aber seit dem Wandervogel wurden die außerschulischen Gruppierungen der Gleichaltrigen Übungsfelder für individuell verantwortliches Verhalten. Die Attacken der HJ gegen die Schule müssen auch in diesem Zusammenhang gesehen werden, nämlich als Widerstand gegen das von der Schule, vor allem vom Gymnasium verlangte Unterwerfungsverhalten, das selbständiges Denken und Handeln schwer aufkommen ließ.

Es wäre einseitig zu behaupten, die HJ habe generell individuelles Verhalten verhindert. Zwar hat sie durch die Zerstörung der Pluralität normative Alternativen für jugendliche Lebensentwürfe erheblich reduziert, aber innerhalb ihrer Angebote gab es durchaus Möglichkeiten, individuelles Verhalten und vor allem persönliche Verantwortung zu fördern. Das galt zunächst einmal für die zahlreichen jugendlichen Führer vor Ort, die für ihre Gefolgschaft verantwortlich sein sollten. Gewiß geschah dies nur in einem durch die Rituale des "Dienstes" begrenzten Rahmen, aber eine solche Beschränkung war auch nötig, wenn Überforderung vermieden werden sollte. In welchem Umfange kann man einen 13jährigen für kaum Jüngere verantwortlich machen? Ausdrücklich der individuellen persönlichen Entwicklung sollten die Angebote von "Glaube und Schönheit" sowie für die männlichen Jugendlichen die sachorientierten Angebote der Flieger-, Motor- usw. HJ dienen. Im Vergleich zu den anderen damaligen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Arbeitsplatz und vor allem auch der Kirchen war die HJ erheblich fortschrittlicher im Hinblick auf die Förderung individueller Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit. Das zeigte sich nicht zuletzt im Kriege, wo diese Fähigkeiten vielen Jungen und Mädchen abverlangt wurden (das Beispiel KLV wurde schon erwähnt).

Zusammenfassend läßt sich sagen: Sieht man die HJ im historischen Prozeß der Emanzipation des Jugendalters, dann zeigt sie in eigentümlicher Mischung fortschrittliche und

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rückschrittliche Momente. Rückschrittlich unter dem Maßstab dieses Prozesses war sie vor allem im Hinblick auf die weitgehende Ausschaltung der Pluralität. An deren Stelle versuchte sie ein pädagogisches Milieu zu arrangieren, das von allen als "erziehungsfeindlich" definierten Einflüssen freibleiben sollte - auch von Streichers "Stürmer".

In den Kriegsjahren verfaßte die Reichsjugendführung eine Denkschrift über jugendgefährdende Einflüsse z.B. von Filmen und Illustrierten, die angesichts dessen, was der Krieg sonst für Kinder und Jugendliche mit sich brachte, reichlich betulich wirkt.

Fortschrittlich dagegen wirkte die HJ im Hinblick auf die Mobilisierung auch solcher Teile der Jugend - der Mädchen, der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen, der Landjugend -, die bisher kaum eine Chance hatten, am "Jugendleben" teilzunehmen, und erlaubte somit auch für diese Gruppen eine relative Emanzipation von Elternhaus und Schule, und fortschrittlich war sie sicherlich auch im Hinblick auf die im Vergleich zu den anderen Erziehungsinstanzen durchaus sichtbare persönliche Entscheidungs- und Verantwortungsfähigkeit für nicht wenige Jugendliche.

Allerdings blieb dies alles beschränkt auf die eigene Gruppe. Dem einzelnen galt sie nur, insofern er als nützliches und notwendiges Glied der "Volksgemeinschaft" gelten konnte. Wer einer solchen Erwartung nicht gerecht wurde, z.B. weil er behindert war, der traf auch nicht auf das fürsorgerische Interesse der HJ. Die damals pathetisch beschworene "Volksgemeinschaft" hatte also nicht nur ihre rassistischen Grenzen, insofern z.B. für Juden darin kein Platz war, ihre Solidarität mit den schwächeren Volksgenossen war ebenfalls nicht sonderlich entwickelt, sofern es sich nicht um schuldlos Arbeitslose oder um Kriegsverletzte handelte. Die in der HJ geprägte Sozialvorstellung bestand nicht nur in der schon erwähnten Reduktion aller denkbaren Sozialformen auf das militärische Modell. Hinzu kam vielmehr die Vorstellung von der biologischen Determiniertheit nicht nur der physischen und psychischen Konstitution, sondern auch der sozialen Zugehörigkeit. Diese Vorstellung schloß im Grunde eine substantielle soziale Verantwortung aus. Der Tatsache etwa, daß der eine Jude und der andere "arischer" Deutscher war, ließ sich nur durch "Ausgliederung" begegnen, nicht

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 etwa durch gemeinsames soziales Handeln produktiv gestalten. Deshalb gab es in einem strengen Sinne des Wortes auch kein solidarisches Handeln. Solidarität setzt voraus, daß die "Schwäche" des anderen, die es zu mildern gilt, als das jedem Mitglied der Solidargemeinschaft jederzeit mögliche eigene Schicksal angesehen werden kann. Dies wiederum setzt in irgendeiner Weise ein Verständnis des Menschen als "Selbstzweck" voraus. Biologistisches Denken jedoch kann weder moralisch noch praktisch eine solche Position einnehmen; gegenüber der "Natürlichkeit" der sozialen Gegebenheiten gibt es vernünftigerweise nur Unterwerfung, kein auf Änderung und Milderung zielendes Handeln. Selbst die Wohlfahrtsaktivitäten der HJ beruhten nicht auf einer regulativen Idee sozialer Verantwortung; denn derjenige, der heute noch eine Spende in die Sammelbüchse gegeben hatte, konnte morgen von der Gestapo abgeholt werden, ohne daß dies der Idee der "Volksgemeinschaft" irgendwie Abbruch getan hätte. Sozialpolitischer Aktionismus und Enthusiasmus führen also keineswegs per se schon zu einem substantiellen Konzept von sozialer Verantwortung, auf das man sich verlassen könnte.

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Teil 3: Fazit


























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6. Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität

Zu den bis heute beunruhigenden Aspekten der NS-Herrschaft gehören vor allem zwei Phänomene: Das bis dahin in der modernen deutschen Geschichte beispiellose und insofern nicht leicht voraussehbare Maß an politischer Kriminalität einerseits und die hohe Akzeptanz dieses Regimes in der deutschen Bevölkerung andererseits. Zur Erklärung beider Phänomene gibt es bis heute keine schlüssige, lückenlose Deutung. Möglich sind offenbar nur jeweils begrenzte Erklärungen aus ebenso begrenzten wissenschaftlichen Perspektiven.

Als Pädagoge möchte ich in diesem ersten Fazit eine ebenfalls begrenzte Erklärung versuchen für das Phänomen der Akzeptanz - und zwar mit einem Begriff, der schon mehrfach aufgetaucht war: Identität. Exemplarisch für eine Vielzahl von Menschen, die Hitler gefolgt sind, läßt sich dieses Problem beschreiben an den drei Männern, die in dieser Arbeit auch biographisch ausführlicher vorgestellt wurden: Krieck, Baeumler und Schirach. Was hat sie, die in der NS-Zeit an herausragender Stelle tätig waren und die doch gerade auch in ideologischen Fragen so wenig miteinander gemein hatten, in die Arme der Hitler-Bewegung getrieben?

Vordergründig liegt die Antwort auf der Hand: Schirach war mit 17 Jahren fasziniert von Hitler und folgte ihm wie ein Jünger; Baeumler wollte - wie er später sagte - nicht länger abseits stehen und hielt Hitlers Wahlsieg für eine Volksabstimmung; Krieck war verbittert über seine Erfahrungen in und mit der Republik und hoffte, zusammen mit der Nazi-Bewegung seine völkisch-pädagogischen Vorstellungen realisieren zu können.

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 Wenn wir aber etwas genauer hinsehen, zeigt sich, daß solche individuellen Erklärungen nicht ausreichen. Schließlich gab es sehr viele Menschen, die Hitler begeistert gefolgt sind. Dafür hatten sie manche vordergründigen Anlässe, z.B. Hitlers Versprechen, die Arbeitslosigkeit und andere Nöte der Zeit zu beenden. Aber das allein würde höchstens einen Wahlerfolg oder die Bereitschaft zur Gefolgschaft erklären, nicht aber die massenhafte, teilweise rauschhafte Emotionalität. Hitler muß also seine Anhänger in einer tieferen Dimension angesprochen haben. Ich wage dazu folgende These und möchte sie in diesem letzten Kapitel begründen: Die Menschen, die Hitler folgten, waren auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität, und Hitler versprach, sie ihnen zurückzugeben.

"Identität" meine ich nicht im Sinne einer der bekannten Identitätstheorien. Diese sind durchweg psychologischer Herkunft, viel später entstanden und beziehen sich deshalb auf andere historische Situationen. Ich folge hier überhaupt keiner besonderen Theorie, sondern verbleibe im alltagssprachlichen Erfahrungshorizont. Dann stellt sich Identität als ein bedeutsames soziales Phänomen dar, das vom Individuum her gesehen aus der subjektiv befriedigenden Antwort auf einige wenige existentielle Grundfragen resultiert, z.B.: Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Wozu bin ich da? Holt man sich die Antworten daraus aus der NS-Ideologie, dann bekommt deren konfuse, irrationale und widersprüchliche Kontur einen Sinn. Wer bin ich? Ein Deutscher. Zu wem gehöre ich? Zur deutschen Volksgemeinschaft. Wozu bin ich da? Um in dieser Volksgemeinschaft meine Pflicht zu tun. Diese Antworten schließen ein, daß der Betreffende mit einem sozial anerkannten Status in der Volksgemeinschaft rechnen kann.

Sie hätten damals auch anders lauten können: Ich bin ein Kommunist. Ich gehöre zur kommunistischen Internationale. Ich bin dazu da, im Rahmen meines Parteiauftrages an der Weltrevolution mitzuwirken.

Die Nazis waren damals also nicht die einzigen Identitäts-Anbieter, und der wechselseitige Haß von Kommunisten und Nationalsozialisten mag auch darin begründet gewesen sein, daß sie gerade auf diesem Gebiet die schärfsten Konkurrenten waren. Rationale Argumentationen, Versuche zu einer kompromißorientierten Verständigung und Toleranz nicht

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nur zwischen diesen beiden Identitätslagern, sondern allgemein in der politischen Auseinandersetzung der Weimarer Zeit, waren deshalb kaum möglich, weil sie sofort die eigene Identität angegriffen hätten. Der politisch-ideologische Fanatismus der Auseinandersetzungen hatte etwas von psychosozialer Heimatverteidigung an sich, etwa nach dem Motto, daß, wenn die andere Seite recht hat, die eigene soziale Heimat bedroht ist.

Die rapiden sozialen Umwälzungen, die etwa seit 1870 einsetzten, rissen viele Menschen aus ihren sozialen Heimatbeziehungen. Hunderttausende zogen aus den ostelbischen Agrargebieten in die neuen Industriezentren, wo Großstädte entstanden und sich ausdehnten. Im Rahmen der Arbeiterbewegung organisierten die Arbeiter ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Beeinflußt von marxistischen Ideen gab sich diese Bewegung revolutionär, propagierte die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische. Parallel dazu schuf sich die Wirtschaft mächtige Großverbände und Kartelle. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten fühlten sich von beiden Seiten bedroht. Die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden gerieten durch Großunternehmen, die kleinen Händler durch die nun entstehenden großen Warenhäuser unter Druck. Der Fortschritt der Produktionstechniken ermöglichte billige Massenware, die kleinere Unternehmer oft in den Konkurs trieb. Vom Bildungsbürgertum, dem sozialen Träger der "Kultur", das in seiner Bedeutung und in seinem Ansehen vom neuen Wirtschaftsbürgertum überrundet wurde, war schon die Rede. Die von ihm repräsentierte, an Klassik und Humanismus orientierte Kultur geriet bis zum Ersten Weltkrieg in einen unübersehbaren Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität, wurde immer mehr zur von der politischen wie wirtschaftlichen Realität abgehobenen Sonntags- und Feiertagskultur. Lokalisiert war diese Kultur vor allem in den humanistischen Gymnasien und in den philosophischen Fakultäten der Universitäten. Die inneren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Widersprüche und Krisen waren derart angewachsen, daß nicht wenige den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Erlösung empfanden, als könne er alle diese Schwierigkeiten wegzaubern.

Im Unterschied zum Bildungsbürgertum, das eine Verbesserung seiner Lage durch Wiederherstellung alter Zustände

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 nicht zuletzt von seiner Jugend erwartete, hatte die sozialistische Arbeiterbewegung den Blick optimistisch nach vorne gerichtet; in ihrer Vorgeschichte gab es nichts, wonach zurückzusehnen sich gelohnt hätte. Die SPD fühlte sich nicht nur als eine politische Partei, sondern als eine darüber hinausgehende Teilkultur. Es gab sozialdemokratische Sportvereine, Gesangvereine usw. Die Partei machte ihren Mitgliedern insofern ein Identitätsangebot, bot ihnen eine soziale und kulturelle Heimat an.

Der Krieg hatte jedoch die bürgerliche Identitätskrise nur aufgeschoben, nun wurde sie durch die Tatsache noch verstärkt, daß der Krieg verloren war und die alten Ordnungen weitgehend zerbrochen waren. Verletzt erschien nun auch noch die "nationale Würde". Der nun aufbrechende zum Teil blinde Nationalismus ist nur auf diesem Hintergrund verständlich, zumal der Krieg gerade das Bürgertum besonders getroffen hatte - nicht nur in seiner Selbstachtung, sondern auch materiell, indem er z.B. die Ersparnisse in Gestalt von Kriegsanleihen oder durch die nachfolgende Inflation verschlungen hatte, die viele zu ihrer Zukunftssicherung angesammelt hatten. Die von ständigen Krisen geschüttelte Republik, zu denen auch das neue Phänomen der Massenarbeitslosigkeit gehörte, konnte da keinen Identitätsersatz anbieten.

Aber auch die Arbeiterbewegung hatte nach dem Krieg viel von ihrer identitätsstiftenden Bedeutung vor allem deshalb verloren, weil sie sich während des Krieges gespalten hatte und nun die Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten unüberbrückbar geworden waren. Hinzu kam eine allgemeine Kommunismusfurcht, die genährt wurde durch die Schreckensnachrichten, die aus der Sowjetunion eintrafen: erbarmungsloser Bürgerkrieg, Millionen von Hungertoten, Gewalt und Chaos allerorten. Am Ende der Republik sah es für viele so aus, als gebe es nur noch die Alternative zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, und da fiel die Wahl gerade in den Reihen des Bürgertums nicht schwer.

Vielleicht noch gravierender war die Freisetzung des kulturellen Pluralismus. Es gab kaum einen kulturellen Wert, der nicht in Frage gestellt wurde. Die traditionellen nationalen und militärischen Werte und Symbole wurden von linken

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 und pazifistischen Intellektuellen verhöhnt und verspottet. Die Alltagsmoral wurde verunsichert. Es gab eine umfangreiche Diskussion über Sexualität und sexuelles Verhalten. Entsprechende Aufklärungsbücher für die Jugend wurden verbreitet. Selbst Ehe und Familie waren nicht mehr das, was sie vorher waren. Immer mehr Frauen traten in das öffentliche Leben, in Beruf und Politik ein, die Männer gerieten zum ersten Mal in die Defensive und mußten ihre traditionellen Rollen überdenken; die bürgerliche Familie wurde zum unsicheren Ort. Die Konsumgüter-Industrie verkaufte alles, was gekauft wurde und nicht ausdrücklich verboten war. Mit Jugendschutzgesetzen gegen "Schmutz und Schund" und gegen sittlich-verwahrlosende Filme sollte die Flut wenigstens im Hinblick auf Jugendliche eingedämmt werden.

In einer seiner schon zitierten antisemitischen Reden aus der Wiener Zeit, denen Schirach seine spätere Verurteilung in Nürnberg verdankte, kommt diese kulturelle Verunsicherung deutlich zum Ausdruck.

"Das Judentum" habe versucht, "die gesunde Jugend zu verderben. Alle Ideale, die unserem Kontinent heilig sind, wurden öffentlich beschmutzt, lächerlich gemacht und als unzeitgemäß verworfen. Durch die korrupten Gazetten kursierte das jüdische Wort: 'Es gibt kein dümmeres Ideal als das des Helden'. Der jungen Generation wurde dafür schrankenlose Freiheit im sexuellen Genuß gepredigt. Je grauer der Alltag wurde, um so strahlender entwickelte sich das Nachtleben. Der amerikanische Film und die amerikanische Revue, drüben von Juden geschaffen, hier von Juden importiert, appellierte immer von neuem an die Sinne halbwüchsiger junger Menschen, diese verderbend und in den Strudel des Chaos hineinziehend, aus dem sie nie mehr zu ihrer Nation zurückgekehrt sind."

Natürlich war "das Judentum" nicht die Ursache dieser kulturellen Entfremdung.

Auch unter Juden wurden damals die Produkte der modernen Unterhaltungsindustrie kontrovers diskutiert. Wenn sie z.B. Bildungsbürger waren, standen sie der Sache nicht weniger kritisch gegenüber als viele "arische" Bildungsbürger auch. Richtig ist nur, daß zu den Protagonisten dieser modernen Industrie auch Juden gehörten. Das Beispiel zeigt, wie kulturelle Entfremdungsgefühle bestimmten Personen an-

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gelastet werden, anstatt sie aus der gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären - z.B. als Konsequenz des international gewordenen Marktes.

Jedenfalls kann man ohne Übertreibung sagen, daß zwischen 1919 und 1933 ein großer Teil des deutschen Volkes auf einer teilweise verzweifelten Suche nach seiner Identität war. Oft ist gefragt worden, warum gerade die Deutschen einer Bewegung wie der Hitlers in die Arme gelaufen sind, während doch die Weltwirtschaftskrise andere westliche Industrieländer nicht minder schwer heimgesucht habe. Neben der Tatsache, daß diese anderen Länder eine viel stärkere, auf gute wie schlechtere Zeiten zurückgehende demokratische Tradition aufweisen - die Deutschen bekamen ihre erste Demokratie als Resultat eines verlorenen Krieges -, dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben, daß in diesen Ländern keine derartigen massenhaften Identitätskrisen ausbrachen, wobei gewiß das eine mit dem anderen zusammenhängt: wo Nationalgefühl und demokratisches Bewußtsein verbunden sind, entstehen vermutlich auch derartige Krisen des kollektiven Selbstbewußtseins nicht so leicht. Jedenfalls beruhte der Erfolg der Hitlerbewegung auf der Kombination der wirtschaftlichen und sozialen Versprechungen, also die real vorhandenen Krisen zu lösen, mit dem als "Volksgemeinschaft" formulierten Identitätsangebot.

Wenn wir Schirachs Ausfälle gegen das Judentum, Baeumlers Germanismus und Kriecks Streben nach allgemeinverbindlicher völkischer Weltanschauung zusammennehmen, dann sind dies verzweifelte wie aggressive Versuche, die entfremdenden und sozial zerstörerischen Wirkungen der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung aufzuhalten und die ökonomischen und sozialen Prozesse wieder den alten Werten eines völkisch gegliederten Gemeinschaftslebens oder eines nationalorientierten, auf politisches Soldatentum gegründeten neuen deutschen Reiches zu unterwerfen. Zum Feind wurde dabei alles, was den zerstörerischen Kapitalismus bestärkte bzw. von ihm zu profitieren schien: Das Judentum, weil Juden an herausragender Stelle zu den Protagonisten im Bankwesen, im Handel, im Unterhaltungssektor, in der Publizistik usw. gehörten; der Liberalismus, weil er als treibende ideelle Kraft des kapitalistischen Wirtschaftens galt; der Parlamentarismus, weil er als die der möglichst ungehemmten Ausbreitung des Kapitalismus dienende Staats-

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 form angesehen wurde. So ergab sich scheinbar logisch die Feind-Koalition Judentum, Liberalismus, Parlamentarismus. Hinzu kam der Sozialismus, weil er nach der Lehre von Marx den Kapitalismus als Durchgangsstadium akzeptierte und seine kämpferischen Massenorganisationen, denen nichts "Organisches" im Sinne Kriecks eigen war, auf den Prinzipien moderner Verbandorganisationen beruhten. Thomas Manns Warnung an die Deutschen vor politischer Romantik nach der Lektüre von Baeumlers Bachofen-Einleitung kam der Sache sehr nahe. In der Tat unternahmen Baeumler und Krieck den Versuch, historisch überholten sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen wieder zur Realität zu verhelfen.

Die Kapitalismuskritik ist bis auf den heutigen Tag ein epochales Thema geblieben. Die warnenden Hinweise des Club of Rome auf die "Grenzen des Wachstums" gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie gegenwärtige ökologische Bewegungen, und der Zusammenbruch des stalinistischen Sozialismus in den osteuropäischen Ländern hat das Problem keineswegs aus der Welt geschafft, das letzten Endes auf die Frage zurückgeht, welche Werte das Leben eigentlich lebenswert machen und wie man unter kapitalistischen Bedingungen ein lebenswertes Leben gesellschaftlich und sozial ermöglichen kann. Dabei geht es - damals wie heute - nicht um vordergründige politische Meinungen, sondern um Fundamente der menschlichen Existenz, um Identität.

Identität ist primär ein soziales Phänomen, das läßt sich aus der Betrachtung dieser Zeit lernen. Sie stellt sich ein, wenn der Mensch sich sozial zugehörig weiß und in dieser Zugehörigkeit auch anerkannt und geachtet wird. Als soziale Tatsache ist Identität immer auch auf Abgrenzung aus. Soziales unterschiedet sich von anderem Sozialen. Zu der Frage: "Wer bin ich"? gehört die Gegenfrage: "Wer bin ich nicht"? Üblicherweise ist eine solche Abgrenzung nicht mit Feindschaft verbunden. In besonderen Situationen jedoch, wo das Selbstwertgefühl wie in den Jahren vor 1933 erheblich angeschlagen ist, wird Feindschaft gegen andere zu einem wesentlichen Bestandteil des sonst zu schwachen Wir-Gefühls. Damals beruhte die Idee der "Volksgemeinschaft" von vornherein auf der Feindschaft zu anderen, vor allem zu Juden, Kommunisten oder linken Intellektuellen, deren Bücher als Symbole dafür verbrannt wurden - nicht weil sie eine an-

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dere Meinung vertraten, sondern weil diese Meinung als eine Bedrohung der Identität empfunden wurde.

Toleranz, Respekt vor anderen Überzeugungen und Lebensstilen und verhandelnde Kompromißbereitschaft kann man im allgemeinen nur erwarten von Menschen, die eine zumindest relativ stabile soziale Identität aufweisen.

Im geschichtlichen Zusammenhang gesehen war das Identitätsangebot der "Volksgemeinschaft" jedoch nicht nach vorne, sondern nach rückwärts orientiert, weil ihm die schon erwähnte Pluralität fehlte bzw. weil es den Ausschluß der Pluralität zu seiner Voraussetzung hatte. Das Problem der modernen Identitätsfindung und Identitätsbewahrung besteht aber gerade darin, daß sie unter den genannten Bedingungen der Pluralisierung und der Individualisierung erfolgen muß, sonst ist sie objektiv eine Scheinidentität, mag sie subjektiv auch anders, nämlich als gelungene soziale Integration erlebt werden.

Die "Volksgemeinschaft" als Identitätsangebot war also ein rückwärts gerichteter Traum, und das wurde schnell deutlich, als nach dem ersten Rausch der nationalsozialistische Alltag eingekehrt war. Krieck bekam es sehr bald zu spüren, seine Enttäuschung ist ab etwa 1936 unübersehbar. Statt des historisch gewachsenen Pluralismus, der durch die Ausgrenzung des "Jüdischen" und durch die Reduktion der Kirchen auf das rein Seelsorgerische und allenfalls Sozialfürsorgerische unterbunden worden war, gab es nun den Pluralismus des Macht- und Kompetenzgerangels der Parteiführer. "Volksgemeinschaft" war bald zur Phrase verkommen, und Kriecks Versuche, durch seine sozial orientierte Erziehungslehre und mit seiner Anthropologie ihr einen theoretisch fundierten Gehalt zu verschaffen, waren parteioffiziell nicht mehr gefragt. Kriecks und Baeumlers Bewunderung der "Massenbewegung" Hitlers und der erfolgreichen Art und Weise, wie er damit umging, verrät auch ein wenig den Neid derer, denen niemand zuläuft. Was Krieck und Baeumler taten, war keine Unterwerfung unter eine fremde Ideologie, sondern entsprang dem Wunsch dazuzugehören, in diesem sozialen Rahmen tätig zu sein, gebraucht und anerkannt zu werden. Dabei bekämpften sie den "Individualismus", den sie der vergangenen liberalistischen Epoche zurechneten, obwohl sie selbst geradezu Prototypen eines bildungsbürgerlichen Individualismus waren und blieben.

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Prinzipiell gibt es zwei extreme Möglichkeiten der Identitätsfindung: Entweder durch weitgehende Anpassung an die vorgegebenen Normen und Regeln der sozialen Gemeinschaft, etwa im Sinne eines "Typus", wie ihn Krieck in früheren Gemeinschaften zu finden geglaubt hatte. "Ich bin einer von..." könnte der so Angepaßte dann auf die Frage antworten, wer er sei. Für individuelle Variationen wäre hier nur ein geringer Spielraum vorhanden. Die Anerkennung würde durch Rückmeldungen der anderen Gemeinschaftsmitglieder erfolgen: "Ja, du bist einer von uns!"

Das andere Extrem wäre die totale Individualisierung. Die Bindekraft der Gemeinschaften würde hier fehlen, ein "Typus" könnte nicht herausgebildet werden, der dadurch entstandene Freiraum müßte durch individuelle Entscheidungen bzw. Identifikationen gefüllt werden. Die soziale Rückmeldung würde weitgehend entfallen, der Maßstab für das Gelingen der Identität müßte in die je subjektive Innerlichkeit verlegt werden.

Beide Extreme dürften in modernen Gesellschaften allenfalls in sozialen Sondersituationen vorkommen (z.B. beim Militär unter Kriegsbedingungen, oder beim sozial isolierten Gefangenen). Gleichwohl läßt sich - um wieder auf das Jugendalter zu kommen - seit Beginn unseres Jahrhunderts die Tendenz feststellen, daß kollektive Vorgaben immer brüchiger werden und die Notwendigkeit individueller Entscheidungen immer mehr zunimmt. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es z.B. noch kulturelle Milieus, deren Bindekraft stark genug war, die Identitätsfindung für diejenigen, die darin aufwuchsen, zumindest zu erleichtern. Ich denke dabei an das katholische, protestantische, sozialistische und bildungsbürgerliche Milieu, das man zwar - weil Jugend nun öffentlich wurde - gerade wegen des Prozesses der Identitätsfindung auch verlassen konnte, das aber zumindest zunächst einmal kollektive Orientierungen bot. Im Verlaufe der Weimarer Zeit nimmt die Bindekraft dieser Mileus deutlich ab, die Nazis versuchten dann mit der "Volksgemeinschaft" eine neue soziale und - was immer auch dazu gehört - ideologische Bindung zu stiften. Sie taten dies nicht ohne Geschick, z.B. mit zahlreichen öffentlichen Ehrungen und Auszeichnungen, von denen das Mutterkreuz wohl am bekanntesten geworden ist.

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 Nach dem Kriege schienen zumindest die kirchlichen Milieus wieder zu Ansehen und erzieherischem Einfluß zu gelangen, das sozialistische konnte im Westen Deutschlands nicht mehr zu Geltung kommen, sei es, weil die entsprechenden Traditionen der Arbeiterbewegung durch die Nazis zerschlagen worden waren, sei es, weil es durch die Konfrontation mit der Sowjetunion und der SBZ/DDR erneut diskreditiert bzw. diffamiert wurde.

Im Rahmen der schon geschilderten Vergesellschaftung bzw. Emanzipation des Jugendalters wurde jedoch die Bindekraft dieser Milieus schnell geschwächt und neue entstanden nicht. Zu einem guten Teil wurde die entstandene Lücke gefüllt durch die Identitätsangebote der Medien, die unter den Gleichaltrigen in unmittelbare Einstellungen und Verhaltensweisen umgesetzt werden. Allerdings darf man hier keine einseitige Kausalität unterstellen. Auch die Umkehrung gilt, daß nämlich die modernen Medien die Aushöhlung der traditionellen Milieus mitbewirkt haben. Eine im hohen Grade industrialisierte Jugendkultur mit jugendspezifischer Musik und Mode entstand, die offensichtlich für den Identitätsprozeß bei vielen Jugendlichen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Gleichwohl ist dieser Prozeß immer schwieriger geworden. Im Rahmen pluralistischer Wahlmöglichkeiten und der nehmenden Individualisierung müssen Identitätsbildungen in einem komplizierten Geflecht von Teil-Identifikationen erfolgen, mit gleichsam immer nur partikularen Vorbildern. Selbst wer z.B. seine Eltern für großartige Vorbilder hält und ihnen nachzueifern trachtet, kann sich nur partiell an ihnen orientieren, weil es sonst zu einer vorschnellen Typen-Bildung käme und die notwendigen Individualisierungs-Leistungen nicht erbracht werden könnten. Der Pop- oder Sport-Star kann ebenfalls eine Rolle spielen oder jemand, der Vorbild für den angestrebten Berufserfolg sein könnte. Und immer wieder die Gleichaltrigen: Bei ihnen sozial anerkannt zu sein, kann als wichtiger erscheinen als z.B. gute Schulleistungen zu erbringen.

Dies alles spielt sich zudem in einem lebensgeschichtlichen Prozeß ab, dem die auf die Zukunft gerichteten Orientierungspunkte wie Schuleintritt, Schulabschluß, Berufsausbildung/Studium, Berufsbeginn, Heirat usw. weitgehend ab-

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handen gekommen sind, zumal zumindest bei Studenten der Berufseintritt sich oft bis über das 30. Lebensjahr hinaus verschoben hat - wenn er aufgrund der Arbeitsmarktlage überhaupt zustande kommt. Weil diese Orientierungspunkte fehlen, schrumpft auch die Zeitperspektive: erst einmal das Nächstliegende erreichen, dann wird man weiter sehen.

Von der spezifischen Emanzipationsproblematik der Mädchen und Frauen war schon die Rede. Die weibliche Identität war über lange Zeit familiär definiert - zunächst durch die Herkunftsfamilie, später durch die eigene Familie. Eine subjektiv befriedigende Balance zwischen öffentlichen und familiären Rollen zu finden, war bis in unsere Gegenwart hinein ein spezifisch weibliches Identitätsproblem. Gegenwärtig hat es jedoch den Anschein, als seien die Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Identitätsproblematik relativ bedeutungslos geworden; beide Geschlechter müssen sich heute um die erwähnte Rollen-Balance bemühen.

Der Entscheidungsdruck, der angesichts von Pluralisierung und Individualisierung auf dem Prozeß der Identitätsfindung lastet, legt für diejenigen, die dem nicht gewachsen sind, Fluchtbewegungen nahe. Jugendsekten, Rechtsextremismus, "Autonome", Drogenmilieu sind Szenerien, in denen man diesen Druck loswerden kann durch Unterwerfung, durch einen archaischen Rückzug auf den Typus. In solchem Verzicht auf die Freiheit der Individualität erfährt man als Lohn wieder die Rückmeldung der anderen: Du bist einer von uns! Diejenigen, die solche Fluchtwege nicht betreten wollen, sind wesentlich auf den Maßstab ihrer Innerlichkeit angewiesen, der aber höchst unzuverlässig ist, weil er ständig von schwer zu durchschauenden Gefühlen überschwemmt werden kann.

Sieht man auf diesem Hintergrund das Identitätsangebot des Nationalsozialismus, so wird schnell deutlich, daß es eine Scheinlösung darstellte, die auf künstlich arrangierten Sozialgebilden und Sozialideen fußte, die historisch längst verloren gegangen waren. Deshalb kommt uns vieles daran heute auch geradezu lächerlich vor. Historisch gesehen war die NS-Zeit unter diesem Gesichtspunkt nur ein retardierendes Moment, weil ihre Lösungsversuche trotz der dazu gehörenden kultischen Inszenierungen der Appelle, Massenauf-

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 märsche, der Fahnen und Trompeten, der Feiern und heroischen Texte an der wirklichen Problematik vorbeigingen. Wie allerdings der Hinweis auf die jugendlichen Fluchtszenen gezeigt hat, sind solche Lösungsversuche damit keineswegs historisch erledigt, weil die dahinter stehenden Probleme nicht nur weiter bestehen, sondern sich noch verschärft haben.
Und dies noch aus einem anderen Grund. Gemeinhin gehen wir davon aus, daß das Problem der Identitätsfindung spezifisch für das Jugendalter sei, nach seiner Lösung und durch diese sei man erwachsen geworden und deshalb davon befreit.
In diesem Zusammenhang wird nun der Generationsunterschied zwischen Schirach einerseits und Baeumler und Krieck andererseits interessant. Schirach fand seine Identität als 17jähriger durch die Identifikation mit Hitler - in einem Alter also, wo üblicherweise auch damals schon alternative Lebensperspektiven durchgespielt und vielleicht zumindest teilweise probiert wurden. Nicht einmal gegen seine Eltern mußte er seine Option für Hitler durchsetzen, die hatten - untertrieben gesagt - nichts gegen ihn.
Schirach hat eine Reihe von Gedichten Hitler gewidmet bzw. über ihn verfaßt, in denen das Identitätsthema mit Händen zu greifen ist. Dafür ein Beispiel:

"Dem Führer.
Das ist die Wahrheit, die mich Dir verband:
Ich suchte Dich und fand mein Vaterland.
Ich war ein Blatt im unbegrenzten Raum,

Nun bist Du Heimat mir und bist mein Baum.
Wie weit verweht, verginge ich im Wind,
Wärst Du nicht Kraft, die von der Wurzel rinnt.
Ich glaub an Dich, denn Du bist die Nation,
Ich glaub an Deutschland, weil Du Deutschlands Sohn".
(Schirach: Die Fahne der Verfolgten, Berlin 1933, 38)

Vielleicht lag es an dieser frühen Festlegung, daß Schirach den Eindruck erweckte, er sei nie richtig erwachsen geworden.
Überraschenderweise hat man diesen Eindruck teilweise auch bei den beiden Älteren. Baeumler war 1933 46 Jahre alt, Krieck sogar schon 51. Im Unterschied zu Schirach waren sie also beide längst aus dem Alter heraus, in dem man nach her-

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kömmlichen Vorstellungen noch seine Identität sucht. Sie waren schon erheblich in die Jahre gekommene Erwachsene mit einem jugendlichen Problem. Baeumlers anti-feministische Marotten und sein schwadronierender Heroismus wirken wenn nicht peinlich, so doch zumindest seinem Alter unangemessen, zumal er immerhin Philosophieprofessor war. Krieck scheute zwar keine Auseinandersetzung, wenn es ihm um wichtige Fragen ging, aber für einen Mann seines geistigen Formats war es schon eigenartig, von Hitlers Fähigkeiten der Massenmobilisierung weit über ein wissenschaftliches Interesse hinaus fasziniert zu sein. Zu erklären ist das alles nur, wenn man davon ausgeht, daß es sich hier um Versuche handelt, eine soziale Heimat zu finden - natürlich möglichst an der Seite der Erfolgreichen. Opportunismus und Eitelkeit mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben, aber es wäre sicher falsch, diese Faktoren überzubewerten. Das Gefühl dazuzugehören, anerkannt zu sein, neue Aufgaben von hohem Rang und Ansehen übernehmen zu können, war schon eher ausschlaggebend. Heute wissen wir, daß Identitätskrisen keineswegs nur mehr ein Problem des Jugendalters sind, sondern einen Menschen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens treffen können. Identitätsfindung und -behauptung sind zu einem lebenslangen Prozeß geworden.

Damals jedoch war eine solche Einsicht noch nicht möglich, sie wäre auch nicht akzeptabel gewesen. Wer als Erwachsener - vor allem als Mann! - sich sozial unbehaust und entfremdet fühlte, führte das auf Feinde zurück - Kapitalisten, Kommunisten, Juden, Parteibonzen -, die ihm das angetan hatten. In diesen Zusammenhang gehört auch das vorhin erwähnte Schirach-Zitat. Konnte man diese Feinde ausschalten, würden sich auch die ersehnten sozialen Geborgenheiten wieder einstellen. Ganz in diesem Sinne hoffte Krieck darauf, daß das durch Hitlers Revolution in Bewegung geratene Volk die revolutionären Ziele schon finden werde. So erklärt sich auch ein guter Teil des Hasses, der den inneren Auseinandersetzungen anhaftete. Personen oder bestimmte Personengruppen trügen Schuld an der eigenen Entfremdung. Identitätskrisen, die als solche nicht wahrgenommen wurden, konnten sich so in innen- und außenpolitische Feindschaften verwandeln. Baeumler und Krieck stehen exemplarisch für dieses Problem, obwohl sich ihre Feindseligkeit gegen andere in Grenzen hielt.

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Die Einsicht, daß auch Erwachsene noch Identitätskrisen verarbeiten müssen - Krisen, die sich folgerichtig aus der Pluralisierung und Individualisierung unseres öffentlichen und privaten Lebens ergeben -, hat sich erst sehr spät durchgesetzt. Und jetzt erst treten entsprechende psychologische Konzepte und Therapien auf den Plan, die zwar keine neuen sozialen Geborgenheiten anbieten können, wohl aber versuchen, dem Einzelnen zur Stärkung seiner Entscheidungsfähigkeit zu verhelfen. Die Individualisierung des Problems hat eine am Individuum orientierte Hilfe in Gestalt von Beratung oder Therapie zur Folge.

Gleichwohl suchen nicht wenige Menschen unter den Bedingungen des normativen Pluralismus nach neuen sozialen Geborgenheiten; denn die psychologische Hilfe kann dafür kein Ersatz sein. Das Individuum als solches kann keine Identität haben. Auch heute suchen die Menschen nach sozialen Beziehungen, die ihnen Rückmeldungen zur Bestätigung der Identität anbieten. Die Soziologie spricht z.B. von "Bezugsgruppen" und meint damit, daß wir alle in irgendwelchen informellen Gruppen leben - Freunde, Bekannte, Kollegen -, die keineswegs beliebig und zufällig zustandekommen, sondern normative Gemeinsamkeiten aufweisen, in diesem Sinne also den Pluralismus für sich selbst einschränken. Die Mitglieder vertreten bestimmte gemeinsame politische, feministische, religiöse usw. Grundüberzeugungen, der Toleranzspielraum ist weit, aber doch auch begrenzt, weil sonst die Funktion dieser informellen Gruppen in Frage stünde. Wir müssen uns also heute einen Kreis von Menschen suchen, deren Urteil uns wichtig ist, um unsere Identität sozial stabilisieren zu können.

Dabei können wir ähnliche Fehler machen wie die Generationen derer, die auf Hitlers Identitätsangebot hereingefallen sind, indem wir nämlich die falschen sozialen Rückmelder wählen, z.B. extremistische Gruppen, autoritäre Sekten oder die sogenannte "Psychoszene" mit all ihren Merkwürdigkeiten. "Falsch" sind solche Lösungen in dem Sinne, daß sie nur innerhalb solcher Gruppen und Organisationen von Wert, für das Leben außerhalb aber kaum brauchbar sind. Ähnliches war auch bei der HJ zu beobachten, deren Tugenden und Verhaltensstile galten auch zunächst einmal nur in den eigenen Reihen, schon weniger in der Schule oder gar im Beruf.

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Unter dem Gesichtspunkt der Identitätssuche lassen sich auch die pädagogischen Konzepte beurteilen. Eine NS-Pädagogik, die sich von anderen weltanschaulichen pädagogischen Theorien abgrenzen ließe, ist nicht zustande gekommen. Die pädagogischen Vorstellungen der drei NS-Pädagogen sind unübersehbar Teil ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrung und Befindlichkeit. Schirach bot der HJ seine eigene Identitätserfahrung als Hitlers Gefolgsmann an in der falschen Erwartung, daß sich diese persönliche Erfahrung auf Serie legen lasse. Krieck entdeckte die typenbildende erzieherische Kraft der Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als sie längst brüchig geworden war, und er meinte, sie in den massenbewegenden "Formationen" der Nazis wieder zur Geltung kommen zu sehen. Baeumler wandte sich vom Bildungsbürgertum und seinen humanistischen Idealen ab, die ihm keine soziale Identität mehr bieten konnten, und versuchte, mit einer Tat-Philosophie des Mitmachens sich in die Hitler-Bewegung einzufädeln - was ihm nicht recht gelang, weil er von seinem Naturell her offensichtlich ein Einzelgänger war und blieb.

Als Fazit läßt sich vielleicht festhalten, daß die Suche nach sozialer Identität und der Wunsch, diese zu stabilisieren, offensichtlich einem tiefen menschlichen Bedürfnis entsprechen. Massenhafte Identitätskrisen, wie wir sie z.B. jetzt in den neuen Bundesländern erleben, enthalten immer einen unkalkulierbaren politischen Sprengstoff. Der Haß gegen die moderne parlamentarisch verfaßte Industriegesellschaft, die einerseits den Menschen erhebliche persönliche Entscheidungsspielräume und damit Freiheiten verschafft, andererseits aber auch deren soziale Geborgenheiten ständig bedroht, war ein wichtiger Motor der Hitler-Bewegung und kann jederzeit neu ausbrechen. Anzeichen dafür sind unübersehbar. Die Ausländerfeindlichkeit ist auch ein Signal dafür, daß Identität zur Not gegen andere erprügelt wird.

Wir wären gut beraten, wenn wir bei der Lösung sozialer und ökonomischer Probleme nicht nur an finanzielle Kosten-Nutzen-Rechnungen denken, sondern auch daran, daß die Menschen eine soziale Heimat brauchen. Die meisten Menschen schaffen sie sich, indem sie die durch Pluralisierung und Individualisierung gebotenen Freiheitsräume nutzen zur Herstellung entsprechender sozialer Felder - sei es in Form verläßlicher Familien- und Freundschaftsbeziehun-

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 gen, sei es im Rahmen von informellen Beziehungen unter Gleichgesinnten.

Es gibt aber auch eine nicht geringe Zahl von Menschen, die dies nicht schaffen, die z.B. den modernen Arbeits- und Leistungserwartungen nicht gewachsen sind, die randständig werden und sich soziale Nischen in der Gesellschaft suchen, wo sie eine wenn auch noch so labile Identität finden können. Wir sehen sie unter anderem in der radikalen Jugendszene. Bei der Beurteilung dieser Szenen und im Umgang mit ihr sollten wir deren psycho-soziale Funktion bedenken. Wenn wir z.B. eine neo-nazistische Jugendorganisation verbieten, haben wir die Probleme derer noch nicht gelöst, die sich dorthin geflüchtet haben.

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7. Fazit II: Kriminelles Arrangement und die Ohnmacht der Erziehung

Wenn wir uns die politische Kriminalität des NS-Regimes vor Augen führen, dann drängt sich die Frage auf, welchen Anteil die Erziehung daran gehabt haben mag. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bilanzierung des Entsetzlichen unausweichlich wurde, ist darüber nach allen möglichen Richtungen hin diskutiert worden. Man hat praktisch die gesamte deutsche Bildungstradition dafür verantwortlich gemacht: die politische und soziale Weltfremdheit des humanistischen Gymnasiums; den undemokratischen Aufbau des Schulwesens; das autoritäre Milieu der deutschen Schule ebenso wie ihre militaristisch-nationalistischen Traditionen. Nun läßt sich mit derlei Recherchen vielleicht manches erklären, z.B. eine kollektive Tendenz zu bestimmten Ideologien, Einstellungen oder Verhaltensweisen, zu nationalistischen und militaristischen Grunddispositionen.

Angesichts des Ausmaßes der hier zur Debatte stehenden Kriminalität gehen jedoch solche Rekonstruktionen ins Leere, ja, sie verniedlichen nur das Schreckliche. Die - meinetwegen bornierte - preußische Kadettenerziehung oder das - meinetwegen weltfremde - Gymnasium als Ursache des Holocaust? Da wären die Möglichkeiten von Erziehung weit überschätzt.

Und wie steht es mit der NS-Erziehung selbst? Das Nürnberger Tribunal hat die HJ-Erziehung freigesprochen von dem Verdacht der Kriegsvorbereitung; Schirach mußte nicht wegen seiner HJ ins Spandauer Gefängnis. Und die Richtlinien für die Schulen im Nationalsozialismus zielten zwar auch auf Selbstrechtfertigungen des Regimes, auf mancherlei Indoktrination, auf rassische Verfälschung von Sachverhalten, aber eine Anleitung zur politischen Kriminalität läßt

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sich daraus nicht ablesen. Weder die Schule noch der außerschulische kultische Mummenschanz haben vermocht, das deutsche Volk kriegslüstern zu machen. Selbst das verbreitete antisemitische Ressentiment konnte nicht von selbst und folgerichtig in die neue Qualität des planmäßigen Völkermordes umschlagen. Der Glaube, durch Erziehung könne so etwas verhindert werden, mag denen schmeicheln und sie wichtig machen, die diesem Geschäft ihre Profession verdanken, aber er führt am Kern des Problems vorbei.

Nicht mit dem Begriff der Erziehung, wohl aber mit dem Begriff der Sozialisation können wir uns diesem Kern nähern.

Die Verbrechen wurden nicht durch eine bestimmte Erziehung vorbereitet, sondern durch das Arrangement von Handlungssituationen, die kriminelles Handeln nicht nur möglich machten, sondern auch positiv bewerten ließen und in denen dem entgegenstehende Bedenken kaum soziale Resonanz mehr erhielten.

Der Soldat oder SS-Mann, der sich am Morden beteiligen sollte oder auch nur Zeuge wurde, geriet in eine tiefe soziale Isolierung, wenn er auch nur Bedenken geäußert, geschweige sich verweigert hätte. Das Morden setzte voraus ein dafür passendes soziales Milieu, das sich in der Heimat nicht herstellen ließ, sondern des Krieges und der Besetzung anderer Länder bedurfte. Im europäischen Osten ließen sich - pädagogisch gesprochen - Sozialisationsbedingungen arrangieren, die denjenigen, der nicht mitmachen wollte, schon wegen der militärischen Befehlsstrukturen wenn nicht physisch, so doch mit dem Entzug von Identität bedrohte.

Die Menschen, die diese Verbrechen begangen haben, waren nicht nationalsozialistisch erzogen worden, sie hatten ihre Kindheit und Jugend ganz überwiegend vor 1933 verbracht, waren aufgewachsen in mehr oder weniger "normalen" Familien, hatten "normale" bürgerliche Schulen besucht. Die Erziehung in der Zeit zwischen 1933 und 1943 betraf eine Generation, die schon aus Altersgründen kaum Gelegenheit bekam, sich innerhalb der NS-Zeit an solchen Untaten zu beteiligen. Die meisten der in dieser Zeit Erzogenen wurden nach 1945 erst erwachsen und mußten den Wiederaufbau nach dem Kriege in die Hand nehmen. Sie taten dies bekanntlich mit erheblicher Energie und gliederten sich dabei in eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung

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ein, die sich als relativ stabil erwiesen hat. Welche Bedeutung dabei die in der NS-Zeit erlebte Erziehung hatte, ist kaum zu beurteilen. Wie aber hätte sich diese Generation verhalten, wenn Hitler den Krieg gewonnen und sie z.B. als imperiale Unterdrücker im osteuropäischen Raum eingesetzt hätte? Die entscheidende Frage ist nämlich nicht, welche Erziehung diese Menschen genossen haben, sondern welche Bewährungssituationen sie anschließend vorfanden, was dort als gut und richtig galt. Dieselben Schutzmänner, die sich an der Ermordung der europäischen Juden beteiligten, hätten unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, die andere moralische Rückmeldungen zur Folge gehabt hätten, auch anders gehandelt. Viele dieser Täter haben sich ja auch erfolgreich in den Wiederaufbau nach 1945 eingeschaltet und normale bürgerliche Berufe ausgeübt - wie die späteren KZ-Prozesse immer wieder gezeigt haben.

Der Blick auf die Erziehung darf den Blick auf die Politik nicht trüben. Zu lernen aus der NS-Zeit ist nicht, wie man Erziehung verbessern könne, um Ähnliches für die Zukunft zu vermeiden; zu lernen ist vielmehr, daß politische Verhältnisse verhindert werden müssen, in denen nur noch Helden moralische Prinzipien durchhalten können. Die politische Kriminalität des NS-Regimes offenbarte sich den Menschen erst allmählich und schleichend: "Röhm-Affäre", Boykott jüdischer Geschäfte, Nürnberger Gesetze, "Reichskristall-Nacht". Die Aktionen gegen die deutschen Juden fanden während der Friedensjahre in der Bevölkerung ebensowenig Resonanz wie der Kriegsbeginn, nicht einmal die Reichsjugendführung jubelte damals. Der von Hitler mutwillig provozierte Krieg, der - an klassischen politischen Maßstäben gemessen - keinerlei Interessen der deutschen Bevölkerung diente, brachte jenes politisch-moralische Milieu hervor, in dem die politische Kriminalität nicht nur gedeihen, sondern sogar teilweise einen Schein von Rechtfertigung gewinnen konnte. Erpreßt durch die scheinbare Notwendigkeit der Landesverteidigung und der Sicherung des Überlebens des eigenen Volkes wurden mehr und mehr Deutsche in die Verbrechen als Mittäter involviert - gleichgültig, wie und nach welchen Maßstäben sie vorher erzogen worden waren. Schirach ist da nur ein Beispiel von vielen.

Aus pädagogischer Sicht stellt sich dabei die Frage, ob und in welchem Maße Erziehung und Sozialisation normativ über

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einstimmen. Deckt sich das, was die jeweils zuständigen Erzieher (Eltern, Lehrer) an normativen Leitmotiven übermitteln, mit dem, was das Kind außerhalb dieser pädagogischen Einflüsse - nämlich im Rahmen seiner allgemeinen gesellschaftlichen Teilhabe - an Einwirkungen erfährt? Für die Kindheit und Jugendzeit der vor 1933 zur NS-Bewegung gestoßenen Erwachsenen traf das wohl im großen und ganzen noch zu. Ein Bruch wird jedoch sichtbar nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Ergebnis unter anderem die im vorhergehenden Kapitel beschriebene normative Pluralisierung der Gesellschaft war. Nun traten Erziehung und Sozialisation auseinander, und was die zuständigen Erzieher in Familie und Schule an Werten vermittelten, wurde außerhalb dieser pädagogischen Felder zumindest relativiert, wenn nicht gar verhöhnt (wie das Heroische durch Pazifisten). Mit der Idee des Erziehungsstaates haben die Nationalsozialisten die Einheit von Erziehung und Sozialisation wiederherstellen wollen.

Das Problem des Verhältnisses von Erziehung und Sozialisation stellt sich jedoch nicht nur für die Phase der Kindheit und Jugend, sondern auch für die spätere Phase des Erwachsenseins. Wenn man als "erfolgreiche" Erziehung die Tatsache versteht, daß die in Kindheit und Jugend vermittelten Werte auch für das Leben des Erwachsenen zumindest prinzipiell gültig bleiben, dann setzt das voraus, daß in den Lebenssituationen, in denen sich der Erwachsene bewähren muß, diese Werte auch "nachgefragt" werden, also auf soziale Resonanz treffen können. Die Bewährungssituationen müssen also den früheren Erziehungs- und Sozialisationserwartungen einigermaßen entsprechen, biographische Kontinuität muß hinreichend gesichert sein.

Dies traf nun für viele Männer der Kriegsgeneration nicht mehr zu, die sich nach dem Ersten Weltkrieg an die gewandelten Verhältnisse nicht gewöhnen konnten. Die "verlorene Generation", zu der auch Hitler und seine "alten Kämpfer" gehörten, erlebte, daß den Versprechungen der Kindheit nun keine angemessene Realität entsprach. Einen vielleicht noch radikaleren biographischen Bruch verursachte der Zweite Weltkrieg. Er bewirkte für nicht wenige Menschen eine Art von "Gegen-Sozialisation" zu den in Kindheit und Jugend erworbenen Normen. Da das Töten des von der Politik definierten Feindes in dieser Ausnahmesituation auch

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moralisch selbstverständlich wird - was das Getötetwerden einschließt -, gelten hier andere Maßstäbe, als sie in der Erziehung gelernt wurden. Spätestens dann, als die politische Führung - also Hitler - zumindest im Osten nicht den Sieg über den Gegner - mit der Chance eines anschließenden Friedens -, sondern seine Vernichtung anstrebte und zu diesem Zweck den Feind als "Untermenschen" definierte, war die Grenze zur politischen Kriminalität überschritten, und jeder Deutsche war nun in mehr oder weniger direkter Weise darin verwickelt, ein Mittäter geworden. Die Ermordung der europäischen Juden war nur möglich unter den Ausnahmebedingungen des Krieges - als in den Kriegshandlungen versteckte Maßnahme, in Friedenszeiten wäre sie trotz des Machtmonopols der Nazis in Deutschland kaum möglich gewesen.

Man kann in Friedenszeiten nicht für den Krieg erziehen und im Krieg nicht für den Frieden danach, weil die Sozialisationsbedingungen als Summe der realen sozialen Erwartungen und Zwänge weder hintergangen noch antizipiert werden können. Möglich wäre dies nur dann, wenn Erziehung lediglich die Formung eines von allen konkreten sozialen Bezügen losgelöst gedachten "Charakters" wäre. So ähnlich hat sich Hitler dies wohl vorgestellt, wenn er von "Erziehung des Charakters" sprach und ein boxerisches Härtetraining favorisierte. Aber gerade die NS-Zeit hat bewiesen, wie bedeutungslos Erziehung wird, wenn später diejenige soziale und gesellschaftliche Kultur nicht mehr vorhanden ist, für die sie gedacht war. Dann bleibt nur übrig ein Repertoire von angeborenen und angelernten Verhaltensmöglichkeiten, die im Hinblick auf die neue Situation um des Überlebens willen bzw. um einer erfolgreichen Karriere willen neu kombiniert werden müssen. Das Ergebnis konnte sein der mordende SS-Mann, dessen brave Kindheit vergessen war. Weder die Schule der preußischen Armee, noch das humanistische Gymnasium, noch die katholische Konfessionsschule haben die Barbarei verhindern können.

Dies ist eine bittere Erkenntnis, wenn man daran denkt, mit wieviel Hartnäckigkeit und Kampfeseifer für diese Erziehungsformen gestritten worden ist, weil doch ohne sie der Mensch nicht zum Menschen werden könne. Adornos Hoffnung, daß eine bessere Erziehung künftig so etwas wie Auschwitz verhindern möge, wird nur dann nicht trügen,

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 wenn dies in erster Linie politisch verhindert werden kann, nämlich durch die rechtzeitige Klärung der Machtfrage.

Wohl zu ihrer eigenen Überraschung hatten die Nazis schon sehr bald, nämlich etwa ab 1935 keinen innenpolitischen Gegner mehr zu fürchten, der sich noch hätte machtvoll organisieren können. Übrig blieben mutige Einzeltaten, die so wenig politische Relevanz hatten, daß die Nazis nicht einmal zum offenen, im Alltag jedermann erkennbaren Terror greifen mußten, sondern sich darauf beschränken konnten, einzelne Mißliebige in den Morgenstunden "abzuholen".

Erziehung allein kann also die Barbarei nicht verhindern, wenn nicht zugleich die Politik dafür sorgt, daß die Alltagsverhältnisse die Menschen nicht zur Inhumanität zwingen oder diese ermutigen. Jedenfalls gilt dies für die Ebene des erkennbaren Verhaltens, die ja das Ergebnis der Erziehung am ehesten manifest werden läßt. Bewußtsein und Phantasie jedoch können die Sozialisationsbedingungen, die dem Verhalten vorgegeben sind, transzendieren; das gilt auch für die Ausnahmesituation des Krieges. Erziehung im Krieg für den Frieden ist nicht möglich, wohl aber Bildung. Aus den Zeugnissen vieler Menschen geht hervor, daß sie die Zeit der politischen Barbarei nur dadurch geistig zu überleben vermochten, daß sie auf den Fundus ihrer Bildung zurückgreifen konnten, auf Literatur und Kunst z.B., was ihrem Bewußtsein ermöglichte, künftige, bessere, friedliche, humane Zeiten zu antizipieren. Als die Zeit dann dafür gekommen war, das Verhalten von den Fesseln der politischen Kriminalität befreit war, konnte dieses Bewußtsein auch praktisch werden. Aber es war auch hier die politische Macht, in diesem Falle die der alliierten Sieger, die diese Wende ermöglichte.

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 Betrachten wir auf diesem Hintergrund die pädagogischen Gedanken und Konzepte Kriecks, Baeumlers und Schirachs, so sind daran spezifisch nationalsozialistisch zunächst nur bestimmte politische Implikationen: ihr antidemokratischer, antiliberaler und antipluralistischer Affekt. Der aber schlägt nicht unbedingt durch auf die pädagogischen Vorstellungen und Praktiken im engeren Sinne. Die HJ z.B. war ein monopolistischer Jugendverband, das war politisch gewollt. Aber was dann im einzelnen an pädagogischen Maßnahmen innerhalb dieser Monopolorganisation geschah, unterschied sich wenig von dem, was auch vorher in der Jugendarbeit geschehen war - wenn man von der Jugenddienstpflicht absieht, die aber wiederum eine politische Entscheidung war und die pädagogisch nur insofern relevant war, als sie von denjenigen als Zwang zur Teilnahme wahrgenommen wurde, die eigentlich nicht mitmachen wollten. Immer wieder treffen wir auf politische Eigentümlichkeiten, wenn wir nach dem spezifisch Pädagogischen des Nationalsozialismus fragen.
Das gilt auch für den von den drei Pädagogen favorisierten Begriff der "Gemeinschaft", dem keine soziale Wirklichkeit mehr entsprach. Die damalige Gesellschaft bestand nicht aus Gemeinschaften, sondern aus nach rationalem Kalkül und für unterschiedliche Zwecke strukturierten Organisationen und Verbänden. Im Unterschied zu den früheren bündischen Gruppen bestand nicht einmal die HJ aus Gemeinschaften. Wer wie Schirach eine monopolistische Massenorganisation schaffen will, kann als Ergebnis nicht eine Summe von Gemeinschaften erwarten. Dem widersprach auch der militärähnliche regionale Rekrutierungsmodus. Paradoxerweise hat die HJ, die sich angeblich der Gemeinschaft so verpflichtet fühlte, die Versuche jugendlicher Gemeinschaftsbildungen, wie sie etwa in der bündischen Jugend zu finden waren, zerschlagen, ohne etwas Gleichartiges an deren Stelle setzen zu können; bei Baeumler war "Gemeinschaft" kaum mehr als eine ideologische Phrase (die Volksgenossen sollten sich bitte so fühlen), bei Krieck eine vernarrte Fiktion. Faktisch glich Schirachs Leitmotiv der "gemeinschaftsgebundenen Persönlichkeit" weitgehend dem, was wir heute als "soziales Lernen" propagieren.
Sieht man ab von dem eigentümlichen politischen Hintergrund, so kann das, was Krieck und Baeumler über pädagogische Fragen geschrieben haben, durchaus als diskutable Auseinandersetzung mit der deutschen Erziehungs- und Bildungsgeschichte verstanden werden. Die Erkenntnis, daß die "Formationen" der Nazis eine eigentümliche Wirkung - von heute aus gesagt: eine Sozialisationswirkung - hatten, die zu erforschen durchaus lohnenswert wäre, ist nicht begrenzt auf NS-Organisationen, sondern kann auf den Kommunistischen Jugendverband ebenso angewandt werden wie auf jede andere relativ dauerhafte gesellschaftliche Organisation. Wesentlich ist die Einsicht, daß alles soziale Leben eine erzieherische Implikation in sich enthält. Baeumlers anthropologi-

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sche "Wende" zum Menschen als handelndem Wesen lag in der Luft und wäre wohl auch ohne die Nazi-Bewegung früher oder später formuliert worden. Diese Betrachtungsweise, wie auch Kriecks weit ausgreifender Erziehungsbegriff waren eine Konsequenz des modernen sozialwissenschaftlichen Denkens, dessen wahre Tragweite beide wegen ihrer völkischen bzw. germanisierenden Befangenheit nicht verstanden haben, die vielmehr erst nach 1945 durch die sich allmählich etablierende Soziologie allgemein bekannt und akzeptiert wurde.

Weder aus der Tatsache, daß bestimmte pädagogische Gedanken in der NS-Zeit geäußert wurden, noch aus der anderen Tatsache, daß die Autoren sich politisch zum Nationalsozialismus bekannt haben, lassen sich diese pädagogischen Gedanken hinreichend als spezifisch nationalsozialistisch qualifizieren.

Folgern läßt sich daraus, daß die moralische Qualität eines politischen Systems nur aus der angemessenen politischen Analyse sichtbar werden kann, nicht vom Ansatz der Erziehung her. Erziehung und Bildung haben ihre eigenen Erfolgskriterien: der Schüler, der durch Unterricht zu Wissen gelangt, der Verwahrloste, der wieder lernt, legal und sozial angepaßt zu leben. Gelungenes Lernen ist also das Erfolgskriterium. Das pädagogische Handlungsrepertoire, das dafür zur Verfügung steht, ist begrenzt und kann deshalb auch nur begrenzt der politischen Zensur unterworfen werden. Insofern alle politisch-ideologischen Systeme der Moderne zumindest im Prinzip auf dieses pädagogische Erfolgskriterium angewiesen sind, wenn sie ihren Nachwuchs gesellschaftlich integrieren wollen, ist das pädagogische Handlungsrepertoire in hohem Maße systemunabhängig. Es ist also jedem System dienstbar zu machen - dem demokratischen ebenso wie dem faschistischen oder kommunistischen. Aus dieser Tatsache läßt sich nun Verachtung ableiten, als sei das pädagogische Handwerk per se ein gesinnungsloses. Andererseits aber setzen die pragmatischen pädagogischen Erfolgskriterien, auf die auch die Nazis angewiesen waren, Grenzen für die politisch-ideologische Instrumentalisierung. Die erlebnishaft-emotional und anti-intellektuell orientierte HJ-Pädagogik kam an ihre Grenzen, als die Lehrer und die qualifizierten Schulabgänger zu fehlen begannen.

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Das Verhältnis von Politik und Pädagogik ist immer kompliziert. Die Pädagogik - also die Organisation von Lernprozessen - bedarf eines Mindestmaßes an politischen Randbedingungen, um überhaupt tätig werden zu können. So müssen z.B. die Institutionen, in denen sich Pädagogik vollzieht, politisch im Hinblick auf ihre Stabilität wie im Hinblick auf ihre Zwecksetzung vorgegeben und garantiert sein. Was z.B. eine Schule und wozu sie da ist, muß mit einem hinreichenden Konsens allen Beteiligten klar sein, sonst könnte man dort ja auch Gemüse verkaufen, statt zu unterrichten. Ferner muß die Pädagogik einigermaßen genau wissen, wie das spätere Leben der Kinder und Jugendlichen aussieht, welche Bewährungen dann erwartet werden. Schon diese beiden Gesichtspunkte reichen aus zu erkennen, daß die Pädagogik der Politik bedarf, um erfolgreich handeln zu können, daß sie aus sich heraus nicht existieren könnte. Deshalb sind politische Einflüsse auf die pädagogischen Handlungsfelder im Prinzip unvermeidlich, die Frage ist nur, in welchem Umfang, in welcher Weise und mit welchen Zielen sie wirksam werden. Am Beispiel irgendeiner beliebigen Schulklasse läßt sich das verdeutlichen. Die Einwirkungsmöglichkeiten liegen grundsätzlich

1. auf der Ebene der symbolischen und faktisch-administrativen Einbindung der Schule in das politische System, in der NS-Zeit z.B. in Gestalt von Fahnenappellen, Feiern und Ansprachen;

2. auf der Ebene der Lernzielbestimmung, z.B. in Gestalt von Lehrplänen;

3. auf der Ebene der Zensur des pädagogischen - z.B. methodischen - Handlungsrepertoires;

4. auf der Ebene der Beeinflussung der "pädagogischen Beziehung" zwischen Lehrern und Schülern.

Von der ersten Eingriffsmöglichkeit haben die Nazis ausgiebig Gebrauch gemacht, von der zweiten nur begrenzt - vor allem im Hinblick auf die sogenannten "Gesinnungsfächer". Die dritte Interventionsmöglichkeit haben sie kaum genutzt - im Gegenteil versuchte die HJ z.B. in ihren Adolf-Hitler-Schulen das damals übliche methodische Repertoire zu erweitern. Da waren im Vergleich die Eingriffe viel erheblicher, die das Bildungswesen in der DDR auf der zweiten

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und dritten Ebene hinnehmen mußte. In den Schulen z.B. war die methodische Variationsbreite beschränkt auf den Frontalunterricht (der Lehrer doziert, die Schüler nehmen auf). Der Lehrstoff war bis in Einzelheiten ex cathedra vom zuständigen Ministerium vorgegeben, Unterrichtsmethodik folgerichtig auf die Techniken des Beibringens reduziert. Eine derart rigide Steuerung auf der zweiten und dritten Ebene hat es während des Nationalsozialismus nicht gegeben. Im Gegenteil hat sich z.B. Baeumler nachdrücklich für die Individualisierung des Unterrichts eingesetzt. Auf der vierten Ebene, der "pädagogischen Beziehung", waren die politischen Einwirkungen nicht leicht faßbar, aber durchaus zumindest mittelbar vorhanden. Schon aus unserer Lebenserfahrung wissen wir, daß für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit in der Schule oder in einem anderen pädagogischen Feld ein bestimmtes menschliches "Klima" unentbehrlich ist, das vor allem durch Vertrauen, Höflichkeit, Respekt und Toleranz zu kennzeichnen ist. Deswegen bedarf das jeweilige pädagogische Feld - z.B. die Schulklasse - eines gewissen Schutzes, einer Art von Autonomie.

Man muß z.B. auch etwas Falsches sagen, mit Gedanken und Argumenten experimentieren können, ohne dafür gleich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Meinungs- und Gesinnungskontrolle vertragen sich damit nicht. Die drei NS-Pädagogen haben das auch nicht ausdrücklich propagiert, aber faktisch hing das Damokles-Schwert der Denunziation als Variante der allgemeinen politischen Repression über jedem pädagogischen Handeln.

Wie intensiv die politischen Einwirkungen auf die Erziehungseinrichtungen auch jeweils sein mögen, eine einfache und direkte Deduktion ist nicht möglich, ohne das pädagogische Erfolgskriterium außer Kraft zu setzen und damit pädagogisches Handeln wirkungslos zu machen. Der politische Wille ist dem pädagogischen nicht vollständig aufzwingbar, er kann immer nur Rahmenbedingungen setzen. Im Unterschied zu Krieck und Schirach hatte Baeumler das erkannt, wenn er betonte, daß der Lehrer "frei", also pädagogisch relativ autonom sei, wenn er den Auftrag des Führers verstanden habe.

Neben den Einwirkungsmöglichkeiten in das pädagogische Feld selbst sind natürlich die Personalentscheidungen von herausragender Bedeutung: Wer darf als Lehrer in das päd-

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agogische Feld eintreten und wer wird dafür gar nicht erst zugelassen? Jüdische Lehrer und Hochschullehrer wurden von den Nazis ebenso entlassen wie andere, die Mitglieder der kommunistischen oder der sozialdemokratischen Partei gewesen oder aus anderen Gründen als politische Gegner angesehen waren. Die richtige Gesinnung sollte garantiert sein nicht zuletzt auch durch eine stark an der Lagererziehung orientierte Lehrerbildung. Die irrige Idee, daß auch die politisch-ideologische Gesinnung zum pädagogischen Erfolgskriterium gehöre, hat die NS-Zeit überlebt und ist bis heute z.B. im Umgang mit DKP- und neuerdings mit SED-Lehrern eine offenbar unausrottbare Fiktion von Politikern.

Alle diese politischen Einwirkungs- und Behinderungsmöglichkeiten reichen jedoch nicht aus, eine spezifisch nationalsozialistische Pädagogik zu rekonstruieren. Die hat es nicht gegeben, es gab nur pädagogische Theorien und Praktiken im Nationalsozialismus. Und die waren durchaus kontrovers. Baeumlers Polemiken gegen Veröffentlichungen der "Geisteswissenschaftler" wie Litt, Nohl, Blättner, Weinstock waren in der Sache durchaus ernstzunehmen, ärgerlich und wohl auch nicht ungefährlich für die Betroffenen wurden sie nur dadurch, daß sie mit der Anmaßung der "richtigen" politischen, nämlich nationalsozialistischen Gesinnung vorgetragen wurden, die den Kritisierten abgesprochen wurde - was zumindest von der Wirkung her eine Denunziation sein konnte.

Solange das pädagogische Erfolgskriterium angewendet werden konnte, gab es dadurch auch einen gewissen Schutz für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ein verwahrloster oder krimineller Jugendlicher, der noch als "erziehbar" angesehen wurde, hatte auch eine Chance zur Resozialisierung. Wer als "unerziehbar" galt, wurde der pädagogischen Verantwortung entzogen, galt als erblich minderwertig und wurde entsprechend "behandelt" - z.B. in den "Jugenschutzlagern" Moringen (für Jungen) und Uckermark (für Mädchen), die faktisch Jugend-KZ waren. Was die Pädagogik nach ihren eigenen Erfolgskriterien - nämlich Lernen zu ermöglichen - nicht mehr sanieren konnte oder wollte - "Unerziehbarkeit" ist ja eine Frage der Definition -, übernahm die rassenbiologisch orientierte Medizin und Psychiatrie als "erbkrank". Wer aber der Pädagogik entzogen bzw. von dieser abgegeben wurde, wurde auch weitgehend der Öffentlichkeit entzogen - mit den bekannten Folgen.

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Wer sich zur Distanz zum NS-Regime entschloß oder gar zum Widerstand, konnte dabei durchaus auf die moralischen Maximen seiner früheren Erziehung zurückgreifen. Man könnte sagen, daß diese Menschen jene Bewährungssituationen einforderten, die ihnen ihre Erziehung versprochen hatte und die sie nun nicht vorfanden.

Diejenigen, die die Nazis unterstützten, hatten im wesentlichen dieselbe Erziehung erfahren wie diejenigen, die sich zu widersetzen versuchten. Die Art und Weise der erlebten Erziehung erlaubt also keinerlei Prognose für das künftige Handeln und Verhalten. Deshalb sind alle Versuche illusorisch, mit Hilfe der Erziehung und durch deren Verbesserung Einfluß auf die Zukunft nehmen zu wollen. Ihre Möglichkeiten sind sehr viel bescheidener anzusetzen: sie kann über Natur und Gesellschaft aufklären, sozial bedeutsame Tugenden und Verhaltensweisen fördern, zur Identifikation mit positiven Vorbildern ermutigen. Was die so Erzogenen und Gebildeten später mit dieser Ausstattung anfangen werden, ist nicht antizipierbar, zumal damit kein Glücksversprechen verbunden werden kann. Aufklärung z.B. über die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge entfremdet auch, kann Geborgenheiten und Loyalitäten brüchig werden lassen. Das ist ein Teufelskreis, in dem wir uns immer noch befinden.

Spezifisch nationalsozialistisch war nicht die öffentliche Erziehung, sondern das Arrangement des öffentlichen Lebens: die geradezu kultischen Selbstinszenierungen der Machthaber; das Fehlen jeder politischen Kontrolle und Gegenmacht; die Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung; die kulturelle Zensur auf allen Ebenen; das allgemeine Klima von Drohung und Einschüchterung. Das waren schon zu Friedenszeiten Sozialisationsfaktoren, die ihre Wirkung auf alle Generationen gewiß nicht verfehlten. Der Krieg schließlich akkumulierte diese Wirkungen und fügte hinzu die Notwendigkeit des Überlebens - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Aber diese Wirkungen können nicht allgemein beschrieben werden, sie lassen sich nur festmachen an einzelnen Biographien und Autobiographien, von denen es inzwischen einige gibt.

Zu lernen ist also, daß Auschwitz nicht pädagogisch, sondern nur politisch verhindert werden kann, aber die Pädagogik könnte diese Einsicht verbreiten.

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 Literatur

Literatur-Hinweise zu den einzelnen Kapiteln

Zur NS-Herrschaft allgemein:

Bracher; Erdmann; Höhne 1984, 1991; Mosse; Schoenbaum; Prinz/Zitelmann.

Zur Entwicklung der Pädagogik vor 1933:

Langewiesche/Tenorth; Tenorth; Wilhelm. Über die Weimarer Republik allgemein: Peukert (1987).

Zur Pädagogik in der NS-Zeit allgemein:

Berg/Ellger-Rüttgardt; Herrmann; Herrmann/Oelkers; Horn; Kanz; Keim (1995 u. 1997); Klafki (1990); Tenorth (1985); Scholtz (1985); Wilhelm.

Zu Kapitel I (Hitler)

Eine gründliche Analyse der pädagogischen Vorstellungen und Ziele Hitlers findet sich bei Steinhaus. Zum Phänomen der hohen Loyalität der Deutschen zu Hitler siehe Eitner. Zum historischen Hintergrund von Rassismus, Eugenik und Euthanasie: Schmuhl; Weingart u.a. Zum antisemitischen Milieu in Wien vor dem Ersten Weltkrieg: Hamann.

Zu Kapitel II (Krieck)

Vertiefende Studien zu Krieck ermöglichen Lingelbach, Prange, Hoyer und vor allem Müller. Tradition und Hintergründe des völkisch-konservativen Denkens sind dargestellt bei Krockow und Sontheimer.

Zu Kapitel III (Baeumler)

Die Kontroverse zwischen Th. Mann und A. Baeumler ist dokumentiert durch Baeumlers Frau Marianne Baeumler. Dort

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sind auch Briefe und Aufzeichnungen abgedruckt, in denen Baeumler sein Verhalten während der NS-Zeit nachträglich zu erklären versucht. Entsprechende Notizen aus der Internierungszeit finden sich auch in Baeumler (1991). Lingelbach, Dickopp und Joch setzen sich mit Baeumler ausführlich auseinander. Die umfangreiche Untersuchung von Bollmus enthält nur wenige Einzelheiten über Baeumlers Tätigkeit im "Amt Rosenberg". Über die Lage der Philosophie in der NS-Zeit allgemein siehe Lungerten. Zur "Bücherverbrennung": Zimmer.

Zu Kapitel IV (Schulwesen)

Zur Vorgeschichte: Herrlitz u.a.; Kraul; Langewiesche/Tenorth.

Zur Schulpolitik allgemein: Eilers; Fricke-Finkelnburg; Scholtz (1985).

Zu Einzelaspekten: Breyvogel (1977); Breyvogel/Lohmann; Dithmar; Flessau; Götz; Höck; Nath (1981, 1988); Ottweiler (1979, 1980); Zymek.

Die erwähnten Richtlinien für die Volks- bzw. Oberschulen sind veröffentlicht in: Erziehung und Unterricht ... (1938 bzw. 1939).

Zum Widerstand von Lehrern: van Dick; Klewitz; Schnorbach.

Zum NS-Lehrerbund: Feiten.

Zur Berufsausbildung: Seubert; Wolsing.

Zur jüdischen Schule im Nationalsozialismus: Röcher; Scharf, Walk; Weiss.

Zu Kapitel V (Hitlerjugend)
Über B. v. Schirach, seine Person und sein Wirken informieren ausführlich von Lang und Wortmann. Eine knappe Skizze hat Fest (1980) angefertigt.
Zur HJ allgemein: Brandenburg; Klemme (1982); Koch; Schubert-Weller.
Veröffentlichungen ehemaliger HJ-Führer (z.B. Griesmayr/ Würschinger) bieten zwar teilweise interessante Insider-Informationen, sind aber nicht frei von nachträglicher Rechtfertigung. Hervorzuheben ist aber die auf Information und sachliche Dokumentation bedachte Arbeit von Rüdiger (1983). Die erwähnte Jugendschutz-Denkschrift der RJF ist wieder abgedruckt in Klönne (1982).
Zur Vorgeschichte der HJ: Giesecke; von Hellfeld 1987; Kater (1975 u. 1977). Über den BDM informieren die Arbeiten von

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Klaus, Jürgens, Kauz und Reese. Gegen einige Interpretationen von Klaus, der für seine Arbeiten Trude Bürkner-Mohr und Jutta Rüdiger, die beiden höchsten ehemaligen BDM-Führerinnen, interviewt hat, hat J. Rüdiger (1984) "eine Richtigstellung" veröffentlicht.

Zur Jugendopposition: Breyvogel; Klönne 1981 und 1982; Muth; Peukert 1980 und 1982; Peukert/Reulecke.

Zur "Kinderlandverschickung": Dabel; Hermand; Kock 1997; Larass.

Zu den "Adolf-Hitler-Schulen": Orlow; Scholtz (1972, 1985); kritisch dazu als "Ehemaliger" Klüver.

Zur "Akademie für Jugendführung": Schultz.

Zu dem, was jenseits der "HJ-Fähigkeit" geschah: Jureit; Kuhlmann; Otto/Sünker; Scherer; Peukert (1982); Wolff 1985 und 1992.

Zur Jugendgeschichte allgemein: Giesecke; Roth; von Trotha; Schelsky.

Autobiographische Darstellungen

Böll; Brückner; Finckh; Hannsmann; Henningsen; Klafki (1990); Kruges; Maschmann; Reich-Ranicki; Steinbach; Sternheim-Peters; Stolze; Walb.

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 die

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gleiche Aufgabe der "Volkserziehung", und Hitler sprach dies im Jahre 1937 auch aus:

"Wir können deshalb auch nicht zugeben, daß irgendein taugliches Mittel für diese Volksausbildung und Erziehung von dieser Gemeinschaftsverpflichtung ausgenommen werden könnte. Jugenderziehung - Wehrmacht, sie sind alle Einrichtungen dieser Erziehung und Ausbildung unseres Volkes. Das Buch, die Zeitung, der Vortrag, die Kunst, das Theater, der Film, sie sind alle Mittel dieser Volkserziehung." (Zit. n. Steinhaus, 48) Auf diesem Hintergrund ist jene bekannte Rangordnung der Erziehungsziele zu verstehen, die Hitler formulierte:

"Der völkische Staat hat ... seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung" (452).

Auf den ersten Blick ist an diesem Programm für jene Zeit nichts außergewöhnliches. Es gab damals auch in der bürgerlichen Reformpädagogik eine breite Diskussion über die sogenannte "Verkopfung" der Schule, daß den Schülern zu viel totes Wissen eingetrichtert würde, daß dabei die Charakterbildung zu kurz komme und daß die Erziehung überhaupt zu lebensfern sei. Daß zudem die Schule körperfeindlich sei und vor allem in den Großstädten die Leibeserziehung vernachlässige, gehörte ebenfalls zu den häufig zu hörenden Klagen. Wenn Hitler also die damals herrschende Rangfolge der Erziehungswerte umkehrte, die körperliche Erziehung an die erste Stelle, die Charakterbildung an die zweite und die wissenschaftliche Schulung an die dritte Stelle setzte, dann sprach er damit eine weit verbreitete Stimmung an. Aber das Bild vom "Heranzüchten kerngesunder Körper" verweist schon darauf, daß hier nicht die Leibeserziehung im Interesse der Bildung des einzelnen Menschen gemeint war, sie sollte vielmehr den rassistischen Zwecken des neuen völkischen Staates dienen.

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"Die körperliche Ertüchtigung ist daher im völkischen Staat nicht eine Sache des einzelnen, auch nicht eine Angelegenheit, die in erster Linie die Eltern angeht, und die erst in zweiter oder dritter die Allgemeinheit interessiert, sondern eine Forderung der Selbsterhaltung des durch den Staat vertretenen und geschützten Volkstums ... . Der völkische Staat ... hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper schon in ihrer frühsten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und die notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten" (453).

Geradezu enthusiastisch äußerte er sich in diesem Zusammenhang über das Boxen.

"Es gibt keinen Sport, der wie dieser den Angriffsgeist in gleichem Maße fördert, blitzschnelle Entschlußkraft verlangt, den Körper zu stählerner Geschmeidigkeit erzieht ... . Vor allem aber, der junge, gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen lernen. Das mag in den Augen unserer heutigen Geisteskämpfer natürlich als wild erscheinen. Doch hat der völkische Staat eben nicht die Aufgabe, eine Kolonie friedsamer Ästheten und körperlicher Degeneraten aufzuzüchten. Nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer sieht er sein Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen" (454).

Hart sein und leiden können soll der ideale Nationalsozialist. Darauf zielt auch die Charakterbildung im neuen Staat. "Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit sind Tugenden, die ein großes Volk nötig braucht, und deren Anerziehung und Ausbildung in der Schule gewichtiger ist als manches von dem, was zur Zeit unsere Lehrpläne ausfüllt. Auch das Aberziehen von weinerlichem Klagen, von wehleidigem Heulen usw. gehört in dieses Gebiet. Wenn eine Erziehung vergißt, schon beim Kinde darauf hinzuwirken, daß auch Leiden und Unbill einmal schweigend ertragen werden müssen, darf sie sich nicht wundern, wenn später in kritischer Stunde, wenn einst der Mann an der Front steht, der ganze Postverkehr einzig der Beförderung von gegenseitigen Jammer- und Winselbriefen dient" (461).

Ferner komme es darauf an, die Willens- und Entschlußkraft sowie die Verantwortungsfreudigkeit auszubilden. Mit Ver-

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antwortung war aber nicht gemeint, eine Entscheidung zu treffen, nachdem man alle Umstände erörtert und die Konsequenzen für andere Menschen bedacht hat - im Gegenteil: Wille und Entschlußkraft des fanatischen Menschen waren gemeint, der im blinden Glauben, nicht ruhig analysierend handelt. Höhnisch rechnet Hitler mit denjenigen ab, die nur handeln, nachdem sie sich gewisse Wahrscheinlichkeiten des Erfolges ausgerechnet haben:

"Wer vom Schicksal erst die Bürgschaft für den Erfolg fordert, verzichtet damit von selbst auf die Bedeutung einer heroischen Tat. Denn diese liegt darin, daß man in der Überzeugung von der Todesgefährlichkeit eines Zustandes den Schritt unternimmt, der vielleicht zum Erfolg führen kann" (463).

Verantwortung ist hier keine Kategorie des normalen bürgerlichen Handelns, sondern an Grenzsituationen orientiert: das fast Aussichtslose zu wagen. Für Hitler gab es keine mittlere zivile Ausgewogenheit, sondern nur extreme Haltungen, Gesinnungen und Tatsachen: gesund - krank; Freund - Feind; rein - unrein, entweder - oder.

"Die deutsche Jugend wird dereinst entweder der Bauherr eines neuen völkischen Staates sein, oder sie wird als letzter Zeuge den völligen Zusammenbruch, das Ende der bürgerlichen Welt erleben" (450).

Wenn wir also den rassistisch-biologistischen Ausgangspunkt außer acht lassen, waren Hitlers Äußerungen über Erziehung zu einem guten Teil nicht ungewöhnlich, aber es sollte sich bald herausstellen, daß es ein Fehler vieler Zeitgenossen war, gerade diese rassistischen Vorgaben nicht ernstzunehmen; denn wenn sie Hitlers Kapitel über Erziehung gelesen haben, dann haben sie auch folgende Stelle gelesen, in der sich Rassenhaß und Sozialneid zu einer unerträglichen Borniertheit verbinden.

"Von Zeit zu Zeit wird in Illustriertenblättern dem deutschen Spießer vor Augen geführt, daß da und dort zum ersten Mal ein Neger Advokat, Lehrer, gar Pastor, ja Heldentenor oder dergleichen geworden ist. Während das blödselige Bürgertum eine solche Wunderdressur staunend zur Kenntnis nimmt, voll von Respekt für dieses fabelhafte Resultat heutiger Erziehungskunst versteht der Jude sehr schlau daraus

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einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner den Völkern einzutrichternden Theorie von der Gleichheit der Menschen zu konstruieren. Es dämmert dieser verkommenen bürgerlichen Welt nicht auf, daß es sich hier wahrhaftig um eine Sünde an jeder Vernunft handelt; daß es ein verbrecherischer Wahnwitz ist, einen geborenen Halbaffen so lange zu dressieren, bis man glaubt, aus ihm einen Advokaten gemacht zu haben, während Millionen Angehörige der höchsten Kulturrasse in vollkommen unwürdigen Stellungen verbleiben müssen; daß es eine Versündigung am Willen des ewigen Schöpfers ist, wenn man Hunderttausende und Hunderttausende seiner begabtesten Wesen im heutigen proletarischen Sumpf verkommen läßt, während man Hottentotten und Zulukaffern zu geistigen Berufen hinaufdressiert. Denn um eine Dressur handelt es sich dabei, genauso wie bei der des Pudels, und nicht um eine wissenschaftliche Ausbildung. Die gleiche Mühe und Sorgfalt auf Intelligenzrassen angewendet, würde jeden Einzelnen tausendmal eher zu gleichen Leistungen befähigen" (478).

Der deutsche Bauernjunge kann - weil arisch - grundsätzlich zu Höherem fähig sein, ein Negerjunge - weil nicht arisch - auf keinen Fall. Es sollte sich bald herausstellen, daß dieser Rassismus nicht nur ernst gemeint war, sondern sogar zum Leitmotiv des politischen Handelns wurde.

 

Politisch-pädagogisches Resümee

Zusammenfassend läßt sich über Hitlers Erziehungsvorstellungen folgendes sagen:

1. Ihre rassistisch-biologistische Grundlage ist unbezweifelbar; nur in diesem Zusammenhang sind alle Äußerungen über pädagogische Einzelheiten zu verstehen. Dieser radikale und fanatische Rassismus, der sich, wie das Zitat zeigt, keineswegs nur gegen die Juden richtete, wurde von den anschließend vorzustellenden Pädagogen nicht geteilt. Charakteristisch für ihn war die Unmöglichkeit, darüber zu verhandeln. Die Tatsache, daß jemand einer anderen Rasse angehörte, schloß ihn von vornherein aus dem deutschen Volkszusammenhang aus. Diese Vorstellung implizierte zumindest die Unterdrückung wenn nicht die Vernichtung anderer Ras-

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sen; jedenfalls sah Hitler die verschiedenen Rassen nicht als gleichwertig an, die arische galt ihm als Herrenrasse, die das Recht habe, über die anderen zu herrschen. Die mörderischen Konsequenzen aus diesem anthropologischen Wahn konnte er allerdings erst im Kriege ziehen, als er die Loyalität der Deutschen durch die scheinbare Notwendigkeit der Landesverteidigung erpreßte und sie mißbrauchte zum Massenmord an den Juden wie auch zum barbarischen Umgang mit den zu "Untermenschen" herunterdefinierten Völkern Polens und der Sowjetunion.

Hitlers Menschenbild beruhte also nicht auf der Gleichheit der Menschen, sondern auf ihrer angeblich naturbedingten Ungleichheit. Deshalb galten für ihn auch die allgemeinen Menschenrechte nicht, die hielt er - wie im Zitat über den Neger zum Ausdruck kommt - für eine jüdische Erfindung.

In der Pädagogik der NS-Zeit wirkte sich dieser Rassismus besonders in der Behandlung derjenigen Kinder und Jugendlichen aus, die, obwohl deutsch und "arisch", nicht "HJ-fähig" waren, wie im Kapitel 5 zu zeigen sein wird.

Die als fremdrassig definierten Kinder und Jugendlichen - z.B. die jüdischen - waren nach dieser Logik ohnehin nicht "erziehbar" im Sinne einer Anpassung ihres Verhaltens an die in Deutschland gültigen sozialen Regeln und Normen, weil es nur auf das als rassisch determiniert angenommene genetische Potential ankam, das weder durch Politik noch Erziehung verändert werden könne.

Sachlich gesehen ist das Unsinn. Bisher haben sich signifikante genetische Unterschiede zwischen sogenannten "Rassen" nicht nachweisen lassen, sondern nur zwischen Individuen, und diese Unterschiede verteilen sich offensichtlich einigermaßen gleich unter den sogenannten "Rassen". Die bisherige "Rassenforschung", wie sie in der NS-Zeit ihren berüchtigten Höhepunkt erreichte, hat bezeichnenderweise immer eine "Rasse" - nämlich die "weiße" bzw. "arische" - als den anderen "überlegen" "erwiesen". Auf diese Weise ließen sich imperiale Ansprüche der "Weißen" gegenüber anderen Völkern als naturbedingt, also als durch soziales Handeln nicht veränderbar, begründen.

Vom Rassismus übrig bleibt die Tatsache kultureller Fremdheit, wie wir sie heute auch zum Teil im Umgang mit Asylbe-

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werbern erleben, die aus uns fremden Kulturen kommen. Kulturelle Fremdheit aber bereitet vielen Menschen Angst, und diese ist politisch mobilisierbar, weshalb Rassismus wohl auch in Zukunft eine Gefahr bleiben wird, obwohl er wissenschaftlich nicht gestützt werden kann.

2. Aus der Annahme, daß die Bedrohung des Volkes in erster Linie eine rassische sei, folgte das Konzept des totalen Erziehungsstaates. Erziehung war nun nicht mehr wie in der bisherigen pädagogischen Tradition ein bestimmtes und begrenztes Einwirken von Erwachsenen auf noch nicht Erwachsene, das sein Ende mit dem Status des Erwachsenseins findet, vielmehr sind nun alle lebenden Generationen gleich mündig bzw. unmündig. Die mit den Aufgaben des völkischen Staates gegebenen prinzipiellen Erziehungsziele gelten für alle Generationen, allerdings mit unterschiedlichem Gewicht. Während die Kinder und Jugendlichen von vornherein in diesem Sinne erzogen werden können, müssen die bereits anders erzogenen Erwachsenen umerzogen werden. Dazu dienten dann in der Praxis die zahllosen Schulungslager. Ferner folgte aus diesem totalen Erziehungskonzept eine Umkehrung des Generationenverhältnisses. Die Jungen hatten nun die Chance, eher nationalsozialistisch erzogen zu werden als die Älteren. Ein entsprechendes Selbstbewußtsein entwickelte die HJ dann auch z.B. gegenüber der Schule.

3. In diesem Erziehungskonzept werden die Grenzen von Erziehung, Bildung, Indoktrination, Agitation und Propaganda fließend. Angewendet wird das Verfahren, das bei bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation am meisten Erfolg verspricht. Dadurch wird aber ein kritisches, theoretisch fundiertes Nachdenken über pädagogisches Handeln erschwert und als Folge davon das berufliche pädagogische Selbstverständnis unterhöhlt.

Erziehung und Bildung sind nun nicht mehr allein Sache eines bestimmten Berufsstandes, der eine eigene Berufsethik entwickelt und nach deren Normen seine Aufgaben erfüllt. Vielmehr wird jeder zum Erzieher der anderen, der sich im Besitz der rechten Gesinnung glaubt. Die pädagogischen Berufe sind nun nicht mehr orientiert am Wohl des einzelnen Kindes, sondern treten dem Kind gegenüber als Übermittler der offiziell propagierten NS-Ideologie. Alle Berufe, die auf

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Menschen bezogen sind, werden in diese völkische Erziehungs-Agitation eingespannt. Das galt z.B. auch für die Ärzte, die - wie wir heute wissen - bei der Durchsetzung des Rassismus gegenüber gesundheitlich und sozial abweichenden Menschen eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben.

4. Normalerweise geht es in der Erziehung darum, Kinder und Heranwachsende zu befähigen, selbständig am Leben der Gemeinschaft teilnehmen zu können. Wenn dies mißlingt, kommen schlimmstenfalls in diesem Sinne schlecht erzogene Kinder dabei heraus. Hitlers Erziehungsziele sind jedoch nicht am einzelnen Menschen orientiert, sondern an dem, was er für die Entwicklungsgrundlage des völkischen Staates hält. Eine scheiternde Erziehung gerät nun in die Nähe der Staatsgefährdung. Daraus wiederum ergibt sich gleichsam zwangsläufig ein Bündnis von Pädagogik und Polizei. Wer sich nicht als "richtig erzogen" erweist, der muß mit polizeilichen Reaktionen rechnen. Polizeiterror und Erziehung verschmelzen hier zu zwei Seiten einer Münze. Die auf den ersten Blick enorme Aufwertung der Erziehung erweist sich als deren Unterwerfung. So verwundert es nicht, daß Hitler die Lehrer im Grunde verachtete und lieber auf die Techniken der Massenbeeinflussung setzte, also auf Propaganda. Auch damit beschäftigt er sich in "Mein Kampf' ausführlich.

5. In unserem Eingangszitat beschreibt Hitler triumphierend eine Bilderbuch-Sozialisation im Rahmen der nationalsozialistischen "Formationen" (HJ-Arbeitsdienst-Wehrmacht-SA-SS). Bei dieser Aufzahlung fehlen jedoch einige wichtige Sozialisationsinstanzen: Familie, Kirche und vor allem die Arbeitswelt.

Bei den Erwachsenen hielten sich die Möglichkeiten des Erziehungsstaates in Grenzen. Im Zentrum ihres Lebens stand nicht die SA, die ohnehin weitgehend zu einem männerbündischen Kameradschaftsverein verkam, sondern die Erwerbsarbeit und die Sicherung der materiellen Existenz. Auch im Dritten Reich galt der kapitalistische Grundsatz weiter, daß für möglichst wenig Lohn möglichst viel geleistet werden sollte. Die Erwerbsarbeit hatte also ihre eigenen Gesetze, man konnte sie zwar mit politischen Appellen anheizen und mit Nazi-Symbolen umstellen, die Arbeiterschaft als "Gefolgschaft" bezeichnen und den Hitler-Gruß verordnen, aber

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die Arbeit sozialisierte die Menschen nicht von diesen Symbolen her.

Für das Aufwachsen der Kinder jedoch darf Hitlers Vision des Erziehungsstaates nicht unterschätzt werden. Entscheidend war damals nicht allein, was der Lehrer in der Schule den Kindern sagte, sondern daß das Kind, wenn es die Schule verließ, draußen in der Öffentlichkeit und im Rundfunk auf die gleichen Parolen und Gestimmtheiten traf. Es ist den Nationalsozialisten zu einem erheblichen Teil gelungen, eine Art von eindimensionaler, geschlossener Sozialisation für Kinder und Jugendliche zu arrangieren, in der alternative Denk- und Verhaltensweisen kaum zur Erfahrung werden konnten. Lediglich die Familie und gegebenenfalls eine Religionsgemeinschaft konnten unter Umständen gegenläufig wirken.

Trotz des rassistischen Radikalismus ließen sich aus Hitlers Vorstellungen wenig praktisch-pädagogische Konsequenzen ziehen. Diese Lücke bot nun Pädagogen, die sich für Nationalsozialisten hielten, einen verhältnismäßig breiten Spielraum für eigene Initiativen an, um sich zum pädagogischen Chefideologen zu profilieren. Einer von ihnen war Ernst Krieck.

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2. Völkischer Erziehungsstaat (Ernst Krieck)

 

Leben und Werk

Ernst Krieck wurde 1882 als Sohn eines unselbständigen Maurers und Kleinbauern in Vögisheim in Südbaden geboren. Er besuchte die Realschule, anschließend das Lehrerseminar, war mit 18 Jahren Junglehrer und blieb mit Unterbrechungen bis 1928 als Volksschullehrer tätig.

Für einen Jungen, der lernwillig war, aber das Geld für den Besuch des Gymnasiums oder gar für ein Studium nicht aufbringen konnte, war der Weg über die Lehrerausbildung damals - vor dem Ersten Weltkrieg - nahezu der einzige, um zu einer höheren Bildung zu gelangen. Dieser Weg war bedrückend und demütigend, denn der Volksschullehrer sollte nichts weiter als gesinnungstreue, der Kulturtechniken halbwegs kundige Untertanen produzieren, und entsprechend wurden die Lehrer behandelt. Die Volksschule kannte damals noch keine moderne Pädagogik, sie war eine Drill- und Paukschule.

Für seinen Beruf war Krieck "überqualifiziert" - wie man heute sagen würde; er fühlte sich unterfordert und kompensierte dies durch Fortbildung und autodidaktische Studien. Ferner engagierte er sich publizistisch für die liberale Berufsorganisation der Volksschullehrer, den Deutschen Lehrerverein. Er redigierte eine Badische Lehrerzeitung und schrieb zahllose Artikel, mit denen er in die bildungs- und kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit eingriff.

Dabei ging es vor allem um zwei Fragen: um die Konfessionalität der Volksschule und um den chancengleichen Zugang der Arbeiterkinder zur höheren Bildung.

Das Volksschulwesen lag traditionell in der Hand der Kirchen. Zwar hatte im 19. Jahrhundert der Staat formell die

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Schulaufsicht übernommen, sie aber den Kirchen wieder zur Ausübung übertragen, weil die Volksschulen konfessionell waren und dies auch nach dem Willen des Staates bleiben sollten. Diese kirchliche Schulaufsicht, die nicht von pädagogischen Fachleuten, sondern von Geistlichen ausgeübt wurde, wurde von den im Deutschen Lehrerverein organisierten Volksschullehrern bekämpft. Sie forderten die staatliche, von pädagogischen Fachleuten auszuübende Schulaufsicht, aber erst 1918 wurde diese Forderung realisiert. Ferner wurde in diesem Zusammenhang die nationale - also konfessionell neutrale - Einheitsschule gefordert - eine Vorläuferin der heutigen Gesamtschule. Alle Kinder sollten in eine Schule gehen und dort je nach ihren Fähigkeiten einen Abschluß auf der Höhe der Volks-, Real- oder Gymnasialstufe machen. Die "Einheitsschule" sollte also eine Stufenschule sein.

Nun wurde zwar 1918 die geistliche Schulaufsicht abgeschafft, nicht jedoch die Konfessionsschule. Sie wurde sogar in der Weimarer Verfassung ausdrücklich wieder verankert, allerdings mit der Einschränkung, daß auf Wunsch der Eltern auch weltliche Schulen eingerichtet werden könnten. Die Einzelheiten sollten durch ein "Reichsschulgesetz" geregelt werden, das aber nicht zustande kam, so daß weltliche Schulen wegen fehlender rechtlicher Grundlagen verhindert werden konnten, die Konfessionsschule aber Regelschule blieb.

Eine Konsequenz der Idee der "Einheitsschule" war die einheitliche Lehrerbildung, also die Universitätsausbildung auch für Volksschullehrer. Beides konnte jedoch nicht realisiert werden, verwirklicht wurde 1920 nur die vierjährige gemeinsame Grundschule für alle Kinder; vorher wurden diejenigen Kinder, die ein Gymnasium besuchen sollten, auf sogenannten "Vorschulen" darauf vorbereitet. Das bedeutete, daß die Volksschüler und die Gymnasiasten vom ersten Schultag an getrennte Schulen besuchten.

Die bildungspolitischen Vorstellungen der erwähnten Volksschullehrerorganisation wurden von der SPD unterstützt, weil sie geeignet erschienen, das "Bildungsprivileg" des Bürgertums zu brechen und den entsprechend begabten Arbeiterkindern einen Aufstieg durch höhere Bildung zu ermöglichen.

Auch Ernst Krieck setzte sich für diese Forderungen publizistisch ein, zumal er an sich selbst erfahren hatte, wie

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schmerzlich es ist, aus finanziellen Gründen auf den Besuch des Gymnasiums und auf ein Studium verzichten zu müssen. Sein Hauptgegner wurde dabei das Zentrum, die politische Partei des Katholizismus. Sie spielte während der Weimarer Zeit insofern eine problematische Rolle, als ihr Hauptziel die Erhaltung und wenn möglich die Vermehrung des Einflusses der katholischen Kirche auf das Bildungswesen und auf das kulturelle Leben überhaupt war. Für dieses Ziel war die Partei bereit, jede nur denkbare Koalition einzugehen - ohne Rücksicht auf andere politische Sachfragen. So hatte sie in Bayern 1924 durch ihren dortigen Ableger, die Bayerische Volkspartei, ein Konkordat durchsetzen können, das ihren Vorstellungen über die konfessionellen Volksschulen und die Lehrerausbildung weitgehend entsprach. Krieck nahm dies zum Anlaß einer öffentlichen Auseinandersetzung. Ohne die katholische Religion anzugreifen, forderte er die uneingeschränkte staatliche Trägerschaft des Bildungswesens.

"Der Anspruch der Kirche auf die Vorherrschaft in der öffentlichen Erziehung ist eine durch gar nichts gerechtfertigte Anmaßung. Die Kirche ist nicht imstande, aus ihren Mitteln, ihrem geistigen Besitz den Lehrplan auch nur einer Volksschule zu füllen. Es gibt keine katholische Erdkunde, keine protestantische Raumlehre, keine jüdische Sprachwissenschaft, keine freireligiöse Chemie... . Der Staat ist verloren und verkauft, der die Staatsbürgerbildung nicht aus eigener Machtvollkommenheit und eigenen Machtmitteln leisten kann" (Zit. n. G. Müller, 66).

Auf diesen Artikel reagierte die Presse des Zentrums mit einer zentral gesteuerten Kampagne gegen Krieck. Gerhard Müller, dem wir die bisher umfangreichste Untersuchung über Krieck verdanken, beurteilt diese Kampagne so:

"Man wird sich heute bei Durchsicht der Pressestimmen der Meinung Kriecks anschließen können, daß die Argumentation der Zentrumspresse größtenteils 'bis zur Hirnerweichung blödsinnig' war. Die Pressefehde des Zentrums offenbart auf verschiedenen Ebenen einen unglaublichen geistigen Tiefstand der Argumentation, die um der eigenen Sache willen vor keiner demagogischen Verfälschung des Krieckschen Anliegens, das in seinem Kern nicht berührt wurde, zurückschreckte . . ." (Müller, 66 f.).

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Seine entschiedene Haltung zum Zentrum entfremdete Krieck aber allmählich auch seiner Standesorganisation, dem Deutschen Lehrerverein. Er griff nämlich nicht nur das Zentrum heftig an, sondern auch alle diejenigen, die mit ihm paktierten und Kompromisse schlossen, was ja auch die Lehrerverbände, die liberale Deutsche Volkspartei und die Sozialdemokraten taten. Er durchlebte in den 20er Jahren einen mehrfachen Entfremdungsprozeß. Seine wissenschaftlichen Arbeiten entfremdeten ihn seinem Beruf und seinem sozialen Herkunftsmilieu; mit seiner entschiedenen, kompromißlosen Haltung distanzierte er sich auch von denjenigen Verbänden, die ihm eigentlich nahestanden. Ihm fehlte das Verständnis für die Notwendigkeit von Kompromissen; er dachte zunehmend im Entweder-Oder-Schema und beurteilte schließlich alle politischen Organisationen danach, ob sie sich dem Zentrum konsequent widersetzen oder nicht. Diese starre und nicht selten auch rechthaberische Argumentationsweise ist sicherlich gefördert worden durch die autodidaktische Weise des Studierens. Im Unterschied zum üblichen Hochschüler mußte er sich nicht ständig mit anderen Menschen auseinandersetzen. Schroff ging er auch mit seinen Fachkollegen um, den Erziehungswissenschaftlern in der Weimarer Zeit, denen er schlicht Unwissenschaftlichkeit vorwarf.

Krieck hat ein umfangreiches publizistisches Werk hinterlassen, auf das wir hier nicht im ganzen eingehen können. Vielmehr müssen wir uns auf seine wichtigsten pädagogischen Schriften konzentrieren. Sein Hauptanliegen war allerdings ein politisches. Er versuchte, durch eine Aufarbeitung der deutschen Geschichte und Geistesgeschichte die "deutsche Eigenart" herauszufinden und daraus entsprechende Vorschläge für die Neuformierung von Volk und Staat zu entwickeln. Für unseren Zusammenhang ist daran bedeutsam, daß er pädagogische Fragen, wenn er sich damit beschäftigte, immer im Zusammenhang seiner darüber hinausgehenden politischen Ambitionen sah.

"Philosophie der Erziehung"

Im Jahre 1922 erschien sein erziehungswissenschaftliches Hauptwerk unter dem Titel "Philosophie der Erziehung", das ihn mit einem Schlag berühmt machte und ihm die Eh-

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rendoktorwürde der Universität Heidelberg eintrug. Die Thesen dieses Buches waren damals ungewöhnlich. Nicht das, was einzelne Personen wie Eltern und Lehrer mit Kindern absichtsvoll - also intentional - tun, sei das entscheidende an der Erziehung, sondern die Art und Weise, wie Kinder in den sozialen Gemeinschaften aufwachsen. Diese Gemeinschaften erziehen "funktional", also durch ihre bloße Existenz, und einzelne Personen, z.B. die Eltern oder Lehrer, sind nur Funktionsträger solcher Gemeinschaften wie Familie, Gemeinde, Kirche, Volk. Und die Gemeinschaften formen keine Individuen, sondern Typen, d.h. sie versuchen, den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild zu prägen. Diesen Prozeß der kollektiven Assimilierung des Menschen nannte er Zucht. Das war nicht biologisch gemeint, etwa im Sinne von Tierzüchtung, sondern einer Prägung durch Sitten und Normen der jeweiligen Gemeinschaft. Die Gemeinschaften jeder Art seien "überindividuelle und ursprüngliche geistige Organismen, nicht aber Zweckverbände aus freier Wahl und Summierung Einzelner"; Erziehung sei "eine Urfunktion im Gemeinschaftsleben, genauso, wie Sprache, Religion, Recht, Kunst, gemeinsame Arbeit Urfunktionen des Gemeinschafts- oder Geisteslebens sind" (45).

Mit dieser These wendet sich Krieck gegen die Beschränkung der modernen Pädagogik auf die rational veranstaltete Erziehung in Schulen und Hochschulen; diese sei nur die oberste von drei Schichten, in denen sich "funktionale" Erziehung ereigne. "Die unterste Schicht erzieherischer Faktoren besteht aus den unbewußten Wirkungen, Bindungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch. Sie bilden den Untergrund des Gemeinschaftslebens, die unmittelbarste und stärkste Bindung im organischen Gefüge... ." (47).

Die zweite Schicht der funktionalen Erziehung sei zu finden auf der Ebene des bewußten sozialen Handelns in der Familie, am Arbeitsplatz usw. "Von jeglicher Verständigung zwischen Menschen, von jeglicher Gemeinsamkeit wie von jedem Gegensatz, von allem gemeinsamen oder gegenwirkenden Tun, mit einem Wort: von jeder Wechselwirkung gehen auf die Beteiligten erzieherische Wirkungen aus, auch wenn diese Wirkungen weder beabsichtigt sind noch auch bewußt werden. Die Menschen werden sich darin zu gegenseitig bildenden Mächten: sie müssen sich nacheinander richten, auf-

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einander einstellen, ineinander fügen, und das Maß, das Ergebnis der dabei beteiligten Wirkungskräfte bestimmt die innere Form, die Bildung, die Richtung des geistigen Werdens bei allen Teilnehmern. Wenn zwei Menschen an einem Geschäft oder an einer Arbeit teilnehmen, so wirken sie beständig durch Übereinstimmung oder Gegensatz erzieherisch aufeinander" (48).

Erst auf der Ebene der rational organisierten Erziehung finden wir Erziehungsabsichten, Zwecke und Methoden; aber auch sie "besteht niemals abgelöst und für sich allein; sie ist stets verknüpft mit irrationalen Lebenskräften, die sie tragen und dem Ganzen organisch verbinden. Ohne sie würde jede höhere Bildung und Kultur rasch austrocknen, verdorren und absterben" (49).

Diese drei Schichten der funktionalen Erziehung seien gleichrangig zu sehen, als aufeinander angewiesen, und auch die rational organisierte Erziehung könne man nicht verstehen, wenn man die anderen beiden Schichten nicht berücksichtige.

Erziehung finde aber nicht nur in einer solchen "Tiefengliederung", sondern auch in einer "Breitengliederung" statt. "Die Pole sind die Selbsterziehung der Gemeinschaft und die Selbsterziehung der Einzelnen. Dazwischen spannt sich das weite Gebiet der Fremderziehung, und zwar der wechselwirkenden Fremderziehung der Glieder, also des Ich und des Du, ferner die Fremderziehung jedes Gliedes durch die Gemeinschaft und endlich die Fremderziehung der Gemeinschaft durch die Glieder. Dazu tritt dann noch die Erziehung der Gemeinschaft durch andere Gemeinschaften, also durch die Wirkungsbeziehungen kultureller, wirtschaftlicher und politischer Art nach außen" (50 f).

Erziehungswirkungen ergeben sich demnach also nicht nur in pädagogischen Einrichtungen wie in der Schule, und nicht nur dadurch, daß Einzelne auf Einzelne einwirken; auch Gemeinschaften wirken aufeinander, auch eine Korporation wie z.B. die Ärztekammer hat eine erzieherische Bedeutung nicht nur im Hinblick auf ihre Mitglieder, sondern auch in Bezug zu anderen Korporationen, z.B. den Kirchen. Im Grunde hat nach Krieck das gesamte soziale und gesellschaftliche Leben eine erzieherische Implikation, und in dem Maße, wie der einzelne Mensch Mitglied von Gemein-

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schaften und Korporationen ist, wird er auch nach deren jeweiligen Typenerwartungen erzogen und trägt von sich aus im Rahmen seiner sozialen Teilhabe zur Erziehung anderer bei.

Eine Sonderstellung nimmt in diesem Konzept die Familie ein. Sie ist die Urzelle des Gemeinschaftslebens, trägt als Keim die Grundlagen der größeren Gemeinschaften in sich. Die höchste Form der Gemeinschaft ist das "Volk". Zu ihm stehen alle anderen Gemeinschaften im Verhältnis der "Gliedschaft", wie auch die Individuen "Glieder" ihrer Gemeinschaften sind. Das Verhältnis der Glieder zum jeweiligen "Ganzen" ist so zu sehen, daß - wenn dieses System funktioniert - die Glieder trotz vorhandener Spannungen in das größere Ganze eingebunden bleiben. In diesem Verständnis gibt es keine einseitige Abhängigkeit oder gar Unterdrückung der Glieder durch das höhere Ganze, vielmehr wird den Gliedern im Rahmen ihrer Funktion für das Ganze auch relative Autonomie zugestanden. Allerdings setzen die Gemeinschaften auch Grenzen für den Spielraum des abweichenden Verhaltens, weil sie sonst ihre Zerstörung zulassen würden.

"Was aber immer den Grundgesetzen und Existenzbedingungen einer solchen Gemeinschaft zuwiderläuft, wird erbarmungslos unterdrückt, auch wenn es an sich, rein menschlich genommen, noch so wertvoll wäre. Setzen sich dann solche Menschen und Werte trotzdem durch, hat die Gemeinschaft nicht mehr Gewissen und Kraft zur Normierung des Nachwuchses, dann ist eben sie ihrerseits vor die revolutionäre Probe auf Existenzrecht und Lebenskraft gestellt" (19).

Im Klartext heißt das: Im äußersten Konfliktfalle wird entweder der einzelne ausgeschlossen - auf welche Weise immer -, oder die Gemeinschaft zerbricht an seiner Abweichung.

Erziehung erweist sich als ein höchst komplexes Zusammenspiel von Wirkungen und Gegenwirkungen. Krieck unterscheidet also vier gleichberechtigte Formen der Erziehung:

1. Die Gemeinschaft erzieht die Glieder. 2. Die Glieder erziehen einander. 3. Die Glieder erziehen die Gemeinschaft. 4. Die Gemeinschaft erzieht die Gemeinschaft.

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Um diese Argumentation zu verstehen muß man sich vor Augen halten, daß Krieck nicht jede soziale Formation als Gemeinschaft versteht. Zweckverbände wie die Gewerkschaften, in die man eintreten und aus denen man jederzeit wieder austreten kann, zählen dazu nicht, weil sie nicht über die erste Stufe der "funktionalen" Erziehung, nämlich den irrationalen gemeinsamen Untergrund verfügen. Überhaupt ist schwer zu ermitteln, wo Krieck die Grenze setzt, ob z.B. die Schulen dazugehören. Gemeint ist mit den vier Erziehungsformen etwa folgendes: Die Ärzteschaft beispielsweise als Korporation erzieht durch die Regeln ihres Standesethos ihre einzelnen Mitglieder; die erziehen zugleich auch einander, indem sie etwa gegenseitig auf die Regeln achten. Die einzelnen Ärzte erziehen aber umgekehrt auch ihre eigene Gemeinschaft, nämlich die Korporation, indem sie darauf achten, daß diese die Regeln einhält, oder indem sie darauf drängen, daß sie modifiziert werden, weil sie etwa neuen Zeitumständen angepaßt werden müssen. Als Gemeinschaft erzieht die korporierte Arzteschaft aber auch andere Gemeinschaften, etwa die Kirchen, indem sie z.B. in Fragen der Abtreibung einen entsprechenden Druck ausübt. Einleuchtender ist vielleicht das Beispiel der Familie: Die Familie als Gemeinschaft erzieht die Glieder, z.B. die Kinder, die sich wiederum untereinander erziehen, zugleich erziehen sie wiederum die Familie als Gemeinschaft, indem sie deren Normen etwa auch gegenüber den Eltern zur Geltung bringen. Als Gemeinschaft erziehen sie andere Gemeinschaften, etwa die Nachbarfamilien.

Diese Formen der "Fremderziehung" werden ergänzt durch zwei Formen der "Selbsterziehung".

1. Die Gemeinschaft erzieht sich selbst. 2. Der Einzelne erzieht sich selbst.

Unklar bleibt hier, wie Gemeinschaften sich selbst erziehen sollen, wenn nicht durch entsprechende Aktivitäten ihrer Mitglieder, also durch eine der eben genannten Formen der "Fremderziehung". Zu verstehen ist das nur unter der Voraussetzung, daß Gemeinschaften wie einzelne Menschen lebende Organismen seien. "Selbsterziehung" könnte man sich vorstellen als Leistung des Individuums, sich in diesem Komplex unterschiedlicher Erziehungsansprüche eine eigene, persönliche Version zu verschaffen, indem es die dafür

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vorhandenen Spielräume nutzt. So ähnlich sieht es auch Krieck:

Im allgemeinen werde der Einzelne durch "Selbstformung und Selbsterziehung" sich an den erwarteten Typus anpassen, ihm seine individuelle Version geben. Aber schöpferische Menschen können auch den kollektiven Typus verändern, "umschaffen, erhöhen oder erweitern". Selbst Genies allerdings seien nur in einer begrenzten Hinsicht originell, im übrigen aber blieben auch sie am Durchschnitt ihres sozialen Typus gebunden.

Krieck nennt diesen komplexen Zusammenhang der Erziehung "organisch", und diese Kennzeichnung verweist auf sein politisch-gesellschaftliches Grundverständnis. Auf den ersten Blick könnte man meinen, hier handle es sich um eine soziologische Erziehungstheorie, denn schließlich spielen die sozialen Gemeinschaften dabei die zentrale Rolle. Das trifft aber zumindest im Sinne der modernen, empirisch arbeitenden Soziologie nicht zu. Es geht ihm nicht nur um die empirisch feststellbaren Wirkungen, sondern auch um die irrationalen Untergründe, die er in den Gemeinschaften vermutet. Die Gemeinschaften sind keine Zweckverbände, deren Mitglied man je nach Interesse werden kann oder nicht, in ihnen sind die Menschen nicht "gleich", wie sie vor dem Gesetz oder als wahlberechtigte Staatsbürger gleich sind. Sein Begriff der Gemeinschaft ist ausdrücklich als Gegenkonzept gedacht zu den modernen liberalen Vorstellungen, die auf der Gleichheit der Menschen basieren, was ja zur Voraussetzung hat, daß das Individuum prinzipiell als losgelöst von seinen konkreten sozialen Kontexten gedacht wird, als ein Wesen, das sich von solchen traditionellen Eingebundenheiten emanzipiert. Auch die modernen Massenorganisationen der Arbeiterbewegung widersprechen diesem "organischen" Weltbild. Insofern verbindet sich mit Kriecks Begriff der Gemeinschaft von vornherein eine anti-liberale und anti-sozialistische Gegenposition, das politische Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung. Wenige Jahre später wird er die NS-Bewegung als diejenige politische Kraft verstehen, die diese Neuordnung zustandebringen könne.

Krieck glaubte, mit diesem prinzipiellen Konstrukt eine grundlegende "Philosophie" der Erziehung gefunden zu haben, die Erziehung zu allen Zeiten und für alle Kulturen zu

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erforschen erlaube. Er nannte sein Konzept "autonome Erziehungswissenschaft" und versuchte es durch weitere Arbeiten historisch zu untermauern ("Menschenformung", 1925; "Bildungssysteme der Kulturvölker", 1927). Besonders eindrucksvolle historische Beispiele für Typenbildung durch Einwirken der Gemeinschaften fand er im griechischen Männerbund, im römischen Staat, in der germanischen Gefolgschaft und in der mittelalterlichen Handwerksgilde.

Seine wichtigste These war also, daß Erziehung ein soziales Phänomen sei, immer schon vorhanden, wo Menschen leben. Sie ist keine von außen an die Gemeinschaften herangetragenene zusätzliche, künstliche Institution, auch keine kulturelle Erfindung der Menschheit. Lediglich die Formen, in denen die Gemeinschaften die Erziehung organisieren, sind kulturell geprägt, also auch veränderbar.

Die "Autonomie" der Erziehungswissenschaft sah Krieck darin, daß sie nun einen eigenen Gegenstand bekam, nämlich das, was sich in jeder Gemeinschaft an erzieherischen Wirkungen abspielt; sie sei nun weder abhängig von der Ethik, von der die Pädagogen die Normen ihres Handelns bezogen, noch von der Psychologie, die die Techniken des Umgangs mit Kindern bereit stellten.

Seine Argumentation traf in mancherlei Hinsicht den pädagogischen Nerv seiner Zeit.

1. Während die damals tonangebende geisteswissenschaftliche Pädagogik im "pädagogischen Bezug", also im persönlichen Verhältnis von Erzieher und Zögling, den Ausgangspunkt aller planmäßigen Erziehung und Bildung sah, hielt Krieck die Erzieher und Lehrer vor allem für Funktionäre der sozialen Gemeinschaften, spielte also deren Bedeutung wie die Bedeutung ihres "pädagogischen Verhältnisses" zu den zu Erziehenden erheblich herunter.

2. Die Reform-Pädagogik seiner Zeit verstand sich als Individualpädagogik; sie strebte danach, die individuelle Autonomie des Kindes zu fördern und zu unterstützen. Jedenfalls sah sie das Kind nicht als "Typus" irgendeines Kollektivs oder einer Gemeinschaft, sondern als Einzelwesen, dessen eigentümliche Persönlichkeit zur Entwicklung und Entfaltung kommen müsse. Demgegenüber betonte Krieck, daß Erziehung zur Individualität gar nicht möglich sei, diese ent-

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stehe vielmehr im Rahmen der Assimilation an den Typus durch Selbsterziehung, indem das Individuum sich in diesem Prozeß eine persönliche Version des allgemeinen Typus schaffe. Die Individualität des Kindes stehe der planenden Pädagogik gar nicht zur Verfügung, die könne vielmehr nur das gemeinschaftlich Typische im Blick haben.

3. Die Pädagogik seiner Zeit konzentrierte sich auf die rationelle Planung von Bildung und Erziehung und war dabei durchweg normativ orientiert, dachte also - vereinfacht gesagt - über das Wesen des Menschen nach, wie er in seiner Vollkommenheit sein sollte, um dann zu erörtern, wie die Erziehung ihn zu einem solchen Menschen machen bzw. sich entwickeln lassen könne, wobei sie den konkreten sozialen Kontexten kaum Bedeutung schenkte, in denen die Kinder lebten und handelten.

Diese Absicht hielt Krieck nicht nur für eine Illusion, er macht darüber hinaus auch die unbewußten, irrationalen Dimensionen geltend, die beim Aufwachsen von Kindern in den Gemeinschaften - bei der Familie beginnend - eine Rolle spielen.

4. Die neuzeitliche Pädagogik ging davon aus, daß Erziehung - was immer im einzelnen darunter zu verstehen sei - sich nur auf Unmündige, also Kinder und Jugendliche beziehen könne, nicht jedoch auch auf Erwachsene. Zwar war in der Umgangssprache darüber hinaus etwa von der erzieherischen Bedeutung des Militärdienstes die Rede; abgesehen davon, daß die Rekruten in der Regel minderjährig waren, also unter den Erziehungsbegriff paßten, sprach man in der wissenschaftlichen Pädagogik jedoch im allgemeinen von "Erwachsenenbildung", wenn man pädagogische Arbeit mit Erwachsenen meinte.

Bei Krieck nun verliert der Begriff der Erziehung diesen begrenzten Sinn, er dehnt sich aus auf alle lebenden Generationen: "Alle erziehen alle jederzeit".

5. Seiner autonomen Erziehungswissenschaft ging es nicht mehr darum, die Absichten irgendwelcher Erzieher zu untersuchen, sondern die Wirkungen, die tatsächlich von den einzelnen Gemeinschaften ausgehen. Diese These traf die geisteswissenschaftliche Pädagogik insofern zentral, weil diese sich gerade in der Tradition der pädagogischen Klassiker ver-

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stand, also von Praktikern bzw. Autoren, die im Kern über ihre Absichten und die Möglichkeiten der Realisierung geschrieben hatten.

Kriecks Einsprüche gegen die traditionelle Pädagogik bedrohten also in zentralen Punkten deren Selbstverständnis, und so ist nicht verwunderlich, daß die Universitätspädagogik der Weimarer Zeit ihn weitgehend zu ignorieren versuchte, zumal Krieck deutlich aussprach, daß er diese Pädagogik für unwissenschaftlich und historisch rückständig hielt.

"Die Pädagogik hat der geistesgeschichtlichen Wendung des 19. Jahrhunderts von der Idealkonstruktion zur geschichtlichen, völkerkundlich und soziologisch begründeten Erfahrungswissenschaft standhaft Widerstand geboten und ist darum jederzeit über die Wirklichkeit, statt sie zu erforschen und sie zu gestalten, mit Wünschbarkeiten, mit Weltverbesserungsplänen und Menschheitsvervollkommnungsversprechen hinweggeflogen ... . Die Rückständigkeit der Pädagogik mußte notwendig in ihrem Bereich eine besonders tiefgehende Krise auslösen, sobald das Mißverhältnis der von ihr ausgehenden Verheißungen zur Wirklichkeit deutlich hervortrat" (Zit. n. Müller, 243).

Krieck reagierte auf seine Außenseiterrolle mit Polemik und bezeichnete die Universitätspädagogen öffentlich als "Professorenkonzern" und als "Auflobungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit".

Im Jahre 1928 berief der preußische Kultusminister Becker Krieck an die Pädagogische Akademie Frankfurt am Main; sie war die einzige simultane Pädagogische Akademie in Preußen, d.h. die einzige, auf der katholische und evangelische Volksschullehrer gemeinsam ausgebildet wurden. Im Juli 1931 hielt er auf einer privaten Sonnenwendfeier eine Rede, die in dem Schlußruf endete: "Heil dem Dritten Reich!" Ein sozialdemokratischer Student denunzierte ihn, und der neue sozialdemokratische Kultusminister Adolf Grimme verfügte seine Strafversetzung an die Pädagogische Akademie Dortmund.

Diese Maßregelung war rechtlich höchst problematisch und entfachte in Presse und Hochschulen eine heftige öffentliche Diskussion. Fast alle Hochschullehrer für Pädagogik schlossen sich diesem Protest an. Die Solidarität galt aber nicht nur

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der Person Kriecks, sondern vor allem den jungen pädagogischen Akademien im ganzen, die die alten Lehrerbildungsanstalten in Preußen abgelöst hatten. Aus der Erfahrung mit diesen ehemaligen Anstalten reagierte man sehr sensibel auf obrigkeitsstaatliche Eingriffe. Es ist nicht ganz geklärt, ob Krieck mit diesem Ausruf die Hitler-Partei gemeint hat. Gerhard Müller beurteilt in seinem Buch über Krieck den Vorfall so:

"Die kurze Rede war auf die Situation der Lehramtskandidaten eingestimmt, denen als Folge der Wirtschaftskrise mit großer Sicherheit eine ihrer Vorbildung adäquate Berufslaufbahn nach Abschluß des Studiums versperrt war. Dieser bedrückenden Situation Rechnung tragend sollte die Rede Optimismus, Hoffnung auf bessere Zeiten und Mut zum Durchhalten wecken. Politisch gesehen war der Schlußruf eine Naivität, subjektiv wird man Krieck glauben dürfen, daß er nicht für das Dritte Reich der nationalsozialistischen Partei war, sondern das alte Symbolwort ... als Ausdruck des Namens auf eine bessere Zukunft in die gesellige Runde warf" (88).

"Nationalpolitische Erziehung"

Krieck tritt am 1. Januar 1932 in den nationalsozialistischen Lehrerbund ein, womit die Mitgliedschaft in der NSDAP automatisch verbunden war. Zu diesem Zeitpunkt kannte er von den Naziführern nur Alfred Rosenberg - von dem er wenig hielt - und den Volksschullehrer Hans Schemm, den Führer des NS-Lehrerbundes. Schemm, der vor allem unter Junglehrern Ansehen genoß, propagierte damals aus persönlicher Überzeugung, daß der Nationalsozialismus die Forderungen der Lehrerbewegung nach einheitlicher Schule und einheitlichem Lehrerstand erfüllen werde. Für Kriecks Freunde kam der Eintritt in die NSDAP überraschend, denn bis dahin zeigte er kaum Sympathien für die Hitlerbewegung. Der sozialistische Pädagoge Paul Oestreich meinte, Krieck sei historisch derart gebildet, daß er daran krank geworden sei. Es ist müßig, über persönliche Motive zu spekulieren. Vielleicht hat die Verärgerung über seine Strafversetzung eine Rolle gespielt, die nicht die einzige persönliche Diskriminierung war, die er in der Weimarer Zeit erleiden mußte.

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Deutlich erkennbar ist aber die Rolle, die er für sich im Rahmen der Nazibewegung sah.

Bis zur Machtergreifung war diese Bewegung ideologisch und vor allem in Hinblick auf ihre kulturellen Ziele wenig festgelegt. Sie hatte kaum kulturell bedeutsame Persönlichkeiten in ihren Reihen vorzuweisen. In dieser Lücke sah Krieck offenbar eine Chance, seine Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Dabei setzt er auf die Dynamik der Bewegung, von der er annahm, daß sie auch nach der Machtergreifung fortwirken und das ganze gesellschaftliche und kulturelle Leben revolutionieren werde. Er sah die Nazis nicht als eine partikulare politische Partei, sondern als die Führer einer völkisch-revolutionären Bewegung, deren Ende offen schien und die insofern der Gestaltung durch eine neue kulturelle Elite bedürfe.

So ganz abwegig schien diese Perspektive damals nicht zu sein, denn die NS-Bewegung hatte einen linken, sozialrevolutionären Flügel, dem z.B. der schon erwähnte NS-Lehrerbund um Hans Schemm, die SA und Teile der HJ zuzurechnen waren, der auf eine umfassende Revolution setzte, die nach der Machtergreifung erst richtig beginnen sollte.

Angesichts der kulturellen Dürftigkeit der NS-Bewegung wurde Kriecks Übertritt freudig begrüßt, schließlich galt er als bedeutender Wissenschaftler. Er beteiligte sich an Wahlveranstaltungen für die Juli-Wahlen 1932 und nannte diese Tätigkeit später die schönste Zeit seines Lebens.

Im selben Jahr veröffentlichte er das Buch "Nationalpolitische Erziehung", das für die nächsten Jahre zu einer politsich-pädagogischen Bibel für nationalsozialistisch orientierte Studenten und Lehrer werden sollte. Krieck schien Recht zu behalten mit seiner Vermutung, daß die Bewegung sich für seine Ideen benutzen ließe. Immerhin erreichten seine Schriften hohe Auflagen. Bis 1941 wurden etwa 300.000 Exemplare - ohne Übersetzungen - verkauft. Die "Nationalpolitische Erziehung" brachte es auf 80.000 verkaufte Exemplare.

Dieses Buch beginnt mit dem folgenreichen Satz: "Das Zeitalter der 'reinen Vernunft', der 'voraussetzungslosen' und ,wertfreien' Wissenschaft ist beendet". (1)

Sie sei eine Fiktion gewesen, weil kein Wissenschaftler davon absehen könne, daß er seinen Gegenstand, sein For-

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schungsthema immer von seiner gegenwärtigen Befindlichkeit her in Anspruch nehme und deute. Angesichts der Notlage des deutschen Volkes müsse die Wissenschaft "politisch" werden, d.h. sich für die Behebung dieser Not und für den Entwurf produktiver Perspektiven einsetzen.

"Die in den Grund der Existenz vordringende Not des deutschen Volkes ist die Gegebenheit, die Überwindung dieser Not in neuen Lebensordnungen und einem neuen deutschen Menschentum die Gesamtaufgabe, an der Politik, Wirtschaftsgestaltung, Wissenschaft, Kultur und Erziehung gemeinsam Anteil haben" (8).

Der politische Träger für diese Perspektive sei die nationalsozialistische Bewegung.

"Der symbolische Name des Kommenden heißt: Das Dritte Reich. Sein Sieg schreitet fort im Maße, als der Gegner auf allen Gebieten überwunden und das revolutionäre Prinzip in Bewußtsein, Haltung und Lebensordnung durchdrungen ist. Dieser Gegner aber verteidigt seine Positionen zäh auf allen Lebensgebieten: als Liberalismus in Wirtschaft, Staat und Recht, als Individualismus in der Kultur, als Mechanismus in den Lebensordnungen, als reiner Rationalismus in der Wissenschaft, als einzelmenschlicher Autonomismus in Haltung und Erziehung, als Humanismus in der Bildung, als Pazifismus im Zusammensein der Völker, als Kollektivismus, d.h. als die summenhafte, massenhafte mechanisch zusammengefügte und zusammengehaltene Einzelmenschlichkeit im Marxismus, dem Sohn und Erben des Liberalismus. Dem Dritten Reich aber ist zugeordnet das organische Weltbild, der organische Staat, die organische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die das Gesetz des Ganzen über dem Gesetz des Teils und Gliedes errichten, zugleich aber die Eigengesetzlichkeit des Gliedes in seiner Teilhabe am Ganzen anerkennen und zur Entfaltung kommen lassen: Die Gegenseitigkeit und Wechselwirkung zwischen Glied und lebendigem Ganzen, die dazu führt, jedes Glied seiner Vollendung entgegenzuführen im Gerade, als es das Ganze in sich aufnehmen und zur Darstellung bringen kann - in seiner Besonderheit, an seinem Ort und nach seinem Eigengesetz. Darum: nicht allen das Gleiche, sondern jedem das Seine" (9).

Im Unterschied zur "Philosophie der Erziehung" von 1922 war dies nun unverkennbar eine politische Kampfschrift.

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Und das Zitat benennt auch die politischen Gegner: Individualismus, Liberalismus, Kollektivismus, Pazifismus - Stichworte, mit denen Krieck die parlamentarische Weimarer Demokratie und die ihr zugrunde liegende Gesellschaftsverfassung nicht mehr kritisiert, sondern verwirft. Seine Hoffnung war, daß die NS-Bewegung die Gesellschaft so ordnen werde, daß das Volk wieder als organische Ganzheit in Erscheinung treten könne, in sich durchaus differenziert, aber so, daß der Einzelne sich als "Glied" verstehen, darin einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Platz finden könne. Es war also ein Programm zur Überwindung der "Entfremdung", deren Ursache Krieck in der "liberalistischen" Gesellschaftsordnung sah, die den einzelnen Menschen aus seinen gemeinschaftlichen Bezügen gerissen, ihn als Teil einer rein numerischen Masse definiert habe: als absolutes Individuum.

Mit dem weltanschaulichen Widerwillen gegen Liberalismus und Individualismus ist ein Ton angeschlagen, den wir auch von Baeumler und Schirach hören werden und der einen Kern der gesellschaftskritischen Ausgangsposition des Nationalsozialismus ausmacht, wie wir es schon in Hitlers "Mein Kampf' gefunden haben. Primär geht es gar nicht um bestimmte politische Ziele, es geht um die Stellung des Menschen in der Gesellschaft; er soll aus der isolierten und einsamen Subjektivität, in die ihn die liberalistische Parteiendemokratie gezwungen habe, befreit und wieder in die natürlichen Gemeinschaften, deren höchste das Volk ist, heimgeholt werden. Von daher erklären sich die ideologischen Feindpositionen fast zwangsläufig: Das humanistische Bildungsideal? Ein Teil des kulturellen Individualismus. Die demokratisch gewählten Parteien? Eine mechanistische Struktur, um partikulare Ziele auf Kosten des Ganzen durchzusetzen.

"Das Weimarer zwischenstaatliche System hat mit seinen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten die Auflösung geschichtlich gewachsener Formen und Bindungen, die das kapitalistische Zeitalter kennzeichnen, auf Rechtsform und Scheinorganisation gebracht. Dem Staat gehört fortan nur die Summe der einzelnen mündigen Staatsbürger an: er kennt als Volk bloß die Masse der Einzelnen, nicht aber Sozialgebilde. Den Einzelnen ist ein möglichst weiter Raum willkürlicher Bewegung zugebilligt, und auf dieser Freiheit ge-

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nannten Willkür und Auflösung sollen sich Familie, Staat, Partei, Wirtschaftsgesellschaft, Wirtschaftsordnung und Kirche gründen: alles ist Zusammenschluß nach subjektivem Wollen, individuellen Zwecken und Bedürfnissen, nach Belieben, Neigung und Wahl" (60).

Von daher seien alle kulturellen Mißstände zu erklären, z.B. auch die "Entartung der Familie" (59).

"Das Wahlrecht der Frauen erkennt die Familie nicht mehr als Einheit und Zelle politischer Willensbildung an, sondern nur als Sammlung autonomer Einzelmenschen, die Jugend ist in ihren Entscheidungen, vorweg der religiös-kirchlichen, schon denkbar früh emanzipiert" (61). Besserung sei nur zu erhoffen, wenn die Familie im Volksganzen wieder ihre "natürliche" Funktion erhalte.

"Die Urdreiheit von Vater, Mutter und Kind, bekanntlich das Urbild göttlicher Dreieinigkeit, ist von der Familie in Form gefaßt, und in dieser Ordnung fällt dem Mann und der Frau je eine volle Hälfte des Daseins als besondere Lebensphäre und Herrschaftszone zu. Das hat der Feminismus der modernen Kultur so lange verwischt, bis sie selbst, innerlich ausgehöhlt, verfiel. Das Bestreben von Mannweibern, in die Sphäre der Männer erobernd einzudringen, wäre aber selbst gegenüber einem Geschlecht von Weibmännern nicht gelungen - und es hat ja auch nur zu Zerrbildern geführt -, wenn nicht der Kapitalismus den Menschen nur noch als Mittel seines Erwerbsstrebens angesehen, Weib wie Mann als bloße Nummern in den Betrieb der öffentlichen Wirtschaft hineingerissen hätte, indem er die Naturgegensätze einfach übersprang" (63).

Die Frau gehöre in die Familie.

"Die Frau ist aus der öffentlichen Lebenssphäre in Privatkreis und Familie zu führen, wo sie die geborene Herrscherin ist, und wo ihr auch keinerlei geistige Entfaltung verwehrt sein soll. Im öffentlichen Leben hat sie nichts verloren und bleibt subaltern: die politische Amazone, das Symbol femininer Zeitalter, ist Karikatur auf Mannheit und Weibheit gleichzeitig" (63).

Auch mit der Reformpädagogik geht er hart ins Gericht, deren Individualismus kritisierend:

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"Das Gesetz dieses Subjektivismus lautet: Die zufälligen und privaten Bedürfnisse der einzelnen Schüler zu erfüllen, diesen Bedürfnissen nachzugeben und sie frei ausleben zu lassen. Vorausgesetzt ist dabei, daß diese Bedürfnisse die inneren Anlagen und Vorbestimmungen des Schülers auf der jeweiligen Entwicklungsstufe zum Ausdruck bringen, und daß der Schüler zur Reife seiner Anlagen, zu seiner humanen Bestimmung komme, wenn Schule und Lehrer einfach diesen Bedürfnissen nachgeben" (134).

Dabei werde unterstellt, daß die Menschheit eine Summe von Einzelmenschen sei. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese pädagogische Grundhaltung sei die Erfindung des "freien Unterrichtsgesprächs".

"Das freie Unterrichtsgespräch wird gekennzeichnet mit dem stets wiederkehrenden Wort des Schülers: 'ich meine'. Nach dem Vorbild des Lehrers pflanzt der Schüler großspurig sein Ich und sein zufälliges Meinen, das in der nächsten Stunde ganz anders sein kann, vor dem Werk auf und sieht seine Aufgabe nicht in Hingebung, nicht im Aneignen und Durchdringen eines Notwendigen, nicht im wirklichen Erarbeiten eines autoritativen Gehaltes, sondern in einem höchst privaten Richtertum über alles und jedes. Das kleine Ich könnte vielleicht verloren gehen, wenn es sich nicht von vornherein vor jedem Problem, jedem Gut wie ein Stehaufmännchen aufrichtet und gegen jede objektive Forderung zur Wehr setzt. Das Ergebnis nennt sich dann: Persönlichkeit. Zur Persönlichkeit entfaltet der Mensch aber seine Anlagen nur in Hingebung an ein Höheres, im Einfügen unter eine Autorität, in Arbeit, Kampf und Bewährung vor den vorgefundenen Wirklichkeiten, im Wachsen an der schicksalhaft auferlegten Aufgabe" (135 f.).

Der Erfolg des Buches beruhte wohl einerseits darauf, daß es die weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Weimarer Republik aufgriff und politisch-philosophisch zu erklären versuchte, andererseits aber auch Hoffnung darauf anbot, daß mit Hilfe der NS-Volksbewegung die Lage sich grundlegend verbessern werde. Ein Programm dafür hatte Krieck allerdings nicht anzubieten, das sollte sich vielmehr durch die weitere revolutionäre Umwälzung erst ergeben. Die Antwort auf alle Probleme sollte die national-revolutionäre Bewegung selbst finden, und er wollte dabei an führender Stelle

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mitwirken. Sein Politisches Denkmuster war, wie schon die "Philosophie der Erziehung" gezeigt hatte, organologisch. Er hielt also das deutsche Volk wie jede seiner Gemeinschaften für einen überindividuellen, lebenden Organismus, der nur dann "gesund" sein könne, wenn "das Ganze" mit seinen Gliedern in produktiver Harmonie lebte. Nun aber sei der Organismus des Volkes "krank" geworden. Die Parteien der Weimarer Republik repräsentierten nicht das Ganze, sondern nur partikulare Interessen; die profitorientierte Wirtschaftsgesinnung und der Individualismus zerstörten die Gemeinschaften; alle diese Mängel sollte die völkische Revolution überwinden.

In diesem Buch vollzog Krieck eine folgenreiche Wendung.

Hatte er bisher von der Erziehungswissenschaft verlangt, sie solle die Erziehungswirkungen der Gemeinschaften auf die Mitglieder beschreiben, so verkündete er nun die erzieherische Bedeutung der nationalsozialistischen Massenbewegung einschließlich ihrer sogenannten "Formationen" wie HJ, SA, SS und der Schulungslager. Besonders beeindruckt war Krieck von der Fähigkeit der Nazis, die Massen in Bewegung zu bringen.

"Als Massenbewegung setzt (der Nationalsozialismus) voraus die Kunst der Massenerregung: Masse muß flüssig werden, wenn sie gestaltbar sein soll. Die von Hitler meisterhaft geübte Kunst der Massenerhebung hat nicht etwa nur die Agitationen und Parteiführungstechnik des Parteienstaates in seine letzten Folgerungen gesteigert, sondern wesentlich neue Elemente und Wege der Massenerregung und Massenführung gefunden. Es ist Hitler gelungen, auf eine unterirdische Ader des völkisches Lebens vorzustoßen und den springenden Quell in ein Bett zu fassen ... . Zum Beispiel 'diskutiert' und 'argumentiert' der Nationalsozialist nicht mit dem Marxisten über Marxismus, sondern 'widerlegt' diesen damit, daß er ihm den Anhang wegnimmt durch neue Methoden der Erregung und Bewegung" (36 f.).

Und die pädagogische Nutzanwendung lautet nun:

"Der Nationalsozialismus hat also die aus den Instinkten seiner Führer in Anwendung gebrachten Elementarmittel und Methoden der Massenerregung und Massenbewegung auszubauen zu einer allgemeinen Zuchtform, einem Übungssystem, das im ganzen Volk und in den einzelnen Volksgenos-

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sen die Rassewerte weckt, die Rasseeigenschaften und das Rassebewußtsein zum Höchstmaß entfaltet, womit nicht nur die einzelnen Volksgenossen geformt, sondern auch die Volkseinheit ins Bewußtsein gehoben, also die gemeinschaftlichen Querverbindungen gefestigt werden: aus Masse wird Volk, aus Volk rassebewußte Nation mit geschlossener Macht, mit einheitlicher politischer Haltung und Willensrichtung" (11).

Das Führerprinzip erscheint ihm als Garantie dafür, daß die durch den völkischen Aufbruch entstehenden unvermeidlichen Spannungen durch Hitler so weit gebändigt werden können, daß die Bewegung nicht auseinander bricht mit der Folge, daß die innere Zerrissenheit der Weimarer Zeit sich nur wiederholen würde.

Im Jahre 1933 versuchte Krieck, sein Erziehungskonzept zu präzisieren in der kleinen Schrift "Nationalsozialistische Erziehung, begründet aus der Philosophie der Erziehung".

Im Unterschied zur schwer lesbaren "Philosophie der Erziehung" und der stellenweise agitatorischen "Nationalpolitischen Erziehung" ist diese knappe Arbeit geschrieben wie ein Studienbuch. Offensichtlich ist Krieck hier bemüht, wieder zur wissenschaftlichen Sachlichkeit zurückzufinden, worauf schon der Untertitel hinweist, der an die Arbeit von 1922 erinnert, die ihn berühmt gemacht hatte.

Bemerkenswert ist u.a., daß die "Formationen" der "Bewegung" hier nicht besonders herausgehoben werden. Vielmehr betont Krieck noch einmal die sozialstrukturelle Differenzierung der Typen-Bildung. Der Einzelne wachse auf und lebe im Rahmen unterschiedlicher Teilbereiche des völkischen Gesamtlebens: Familie, Berufsstand, Religionsgemeinschaft usw. Und insofern die sozialen Gebilde und Organisationen bestimmte Teilaufgaben am Volksganzen erfüllen, haben sie auch das Recht, in diesem Sinne ihre Mitglieder zu erziehen. Auch den Religionsgemeinschaften wird dieses Recht ausdrücklich zugebilligt.

"Die erzieherischen Einflüsse, die ein Mensch im Verlauf seines Werdens erfährt, sind recht mannigfaltig: er muß zum Staatsbürger, zum Glaubensgenossen, zum Berufsmenschen erzogen werden; die religiöse, die wirtschaftliche, die staatsbürgerliche und politische, die sittliche und rechtliche Seite

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seines Wesens und seiner Anlagen muß entfaltet werden. Es gibt jedoch keine Instanz und keine Gemeinschaftsart, die das alles auf einmal leisten könnte; es gibt vor allem kein Sozialgebilde, das die erzieherische Funktion zum alleinigen Inhalt haben könnte, da die erzieherische Funktion unlöslich mit allen anderen Lebensfunktionen und Sozialgebilden verflochten ist" (14).

Nach meinem Eindruck bringt diese Schrift Kriecks pädagogische Konzeption am klarsten zum Ausdruck, und möglicherweise wäre ihm eine bis heute brauchbare sozialphilosophische Theorie der Erziehung gelungen, wenn er in diesem Rahmen weiter gearbeitet hätte. Aber sein Interesse ging über Erziehungsfragen weit hinaus, galt der Formulierung einer umfassenden völkischen Philosophie, und damit scheiterte er politisch wie wissenschaftlich.

Völkisch-politische Anthropologie"

Nach der Machtergreifung wurde Krieck Rektor der Universität Frankfurt, 1934 erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität Heidelberg und wurde dort ebenfalls Rektor - ohne einen einzigen Tag an einer Universität studiert zu haben und ohne überhaupt das Abitur zu besitzen.

Aber schon 1934, nach der sogenannten Röhm-Affaire, die faktisch zur Zerschlagung des linken, sozialrevolutionären Flügels führte, begann sein Einfluß zu schwinden. 1936 erschien der erste Band seiner dreibändigen "Völkisch-politischen Anthropologie". Diese Arbeit verstand er als Grundlage für eine nationalsozialistische Wissenschaftstheorie, die die Einzelwissenschaften sinnvoll integrieren sollte unter der leitenden Fragestellung, wie die Menschen tatsächlich in ihren Gemeinschaften leben und sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzen.

Krieck griff damit ein Problem auf, das viele Wissenschaftler damals beschäftigte und das im Grunde bis heute noch aktuell ist. Die Universität hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem unter der Expansion der Naturwissenschaften ausdifferenziert in zahlreiche Einzeldisziplinen, die unverbunden nebeneinander bestanden und keinen gemeinsamen Sinn mehr ergaben. Der Bildungssinn der Universität,

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wie er etwa Wilhelm von Humboldt vorgeschwebt hatte, war zerbrochen. Nach diesem Konzept sollte jedes Studienfach durch die Ideale der Humanität mit jedem anderen dadurch verbunden bleiben, daß die Philosophie bzw. überhaupt die Geisteswissenschaften als sinnintegrierende Instanzen fungierten. Aber inzwischen war auch die Philosophie zu einer bloßen Teildisziplin wie alle anderen geworden. Krieck versuchte nun, mit seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue, alle Einzelwissenschaften integrierende Philosophie zu präsentieren und machte diesen Anspruch auch im Vorwort geltend.

"Dieses Buch erhebt den Anspruch, die neue, durch die nationalsozialistische Weltanschauung gegebene Wesensmitte für sämtliche Wissenschaften und für alle Hochschulen und Fakultäten zu umreißen. Es könnten alle einzelnen Behauptungen des Buches abgelehnt werden, und dieser Anspruch bestünde dennoch zu recht. Einst besaßen die Wissenschaften und Universitäten eine gemeinsame, verpflichtende Grundlage in der Humanitätsidee. Mit dem Verfall dieser tragenden Idee setzt jener Prozeß der Auflösung ein, der durch beständige Verzweigung der Wissenschaften und Verselbständigung der Zweige fortschritt, bis die Hochschule nur mehr ein organisatorischer Rahmen für einen formlosen Haufen unzusammenhängender Einzelheiten war ... Durch die nationalsozialistische Weltanschauung, die berufen ist, das deutsche Volk einer neuen Erfüllung entgegenzuführen, ist eine neue bindende Grundlage für alle Wissenschaften, Fakultäten und Hochschulen gegeben. Aus ihr entsteht ein neues Bild von Welt und Mensch, das anstelle der Humanitätsidee in den Mittelpunkt tritt ... . Das vorliegende Buch erhebt den Anspruch, diese neue Wesensmitte zu umreißen, ihren Ort und ihre Art zu kennzeichnen: es ringt um ein Bild vom deutschen Menschen, das in die Zukunft führt" (Bd I, VI). Aber damit rief er seine ideologischen Konkurrenten auf den Plan. Alfred Rosenberg, dessen "Amt Rosenberg" seit 1934 zuständig für die weltanschauliche Überwachung der Partei war, hatte mit seinem Buch "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" selbst eine ideologische Deutung des Nationalsozialismus vorgelegt, sie aber als nicht parteioffiziell erklären lassen müssen. Gleiches verlangte er nun auch von Krieck. Der fühlte sich zu Recht mißverstanden, weil er ja lediglich eine Wissenschaftstheorie und kein parteioffizielles

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Werk vorlegen wollte, und bot die Rückgabe seiner Parteiämter an.

Viel bedeutsamer war jedoch eine andere Polemik, weil sie an die Substanz der Rassenlehre ging.

Krieck war zwar Antisemit, aber kein Rassist. Über "Die Judenfrage" schrieb er 1933 einen Artikel in seiner Zeitschrift "Volk im Werden", in dem er die religiöse und kulturelle Eigenart der Juden als Volk respektierte, ihnen in Deutschland einen Minderheitenstatus mit eigenen Schulen und Hochschulen einräumen wollte, obwohl ihm die zionistische Lösung - ein eigener Judenstaat, wie er dann später in Gestalt des Staates Israel auch realisiert wurde - am liebsten gewesen wäre. Zugleich warf er den deutschen Juden vor, mit ihrem angeblichen Anti-Germanismus und Internationalismus die deutsche Volkwerdung zu behindern bzw. derartige Bestrebungen zu zersetzen. Zudem hätten die Juden im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil zu viele Machtpositionen inne. Diese Argumentation lief auf ein "Deutschland den Deutschen!" hinaus, aber nicht im Sinne der Staatsbürgerschaft - die Juden in Deutschland waren ja durchweg deutsche Staatsbürger mit allen damit zusammenhängenden Rechten und Pflichten -, sondern im Hinblick auf ihre völkische Zugehörigkeit. Zwei Jahre später werden die "Nürnberger Gesetze" diese Ungleichheit der Staatsbürgerschaft rechtlich verankern, indem zwischen "Staatsangehörigen" und "Reichsbürgern" unterschieden wird. "Reichsbürger" konnten nur "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes" sein. An Kriecks Antisemitismus ist also nichts zu verharmlosen, aber mit Hitlers Rassismus hatte er wenig zu tun.

Was Krieck über "Rasse" schrieb, beruhte nicht auf biologistischer Determiniertheit. Rasse war für ihn so etwas wie ein allgemeiner biologischer Urgrund, der in den Gemeinschaften zur Entfaltung kommt. Schon in seiner "Philosophie der Erziehung" hatte er den Sozialdarwinismus attackiert:

"Nun trägt der Darwinismus mit seinem 'Kampf ums Dasein' und 'Überleben der Geeignetsten' sichtbar die Praktiken des brutalsten Kapitalismus in die Natur hinein, und seine menschenzüchterischen Adepten übertragen sie von da wieder ins geschichtliche Leben". Durch eine solche Auslese würden nicht die Besten übrigbleiben, sondern gerade die

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anderen: "Was aber als 'survival of the fittest' übrigbliebe, das ist zu sehen an den triumphierenden Schiebern, Börsianern, Schlotbaronen, Parteiagitatoren, Advokaten und Journalisten. Neben dieser Aristokratie des Kapitalismus . . . bleibt die entselbsteste und proletarisierte Masse als Objekt ihrer Herrschaft" (121).

Bei dieser Grundposition blieb Krieck auch jetzt, und seine "Völkisch-politische Anthropologie" setzte sich deutlich ab von der sich nun breitmachenden biologistischen Rassentheorie. Grundlage seiner Anthropologie war dagegen eine "universale Biologie", in die er sowohl die Naturwissenschaften wie die Geistes- und Sozialwissenschaften einbinden wollte. Sein Hauptgegner wurde Wilhelm Hartnacke, der schon 1930 ein Buch mit dem Titel "Naturgrenzen geistiger Bildung" veröffentlicht hatte. Hartnacke, der nach 1933 eine Zeit lang sächsischer Kultusminister war, übertrug in diesem Buch biologische Vorstellungen auf das politische und soziale Leben. In bildungspolitischer Hinsicht führte dies zur Konsequenz, daß die Tüchtigen und Begabten sich ohnehin durchsetzen, es also keine Veranlassung gebe, in diesen Naturprozeß etwa durch Schulreformen einzugreifen. Schon 1935, also ein Jahr vor Erscheinen der "Völkisch-politischen Anthropologie", hatte Krieck in seiner Zeitschrift "Volk im Werden" diese Konzeption scharf angegriffen:

"Das Besitzbürgertum nimmt hier wieder seinen Monopolanspruch auf Bildung, Hochschule und Wissenschaft auf und begründet diesen Anspruch mit seinem 'Erbgut'... . Das ist eine sehr einfache und einleuchtende Lösung des Problems der Rasse, des Aufstiegs, der Auslese. Ihr Kernpunkt sitzt im Geldbeutel, und ihre Lösung heißt: haltet die Unteren darnieder. Der Knecht soll Knecht bleiben. Und das wäre Nationalsozialismus?" (Zit. n. Müller, 117).

Nun kam es zu einer scharfen Kontroverse bis hin zur Verleumdungsklage zwischen Hartnacke und Krieck. Für Krieck ergriffen öffentlich Partei der NS-Dozentenbund, der NS-Lehrerbund und der NS-Studentenbund. Hinter Hartnacke stellten sich jene Naturwissenschaftler, die - wie Krieck es formuliert hatte - die Gesetze des Kapitalismus erst in die Natur hineindeuteten, um sie dann auf die Gesellschaft zu übertragen: die biologistischen Rassisten. Diese Interpretation vertritt jedenfalls Gerhard Müller, wenn er schreibt:

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"Tatsächlich war in dieser von Krieck mit Vehemenz betriebenen parteiinternen Weltanschauungsdiskussion die, wie wir heute wissen, zentrale wissenschaftliche Position der politischen Biologie im Dritten Reich angegriffen, die einer durch Erbbiologen, Rassetheoretiker und Rassehygieniker legitimierten inhumanen Praxis mit den bekannten Folgen der Ausmerze rassisch oder erbbiologisch Minderwertiger das Wort redete" (137).

Auf Vorschlag des rassepolitischen Amtes der Partei verbot Reinhard Heydrich mit der Autorität des Sicherheitsdienstes der SS im November 1937 die öffentliche Diskussion und die Presseberichterstattung über diesen Fall, und zwar "im Interesse der Staatssicherheit und der Geschlossenheit der Bewegung". Ob Heydrich damit auch in der Sache Partei ergreifen wollte, ist nicht geklärt. Für Krieck bedeutete dies das endgültige Scheitern seiner früheren Hoffnung, die NS-Bewegung als Vehikel seiner eigenen politisch-pädagogischen Vorstellungen benutzen zu können. Er tritt 1938 aus der SS aus und wurde, wie es heißt, "ehrenvoll verabschiedet".

Krieck war 1934 in die SS eingetreten und als Gutachter für den "Sektor Wissenschaft" im "Sicherheitsdienst des Reichsführers SS" (SD - RFSS, genannt SD) tätig. Mit diesem Amt konnte er durch seine Gutachten Einfluß nehmen z.B. auf Berufungen. Einzelheiten dieser Tätigkeit sind bisher kaum bekannt.

Der SD war damals ein Nachrichtendienst ohne exekutive Befugnisse. Er hatte zwei Aufgaben: Zum einen sollte er wie eine Art von demoskopischem Institut durch Analysen des Volkswillens Planungsunterlagen für politische Entscheidungen erarbeiten. Zum anderen sollte "Gegnerforschung" betrieben werden, durchaus auch mit dem Ziel, auf Mißstände in der Partei hinzuweisen. Daran aber waren die zuständigen Stellen nicht sonderlich interessiert. Krieck hatte engen Kontakt mit den Führern des NS-Studentenbundes in Heidelberg, die nach der "Röhm-Affäre" von der SA zur SS übergewechselt waren. In der Tätigkeit im Rahmen des SD sah Krieck offenbar eine Chance, mit jungen, sozialrevolutionär orientierten Männern seine schon vor 1933 entwickelte Idee der "Elitenzirkulation" zu realisieren. Er ging davon aus, daß seine Vorstellungen von völkischer Erneuerung mit den alten bürgerlichen Eliten in Wissenschaft und

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Politik nicht zu verwirklichen seien. In den jungen intellektuellen SS-Männern, die auch bei den wissenschaftlichen Kontroversen zu ihm hielten, sah er die Chance eines Wechsels, zumal die SS sich ja auch selbst für einen Elite-Orden hielt. Verabschiedet wurde er 1938 im Rang eines Obersturmbannführers.

Nach dem Machtwort von Heydrich stellt er auch sein Amt als Rektor der Universität Heidelberg zur Verfügung. Aller öffentlicher Ämter ledig wendet er sich nun wieder seiner wissenschaftlichen Arbeit zu.

Aber sein Austritt aus der SS hatte ihn nun auch schutzlos gemacht, so daß andere Parteidienststellen, vor allem das Propagandaministerium, seine Arbeit mehr und mehr behindern konnten. So wurde ihm in seiner Zeitschrift "Volk im Werden" die Berichterstattung über naturwissenschaftliche und kulturpolitische Fragen verboten. Im Jahre 1937, als er noch für den SD tätig war, schrieb er in "Volk im Werden" über die Anwendung des Führerprinzips auf die Universität, das er 1933 grundsätzlich begrüßt hatte:

"Die Übertragung des Führerprinzips auf die Rektoren wurde so aufgefaßt, als könne nun von staatlicher Sphäre her irgendein geeignet erscheinender Mann, ein guter Parteigenosse, oder wenn ein solcher gerade nicht greifbar war, ein der Bewegung nahestehender Professor herausgegriffen werden, mit einer Art von Diktaturgewalt und höherer Autorität von oben ausgestattet und damit zum Führer ernannt werden" (Zit. n. Müller, 416). Es habe Mißgriff auf Mißgriff gegeben, weil die parteipolitische Gesinnung höher bewertet worden sei als die fachliche Qualifikation.

In einer Rede, aus der das Zitat am Beginn des Hitler-Kapitels stammt, betonte Hitler 1938 noch einmal die erzieherische Bedeutung der NS-Bewegung. Krieck nahm dies zum Anlaß, die zahlreichen reaktionären kleinen Führer zu kritisieren, "die ihre gewonnene Führungsstellung für persönliche Zwecke ... und größenwahnsinnige Willkür mißbrauchen. Die Revolution hatte nicht den Sinn, einen Haufen von Interessenten und Kriegsgewinnlern durch einen Haufen derselben Gattung zu ersetzen" (Zu. n. Müller, 425).

Unterstützung fand er jedoch immer noch, vor allem beim Reichswissenschaftsministerium, das 1939 als Geburtstags-

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gabe für Hitler einen Band mit Kurzreferaten über den Forschungsstand der Einzelwissenschaften herausgab. Über die Philosophie enthielt der Band zwei Beiträge, einen von Alfred Baeumler und einen von Krieck. In seinem Beitrag beschrieb Krieck die Lage der Geisteswissenschaft im Nationalsozialismus sehr kritisch - nicht ohne seine eigene Leistung und die seiner Schüler gebührend hervorzuheben. Das Amt Rosenberg, in dem Baeumler für den Bereich Wissenschaft tätig war, wollte diesen Beitrag verhindern, fand aber weder beim Wissenschaftsministerium noch bei Hitlers Parteikanzlei Gehör.

Zum 60. Geburtstag im Jahre 1942 richteten die Badische Gauleitung und der NS-Lehrerbund Krieck eine öffentliche Feier aus, wie sie in dieser Größenordnung für einen Gelehrten durchaus nicht üblich war. Gegen starken Widerstand vor allem wieder vom Amt Rosenberg wurde ihm auch die Goethe-Medaille verliehen, die zweithöchste von Hitler verliehene wissenschaftliche Auszeichnung - "in Würdigung seiner Verdienste für die deutsche Wissenschaft", wie es offiziell hieß. Zu dieser Zeit unterlag er bereits seit zwei Jahren der Vorzensur des Propagandaministeriums.

Der Fall Krieck zeigt besonders deutlich den notorischen Kompetenzwirrwarr im Dritten Reich am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes. Die Zuständigkeit des Wissenschaftsministeriums wurde ständig überlagert durch rivalisierende Parteidienststellen. Noch einmal erhält Krieck vom Wissenschaftsministerium eine Auszeichnung, das Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse. Er mußte aber erkennen, daß die Hoffnung, die er in die völkische Bewegung des Nationalsozialismus gesetzt hatte, Illusion war. Das Dritte Reich brachte keinen Neuanfang, und diejenigen, die 1933 an die Macht kamen, dachten nicht daran, diese Macht durch das Weitertreiben der völkischen Revolution wieder aufs Spiel zu setzen. Sie waren hinreichend damit beschäftigt, ihre Machtsphäre in Rivalität zueinander zu vergrößern oder zumindest zu verteidigen. Da blieb kein Raum für geistige Besinnung, wie sie Krieck immer wieder anstrebte.

Er wurde 1945 von den Amerikanern entlassen und starb 1947 in einem amerikanischen Internierungslager. Einige Jahre später wurde er als Mitläufer entnazifiziert, was wohl so zu verstehen ist, daß ihm persönlich keine Unrechtstaten

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nachgewiesen werden konnten. Leider wissen wir bisher nicht, ob und wie er in der Zeit seiner Internierung sich mit der NS-Zeit und mit seiner Rolle in ihr auseinandergesetzt hat.

 

Politisch-pädagogisches Resümee: Die völkische Sackgasse

Krieck hat wie ein Besessener geschrieben, als habe er damit die Hoffnung verbunden, umso besser verstanden zu werden, denn die Thematik war im Grunde immer dieselbe, und irgendein Fortschritt - sei es im thematischen Sinne, sei es im Hinblick auf größere Präzision - ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil läßt sich seine Entwicklung von der "Philosophie der Erziehung" bis zur "Völkisch-politischen Anthropologie" eher als Rückschritt verstehen. Gleichwohl hat er pädagogische Themen aufgegriffen, die in der Luft lagen, und die uns teilweise heute noch beschäftigen. Im einzelnen sollen folgende Aspekte noch einmal kritisch hervorgehoben werden.

Revolutionärer Dynamismus

Üblicherweise wird politisches Handeln mit Zielen gerechtfertigt, die es realisieren soll, so daß es an dem Maße, in dem dies gelungen ist, auch beurteilt werden kann. Kriecks politisches Engagement war nicht von dieser Art. Er kämpfte für die völkische Revolution als solche in der Hoffnung, daß, wenn diese lange genug fortschreite, schon etwas Vernünftiges dabei herauskommen werde. Diese Hoffnung gründete sich darauf, daß das Volk ja ein lebender Organismus sei, der schon wieder gesund werde, wenn man politisch zerschlage, was ihn krank gemacht habe. Diese Vorstellung war deshalb problematisch, weil sie kein Kriterium des politischen Handelns abgab, weder moralisch noch sachlich-zielorientiert. Die Folge war das, was das Dritte Reich dann darstellte: ein nihilistischer, an keinen Werten und gemeinsamen Zielen orientierter Machtkampf aller gegen alle, dessen Regeln der unpolitische Krieck nicht beherrschte.

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Dieser inhaltsleere politische Dynamismus gab den Nazis die Möglichkeit, unter reinen Machtgesichtspunkten zu agieren, ohne sich am Maßstab versprochener Ziele verantworten zu müssen. Dies wäre nicht weiter schlimm gewesen, wenn die NSDAP eine Partei unter anderen geblieben wäre, die auch nach 1933 sich im Rahmen eines einigermaßen ausbalancierten Parteien- und damit auch Machtpluralismus hätte bewegen müssen. Da die Macht der Hitlerbewegung sehr schnell eine totale war, mußte sie sich auch nicht mehr öffentlich verantworten. Was immer sich Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution erhofft haben mochte, jede Realität, die nun entstand, war nicht das Ergebnis einer "organischen" Selbsterneuerung des Volkes, sondern des Willens, der Taten und der Entscheidungen der Nazi-Führer, die in einen weitgehend offen gewordenen Handlungsraum hinein agieren konnten. Als völkischer Ideologe trug Krieck also dazu bei, diese Taten als der Gesundung des Volkes dienende zu rechtfertigen, während sie tatsächlich willkürlich erfolgten, genauso gut eine andere Richtung hätten nehmen können - wenn man von der Tendenz der Machterhaltung absieht. Die politische Perspektive konnte sich nicht auf eine Zukunft richten, sondern versank in einer endlosen Summe von Gegenwärtigkeiten.

An dieser Inhaltsleere ist Krieck mit seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" auch wissenschaftlich gescheitert. So einleuchtend seine These war, daß man die Menschen in ihren tatsächlichen sozialen Zusammenhängen und in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur betrachten müsse, so gab doch im Unterschied zur Familie, zum Jugendbund, zur Gemeinde, das "Volk" keine soziale Kategorie ab, sondern blieb eine Fiktion. Was denn nun das Völkische am Volk sei, konnte Krieck nie erklären.

Illusion des Erziehungsstaates

Die Idee des Erziehungsstaates, die wir schon bei Hitler gefunden haben, wird auch von Krieck propagiert. Bei Hitler war diese Vorstellung eine Konsequenz seines Rassismus: die rassische Erneuerung des Volkes sei nur möglich, wenn alle gesellschaftlichen Institutionen - nicht nur die für Kinder bestimmten - an einem Strang zogen.

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Bei Krieck erwuchs diese Vorstellung einerseits aus der Sicht des völkischen Organismus; wenn dieser sich erneuern solle, so konnte es nicht genügen, die Erziehung sozusagen als ein besonderes Glied des Organismus zu betrachten, vielmehr mußte der ganze Organismus pädagogisiert werden. Das gesellschaftliche Leben sollte so eingerichtet werden, daß es selbst wieder erzieherisch im gewünschten Sinne wirkt.

Andererseits erwuchs dieser Gedanke aus seiner in der "Philosophie der Erziehung" entwickelten "funktionalen" Erziehung; denn schon damals ging es ihm nicht nur um Beschreibung von Erziehungswirkungen, sondern auch um die Hoffnung, das öffentliche Leben wieder nach pädagogischen Gesichtspunkten gestalten zu können.

Das ist die Vision eines Erziehungsstaates, der so eingerichtet werden soll, daß gleichsam das Leben selbst wieder durch intakte Gemeinschaften erziehen kann. Schon 1922 hatte er an der Weimarer Republik beklagt, daß ein zerrüttetes Volk wie das deutsche nach 1918 seinen Nachwuchs nur ungenügend erziehen könne.

Ich vermag in Kriecks Hinwendung zum Nationalsozialismus also keinen Bruch zu erkennen. Schon 1922, als er mit den Nazis noch nichts im Sinn hatte, plädierte er für eine pädagogisierte Staatsordnung, und so war es nur konsequent, daß er sich ab 1932 dafür einsetzte, als die NS-Bewegung ihm die Chance dafür zu bieten schien. Allerdings mußte Krieck dafür sein Wissenschaftsverständnis ändern; 1922 betrieb er eine beschreibende "autonome" Erziehungswissenschaft, die sich im wesentlichen historischen Phänomenen zuwandte, ab 1932 eine handlungsorientierte "völkisch-realistische" Erziehungswissenschaft.

Die Idee des Erziehungsstaates ist ein verführerischer pädagogischer Gedanke. Seine bislang letzte Ausprägung hat er im SED-Staat erlebt. Arbeit, Freizeit, Massenkommunikation sollten so organisiert und geregelt sein, daß der Mensch, wo immer er sich in der Öffentlichkeit aufhielt, stets sich "sozialistisch" verhalten sollte und konnte. Selbst die Sicherheitsorgane - einschließlich Stasi - hatten die Aufgabe, bei nonkonformem Verhalten auch zu belehren. Da eine solche Gesellschaft zumindest äußerlich frei von gravierenden Widersprüchen ist, kommt sie dem Harmoniebedürfnis vieler Menschen entgegen. Warum soll man nicht das, was alle

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oder zumindest die meisten Menschen für schlecht halten, nicht gleich von Staats wegen verbieten? Verbote und Repressionen sowie die Ausgrenzung von Menschen, die in ein solches harmonisches Bild nicht hineinpassen, sind die notwendige Kehrseite des Erziehungsstaates, der also zwangsläufig autoritäre Tendenzen hat. Die innere Zerrissenheit und Polarisierung am Ende der Weimarer Zeit war der Boden, auf dem Kriecks Sehnsucht - und nicht nur seine - nach einem harmonischen Volk erwuchs, in dem es zwar innere Variationen und Differenzierungen, aber keine massiven Interessenwidersprüche mehr gibt.

Die Idee des Erziehungsstaates resultiert aus einer pädagogisch formulierten, aber politisch gemeinten Kritik gesellschaftlicher Erscheinungen. In der pädagogischen Form ist diese Kritik plausibler und spricht manche Gruppen der Bevölkerung leichter an, weil sie sich auf weithin anerkannte Werte beruft und scheinbar interessen- und selbstlos daherkommt. Die pädagogische Politikkritik ist eine typisch bildungsbürgerliche Strategie, die sich aufs moralisch verstandene Gemeinwohl beruft und eben nicht auf partikulare Interessen etwa der politischen Parteien oder Gewerkschaften. Der deutsche Bildungsbürger mahnte das Gemeinsame an, das über den Parteien und Interessen Stehende, und Krieck befindet sich ganz in dieser Tradition, wozu auch die politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung gehört: nur ein Bildungsbürger konnte so viel Selbstlosigkeit von den neuen Herren erwarten, daß sie die Revolution weiter trieben, bis das Völkische am Volk im Sinne Kriecks seinen Höhepunkt erreicht hätte.

Der Traum vom Erziehungsstaat, in dem sich Kinder überall bewegen können, ohne Schaden zu nehmen, in dem sie überall den gleichen normativen Erwartungen begegnen, der dafür sorgt, daß die Maximen des Lehrers auch die des Fernsehens sind - und umgekehrt -, ist ein anti-pluralistischer und in modernen Industriegesellschaften entweder nur als Fiktion oder nur mit Gewalt realisierbar. Solange er noch nicht verwirklicht ist, führt er zu einer illusionären Gesellschaftskritik.

Pädagogen haben immer wieder geeifert gegen Phänomene der modernen Gesellschaft wie Kino, Fernsehen, Schmutz und Schund und gegen die Konsumgesellschaft überhaupt,

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und manches davon hätten sie am liebsten verboten. Teilweise ist das ja auch mit den sogenannten Jugendschutzgesetzen gelungen. Alles dies steht in der Tradition der bildungsbürgerlichen pädagogischen Politikkritik. Erst in der jüngsten Zeit vollzieht sich ein Perspektivenwechsel, insofern die Pädagogik es immer mehr als ihre Aufgabe betrachtet, Kindern und Jugendlichen Lernhilfen dafür zu geben, auch mit den unerfreulichen Erscheinungen der Gesellschaft selbständig und souverän umgehen zu können. Wir erwarten also nicht mehr, daß die Gesellschaft sich so formiert, daß sie nur noch im positiven Sinne auf Kinder und Heranwachsende erzieherisch einwirkt.

Faszination der "bewegten Masse"

Kriecks politische Fehleinschätzung der Hitler-Bewegung beruhte also zu einem guten Teil auf einer bildungsbürgerlichen Fehldeutung von Politik überhaupt. Politisch scharfsinnig und teilweise brillant geschrieben sind nur seine bildungspolitischen Beiträge vor, teilweise auch noch nach 1933 - wenn er sich auf Gegner konzentrieren konnte. Sein Ehrgeiz jedoch, darüber hinaus politische Philosophie zu betreiben, brachte ihn an die Grenze seiner wissenschaftlichen Möglichkeiten.

Sobald er jedenfalls von der Kritik zur philosophischen Konstruktion wechselte, wurde seine Sprache unklar und diffus. Je mehr er sich in seine völkische Philosophie verbiesterte, um so weltanschaulicher, d.h. mit wissenschaftlicher Argumentation kaum mehr nachvollziehbar wurden seine Ergebnisse. Das läßt sich erkennen in seiner "Völkisch-politischen Anthropologie": eine unsystematische Arbeit, die irgendwie anfängt und irgendwie aufhört, die jedenfalls nicht geeignet ist, die Einzelwissenschaften zu integrieren.

Aber diese Fehleinschätzung des Politischen ist nicht der einzige Grund, weshalb Krieck auf die Hitler-Bewegung hereinfiel. Mit vielen Intellektuellen seiner Zeit teilte er die ästhetische Faszination, die vom Massenkult der Hitler-Bewegung ausging. Die jubelnden oder ergriffenen Massen schienen eine zukunftsträchtige Vitalität auszustrahlen, die Volksgemeinschaft wurde scheinbar zur sinnlichen Erfahrung. Was vor allem von Goebbels kalt und zynisch insze-

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niert wurde zur Volksverhetzung und zur Eroberung der politischen Macht, gewann für viele Intellektuelle, deren kluge Köpfe ihre Herzen nicht wärmen konnten, mystische Qualität. In einem Essay über Ernst Krieck kennzeichnet Klaus Prange diese Faszination treffend:

"Es scheint kein Zweifel, daß die nationalsozialistische Bewegung hier einen Nerv berührt hat, der wie in anderen Massenbewegungen dem Bedürfnis nach gestalthafter Gegenwärtigkeit gerecht wird, nach konkreter Anschauung eines allgemeinen und verbindlichen Sinns. Masse in Bewegung, die Aufmärsche und Disziplin bei den Reichsparteitagen, die kultische Inszenierung von Veranstaltungen, die monumentale Gegenwärtigkeit der Macht: das alles befriedigt den Sinn nach sinnfälliger Praxis und löst einen Affekt der Mitbewegung aus, dem sich gerade auch Intellektuelle nicht haben entziehen können. Es ist schwer, gegen den Strom einer allgemeinen organisierten Stimmung zu schwimmen, sich dem ,Schicksalsrausch' zu entziehen. Wenn überhaupt, dann sind die Nationalsozialisten in diesem Punkte erfinderisch gewesen: in der kultischen Inszenierung von Politik" (229).

Prange nennt auch das Stichwort, das am ehesten die Verführbarkeit dieser Intellektuellen zu erklären vermag: die Suche nach Identität.

Seinen eigentlichen Beitrag zur Aufwertung der NS-Bewegung leistete Krieck durch sein Konzept der "Formations-Erziehung". SA, SS, HJ und die anderen "Formationen" der Partei konnten sich demnach als Erziehungs-Gemeinschaften verstehen - und zwar im doppelten Sinne einer Selbsterziehungsgemeinschaft und als Träger für die Erziehung anderer. Damit gab Krieck sowohl der Lagererziehung als auch der nun einsetzenden Schulungsarbeit nicht nur eine Legitimation, sondern auch eine scheinbare erziehungswissenschaftliche Grundlage. Das war nur möglich auf dem Fundament seines erweiterten Erziehungsbegriffs, vorher hätte die Pädagogik gar keine Kategorien dafür gehabt, z.B. einem Verband wie der SA, der ja als politischer Kampfverband gegründet worden war, außer vielleicht im metaphorischen Sinne eine erzieherische Funktion zuzuweisen. Krieck unterschied nicht - wie wir heute - zwischen Sozialisation und Erziehung, sondern subsumierte beides unter seinen ausgedehnten Begriff von Erziehung. Erst diese begreifliche Unter-

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scheidung macht jedoch möglich, die "Formationen" als Sozialisationsfaktoren für die ihr zugehörigen Menschen zu verstehen - unabhängig davon, wie diese Verbände sich sonst definieren mögen -, indem man die Wirkungen untersucht, die sie auf die Persönlichkeit ihrer Mitglieder ausüben. Eine pädagogische Legitimation ihrer Existenz - wie bei Krieck - wäre damit aber nicht verbunden. Die pädagogische Legitimation dieser Formationen kommt also dadurch zustande, daß Krieck in diesem Zusammenhang den positiv besetzten Begriff Erziehung verwendet.

Grenzen der Gemeinschaft

Kriecks Einsicht in die soziale Funktion aller Erziehung ist sicher zutreffend, und sie ist uns heute unter dem Stichwort der "Sozialisation" selbstverständlich geworden. Mit dem Begriff der "Sozialisation" bezeichnen wir alle Wirkungen, die die Persönlichkeit von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen beeinflussen, ob sie nun von einzelnen Menschen, von Gruppen, Gemeinschaften oder von den Massenmedien ausgehen. Wir wissen inzwischen, daß die geplante Erziehung - z.B. durch Lehrer in der Schule - nur einen kleinen Teil der gesamten Sozialisation ausmacht. Sehr viel lernt das Kind auch dadurch, daß es an dem ihm zugänglichen sozialen Leben handelnd teilnimmt. Allerdings trennen wir dabei nicht von vornherein wie Krieck zwischen Gemeinschaften und anderen Formen sozialer Zusammenhalte. Zutreffend ist auch, daß Individualität nicht erzieherisch geplant werden kann, und daß sie auch nicht durch die Wirkungen der Sozialisationsmächte zustandekommt, sondern eine Leistung des jeweiligen Individuums ist - in der Sprache Kriecks: ein Ergebnis der "Selbsterziehung". Indem das Kind sich mit den widersprüchlichen Erfahrungen seiner sozialen Umwelt tätig auseinandersetzt, formt es seine Persönlichkeit heraus. Die planmäßige Erziehung kann Individualität nicht herstellen, sie kann sie fördern oder behindern.

Aber um solche pädagogischen Einsichten und um weitere Forschung in deren Rahmen ging es Krieck nicht in erster Linie. Am Herzen lag ihm die völkische Weltanschauung, und deshalb zog er aus seinen pädagogischen Entdeckungen falsche Schlüsse.

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Krieck konnte sich eine pluralistische Sozialisation nicht vorstellen, obwohl sie in seinem Konzept insofern angelegt war, als ja jede Gemeinschaft (einschließlich der Kirchen!) das Recht haben sollte, ihre typenbildenden Ansprüche an den Einzelnen zur Geltung zu bringen. Dann aber mußte das Erziehungsergebnis eine gewisse Bandbreite von Widersprüchlichkeit aufweisen, denn es ist z.B. kaum anzunehmen, daß die katholische Kirche denselben Typus hervorbringt wie die Hitlerjugend. Krieck betonte sogar, daß keine Instanz das Geschäft der Erziehung allein vollbringen könne. Dann aber kann die Konsequenz doch nur lauten, daß die Individuen diese Widersprüche in sich ausbalancieren und in einem gewissen Maße individuell gestalten müssen. Diese so naheliegende Konsequenz hat Krieck jedoch vielleicht deshalb nicht gezogen, weil er damit liberalen Vorstellungen zur Rolle der Individualität zu nahe gekommen wäre. Jedenfalls hätte er den Prozessen der Individualisierung eine eigenständige Bedeutung beimessen müssen, nämlich als eine Leistung, die gerade der Distanz zu den typisierenden Erwartungen der Gemeinschaft bedarf. Individualität könnte dann aber nicht mehr aus den funktionalen Prägungen durch die Gemeinschaften erklärt werden.

Krieck entdeckte die erzieherische Bedeutung der sozialen Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als ihre prägende Kraft im Entschwinden begriffen war. Die herausragenden Faktoren der modernen Gesellschaft, die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, die rationale Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die radikale Individualisierung der Menschen zu Rechtssubjekten gerade unter Ignorierung ihrer konkreten sozialen Kontexte, der von Marx vorausgesagte Siegeszug der Prinzipien des Marktes überall im gesellschaftlichen Leben und schließlich die Massenmedien haben notwendigerweise zur Emanzipation des Menschen - inzwischen auch der älteren Kinder - von jenen Erziehungsgemeinschaften geführt, die Krieck im Sinne hatte. Die historische Unausweichlichkeit dieser Prozesse, ihre Notwendigkeit im Rahmen sich entwickelnder Industriegesellschaften hat er nicht verstanden.

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Grenzen der Brauchbarkeit

Man kann Kriecks Überlegungen fortsetzen und fragen, ob es noch sinnvoll ist, von "Erziehung" zu sprechen, wenn die typisierende Kraft der sozialen Gemeinschaften derart zurückgegangen ist, wie wir das heute erleben. Jedenfalls verstehen wir heute den Prozeß der Erziehung anders als Krieck. Wir sehen das Kind als lernendes Subjekt, nicht nur als Objekt von Erziehung. Das Kind bildet seine Persönlichkeit selbst aus, indem es die Herausforderungen, die ihm das Leben stellt, aktiv und tätig bewältigt. Ein großer Teil dieser Lemprozesse erfolgt durch das Leben selbst, ein anderer Teil wird absichtsvoll pädagogisch inszeniert (z.B. in Kindergarten und Schule). Dort bieten professionelle Pädagogen "Lernhilfen" an.

Nun ist bemerkenswert, das der Begriff "Lernen" bei Krieck gar nicht auftaucht, obwohl er doch die subjektive Seite der Typenbildung beschreiben würde. Wenn man nämlich wie Krieck meint, daß Erziehung dadurch stattfindet, daß die Gemeinschaften den Einzelnen nach ihrem kollektiven Leitbild formen, dann heißt das doch umgekehrt, daß der Einzelne in diesem Prozeß etwas lernt, z.B. bestimmte soziale Verhaltensweisen. Vermutlich wäre ihm der Begriff "Lernen" zu subjektivistisch gewesen, er spricht ja von "Selbsterziehung", um zu verdeutlichen, daß Lernprozesse nur erfolgen im Rahmen der durch die Gemeinschaften vorgegebenen Spielräume. Abgesehen davon, daß diese pädagogische Theorie auf reine soziale Anpassung hinauslaufen kann, traf sie auch die damalige Realität nicht mehr. Der im Dritten Reich sozialisierte Mensch war nicht einfach die Summe der sozialen Prägungen, die er erfahren hatte, er war mehr, und dieses Mehr ist nicht durch den Terminus der Selbsterziehung zu beschreiben, sondern nur durch den darüber hinausgehenden Begriff des Lernens. Was auch damals schon Schule und Hochschule an Bildung und Ausbildung leisteten, war mit Kriecks Erziehungstheorie nicht zu greifen. Und genau an diesem Punkte war sein Denken für die pädagogische Praxis unergiebig; denn diese Praxis hatte schließlich mit lernenden Individuen zu tun. Was sollten z.B. Lehrer damit anfangen oder diejenigen, die Lehrer ausbildeten?

So wurde neben der schon erwähnten innerparteilichen Kritik auch fachliche Kritik an ihm laut, und dies um so mehr,

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als im Zuge der seit 1936 einsetzenden Aufrüstung der Schule und der Berufsausbildung im weitesten Sinne eine neue, qualifizierende Bedeutung beigemessen wurde. Es gab auf einmal einen Mangel an Facharbeitern wie auch an Lehrern. Da war Kriecks Meinung wenig hilfreich, eine Reform des Bildungswesens werde so schnell nicht möglich sein, weil dafür der Prozeß der völkischen Erneuerung noch nicht weit genug fortgeschritten sei.

Damit zusammen hängt ein weiteres praktisches Problem, das Zeitgenossen ebenfalls schon erkannten. Krieck hatte seine erziehungswissenschaftliche Konstruktion ja an historischen Beispielen entfaltet. Dafür brauchte er nicht unbedingt kritische Maßstäbe, um diese vergangenen Formen der "Typenbildung" zu bewerten, er konnte sich mit deren Beschreibung begnügen. Indem er jedoch handelnd und erklärend sich seiner Gegenwart zuwandte, mußte er irgendwelche Bewertungsmaßstäbe entwickeln, wenn er nicht der bloßen sozialen Anpassung das Wort reden wollte. Konnte man denn die Ergebnisse der sogenannten Formationserziehung einfach hinnehmen? Konnte nicht z.B. in der HJ der Typus des äußerlich korrekten und angepaßten Duckmäusers entstehen? Oder der Typus des sportlich glänzenden Feiglings oder Denunzianten? Und wäre nicht denkbar, daß in den Religionsgemeinschaften, deren Recht auf Erziehung Krieck unterstrich, der Typus des verklemmten Heuchlers heranwuchs? Gerade weil Krieck forderte, daß diese einzelnen Typenbildungen "Glieder" des Volksganzen zu sein hatten, also von dort her auch ihr Maß und ihre Ordnung erhalten sollten, hätte er dafür wissenschaftlich objektivierbare Maßstäbe der Beurteilung entwickeln müssen. Das hat er nicht versucht, und es wäre ihm auch von seinem Denkansatz her gar nicht möglich gewesen - ganz abgesehen davon, daß er dann die Formationen der Hitler-Bewegung einer pädagogischen Kritik hätte unterziehen müssen. Er ging einfach davon aus, daß Gemeinschaften bzw. Korporationen, solange sie existieren, auch den ihnen angemessenen Nachwuchs "züchten"; im übrigen sei das eine Frage der völkischen Erneuerung: wenn diese einmal gelungen sei, sei auch dieses Problem gelöst.

Diese Vertröstung auf die Zukunft half jedoch denen nicht, die in der Gegenwart Verantwortung trugen. Wir werden sehen, daß die HJ-Führung sich im Unterschied zu Krieck sehr

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wohl Gedanken darüber machte, welchen Typus sie in ihren Reihen eigentlich produzieren wollte.

Auch den Berufspädagogen - den Lehrern und Sozialpädagogen etwa - stellte sich das Problem der Verantwortung ihres Handelns, und auch dafür hatte Krieck keine Antwort parat.

Dem inhaltsleeren politischen Dynamismus entsprach eine eigentümliche pädagogische Ziellosigkeit, ein ratloses Warten auf die völkische Erneuerung. Aber was sollte bis dahin geschehen? Weil Krieck diese Frage nicht beantworten konnte, wurde das Feld frei für pädagogische Technokraten, die auf handgreifliche und relativ ideologiefreie Qualifikationen und Ausbildung setzten, die aber auch - wie Krieck zu Recht befürchtet hatte - rein instrumentell vorgingen, also ohne Bindung an ein auf das Volksganze bezogenes Ethos.

Markt, Massenmedien und Gemeinschaft

Bezeichnenderweise kommen in Kriecks Überlegungen zwei moderne Phänomene kaum vor: Der Markt, hier insbesondere zu verstehen als Konsumgütermarkt, und die Massenmedien. Die Massenmedien sind nicht einzuordnen in das Konzept der sozialen Gemeinschaften, sie sprengen das Bild vom organischen Volkskörper. Sie zerstören die Identität der Gemeinschaften, indem sie allen dasselbe sagen, den Kindern wie den Erwachsenen, den Christen wie den Atheisten. Der Versuch der Nazis, die Massenmedien in den totalen Erziehungsstaat einzubauen, konnte - abgesehen von den Strafandrohungen für "Feindsender-Hörer" - nur solange Erfolg haben, wie der massentechnologische Standard - man denke an den "Volksempfänger" mit seiner geringen Reichweite - entsprechend niedrig war. Heute kann keine politische Ideologie die Kommunikationsreichweite der modernen Informationsmedien mehr auf Dauer abblocken.

Insofern war die Idee des Erziehungsstaates illusionär, selbst die Agitation und Propaganda von Goebbels war auf einen relativ unterentwickelten kommunikationstechnischen Standard angewiesen. Gerade die Massenmedien, vor allem das spätere Fernsehen, haben einen entscheidenden Anteil daran, daß der Einfluß der klassischen Erziehungsmächte

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(Elternhaus, Schule) auf die Sozialisation sich mehr und mehr verringerte. Rundfunk und Fernsehen zerstörten das Informationsmonopol der Pädagogen, beschnitten ihre Möglichkeit, das für pädagogisch wertvoll Gehaltene den Kindern zugänglich zu machen und das andere ihnen vorzuenthalten.

Der Konsumgüter- und Dienstleistungsmarkt wiederum richtete sich von vornherein nicht nach pädagogischen Maßstäben. Er fragt nicht danach, was gut für Kinder ist, sondem danach, was er an Kinder oder über sie an die Eltern verkaufen kann. Pädagogisch entscheidend ist dabei nicht, ob das eine oder andere Konsumgut zu beanstanden ist, wesentlich ist vielmehr die implizite Moral, die der Markt verbreitet: daß die Menschen Recht daran tun, wenn sie es sich gutgehen lassen wollen, daß sie im Recht sind, wenn sie Dinge haben wollen, die ihnen gefallen; daß sie, wenn sie etwas haben wollen, dafür nur Geld brauchen, aber keine Vormünder, die ihnen dabei Gebote und Verbote erteilen. Diese Moral lag von Anfang an, seitdem es einen nennenswerten Konsumgütermarkt gibt, mit der pädagogischen Moral im Konflikt. Äußerer Ausdruck dafür sind unsere Jugendschutzgesetze, die schon in der Weimarer Zeit entstanden und den Versuch darstellen, Kinder und Jugendliche von einem als besonders gefährdend angesehenen Teil des Marktes ("Schund und Schmutz-Literatur" "jugendgefährdende Filme") fernzuhalten. Massenmedien und Markt haben mit den ihnen eigentümlichen Regeln inzwischen die pädagogische Provinz zerstört, in der Kinder früher relativ behütet aufwachsen konnten; um wieviel geringer wäre da auf Dauer die Chance gewesen, eine moderne Industriegesellschaft im ganzen nach Art einer pädagogischen Provinz zu etablieren. Kriecks völkischer Erziehungsstaat war eine Illusion - allerdings eine gefährliche, weil viele Menschen über diese Illusion an Hitler gebunden wurden.

"Integration" als Sinnstiftung

Kriecks Bemühungen, dem völkischen Staat Hitlers, wie er ihn sich vorstellte, eine philosophisch-weltanschauliche Basis zu geben, erschöpfte sich nicht nur darin, in Gestalt der "Völkisch-politischen Anthropologie" eine neue Philoso-

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phie zu formulieren, die den einzelnen Wissenschaften wieder eine gemeinsame Basis geben, sie also zum Wohl des völkischen Staates integrieren sollte. Krieck wollte die Idee auch organisatorisch umsetzen, indem er in Heidelberg eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft einrichtete, in der sich Vertreter verschiedener Disziplinen trafen, um gemeinsam fächerübergreifende Probleme der einzelnen Wissenschaften zu erörtern. Schon in seiner Rektoratsrede hatte er zu einer tiefgreifenden Wissenschaftsreform aufgefordert. Gerhard Müller hat diese Bemühungen ausführlich vorgestellt, die im übrigen bald wieder einschliefen, als Krieck von seinen Ämtern zurückgetreten war. Hinzu kam, daß die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik im Zuge der Aufrüstung an begrenzter Fachausbildung interessiert war - auch auf der Hochschulebene. Krieck jedoch war der Ansicht, daß auf diese Weise nur Menschen mit Fachborniertheit ausgebildet würden - die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre wird sie "Fachidioten" nennen -, die nicht in der Lage seien, den Sinn ihrer besonderen beruflichen Kompetenz im Rahmen der völkischen Gesamtaufgabe zu reflektieren und zu verstehen. Da entsprechende Überlegungen zur Überwindung des begrenzten Fachstudiums und für fächerübergreifende Projekte auch in den Debatten zur Hochschulreform seit den sechziger Jahren eine Rolle spielen, könnte man geneigt sein, Kriecks Vision in dieser Sache als fortschrittlich, in die Zukunft weisend zu betrachten. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen scheint jedoch Skepsis angebracht.

Krieck hat eigentlich nur bewiesen, daß derartige Bemühungen geradezu zwangsläufig zur wissenschaftlich nicht mehr gedeckten Politisierung bzw. zu weltanschaulichen Gemeinplätzen führen. Alfred Baeumler übrigens, von dem im nächsten Kapitel zu sprechen sein wird, hatte in dieser Frage eine andere Position als Krieck. Er vertrat zwar nachdrücklich eine "weltanschauliche Schulung" für alle, auch für Professoren, aber das sei nicht Aufgabe der Universität, sondern der speziell dafür eingerichteten Schulungslager.

Krieck hätte mit dem Ansatz seiner "autonomen Erziehungswissenschaft" damals eine neuartige pädagogische Forschung in Bewegung setzen können. Seine These, daß Erziehung ein ursprünglich soziales Phänomen sei, war ja richtig, und auch seine Wende zur "Völkisch-realistischen Erziehung" in der NS-Zeit hätte durchaus entsprechende

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Forschungen in Gang setzen können, z.B. über die Formationserziehung" etwa in der HJ. Aber das hat ihn nicht interessiert. Es ging ihm auch nicht darum, die Chancen und Grenzen der planmäßigen Erziehung etwa in der Schule zu ermitteln, seinem Ansatz entsprechend etwa die tieferen, unbewußten und kollektiven Elemente des Schulehaltens zu erkunden. Seit der "Völkisch-politischen Anthropologie" verrannte er sich immer mehr in weltanschauliche Fragen mit der Folge, daß sein Denken spekulativ wurde mit immer geringer werdender wissenschaftlicher Stringenz. Die "Völkisch-politische Anthropologie" beruhte auf einer "universalen Biologie", die zwar nichts mit dem sozialdarwinistischen Biologismus der Rassefanatiker zu tun hatte, diesen aber insofern mittelbar eine Rechtfertigung verschaffte, als Krieck für seine Version der Biologie das Verdikt der Unwissenschaftlichkeit hinnehmen mußte. An der Biologie interessierte ihn der komplexe Zusammenhang alles Lebendigen, nicht die bloß naturwissenschaftliche Betrachtung, die er in seiner Zeit vorfand; sie reduzierte den Gegenstand auf chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten. In diesem Punkte war er wieder sehr modern, dem gegenwärtigen Verständnis der Biologie jedenfalls näher als seine Gegner. Der entscheidende Denkfehler lag darin, auch soziale Phänomene biologisch zu deuten. Dies war eine weltanschauliche Prämisse, die durch nichts gedeckt war als durch ein Wunschbild des Autors, und diesem Wunschbild sollten die einzelnen Wissenschaften verpflichtet werden. Mit diesem Konzept konnte jedoch niemand etwas anfangen: die NS-Ideologen nicht, weil Krieck ihrem Rassismus nicht folgte; die Hochschulpolitiker nicht, weil sie an fachlichen, in möglichst kurzer Zeit zu absolvierenden Studiengängen interessiert waren, die Lehrer und Sozialpädagogen nicht, weil ihnen keine Perspektive für ihre praktischen Probleme geboten wurde. Rückblickend kann man nur denen Recht geben, die - wie Alfred Baeumler - eine Wissenschaftsreform im Sinne Kriecks verhindert haben, denn sie hätte die Einzelwissenschaften in den geistigen Ruin getrieben, sie sozusagen durch krude Weltanschauung "zersetzt'.

Kriecks Ansehen beruhte vor allem auf seiner Funktion als "Sinn-Lieferant" für junge, geistig einigermaßen anspruchsvolle Intellektuelle, die sich gerne für die neue Elite halten wollten und dafür ein Abgrenzungskriterium gegenüber den

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"Spießern" brauchten. Zudem verfügte Krieck offenbar auch über eine erhebliche persönliche Ausstrahlung, ein Charisma. Die Sucht nach einer harmonisch-konfliktfreien, aber philosophisch anspruchsvollen und deshalb elitären Weltanschauung, der er selbst verfallen war, fand Jünger gleichen Bedürfnisses.

Alfred Baeumler, sein ideologischer Konkurrent, war da aus anderem Holze, sein Beitrag zur NS-Pädagogik lag nicht auf dem Gebiet der völkischen Weltanschauung.

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3. "Politische Pädagogik" (Alfred Baeumler)

 

Leben und Werk

Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis auf dem Opernplatz in Berlin etwa 20.000 Bücher und Schriften solcher Autoren, die sie für Feinde der deutschen Kultur hielten. Die Aktion stand unter dem Motto: "Wider den undeutschen Geist'. Zu den Akteuren gehörte auch ein kleingewachsener Professor in SA-Uniform: Alfred Baeumler. Er hatte gerade eine Professur für Politische Pädagogik an der Universität Berlin übernommen und an diesem Tag seine Antrittsvorlesung gehalten. Darüber berichtete das "Neuköllner Tageblatt":

"Als Auftakt der öffentlichen Verbrennung der undeutschen Bücher auf dem Opernplatz hielt Professor Dr. Alfred Baeumler, der neue Ordinarius für Politische Bildung in Berlin, im Hörsaal 38 der Universität die erste Vorlesung seines Kollegs 'Wissenschaft, Hochschule, Staat'. Der große Saal war vollkommen überfüllt. Der größte Teil der Studenten nahm in SA-Uniform an der Vorlesung teil. Vor Beginn der Vorlesung marschierte eine studentische Fahnenabordnung mit dem Hakenkreuzbanner ein. Professor Baeumler beschäftigte sich mit der nationalsozialistischen Revolution und ihren geistigen und philosophischen Grundbedingungen".

Die Vorlesung sei von den Studenten mit Begeisterung aufgenommen worden. Weiter heißt es in dem Blatt:

"Der Opernplatz war in weitem Umfänge abgesperrt und von einer dichten Kette von Zuschauern umsäumt. Um 11 Uhr trafen die ersten des Zuges in Braunhemd und Couleur, an deren Spitze der neue Ordinarius für Politische Pädagogik in Berlin, Professor Dr. Alfred Baeumler marschierte, auf dem Opemplatz ein. Sie marschierten auf dem weiten Platz auf

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und warfen ihre Fackeln in den in der Mitte errichteten Scheiterhaufen, auf dem die Flammen in wabernder Lohe emporschlugen ... . Von den Wagen, die das undeutsche Schriftmaterial bis zum Opernplatz in die Nähe des Scheiterhaufens gebracht hatten, bildete sich eine lange Kette von Studenten, und von Hand zu Hand gingen die Bücher, die dann dem Feuer überantwortet wurden". (Zit. n. Poliakow/ Wulf, 199 f.)

In seiner Vorlesung zuvor hatte Baeumler seinen Studenten eine Rechtfertigung formuliert:

"Sie ziehen jetzt hinaus, um Bücher zu verbrennen, in denen ein uns fremder Geist sich des deutschen Wortes bedient hat, um uns zu bekämpfen. Auf dem Scheiterhaufen, den Sie errichten, werden nicht Ketzer verbrannt. Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm stellen wir uns im Kampfe, er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, daß sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können. Wir dürfen nicht auf Verbote bauen. Aus uns selber heraus müssen wir den undeutschen Geist überwinden" (Baeumler 1934, 137).

Als er diese Worte spricht, wird den politischen Gegnern nicht die Ehre des Kampfes zuteil, sie werden vielmehr längst verhaftet, von SA und Gestapo mißhandelt.

Später, als Siebzigjähriger, wird er vor Geburtstagsgästen eine Ansprache über seinen Weg als Schriftsteller halten und dabei erwähnen, daß im Jahre 1945 seine sämtlichen Manuskripte, Vorlesungen und Exzerpte im Garten seiner Berliner Wohnung verbrannt worden seien.

"Die Verbrennung erfolgte nicht durch die Russen in den Tagen des Einmarsches, sondern Wochen danach durch avisierte Kommunisten. Sie war offenbar durch eine informierte Stelle angeordnet" (M. Baeumler, 243).

Als Drahtzieher vermutete er den kommunistischen Philosophen Georg Lukacs. Daß es da einen Zusammenhang mit seinem Auftritt von 1933 geben könnte, kam ihm offenbar nicht in den Sinn.

Im Jahre 1933 war Baeumler schon 46 Jahre alt. Geboren wurde er 1887 im sudetendeutschen Neustadt an der Tafel-

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fichte, das damals zu Österreich gehörte. Sein Vater war Porzellanmacher und ging 1896 nach Nürnberg. Baeumler legte dort 1908 sein Abitur ab und studierte in München, Bonn und Berlin zunächst Kunstgeschichte, dann Philosophie und Ästhetik. Nach der Promotion 1914 wurde er von 1915 bis 1918 österreichischer Soldat und 1919 deutscher Staatsbürger.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzte er seine philosophischen Studien fort, veröffentlichte 1923 ein Buch über "Kants Kritik der Urteilskraft". Gemeinsam mit Manfred Schröter, Philosophie-Professor an der Technischen Hochschule München, gab er ab 1924 das "Handbuch der Philosophie" heraus und veröffentlichte darin einen Beitrag über "Ästhetik"; 1931 erschien ein Reclam-Bändchen über "Nietzsche, der Philosoph und Politiker", 1924 habilitierte er sich an der Technischen Hochschule Dresden und wurde dort 1928 außerordentlicher, 1929 ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik.

"Schicksalbestimmend" - wie Baeumler für den Rest seines Lebens meinte - sollte jedoch eine andere Veröffentlichung werden. Manfred Schröter hatte 1926 eine Auswahl der Schriften des romantischen Mystikers Bachofen unter dem Titel "Der Mythos von Orient und Occident" herausgegeben. Baeumler sagte zu, für diese Edition eine Einleitung zu schreiben. Unter der Hand geriet diese Einleitung zu einem ganzen Buch, über 200 Seiten lang. Diese Bachofen-Einleitun g unter dem Titel "Bachofen, der Mythologe der Romantik", fand unter Fachleuten erhebliche Beachtung.

Zu den Lesern gehörte auch Thomas Mann. Er hielt sich damals in Paris auf und legte seine Eindrücke und Erfahrungen in der Schrift "Pariser Rechenschaft" nieder. Darin erwähnt er auch Baeumlers Bachofen-Einleitung, lobt den Tiefgang dieser Studie, äußert sich aber auch kritisch über die möglichen Wirkungen angesichts des sich damals verbreitenden völkischen Irrationalismus und Mystizismus in Deutschland.

"Man kann nichts Interessanteres lesen, die Arbeit ist tief und prächtig, und wer sich auf den Gegenstand versteht, ist bis in den Grund gefesselt. Aber ob es eine gute und lebensfreundliche, eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese Nachtschwärmerei ... von Erde, Volk, Natur,

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Vergangenheit und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derart charakterisiert, in den Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies alles sei wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkte, es handele sich nicht sowohl um Geschichte als um Leben, Jugend und Zukunft - das ist die Frage, die beunruhigt. Dieser Gesinnung gilt die Einheit der deutschen Romantik nur als optische Täuschung" (in: M. Baeumler, 155).

Thomas Mann nennt die Abhandlung eine "Fiktion voller Tagestendenz" und legt somit die Unterstellung nahe, Baeumler habe mit dieser Arbeit rechte politisch-ideologische Tendenzen im Sinne gehabt. Baeumler ist empört und will in einer Broschüre Thomas Mann antworten, aber sein Verleger rät ihm ab. Die Kritik des berühmten Schriftstellers zeigte aber Wirkung, sie wird auch in Fachkreisen aufgenommen, und Baeumler findet sich verkannt und in die rechte politische Ecke gedrängt. Daß Thomas Mann damit einen Knick in seiner philosophischen Karriere bewirkt habe, wird ihm immer mehr zur fixen Idee, von der er sich bis zu seinem Tode nicht mehr befreien kann.

Objektiv gesehen war der Vorwurf sicher unberechtigt. Im Jahre 1926 hatte Baeumler mit der politischen Rechten nichts im Sinn, und wer politische Tendenz verbreiten will, schreibt kein Buch, das nur wenige Eingeweihte überhaupt verstehen können. Subjektiv gesehen jedoch war Thomas Mann von der Wahrheit vielleicht nicht allzusehr entfernt; denn wer engagiert Philosophie betreibt, wie es Baeumler tat, thematisiert damit immer auch bewußt oder unbewußt seine eigene Befindlichkeit. Er will nicht nur wissen, was es mit der Welt auf sich hat, sondern auch, was er selbst in dieser Welt zu bedeuten hat. So war es vielleicht doch nicht so ganz zufällig, daß Baeumler sich von der Mythologie Bachofens faszinieren ließ und von Nietzsches anti-bürgerlicher Kulturkritik beeindruckt war.

In die NSDAP trat Baeumler erst im April 1933 ein - sehr zur Überraschung derer, die ihn kannten; denn bis dahin hatte er keine Ambitionen in dieser Richtung erkennen lassen. Über seine damaligen Motive schreibt er 1954 in einem Brief:

"Bis zum Jahre 1933 habe ich nicht daran gedacht, in eine politische Partei einzutreten. Für mich vollzog sich alles politische Geschehen in einem abstrakt geschichtlichen Raum ... .

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Was mich dann aus der Stille herausführte, mich wider Willen in die politische Arena zog, war die Unzufriedenheit mit den Regierungen, die wir hatten ... . Noch unter dem Druck der Wahl vom 5. März 1932 stehend trat ich zum letzten Termin (29.4.1933) in die Partei ein. Ich entschloß mich zu diesem meinen Lebensgewohnheiten fernliegenden Schritt aus einem einzigen, klarbewußten Grund: ich wollte nicht wieder daneben stehen. Jahrelang hatte ich nichts als kritisieren können, jetzt, so bildete ich mir ein, müßte ich Verantwortung übernehmen" (M. Baeumler, 228 im).

Ausschlaggebend war wohl auch die Bekanntschaft mit Alfred Rosenberg. Rosenberg war auf Baeumlers philosophische Arbeiten aufmerksam geworden und hatte schon vor 1933 Kontakt aufzunehmen versucht. Nun hatte Hitler ihm das sogenannte "Amt Rosenberg" übertragen, eine Parteidienststelle, die für die weltanschauliche Überwachung und Schulung der Partei zuständig sein sollte. Auf Drängen Rosenbergs übernahm Baeumler in dieser Dienstelle 1934 die Abteilung Wissenschaft, 1941 mußte er dieses Amt wegen zu geringer Aktivität und Ineffizienz auf Druck der anderen Abteilungsleiter aufgeben und übernahm das sogenannte "Aufbauamt Hohe Schule". Die "Hohe Schule" sollte nach dem Krieg als eine Art von Partei-Universität zur Wissenschaftsreform beitragen. Während seiner nebenamtlichen Tätigkeit im Amt Rosenberg behielt er seine Berliner Professur.

Über diese Tätigkeit ist nicht viel bekannt. Es ist aber zu vermuten, daß er als der für "Wissenschaft" zuständige Ressortchef Einfluß auf Berufungen und überhaupt auf die Beurteilung von Wissenschaftlern und deren Veröffentlichungen genommen hat (vgl. Horn). Sicherlich war er auch beteiligt an den Schwierigkeiten, die das Amt Rosenberg Krieck bereitet hat. Über Kriecks Beitrag über "Philosophie" für die vorhin erwähnte Festschrift für Hitler war Baeumler empört, zumal "Philosophie" die einzige Disziplin war, für die in diesem Band zwei Beiträge -von Baeumler und Krieck- erschienen. Das Amt Rosenberg hatte andererseits wenig Macht und Einfluß im Vergleich zu rivalisierenden Instanzen wie etwa dem Propagandaministerium. Rosenberg hatte unter anderem ein Buch mit dem Titel "Der Mythus des 20. Jahrhunderts" geschrieben, das er für die ideologische Grundlage des Nationalsozialismus hielt. Davon wurden zwar bis 1945 eine Million Exemplare verkauft, aber zu Rosenbergs Enttäuschung hatte

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keiner der vor dem Nürnberger Tribunal stehenden Parteigrößen das Buch gelesen. Es diente offensichtlich als Parteigeschenk bei allen möglichen Gelegenheiten.

Unter seinen Kollegen galt Baeumler als unkollegial, arrogant, kontaktscheu und opportunistisch. Rosenberg jedoch hielt zu ihm und betonte noch im Nürnberger Prozeß, Baeumler habe durch seine fachliche Kritik der Arbeit des Amtes genützt. Seine Gauleitung jedoch beurteilte ihn kritischer. Seine nationalsozialistische Gesinnung sei zwar nicht zu bezweifeln, er zeige aber zu wenig persönlichen Einsatz und zu wenig Kameradschaft und finde keine Resonanz bei seinen Studenten.

So überraschend Baeumlers Eintritt in die NSDAP für seine Freunde auch sein mochte, so ist doch auch unverkennbar, daß er sich seit 1930 der NS-Ideologie immer mehr genähert hatte. In dieser Zeit hielt er einige Vorträge, in denen er seine ideologische Grundposition entwickelte, die er im Prinzip bis 1945 beibehielt. Er selbst verstand diese Wende nachträglich allerdings anders, nämlich als Hinwendung zu einem neuen philosophischen Thema: der Geschichtsphilosophie. Diese Wendung und nicht die erwähnte Kritik Thomas Manns sollte seinen weiteren Weg bestimmen. Das vorher erreichte Niveau seines philosophischen Denkens wich nun einem mystifizierenden, irrationalistischen Germanismus.

Baeumlers politische Vision war ein neues deutsches Reich, das auf germanischer Tradition basierte, d.h. darauf, daß es getragen wird von den Wehrbünden der Männer und gegliedert ist durch persönliche Führer-Gefolgschaft-Beziehungen in wechselseitiger Treue. Alles, was dieser Vision widerspricht oder entgegenwirkt, verfällt der Kritik.

Baeumlers Denken wird nun sehr widersprüchlich - nicht so sehr in einem logischen Sinne, als vielmehr durch die Kombination unterschiedlicher Ebenen, die von heute aus auch unterschiedlich beurteilt werden müssen. Da gibt es einmal die erwähnte Ebene des spekulativen Germanismus, von der sich Baeumler nach 1945 distanziert hat. Auf einer zweiten Ebene benutzt Baeumler Ergebnisse seiner philosophischen Arbeit, vor allem aus seiner Beschäftigung mit Bachofen und Nietzsche, zur Analyse seiner politischen Gegenwart, also auch der Hitler-Bewegung, der er sich dann zuwandte. Auf dieser zweiten Ebene geht es vor allem um den Begriff des

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"Symbols" und um die anthropologische These, daß der Mensch ein aktives, handelndes Wesen sei. Auf einer dritten Ebene schließlich gibt es von ihm Beiträge zu pädagogischen Themen etwa über die Funktion der Bildung und der Schule, die rein pragmatisch fundiert zu sein scheinen und auch heute noch lesenswert sind. Ich will diese drei Ebenen hier nicht zu einer inneren Logik zusammenführen, sondern sie einfach nacheinander vorstellen.

Dabei muß auf eine Darstellung und Bewertung der im engeren Sinne philosophischen Arbeiten Baeumlers verzichtet werden, um die pädagogischen Fragestellungen nicht aus dem Blick zu verlieren. So muß die Frage ungeprüft bleiben, ob Baeumler Bachofen oder Nietzsche zutreffend interpretiert hat. Es geht hier vielmehr um solche politisch-pädagogischen Texte Baeumlers, die er seinerzeit an ein philosophisch nicht besonders vorgebildetes Publikum gerichtet hat.

Männerbündischer Germanismus

Der männerbündische Germanismus wird erkennbar in einem Vortrag über den "Sinn des großen Krieges" - gemeint ist der Erste Weltkrieg - aus dem Jahre 1929.

Die Frage nach dem "Sinn" des Krieges, den Deutschland verloren hatte, beschäftigte das deutsche Bürgertum in hohem Maße, so daß dieses Thema damals keineswegs ungewöhnlich war. Viele Deutsche gaben sich mit der schlichten Erklärung nicht zufrieden, daß der Krieg verloren wurde wegen der militärischen und vor allem auch materiellen Überlegenheit der Gegner. Statt dessen blühten Mystifizierungen, deren folgenreichste die "Dolchstoßlegende" war: Die Truppe sei unbesiegt geblieben, aber in der Heimat seien vor allem "die Roten" und die Juden ihr in den Rücken gefallen. In "Mein Kampf' hatte Hitler diese Stimmung ebenfalls beschrieben: Schuld an der Niederlage seien außer den Soldaten eigentlich alle irgendwie gewesen. Die militärische Niederlage in Verbindung mit dem daraus resultierenden "Schandfrieden" von Versailles hatte ein tiefes Trauma beim deutschen Bürgertum hinterlassen.

Hinzu kam das sogenannte "Fronterlebnis" derjenigen, die den Krieg als Soldaten erlebt hatten. Der Krieg hatte an der

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Front nämlich ein anderes Gesicht gezeigt, als man das in der vorausgehenden Kriegsbegeisterung erwartet hatte. Es war ein Krieg der "Materialschlachten", die den einzelnen Soldaten zu einer anonymen statistischen Größe machten. Diese Art der Kriegführung beseitigte den Status-Unterschied zwischen Offizieren und Mannschaften und schweißte beide zu einer Art von Schützengraben-Gemeinschaft zusammen. Dieses Erlebnis hinterließ bei vielen Soldaten eine tiefe und nachhaltige Wirkung und prägte auch Wünsche nach einer dementsprechenden politisch-gesellschaftlichen Ordnung; auch Baeumlers politische Vorstellungen waren offenbar davon beeinflußt. Was war für ihn "Der Sinn des großen Krieges"?

Im Kriege hätten zwei Lebenssysteme, zwei Kulturen miteinander gerungen:

"Im Mittelpunkt des ersten Lebenssystems steht die materielle Kultur. Das Wort 'materiell' ist hier nicht moralisch zu nehmen! Auch hier werden Götter angebetet! Da steht der Götze Mammon, da steht der Moloch, der Jugend verschlingt. Wirtschaft und Gesellschaft ist das Losungswort. Der Staat wird zu einer Organisation des Schutzes und der Förderung guter Geschäfte. Sicherheit, nämlich Sicherheit der gewohnten Lebensumstände, der gewohnten Genüsse ist das oberste Gut. Zu diesen Genüssen sind auch die sogenannten 'geistigen' zu zählen: Literatur und Theater, Wissenschaft und Kunst. Wesentlich ist der Genuß in jeder Art (Baeumler 1934, 6).

Dieses System finde seinen reinsten Ausdruck in der Mode. Diese die Menschen einsam und selbstsüchtig machende urbane Kultur werde vor allem durch die großen Städte repräsentiert, deren in diesem Sinne vollkommenste Paris sei.

Dem wirtschaftlich-materialistischen Lebenssystem stehe das männlich-heroische gegenüber.

"Die entgegengesetzte Lebensform ist die des Mannes. Nicht die Wirtschaft und der Genuß, sondern der Staat und die Arbeit stehen hier im Mittelpunkt. 'Arbeit' bezeichnet die Welt des Mannes ... . Die Welt der materiellen Kultur ist eine Welt des Genusses, die Welt der Arbeit ist eine Welt der Tat. Dem Lebenssystem dieser Tat ist die städtische Wohnweise nicht wesentlich, ja sie kann ihm feindlich werden, da sie mit einer

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gewissen Notwendigkeit zur Erleichterung, Sicherung und Behaglichmachung des Lebens führt. Für die urbane Lebensform bedeuten die Mauern der Stadt, die die Häuser umschließen, etwas Heiliges. In dieser Lebensform dagegen heißt es: nicht die Mauern sind es, sondern die Männer, die das Vaterland ausmachen. Nicht das Haus und der Salon, sondern die Männerversammlungen und das Feldlager sind die symbolischen Wirklichkeiten dieser Welt. Ich stelle sie als die heroische der urbanen gegenüber".

Die Hinführung des jungen Mannes zur urbanen Kultur erfolge durch das Weib, das den Mann von der Bindung an Seinesgleichen fernhalte. Die Feminisierung der Politik führe zur Demokratie und diese zum bildungs- und luxusverzehrenden Privatmann.

"Die Gesellschaft weckt zuerst das Bedürfnis nach materieller Kultur, und hält sodann denjenigen, in dem es wachgeworden ist, an seinen Wünschen fest. Denn diese Wünsche sind nur durch Geld zu befriedigen; das Geld aber verwaltet die Gesellschaft. So ist der junge Mann, ohne daß er es merkt, Pazifist geworden. Denn die Gesellschaft hat das Bedürfnis nach Sekurität, sie will, daß die Geschäfte sich ruhig und sicher abwickeln. Der Staat ist nur dazu da, um Erwerb und Geldverkehr zu sichern. Jeder verdiene so viel er kann, das ist die Devise" (41).

Die weibliche urbane Kultur sei dem deutschen Volke nicht wesensgemäß, es müsse wieder zurückfinden zum heroischen Männerbund, aussteigen aus der westlich-bürgerlichen Kultur. "Die bürgerliche Welt ist im Jahre 1918 über Deutschland Herr geworden, weil sie zuvor in seinem Inneren Herr geworden war. Für Deutschland gibt es seitdem nur eine Wahl: die restlose Einordnung in das siegreiche bürgerliche Europa als ein Hausgenosse minderen Rechts - oder der Austritt aus dem bürgerlichen Lebenssystem" (14).

An dieser Frage entscheide sich, wer politisch ,links'' oder "rechts" steht.

",Politisch links' eingestellt sein heißt in Deutschland, diesen Sieg billigen, heißt also, sich auf die Seite des Urbanismus stellen. Für die Linke ist der große Krieg als Krieg, als Ereignis, sinnlos; als Erfolg der feindlichen Waffen dagegen sinnvoll, weil er den Sieg des Urbanismus bedeutet. Heute ist die

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große Aufgabe der Linken: Zerstörung der nichturbanen Volksschichten und Urbanisierung der Arbeiterschaft. Für die Rechte ist der Krieg als Ereignis sinnvoll. Sie lebt noch in der heroischen Welt, sie weiß noch, was Kampf und Sieg ist" (14 f.).

Diese auf den ersten Blick harmlos erscheinende Passage ist tatsächlich eine politische Diffamierung der Linken; denn sie werden zwar nicht als militärische, wohl aber als kulturelle Bündnispartner der Siegermächte dargestellt, mit denen gemeinsam sie die "nicht-urbanen Volksschichten" - also die, auf die es nach Baeumler ankommt - zerstören und damit auch die Substanz des deutschen Volkes antasten, die mit der weltbürgerlichen Zivilisation nicht in Deckung zu bringen sei.

Baeumlers Kritik der Weimarer Gesellschaft ähnelt also der von Krieck - zumindest was die beanstandeten Phänomene angeht: Antidemokratische, antiliberale, antifeminine und antibürgerliche Ressentiments verschmelzen zu einem ideologischen Syndrom. Bemerkenswert ist auch die Übereinstimmung beider im Hinblick auf den anti-femininen Affekt: Die Emanzipation der Frau ist für beide offensichtlich eine fundamentale Bedrohung ihrer politischen Identität, Krieck bringt damit die Auflösung der Familie als sozialer Gemeinschaft in Verbindung, die zur Auflösung auch aller anderen völkischen Gemeinschaften führe; für Baeumler ist die Emanzipation das Symbol jener im Ersten Weltkrieg siegreichen bürgerlichen Kultur, die dem deutschen Wesen nicht gemäß sei. Bei Baeumler nimmt der anti-feminine Affekt skurrile Züge an, wenn er etwa beklagt, daß in der Weimarer Rechtspflege "Weiber" über Männer zu Gericht sitzen dürfen, oder wenn er die Studentinnen ignorierte und seine Hörer ostentativ mit "Meine Herren!" anredete.

An einer anderen Stelle versuchte er seine Vorstellung vom heroischen Männerbund - der "Mannschaft" - im Vergleich zu einer Sportler-Mannschaft zu verdeutlichen:

"Zur Mannschaft gehört eine Verbundenheit der Glieder, die nicht abhängig ist von dem technischen Zweck, der unmittelbar erreicht werden soll. Die Sportmannschaft dagegen ist ein technischer Verband und je reiner sie das ist, desto besser ist es für den Sport. Es wäre ganz irrtümlich, diesen gegebenenfalls für Tage und Stunden zusammengestellten Verband

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als eine besondere Art von Mannschaft aufzufassen. Fällt der Zweck fort, der den Zusammenschluß bewirkte, so fällt die ,Sportmannschaft' auseinander. Der Geist einer echten Mannschaft dagegen würde durch den Fortfall des nächsten Ziels nicht zerstört; er würde sich dann erst recht bewähren. Die Mannschaft wird zwar nur durch eine gemeinsam empfundene und anerkannte Aufgabe wirklich - das unterscheidet sie von bloß persönlichen Freundschaftsbünden -, aber keineswegs ist das, was sie zur Einheit zusammenschmiedet, die Vollbringung einer speziellen Leistung" (Baeumler 1942, 164).

Aber diese Vision der Mannschaft konnte in der arbeitsteiligen modernen Industriegesellschaft, wie sie Deutschland damals darstellte, keinen sozialen Ort haben, sie mußte sich abdrängen lassen in die relativ marginale Lokalität der Lager, und auch dort blieb sie wohl im wesentlichen Fiktion.

Als jedoch der Zweite Weltkrieg ausbrach, schien diese Fiktion Wirklichkeit zu werden. In seinem Aufsatz "Der totale Krieg" propagierte er diesen, bevor es Goebbels in seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast tat.

"Mit unserer Jungmannschaft sind wir alle angetreten, um dorthin zu marschieren, wohin der Glaube des Führers uns weist. In der feierlichen Stunde dieses Aufbruchs wollen wir uns geloben, daß der Glaube derer, denen Deutschlands Jugend anvertraut ist, niemals geringer sein soll als der Glaube der Mannschaft, die die Heimat schützt und eine Weltwende heraufführt" (Baeumler 1942, 32).

Bemerkenswert ist, daß die "Jungmannschaft", die da für Hitler in den Krieg zieht, nicht als Zweckverband verstanden wird - wie die eben erwähnte Sportmannschaft - sondern als Lebensform.

Der Begriff des "totalen Krieges" folge aus dem der "totalen Gemeinschaft" und führe zur "totalen Offenbarung", d.h. in dieser Grenzsituation zeige sich, was für Kerle die Menschen im Verhältnis zur Gemeinschaft wirklich seien.

"Der Begriff des totalen Krieges gibt der Einsicht Ausdruck, daß jeder Versuch eines Gliedes der Gemeinschaft, sich auf irgendeine Weise außerhalb des Kampfes zu halten, erkenntnismäßig auf einer Fiktion beruht und ethisch ein Verbrechen ist Der Einzelne ist nur, was er ist, durch die

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Gemeinschaft in der Gemeinschaft. Sobald die Gemeinschaft sich im Kampfe befindet, befindet auch er sich im Kampfe" (35).

Es sei ein liberalistischer Irrglaube zu meinen, der politische Normalzustand sei der Friede. Beides, Krieg und Frieden, gehörten zusammen. Daraus folge keine Ablehnung des Friedens:

"Das Ziel des Krieges ist nicht wieder der Krieg, sondern der Friede. Ein Krieg, der um seiner selbst Willen geführt würde, wäre nicht total in unserem Sinne, sondern Wahnsinn. Totaler Krieg heißt nicht immerwährender Krieg. Es heißt vielmehr: Der Krieg ist der einzige Weg zum Frieden und das einzige wahre Mittel zur Erhaltung des Friedens" (35).

Baeumler geht nicht der Frage nach, welcher Art der Krieg sei, den Hitler begonnen hatte, um welche politischen Ziele es dabei ging und welche Bedingungen für einen kommenden Frieden gegeben sein müssen.

Ganz so "total", wie es zunächst in strammer Radikalität klang, sollte es dann doch wieder nicht zugehen; denn es sei falsch, nun alle Funktionen der Gesellschaft "zu den Kriegshandlungen in Beziehung" zu setzen. Das gelte auch für die Schule; sie müsse weiterarbeiten und ihren vorhandenen Leistungsstand unbedingt halten.

Den "Meckerern" jedoch muß das Handwerk gelegt werden, sie haben den totalen Krieg nicht begriffen.

"Der gewohnheitsmäßige Meckerer ist nicht von oben herab zu belehren oder mit humorvoller Nachsicht zu behandeln, sondern als einer, der 'draußen' stehen möchte, existenziell zu widerlegen - wenn es sein muß mit rauher Hand. In dem Augenblick, wo ein Volk um sein Dasein kämpft, hört nicht nur der Spaß, sondern auch das lächelnde Verzeihen auf. Wer meckert, läuft moralisch zum Feinde über. Nach dieser geistigen Haltung, nicht nach dem geringfügigen Anlaß ist der Meckerer zu beurteilen und zu behandeln" (38).

Daß der moderne Krieg ein "totaler" sei, war schon eine Erfahrung des Ersten Weltkriegs; er wurde nicht mehr wie vorher irgendwo auf einem "Schlachtfeld" von Soldaten ausgetragen, während in der Heimat das Leben mehr oder weniger seinen üblichen Verlauf nahm. Vielmehr mußten auch die

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Lebensbedingungen in der Heimat den militärischen Notwendigkeiten untergeordnet werden.

Ähnlich wie Krieck die moderne kapitalistische gesellschaftliche Entwicklung durch das Modell des organischen Volksstaates korrigieren wollte, wollte Baeumler die auf Gelderwerb und Genuß beruhende Gesellschaft ablösen durch eine männerbündische Sozialstruktur von "Mannschaften", in denen Führer und Geführte in gegenseitiger Treue einander verschworen sein sollten.

Baeumler hat dieses politisch-ideologische Weltbild nach 1945 als "Germanismus" bezeichnet und sich davon distanziert. Im wesentlichen rekonstruierte er damit eine historische Tradition, die als Vorgeschichte der Hitlerbewegung gelten konnte; dafür montierte er zusammen, was allenfalls unter einem abstrakten geschichtsphilosophischen Blickwinkel zusammen paßte: das germanische Heerlager, die alte Reichsidee, den Turnvater Jahn, die deutsche Romantik, Nietzsche und das Bismarckreich.

Symbol und Einsatz

Auf der zweiten Ebene seines Wirkens geht es um die Prinzipien, nach denen er seinen Berliner Lehrauftrag verstehen und ausführen wollte.

Was kennzeichnete ihn als einen nationalsozialistischen Philosophen und zudem als Pädagogen, der der Jugend die neue geistige Ausrichtung beibringen sollte? Schließlich hatte man ihm mit einer solchen Erwartung den Berliner Lehrstuhl übertragen! Das für ihn in Berlin eingerichtete "Institut hat die Aufgabe, die wissenschaftlichen Grundlagen der neuen Staatserziehung herauszuarbeiten und an die Stelle des ausgearbeiteten Begriffsystem der Pädagogik des Liberalismus ein tragfähiges Begriffsystem im neuen Geiste zu setzen. Diese Aufgabe kann nur eine realistische Philosophie lösen, die sich dazu mit den Wissenschaften verbindet, die das menschliche Handeln zum Gegenstand haben" (Zit. n. Dickopp 1970, 427). So heißt es in der Chronik der Berliner Universität.

An diese Aufgabe, gegen die individualistische Pädagogik des Liberalismus eine solche "im neuen Geiste'' - also im

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nationalsozialistischen Sinne - zu setzen, ging er ganz anders heran als Krieck. Er setzte nicht auf die sozial-revolutionäre Seite der "Bewegung", in der Hoffnung, diese werde von selbst zur volksgemeinschaftlichen Harmonie führen, vielmehr nahm er die politische Realität des NS-Systems so an, wie sie war, und versuchte in diesem Rahmen philosophisch fundierte Präzisierung zu leisten. Als gelernter Philosoph blieb er kritisch und deutlich ablehnend gegenüber Kriecks Versuchen, eine alle Daseinsbereiche umfassende und integrierende völkische Philosophie zu formulieren; er hielt das zu Recht für reine Spekulation. Dafür erreichte er aber auch nicht Kriecks publizistische Resonanz. Baeumler publizierte in der Zeit von 1933-1945 vier Sammelbände mit Aufsätzen und Reden (Männerbund und Wissenschaft, 1934; Politik und Erziehung, 1937; Bildung und Gemeinschaft, 1942; Studien zur deutschen Geistesgeschichte, 1943). Hinzu kommt eine längere Einleitung im ersten Band der geplanten Gesamtausgabe der Schriften von Alfred Rosenberg, von denen aber nur dieser erste Band erschienen ist. Ferner sind einige Aufsätze zu erwähnen - vor allem in den beiden Zeitschriften, die er herausgegeben hat: "Weltanschauung und Schule" und "Internationale Zeitschrift für Erziehung". Das war im Vergleich zu Kriecks kaum zu überblickender Produktion nicht sehr viel.

Für diese zweite, aus seinen philosophischen Studien resultierende Ebene sind vor allem zwei Vorträge aus dem Jahre 1933 von Bedeutung: Seine schon erwähnte Antrittsvorlesung und ein einige Wochen früher gehaltener Vortrag "Der theoretische und der politische Mensch".

In seiner Antrittsvorlesung präsentierte Baeumler seine politisch-ideologischen Voraussetzungen und sein Programm. Sie beginnt mit einer Ehrenrettung für die NS-Studenten, die sich ja durch Aktionen gegen Professoren, durch randalierende Störungen von Lehrveranstaltungen weithin unbeliebt gemacht hatten. Sie hätten dabei ein Bild einer neuen Hochschule in sich getragen, das sie noch nicht in Worte fassen könnten. Keineswegs wollten sie die wissenschaftliche Arbeit abschaffen. Aber die idealistische Überlieferung der Universität genüge ihnen nicht mehr, sie wollten sich vielmehr aktiv an der Revolution beteiligen; sie wollten politisch handeln und nicht lediglich unpolitisch zuschauen, wie es die traditionelle Universität von ihnen erwarte. Die dieser zu-

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grundeliegende Philosophie des Humanismus habe sich an einer Idee orientiert, wohl wissend, daß sie in reiner Form nie zu verwirklichen sein werde. Dieses "Denksystem des bildlosen Idealismus" sei unpolitisch, auch wenn sich seine Vertreter zur nationalen Bewegung bekannten; denn "eine Hochschule, die selbst im Jahre der Revolution nur von der Führung durch Geist und Idee, nicht von der Führung durch Adolf Hitler und Horst Wessel redet, ist unpolitisch" (Baeumler 1934, 126).

Diesem Denksystem stellt Baeumler nun nicht etwa ein anderes entgegen, sondern eine im Symbol konkretisierte Idee:

"Die Gefolgschaft Adolf Hitlers kennt das Symbol, die Darstellung der Idee in einem Menschen, in einer Fahne. Das Führerprinzip und die Symbole des Nationalsozialismus haben den Begriff der Idee neu geprägt. Hier handelt es sich nicht um einen Wortstreit ... . Bis vor kurzem konnte man noch hören: es heißt Heil Deutschland, nicht Heil Hitler. Der allgemeinere Begriff: Deutschland bedeute mehr als der individuelle Begriff: Hitler, und es sei parteiisch und engstirnig, wenn man nicht 'Heil Deutschland' sage. Als ob wir nicht, wenn wir Heil Hitler sagen, Heil Deutschland meinten! Aber wir meinen es konkret, wir meinen es eindeutig, wir meinen es politisch. Hitler ist nicht weniger als die Idee, er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich" (126 f.).

An die Stelle des früheren absoluten Begriffs des Menschen müsse ein geschichtlicher, realistischer treten, daß der Mensch nämlich einer bestimmten Rasse und einem bestimmten Volkstum in einer bestimmten geschichtlichen Lage angehöre. Korrigiert werden müsse vor allem die Diskrepanz zwischen dem Typus des Gebildeten und dem des Soldaten:

"Das eigentliche Verhängnis des 19. Jahrhunderts war, daß die humanistische Philosophie und die schweigende Philosophie der Soldaten des preußischen Generalstabs nicht zusammenstimmten. Fast gleichzeitig mit der Berliner Universität ist das System der allgemeinen Wehrpflicht entstanden. Das neue Universitätssystem und das neue Wehrsystem hätten auf den gleichen Erziehungsgedanken gegründet werden müssen Das ist nicht geschehen. Im Heere wurde der Mann erzogen, an der Universität wurde der Mensch gebildet. Der preußische Generalstab erzog Soldaten, die Universität brachte Gebildete hervor. Der theoretische Mensch, den sie

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großzog, kannte wohl die geistigen Güter seiner Nation, aber er wußte nichts von der Erde und von der schweren Mühe des Alltags, er war dem Bauern und dem Arbeiter fremd, er hielt sich für ein absolutes Ich unter hochmütiger Verachtung des Volkes, der Mutter, die ihn geboren hatte. Der kämpfende Mensch, der politische Mensch, der Soldat, der Bauer und der Arbeiter waren diesem nur noch 'verstehenden' Gebildeten fern und unzugänglich" (129).

Es nütze nicht viel, wenn die Gebildeten lediglich per Gesinnung sich zur nationalsozialistischen Revolution stellten; denn "Volksgemeinschaft bedeutet etwas anderes als Verbundenheit in Gesinnung und Wille. Wer legt diese Gesinnung, diesen Willen aus? Wer richtet die einzelnen aus, wer bezeichnet das Ziel konkret? Die patriotische Gesinnung wird nicht bezweifelt, aber mit patriotischer Gesinnung kann man nicht kämpfen und die Macht ergreifen. Dazu bedarf es des unbedingten Einsatzes für konkrete Symbole. Nur ein solcher Einsatz ist politisch, d.h. bewirkend. Die bloße Gesinnung bewirkt nichts" (128).

Das heißt im Klartext: Aktiver Einsatz wird verlangt für denjenigen, der den "Willen auslegt": für Hitler.

Nationalsozialismus bedeute "geistig" "die Ersetzung des Gebildeten durch den Typus des Soldaten" (129).

"Typus" ist hier wie bei Krieck gemeint als kollektive Haltung, Gesinnung und Einstellung in einer bestimmten sozialen Gruppe, also im Gegensatz zur bloßen Individualität. Und von dieser Grundposition aus versteht Baeumler den Lehrauftrag der "Politischen Erziehung" so:

"Ich werde an die Stelle des neuhumanistischen Bildes des Menschen das wahre Bild vom politischen Menschen setzen, ich werde das Verhältnis von Theorie und Praxis neu bestimmen, ich werde die Lebensordnungen beschreiben, in denen wir wirklich leben, ich werde meine Erkenntnisse vermitteln, aber ich werde nicht in Politik dilettieren. Das Bild des politischen, d.h. des wirklichen Menschen zu zeichnen ist meine Aufgabe, nicht Kathederpolitik zu treiben. Politik können nur die machen, die sie auch zu verantworten haben " - ... der Gedanke muß sich vor dem Gedanken verantworten" (130).

Dabei werde seine Aufgabe auch darin bestehen, die Symbole zu deuten, den Gegensatz von Symbol und Wort zu be-

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arbeiten, was heißen soll: die ursprünglichen Symbole der Hitlerbewegung, wie Gruß, Fahne usw. müssen philosophisch gedeutet und auf diese Weise zu einer neuen Kultur geformt werden. Das Symbol schmücke aber nicht den einzelnen, sondern repräsentiere Gemeinschaft, schließe also auch andere aus, und "Humanität" gelte keineswegs gegenüber allen Menschen - wie es im Programm der allgemeinen Menschenrechte verkündet ist.

"Wer unter Humanität eine politische und geistige Organisation alles dessen, was Menschenantlitz trägt, versteht, dem erwidern wir: wir sind nicht human. Denn wir wissen, daß es ein Zusammenleben von Menschen auf höherer als nur ökonomischer Basis nicht geben kann ohne die Konzentration dieser Menschen um das ihnen angemessene Symbol. Dieses Symbol vollbringt eine Scheidung, es setzt, was Recht und Unrecht, was wahr und unwahr ist. Das Symbol begrenzt, es schließt aus, es ist ein Symbol nur für diejenigen, die es aus dem Grunde verstehen, und die es mit Begeisterung erfüllt. Das ist unser Begriff von Humanität: Humanität ist da, wo Menschen an ein Symbol glauben und sich einsetzen, wo ein Symbol begeistert und fortreißt zu Gestaltungen und Taten. Humanität ist uns ein Begriff nicht der Ausdehnung, sondern ein Begriff, der auf eine bestimmte Höhenlage hinweist. ,Menschlich' ist ein Volk nicht dann, wenn es alle Rassen duldet, wenn es Fremden die politische und geistige Herrschaft über sich zugesteht, sondern menschlich ist es dann, wenn es sich mit aller seiner Kraft bemüht, sich selber in menschlich große Form zu bringen" (135).

Und die Warnung an den politischen Gegner ist unüberhörbar: "Wer nicht mit uns leben und sterben kann, der wird nicht als Ketzer verbrannt. Er bleibt unbehelligt, wenn er uns nicht angreift. Aber: ... wir stellen es dem Einzelnen nicht frei, die Symbole anzugreifen und zu verwerfen, in denen sich unsere Einigkeit offenbart" (137).

Die Einheit des deutschen Volkes wird für Baeumler also repräsentiert und sinnlich erfahrbar gemacht in den Symbolen der Nazibewegung bzw. in denen, die diese Bewegung aus Traditionsbeständen – z.B. des preußischen Militärs - aufzunehmen gedenkt.

Einige Wochen vor seiner Antrittsvorlesung, am 27.2.1933 - da war er noch nicht Parteimitglied - hielt Baeumler einen

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Vortrag unter dem Titel "Der theoretische und der politische Mensch". Entwickelte er in der Antrittsvorlesung im wesentlichen die Bedeutung der Symbole und ihrer Interpretation, so ging es ihm hier um die These, daß der Mensch ein handelndes Wesen sei.

"Der Mensch ist wesentlich ein politisches Wesen, d.h. er ist nicht ein Wesen, das zuerst kontempliert, Werte betrachtet, und dann handelt, er ist nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist, daß er teilnimmt an einer höheren geistigen Welt - dann wären die meisten Menschen vom Menschsein ausgeschlossen -, sondern er ist ein ursprünglich handelndes Wesen" (Baeumler 1934, 94).

Diese anthropologische Grundthese formulierte er im ausdrücklichen Gegensatz zum schon erwähnten Selbstverständnis des humanistisch "Gebildeten".

"Die humanistisch-idealistische Philosophie der Bildung geht von der Vorstellung aus, daß sich über einem Unterbau von Not und Arbeit, von Widerspruch und Streit ein Überbau des Geistes erhebe, die lichte Welt des Bewußtseins, eine Welt über dem ,Graus der Zeiten', in der nicht gestritten und gerungen wird, sondern wo die stille Betrachtung, das Verstehen und Erkennen ihren Ort haben. Und die Voraussetzung ist: es sollte jenen Kampf, jene Not des Arbeitens, jene Entzweiung des politischen Kampfes nicht geben. Nur da sei der Mensch ganz Mensch, wo er spiele" (95).

Dieses Harmonie- und Friedensbedürfnis sei aber eine Illusion, eine Fehleinschätzung der menschlichen Wirklichkeit, für die im Gegenteil Handeln konstitutiv sei.

"Handeln ist aber kein Realisieren erkannter Werte. So leicht ist es dem Menschen nicht gemacht. Der wahrhaft Handelnde steht immer im Ungewissen, er ist ,wissenlos', wie Nietzsche sagt. Das macht gerade das Handeln zum Handeln, daß es nicht gedeckt ist durch einen Wert" (95 f.).

Aus dieser anthropologischen Grundbefindlichkeit des Menschen folge, daß menschliches Verhalten nie absolut "sachlich" sein könne, sondern immer tendenziös sein müsse. Deshalb erfolge Handeln immer in einer bestimmten Richtung, politisches Handeln heiße also immer Partei ergreifen. Das habe der Parlamentarismus verleugnet, er sei "das der Fiktion des theoretischen Menschen entsprechende

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politische System" (105). Nach dieser Fiktion bestehe das Parlament aus lauter einzelnen Abgeordneten, die je individuell nach bestem Wissen und Gewissen entschieden, der Sache und dem Volke verpflichtet. In diesem Verständnis gebe es keinen "ursprünglichen Willen", kein "ursprüngliches Handeln", "keine unabhängig handelnde, rein politische Macht", sondern "lediglich eine nach allgemeiner Einsicht beschließende Körperschaft, deren Beschlüsse von einer nur ausführenden Macht im Verwaltungswege 'verwirklicht' werden" (105 f).

Die Tatsache, daß im Parlament Parteien vertreten seien, werde in der Verfassung gar nicht erwähnt, und deshalb sei diese "der Ausdruck der Entpolitisierung unseres gesamten Daseins" (106).

Das individuelle politische Handeln sei also nicht nur immer parteilich gerichtet, es sei immer auch gerichtet auf das Ganze, und die entscheidende Frage sei: "Wer soll das Ganze vertreten? Die Frage nach dem Wer ist die existentielle Frage, ihr kann man nicht entgehen. Es gibt keine Politik ohne Namen, ebenso wenig wie eine Wissenschaft ohne Namen: Erkennen und Handeln unterscheiden sich nicht wie sicheres Vorgehen und egoistisches Ansichreißen, sie fallen auch nicht zusammen unter dem Begriff fachmännischen Tuns, sondern sie stehen zusammen unter dem Begriff des Wagnisses. Von dem Erkennenden wie dem Handelnden wird das ganze gewagt, die großen Methoden wie die großen Reiche tragen die Namen derer, die sie gewagt haben" (107 f.).

Die Frage nach der Repräsentanz des Ganzen hatte er schon beantwortet: Hitler steht für das Ganze, und deshalb sei es unpolitisch, nur eine patriotische Gesinnung zur Schau zu stellen, auf aktiven "Einsatz" für die Hitler-Bewegung komme es an.

Auch die "Kulturwerte", die der "Gebildete" als seinen "Wert" betrachtet, seien nicht durch Anerkennung von Werten zustande gekommen, sondern durch aktive Wagnisse.

"Handeln heißt nicht: sich entscheiden für ... , denn das setzt voraus, daß man wisse, wofür man sich entscheidet, sondern Handeln heißt: eine Richtung einschlagen, Partei nehmen, Kraft eines schicksalhaften Auftrags, Kraft eigenen Rechts,

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ohne die Möglichkeit einer Deckung. Handeln heißt: sich einsetzen ohne Sicherheit, nur mit Gewißheit" (108).

Wir werden uns mit dieser Handlungstheorie noch beschäftigen müssen. Welche gefährlichen, ja demagogischen Konsequenzen sie haben kann, führt Baeumler selbst blauäugig vor. Die Rektorenkonferenz hatte im Hinblick auf politisch motivierte Ausschreitungen an den Universitäten am 4. Dezember 1932 folgende Entschließung verfaßt:

"Es liegt den deutschen Hochschulen und ihren Rektoren fern, der studierenden Jugend die Beschäftigung mit den Problemen des politischen Lebens zu verwehren. Sie erachtet es vielmehr für selbstverständlich, daß Lehrer und Studenten mit heißem Herzen Anteil nehmen am Geschick des deutschen Vaterlandes. Dagegen lehnen sie mit dem Nachdruck ihrer Verantwortlichkeit gegenüber Staat und Wissenschaft das Hineinstoßen der Parteipolitik in die Hochschule grundsätzlich ab".

Dazu Baeumlers Kommentar: "Die Studenten dürfen sich also mit dem Verstande und mit dem Herzen mit Politik beschäftigen - aber sie dürfen nicht Politik treiben" (109).

Das hatten die Rektoren gar nicht gesagt, sie wollten nur innerhalb der Hochschule keine politische Betätigung. Dieses von Baeumler selbst vorgebrachte Beispiel zeigt jedenfalls eine Konsequenz seines Handlungsbegriffes: Die Rechtfertigung derartiger Übergriffe; denn sie waren natürlich nicht durch Werte gedeckt, erfolgten nicht durch Realisierung von Werten, sie waren ein "Wagnis", weil die so Handelnden die Folgen nicht klar voraussehen konnten, die Rektoren hätten ja zum Beispiel, wenn sie auch etwas "gewagt" hätten, die Rädelsführer von der Universität verbannen können.

Mit der Vorstellung dieser beiden Reden ist Baeumlers politisch-pädagogische Grundposition hinreichend beschrieben: politisch geht es gegen das parlamentarische System von Weimar und die dieses tragenden und stützenden liberalen, und humanistischen Ideen, philosophisch geht es gegen die Tradition des humanistischen bürgerlichen Idealismus, wobei beides für ihn innerlich zusammengehört. Etwas vereinfacht läßt sich also sagen: durch seinen männerbündischen Germanismus ist Baeumler zur Hitlerbewegung gestoßen; seine Eintrittskarte waren die politische Hofierung der Nazi - Symbole und seine aktivistische Anthropologie.

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Immer erfolgt die Argumentation so, daß die politische Führung gerechtfertigt und Baeumlers nationalsozialistische Gesinnung erkennbar wird.

Diese Tendenz tritt auf der dritten Ebene der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge deutlich zurück.

Bildung, Bildbarkeit und Schule

Baeumler hat bis 1945 keine in sich schlüssige, systematische Arbeit über die NS-Erziehung vorgelegt. Veröffentlicht hat er lediglich Vorträge und Aufsätze, die sich mit Einzelfragen befassen. Er versuchte, die nationalsozialistische Erziehung jeweils im Gegensatz zum individualistischen Liberalismus und der bildungsgeschichtlichen Tradition zu fundieren, die er vorfand. Zu überwinden sei der Typus des "Gebildeten", der sich von der Realität des völkischen Lebens distanziere, sich für über den Parteiungen stehend halte und seine auf dem Gymnasium und der Universität erworbene "Bildung" als eine Art von Besitz betrachte. Diesen Typus, der auch bei der nationalsozialistischen Revolution wie bei allen politischen Ereignissen abseits gestanden habe und dessen Position auf einem unrealistischen Menschenbild beruhe, nimmt er immer wieder ins Visier.

Dabei greift er seine Kontrahenten von der "geisteswissenschaftlichen Pädagogik" - Litt, Blättner, Nohl, Weinstock - in den ersten Jahren nach der Machtergreifung polemisch an, und zwar mit dem Vorwurf, sie würden ihre pädagogische Argumentation dem "neuen Geist" nur anpassen, tatsächlich jedoch dem traditionellen Bildungsideal verhaftet bleiben. Diese Polemik verschwindet jedoch etwa ab 1939 und macht einer zunehmend sachlich werdenden Argumentation Platz.

Im Unterschied zu Krieck beschäftigte Baeumler sich mit pragmatischen Fragen der Pädagogik in dem Bemühen, diesen systematisch auf den Grund zu gehen. Vor allem galt sein Interesse der Schule, der Lehrerbildung und dem Sport. Den grundlegenden Sinn der Schule verteidigte er gegen den schulfeindlichen Impetus der HJ einerseits und gegen das vordergründige Nützlichkeitsdenken aus Wirtschaftskreisen andererseits. In einem bemerkenswerten Aufsatz über "Bildung" rechtfertigt er diesen Begriff als auch für den National-

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sozialismus unverzichtbar. Bemerkenswert ist dieser Beitrag deshalb, weil Baeumler den Bildungsbegriff der individuellen geistigen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zuweist, obwohl er sich damit dem Verdacht aussetzt, an den verpönten liberalistischen Individualismus wieder anzuknüpfen.

"Bildung ... ist etwas, was sich nur im Einzelnen ereignen kann. Der Mensch, der seine Anlagen und Kräfte entwickelt, ,bildet sich'. Aber dieses Verbleiben des Vorgangs der Bildung im Subjekt begründet keineswegs den Vorwurf des Individualismus gegenüber dem Bildungsvorgang überhaupt ... . Indem der heranwachsende Mensch geistige Gehalte produzieren und reproduzieren lernt, bildet er sich, und diese Bildung ist ein Urvorgang des Gemeinschaftslebens, obwohl sie sich im Subjekt vollzieht, und nichts anderes ist als die gesetzmäßige Entfaltung der Kräfte des Einzelmenschen. Denn die Gemeinschaft ist darauf angewiesen, daß die Glieder ihre Anlagen und Fähigkeiten zur höchsten Entfaltung bringen, d.h. daß sie sich bilden" (Baeumler 1942, 112).

Der Weg der Bildung brauche seine Zeit, und die müsse dem Nachwuchs auch gewährt werden.

"Der Vorgang der Bildung erstreckt sich über eine Reihe von Jahren und ist als Ganzes unsichtbar. Das Kind, das den Weg der Bildung begeht, merkt nichts davon. Die Eltern nehmen die eigentliche Entwicklung meist nicht wahr. Die Öffentlichkeit empfängt den durch die Schule Gebildeten wie ein selbstverständliches Geschenk und äußert sich gewöhnlich nur dann, wenn sie etwas vermißt" (116).

An anderer Stelle rechtfertigt er die Schule gegen den Vorwurf, sie sei zu weltfremd, sie müsse näher an das Leben herangeführt werden.

"Es war einmal möglich, eine Schule zu konstruieren, die dem Leben völlig entrückt war. Das ist heute nicht mehr die Gefahr. Die Schule, die vom Leben nichts weiß, ist überwunden" (120).

"Der Weg zur Leistung" - so der Titel des Aufsatzes - könne nicht immer unmittelbar, etwa im Berufsleben selbst angestrebt werden, er bedürfe manchmal vielmehr auch des Umwegs. "Die Schule ist der Umweg, den das Leben selber erfunden hat, um zu bestimmten Leistungen zu gelangen. Um

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sein Ziel zu erreichen, setzt das Leben sich scheinbar in Widerspruch zu sich selbst; es schafft die Schule, die ihrem Aufbau nach nicht Leben ist, und gerade damit dem Leben dient" (119).

Offensichtlich erfolgt Baeumlers Parteinahme für die allgemeinbildende Schule auf dem Hintergrund jener massiven Schulkritik, wie sie ab 1936 aus Kreisen der Wirtschaft formuliert wurde; die Schulleistungen insbesondere der Volksschulabgänger seien erheblich zurückgegangen. Dem nun drohenden vordergründigen Praktizismus widersprach Baeumler.

"Die allgemeine Schulpflicht der Jugendlichen bis zum 14. Lebensjahre ist einer der größten Siege, die vom Leben über die bloße Praxis errungen worden sind. Naturgemäß kann es immer nur einen Ausgleich zwischen der Schule und dem Leben geben, da beide im Recht sind. Unfruchtbar wird die Spannung zwischen ihnen erst dann, wenn man das Recht der Schule unverständig bestreitet. Vor allem da, wo durch die Sache eine längere Ausbildungszeit gefordert ist, pflegt ein gewisser Widerspruch gegen jede der Schule gewidmete und damit der Praxis entzogene Zeit einzusetzen ... . Was man in einer guten Schule lernt, ist nicht ein bestimmtes Handeln, sondern das Handelnkönnen ... sie darf nicht anlernend und abrichtend, sondern sie muß bildend sein" (122).

Im Unterschied zu Krieck hält Baeumler nichts von einer universitären Ausbildung der Volksschullehrer. Er verteidigte und rechtfertigte die im Krieg beschlossene Neuordnung der Lehrerbildung, die praktisch auf das Niveau der Seminar-Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg zurückfiel, mit dem Unterschied, daß nun die Lagererziehung einen breiten Raum einnahm. Im übrigen kommt er, wenn er sich über die Aufgaben und die Stellung des Lehrers äußert, über allgemeine Bemerkungen nicht hinaus. Im Unterschied zu früher unterstehe die Schule nun dem Vorrang der Politik. Allerdings bedeutet dies "nicht eine Unterwerfung schöpferischer Kräfte unter tote Vorschriften, sondern die Einordnung der Erziehung in die Volksordnung. Politik ist das auf die Herstellung der Volksordnung gerichtete Handeln des Führers, an dem jeder einzelne in Treue gegen den Führer an seiner Stelle aus eigener Verantwortung teilnimmt. Nach der politischen Pädagogik des Nationalsozialismus ist der Lehrer also

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nicht ein bloßer Exekutor von Anordnungen politischer Organe, sondern er ist derjenige, der den politischen Auftrag, den die Schule vom Führer erhalten hat, in eigener Verantwortung durchführt. "Hat er den politischen Auftrag verstanden und übernommen, so ist er frei" (96 f.).

Entweder soll das heißen, daß - wie heute auch - dem Lehrer durch seinen pädagogischen Auftrag, sozusagen von seiner Sache her, ein Handlungsspielraum zugestanden wird, dann ist "der Auftrag des Führers" nur eine ideologische Verklärung. Oder aber dieser Auftrag, der ja nicht präzisiert wird, sondern in Konfliktfällen der Interpretation bedarf, ist ein jederzeit benutzbarer Maßstab zur Disziplinierung - nicht durch Hitler selbst, sondern durch diejenigen, die die Macht haben, seinen "Auftrag" zu definieren.

Baeumler war zwar mit ähnlichen Begründungen wie Krieck Antisemit, aber kein Rassist. Den Begriff "Rasse" benutzte er selten und dann lediglich im Sinne einer anthropologischen Grundgegebenheit. In einem Aufsatz mit dem Titel "Rasse als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft" geht es im Kein um die Frage der Bildbarkeit des Menschen. Diese sei nicht unbeschränkt, sondern werde durch den "Charakter" des Menschen bestimmt. Der Charakter sei aber anlagebedingt und nicht einfach aus Umwelteinflüssen erklärbar. Er gebe die Grundrichtung, aber eben auch die Grenzen der menschlichen Bildbarkeit an.

"Das Rassedenken macht die meist übersehene, aber doch wohl unbestreitbare Voraussetzung, daß der Mensch zutiefst Charakter ist, und daß zuletzt auch die Leistungen der Intelligenz vom Charakter abhängig sind. Gerade die Tiefenschichten der menschlichen Persönlichkeit aber, die Schichten, in denen die Entscheidungen des menschlichen Daseins wurzeln und die die Lebenskurve des Einzelnen zu samt seiner Leistung bestimmen, sind von der Umwelt ihrer Grundrichtung nach unabhängig" (Baeumler 1942, 83).

Gleichwohl bedürfe die durch den Charakter vorgegebene Grundrichtung der Entfaltung durch Erziehung und Bildung. "Nicht von selbst gelangt in der menschlichen Sphäre das Lebendige zur vollkommenen Gestalt. Es bedarf der Erziehung in der Gemeinschaft. Nur durch die bildende Einwirkung der anderen gelangt die Seele zu sich selbst, wird sie das, was sie ist. Am Anfang steht die angeborene, aber noch

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unbestimmte Richtung des Charakters, am Ende die klare bestimmte Form, in der der Charakter sich erfüllt. Wir nennen diese Form den Typus, zu dem der Einzelne durch die Gemeinschaft erzogen wird" (85).

Auch diese Argumentation richtet sich wieder gegen den "lntellektualismus" des traditionellen Bildungsdenkens:

"Der Intellektualismus nimmt an: 1. Daß der Mensch als reine, d.h. unbestimmte Anlage (tabula rasa) zur Welt komme, 2. daß die Umwelt die Macht habe, auf diese Tafel zu schreiben, was sie wolle, 3. daß das Organ, mit dem der Mensch sich auf die Welt beziehe, der Intellekt sei, 4. daß das Handeln des Menschen durch den Intellekt geleitet werde und daher durch Beeinflussung des Intellekts entscheidend zu beeinflussen sei" (81 f.).

Aus diesen Prämissen habe die Erziehungswissenschaft den Begriff der unbeschränkten Bildsamkeit abgeleitet. Das jedoch sei anthropologisch unrealistisch, resultierend aus der Erfahrung, daß in der Tat der Intellekt des Menschen von allen seinen Fähigkeiten am ehesten durch die Umwelt - also durch Lernen - zu beeinflussen sei. Was Baeumler hier Charakter nennt als Zusammenfassung der erblich vorgeprägten Anlagen, hat für ihn auch eine rassische Fundierung. Aber er leitet daraus keine rassistische pädagogische Theorie ab. Im Vergleich zu den damals zu hörenden biologistischen Tönen wirkt sein Artikel eher distanziert.

Baeumler verlor nach dem Kriege seine Professur und wurde drei Jahre in den Lagern Hammelburg und Ludwigsburg interniert. In dieser Zeit setzt er sich intensiv mit dem NS-Regime und vor allem mit der Person Hitlers auseinander, wie aus jüngst veröffentlichten Notizen hervorgeht (Baeumler 1991). Er klagt Hitler der "Untreue gegen das deutsche Volk" an (165); er sei "der rasende Kleinbürger, der alles niedertritt, um hinauf' zu gelangen" (168). Sein vielzitierter "Instinkt" "geht immer nur einige Monate, höchstens drei Jahre in die Zukunft. Das ist das Wesen des Instinkts: die Enge. Es gibt keinen Instinkt für Abläufe von zehn bis zwanzig Jahren. Das ist nur dem Verstand sichtbar" (176). Er kenne nur Schwachsein und Starksein: "Er fordert zuviel, wenn er stark ist, er ist gelähmt, wenn er schwach ist. Er handelt nicht zusammenhängend" (178). Bemerkenswert ist, daß Baeumler sich Über Hitler in der Gegenwartsform äußert, als ob er

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noch lebte. In einer Notiz mit der Überschrift "Warum ich Hitlers Wollen mißverstehen konnte", heißt es, daß man in Krisenzeiten Gefahr laufe, "denen zu verfallen, die alles angreifen ... man übersieht ganz, daß es auch eine grundsätzliche Verneinung gibt ... da die Verneinung in diesem Falle objektiv, historisch berechtigt ist, nimmt man sie als positiven Akt, während sie nur verneinend ist. Man schließt von der objektiven Berechtigung auf die Berechtigung dessen, der die Verneinung ausspricht.

Was mich an Hitler überzeugte, war, daß er nirgends stehenblieb, mit nichts paktierte. Das, meinte ich, konnte er nur, weil er wirklich etwas neues, positives sah, zu den Quellen zurückging. Daß er überhaupt nichts sah, konnte ich mir nicht vorstellen. Seine Unbestimmtheit in Bezug auf die Zukunft hielt ich für politische Klugheit" (197).

In einer Spruchkammerverhandlung wurde Baeumler zunächst in die Kategorie II der "Belasteten" eingestuft, ein Jahr später aber von einem nun mit Juristen besetzten Gericht freigesprochen. Schwerer wog, daß er dennoch als hoher ehemaliger Parteifunktionär angesehen wurde, als Prototyp des deutschen Wissenschaftlers, der sich der Hitler-Bewegung verschrieben hatte, obwohl ihm die erste Spruchkammer immerhin persönliche Integrität bescheinigt hatte. Während die meisten Hochschullehrer, die sich mehr oder weniger aktiv in der Hitlerbewegung betätigt hatten, bald wieder in Amt und Würden waren, blieb Baeumler isoliert. Nun rächte sich offenbar, daß er keiner "Seilschaft" angehörte. Seine philosophische Laufbahn war zerstört. Er konnte seine Bachofen-Einleitung zwar noch einmal 1965 unter dem Titel "Das mythische Weltalter'' veröffentlichen, aber die Nietzsche-Taschenbuchausgabe erregte Ärgernis, weil sie immer noch mit seinem Nachwort versehen war. Sonst ist unter seinem Namen offenbar nichts mehr erschienen. Sogar Manfred Schröter, mit dem er in den 20er Jahren das "Handbuch der Philosophie" herausgegeben hatte, hielt seine Entlastung durch die Spruchkammer für nicht gerechtfertigt und schrieb ihm:

"Du giltst in der Welt einmal als geistiger Befürworter und Schrittmacher des Nationalsozialismus - mag er später gegenüber Deinen Anfangshoffnungen noch so entartet sein - am untadeligen Weiß Deines Philosophenmantels haftet

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nun einmal der Hakenkreuzfleck als Radikalböses... (M. Baeumler, 202).

Damals konnte die deutsche Öffentlichkeit noch nicht wissen, daß das "Amt Rosenberg" ziemlich bedeutungslos war im Machtgefüge der rivalisierenden Parteigrößen, aber es bot Baeumler eine Nische, in der er verhältnismäßig geschützt arbeiten konnte. Seine Kontakte zur Partei waren begrenzt auf seine Beziehung zu Rosenberg, im übrigen blieb er in der Partei ein Außenseiter, was ihm seine Gauleitung ja auch als Mangel an Aktivität und Einsatz vorgeworfen hatte.

Wie viele konservativ orientierte Intellektuelle befand er sich angesichts des rapiden kulturellen Wandels am Anfang der 30er Jahre in einer Identitätskrise, auf der Suche nach sozialer und kultureller Zugehörigkeit. Um diese Krise zu lösen, montierte er sich aus dem damals vorhandenen konservativen ideologischen Repertoire sowie aus seinen Studien über die Romantik und Nietzsche eine Weltanschauung zusammen, die die für seine Identität so wichtigen Fragen beantworten konnte: Was heißt es, ein Deutscher zu sein? Und: Was heißt es, ein Mann zu sein? Die Antwort war eben jener männerbündische Germanismus.

In Hitler sah er den Repräsentanten einer Volksbewegung, in den Märzwahlen von 1933 eine Volksabstimmung für die Hitlerbewegung. Er setzte auf diese Bewegung, darauf, daß sie die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Probleme lösen werde, wie er sie empfand. Im Rahmen dieser Bewegung wollte er sich auf seinem Gebiet engagieren. Hitler selbst hat er in seinen Schriften nie zitiert, aber er war so naiv, dessen Führungsposition als gegeben hinzunehmen, ohne sich z.B. über die Frage der Machtkontrolle Gedanken zu machen. In einem Brief an Manfred Schröter schrieb er 1950:

"Ich verleugne es nicht: Ich war Nationalsozialist, ich habe, heißt das, an die Zukunft Deutschlands auf dem Wege, den Friedrich der Große und Bismarck eingeschlagen haben, geglaubt, ich habe die Republik von Weimar verachtet und gehaßt, ich habe eine große Zukunft unseres Volkes als selbständige politische Macht gegen alle Möglichkeit herbeigesehnt ... ich habe auf das Wunder der Wiedergeburt des Reiches gehofft und daher schließlich nach langem Zuwarten die Massenbewegung Hitlers für fähig gehalten, den

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deutschen Partikularismus zu überwinden. Aber nie habe ich aufgehört, in der mir wesensmäßig fremden und eigentlich immer unbekannt gebliebenen Massenorganisation etwas anderes als ein Erstes, Vorläufiges zu sehen, einen groben Keil auf den groben Klotz der schwarzroten Republik" (M. Baeumler, 210).

Vier Jahre später schreibt er, ebenfalls in einem Brief:

"Meine Erwartung war, daß die Partei sich regenerieren und schon im Interesse ihrer Erhaltung den Staat so gut als möglich verwalten würde. Ich glaubte damals an 'Institutionen'. Daß man im 20. Jahrhundert mitten in Europa eine politische Herrschaft nur auf Terror gründen könne, lag außerhalb meiner Vorstellungswelt. So etwas kam doch nur bei Tacitus vor!" (M. Baeumler, 229).

In dem schon erwähnten Brief an Manfred Schröter aus dem Jahre 1950 distanzierte er sich ausdrücklich von seinem "Germanismus".

,Alles, was ich jemals für Hitler und sein System gesagt habe, erkläre ich für Irrtum und Wahn. Wenn ich etwas gegen die Kirchen und gegen die Juden geschrieben habe, so ist das stets im geschichtlichen Zusammenhang geschehen, es war tendenziöse Polemik, die sich aus meiner Auffassung des ,Reiches' ergab. Es war die negative Kehrseite meines Germanismus. Ich erkläre diesen Germanismus für einen verhängnisvollen Irrtum, und alles, was ich daraus gefolgert habe, für falsch. Was ich über die Kirchen, über die Juden, über den Liberalismus geschrieben habe, ist Ausdruck einer Übersteigerung der preußisch-deutschen Geschichtsauffassung, einer unbegreiflichen Verdunkelung des Verstandes, einer Verirrung des Geistes. Es ist keine Entschuldigung für mich, daß ich diesen Irrtum mit den hervorragendsten Vertretern der deutsch-nationalen Geschichtsschreibung teile. Mein Verstand hätte ausgereicht, die Abgründe rechts und links zu erkennen" (M. Baeumler, 212).

Baeumler starb am 19.3.1968 in Eningen bei Reutlingen.

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Politisch-Pädagogisches Resümee: Die anthropologische Sackgasse

Zweifellos hat Baeumler in ganz anderem Maße als Krieck die Hitler-Bewegung und ihre politische Führung ideologisch gerechtfertigt, und seine ständige Aufforderung, nicht nur die richtige Gesinnung, sondern auch "Einsatz" für diese Bewegung zu zeigen, grenzte schon an Nötigung. Inwieweit dies aus Opportunismus geschah oder aus politischer Naivität, mag dahingestellt bleiben.

Im Unterschied zu Krieck war er ein introvertierter Einzelgänger. Während von Krieck eine charismatische Ausstrahlung auf nicht wenige junge Leute ausging, was wohl vor allem seiner persönlichen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben war, wirkte Baeumler abweisend und kontaktarm. Von jener rauschhaften Szene der Bücherverbrennung, wo er ineins mit den studentischen Massen und diese führend auftrat, ist später nicht viel geblieben. Das kann nicht nur daran gelegen haben, daß er relativ hohe Leistungsanforderungen stellte und wissenschaftliche Maßstäbe aufrechtzuerhalten suchte. Vor der Spruchkammer verteidigte er sich später unter anderem damit, daß er nicht mehr als dreißig bis sechzig Hörer gehabt habe.

"Hätte ich billige Weltanschauung für HJ und SS vorgetragen, dann wären es in jedem Semester dreihundert gewesen ... . Hätte ich 'nationalsozialistische Wissenschaft' vorgetragen, dann wären im Semester zwanzig bis dreißig Doktorarbeiten fällig gewesen, da jeder ja nur das hätte schreiben brauchen, was er schon wußte. Gerade derartigen Tendenzen bin ich von Anfang an mit solcher Energie entgegengetreten, daß ich nach einigen Jahren völlige Ruhe hatte. Im Laufe von zwölf Jahren wurden bei mir zwölf Doktorarbeiten gemacht" (M. Baeumler, 199 f.).

Beim NS-Studentenbund und beim Dozentenbund, die die Universität weltanschaulich pädagogisieren wollten, war er unbeliebt. In einem Aufsatz hatte er die wissenschaftliche Leistung Einsteins positiv erwähnt, der als Jude damals nicht zitierfähig war-, dafür wurde er in einem Brief an Rosenberg als "Gesinnungslump" bezeichnet. In einem Gutachten plädierte er zugunsten der anthroposophischen Pädagogik ("Waldorf-Schulen"), was ihm den Zorn Bormanns ein-

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brachte. Bei allem Gerede von "Gemeinschaft" blieb sein Denken individualistisch. Die sozialen Dimensionen der menschlichen Existenz - das Hauptthema Kriecks - interessierten ihn kaum bzw. nur im Hinblick auf die irrationalen Aspekte des Symbolischen.

Während Krieck sich immerhin bemühte, "Gemeinschaft" in einem völkischen Sinne zu präzisieren, blieb dieser Begriff bei Baeumler kaum mehr als eine Phrase. Das wird besonders deutlich in dem erwähnten Aufsatz über den "Totalen Krieg", wo die "totale Gemeinschaft" zu wenig mehr taugt als zur Denunziation der "Meckerer".

Andererseits drängt sich wie auch bei Krieck der Eindruck auf, Baeumler habe den Spielraum der NS-Weltanschauung nutzen wollen, um seine eigenen Vorstellungen nicht nur zum Ausdruck, sondern auch zur offiziellen Anerkennung zu bringen. So ließen sich etwa einige der im engeren Sinne pädagogischen Beiträge verstehen wie der Umgang mit den Begriffen "Rasse" und "Bildung". Aber anders als Krieck hat Baeumler keine Kontroversen innerhalb des NS-Regimes angezettelt, so daß nicht festzustellen ist, welche seiner Vorstellungen er nicht hat realisieren können. Abgesehen davon verdienen folgende Aspekte seiner Argumentation eine genauere Erörterung.

Symbol und Aufklärung

Baeumler war beeindruckt von der symbolischen Repräsentanz, die die NS-Bewegung inszenierte und die ihr einen steigenden Zulauf einbrachte. Er versuchte, sich dieses Phänomen zu erklären und hielt es für eine noch nicht in Worte zu fassende Vorwegnahme einer zukunftsträchtigen völkisch-nationalen Ganzheit. Deuten wollte er diese Symbolik -so hatte er versprochen - so, daß die richtigen Worte und Erklärungen gefunden werden konnten, damit daraus eine neue nationale Kultur erwachse. Es müsse doch gewichtige Gründe dafür geben, daß sich um diese Symbole freiwillig eine Volksbewegung sammele.

In der Tat hat Baeumler damit ein Thema aufgegriffen, dessen Bedeutung durchaus allgemein ist und über das Beispiel der NS-Bewegung hinausreicht.

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Symbole vermögen offenbar, Menschen aneinander zu binden. Auch nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen gibt es ein tiefes menschliches Bedürfnis, sich in einem vorrationalen Sinne eins zu fühlen und zu erleben mit einer menschlichen Ganzheit. Die Rituale der Kirchen haben offensichtlich eine solche Funktion, wie jeder Gläubige bestätigen wird. Aber es gibt auch weltliche Beispiele in Fülle, wenn man etwa an die Rolle des englischen Königshauses als symbolischer Repräsentanz der ganzen Nation oder an die militaristische Symbolik des früheren Preußen denkt. Symbole spielen auch beim Film und bei der Werbung eine bedeutende Rolle. Symbole können tabuisiert werden: so ist es verboten, ehemalige Nazi-Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen. Um sich zu einem Symbol zu bekennen, bedarf es keiner besonderen Verheißung oder einer besonderen "Reife": Groß und Klein, Alt und Jung, Mann und Frau, Gebildete und weniger Gebildete sind dafür ansprechbar. Es würde sich also lohnen, diesem Bedürfnis nach emotional fundiertem vorrationalem Einssein bzw. Einswerden und seinen Formen der Befriedigung in unserem Alltag einmal nachzugehen, und vielleicht würde sich herausstellen, daß unsere Gesellschaft zumal nach der Zerschlagung des deutschen Nationalbewußtseins in diesem Punkte einen vielleicht sogar gefährlichen Mangel aufweist.

Symbole sind oft keineswegs nur relativ äußerliche soziale Signale, wie etwa die Vereinsfahnen auf Fußballplätzen. Nationale Symbole, z.B. National-Flaggen, repräsentieren ein ganzes Volk und werden auch von Außenstehenden respektiert und geachtet.

Andererseits kann man durch Verachtung oder Vernichtung von Symbolen auch Feindschaft signalisieren. So werden bei Demonstrationen gelegentlich gegnerische Symbole verbrannt. Möglicherweise hat Baeumler die "Bücherverbrennung" 1933 auch als eine symbolische Handlung verstanden, aus der reale Handlungen z.B. gegen die Autoren nicht unbedingt folgen müssen, und ohne den kriminellen Gesamtkontext des NS-Regimes wäre die Bücherverbrennung uns heute vielleicht nur als eine politische Albernheit erschienen.

Die sozio-emotionale Bindung an Symbole kann also von erheblicher politischer Bedeutung sein, und das zeigte sich

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im negativen Sinne deutlich in der Weimarer Zeit. Es gelang der Republik nicht, sich symbolisch in den Menschen festzusetzen, im Gegenteil, das Bedürfnis danach verlagerte sich auf Teilgruppen der Gesellschaft, nicht zuletzt auf politische Parteien und Verbände, so daß die innere Auseinandersetzung am Ende der Republik auch zu einem Bürgerkrieg der Symbole wurde (Rote Fahne gegen Hakenkreuzfahne).

Auf diesem Hintergrund wird verständlich, daß konservative Intellektuelle wie Baeumler fasziniert waren von der scheinbar unaufhaltsamen Hitler-Bewegung mit ihrer augenscheinlich so kraftvollen symbolischen Repräsentanz.

Politisch gesehen war jedoch Baeumlers Rechtfertigung der Hitler-Bewegung von ihren Symbolen her, die er schon in seiner Antrittsvorlesung vortrug, ein verhängnisvoller Irrtum. Zum einen erhob er damit die von Goebbels und anderen zynisch inszenierten Massenrituale in den Rang einer philosophischen Legitimation. Zum anderen rechtfertigte er damit nicht nur politischen Irrationalismus, sondern erklärte ihn auch noch für unvermeidlich. So konnten sich die Machthaber einer rationalen Begründung ihres Handelns wie selbstverständlich entziehen. Baeumler hatte zwar in seiner Antrittsvorlesung seine Aufgabe u.a. darin gesehen, durch das Wort die Symbole zu erklären und damit auch aufzuklären, aber davon war später nicht mehr die Rede. So nahm sich Baeumler selbst - wie auch seinen Lesern und Hörern -jede Möglichkeit zu einer wenn auch nur innerparteilichen Kritik, wie sie ja bis zu einem gewissen Grade - wie Krieck gezeigt hatte - durchaus möglich war. Er konnte z.B nicht mehr die Grenze zwischen gläubiger Anteilnahme und skrupelloser Instrumentalisierung erkennen, geschweige denn über sie aufklären.

Dieser politische Irrtum darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß Baeumler mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Symbole eine damals wie heute vernachlässigte Seite der menschlichen Existenz ansprach, ein Bedürfnis, das gefährlich werden kann, wenn es zur politischen Gewalt wird; fraglich bleibt nämlich, ob man Symbole, die Menschen etwas bedeuten, wirklich aufklären kann, ohne daß sie dabei ihre eigentümliche Kraft verlieren. Vielleicht sind sie gerade wegen ihrer dumpfen Unaufgeklärtheit wirksam.

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Handeln und Werte

Baeumlers anthropologische These war, daß der Mensch ursprünglich ein handelndes Wesen sei und daß sein Handeln nicht durch einen Wert gedeckt werde, nicht der Realisierung von Werten diene, sondern gleichsam einen Schuß ins Blaue darstelle. Diese These formulierte er gegen den Typus des "theoretischen" Menschen, der sich einbilde, außerhalb des Geschehens zu stehen, der sich ab und zu in das Getümmel der Wirklichkeit begebe, um darin wertgebunden einzugreifen, und sich anschließend wieder auf seine Beobachterposition außerhalb der schnöden Realität zurückziehe.

Baeumlers Kritik richtete sich also auf einen bestimmten Begriff der "Werte" In der sogenannten "Wertphilosophie" war es üblich, nach zeitlosen, immer gültigen Werten z.B. des "Guten", "Schönen" oder "Wahren" zu fragen, die Ergebnisse dann der Pädagogik zu offerieren mit der Erwartung, daß diese sie dann zum Maßstab der Erziehung machen werde.

Die "Werte" wurden in diesem Verständnis als über der empirischen Wirklichkeit angesiedelte ideelle Mächte angesehen, die für das Denken und Handeln des Menschen normative Gültigkeit haben, an die er emotional gebunden sei bzw. durch Erziehung gebunden werden müsse. Diesem abstrakten Wertbegriff, der bar jeder sozialen Differenzierung und historischen Relativierung präsentiert wurde, war Baeumlers Kritik durchaus angemessen.

Normalerweise aber wollen wir, wenn wir handeln, durchaus Werte realisieren, - welche immer das sein mögen. Unser Handeln - soll das heißen - beruht, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewußt sind, auf einer normativen Fundierung, die einerseits seiner Begründung, andererseits seiner Rechtfertigung dient; ohne eine solche Fundierung könnten wir über die Ziele unseres Handelns nicht mit anderen diskutieren und sie dafür zu gewinnen versuchen. Das ist vielmehr nur möglich, weil die dem Handeln zugrundeliegenden Werte eine kollektive Dimension haben, so daß andere sie ebenfalls akzeptieren können. Diesen Zusammenhang von Handeln und Wert kann man nur leugnen, wenn der Begriff des Wertes abstrakt gefaßt wird, also losgelöst von den tatsächlichen sozialen Interaktionen.

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Richtig ist allerdings, daß jedem sozialen Handeln - und darum geht es ja hier im Unterschied zum technischen Handeln - ein mehr oder weniger großes Moment der Unsicherheit im Hinblick auf das Resultat innewohnt. Das gilt von der Liebe bis zur Politik. Soziales Handeln mobilisiert nämlich das Handeln anderer, die mit- oder gegenhandeln können. Diese Unsicherheit wird aber andererseits auch begrenzt, und zwar nicht nur durch die Regeln und Erwartungen der Gemeinschaften - wie Krieck meinte -, sondern vor allem auch durch Institutionen, die in Baeumlers Denken ebenso wenig einen Platz fanden wie bei Krieck.

Wenn wir handeln, wollen wir also im allgemeinen etwas verwirklichen, was wir für wertvoll halten. Eine andere Frage ist allerdings, in welchem Maße uns das auch gelingt. Weil wir dabei das Handeln anderer mobilisieren, kann es sein, daß wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir ursprünglich wollten; oder wir verlieren im Spiel von Handeln und Gegenhandeln unser eigentliches Ziel aus den Augen; oder wir können nur Teilerfolge erringen. Die Politik liefert uns täglich derartige Beispiele. Insofern gibt es tatsächlich keine Garantie dafür, daß das Ergebnis unseres Handelns am Ende durch den Wert gedeckt ist, dem wir ursprünglich folgen wollten.

Zur Ehrenrettung der von Baeumler so spöttisch attackierten "Gebildeten" muß jedoch auch gesagt werden: So weltfremd ihr politisches und soziales Bewußtsein auch gewesen sein mag, so konnte es doch auch eine normativ fundierte Distanz zum Aktivismus der Nazi-Bewegung begründen, und die "Werte", um die sich ihre Bildung gruppierte, waren für nicht wenige Menschen ein normatives Potential, aus dem sie wenn nicht Widerstand, so doch eine Art von innerem Vorbehalt gewinnen konnten.

Mit seinem Handlungsbegriff erklärte Baeumler also keineswegs das normale bürgerliche, auch politische Handeln im Rahmen von Institutionen und allgemeinen oder besonderen sozialen Erwartungen. Vielmehr lieferte er eine politische Rechtfertigung für die Eigentümlichkeiten des politischen Handelns der Nazis -jedenfalls ihrer höheren Führer; denn die schalteten nicht nur die Kontroll-Institutionen wie Parlament und unabhängige Rechtsprechung aus, sie überlagerten auch alle anderen Institutionen durch Parteikompetenzen und unterhöhlten somit deren handlungsori-

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entierende Funktion. Auf diese Weise entstand ein Kampffeld für rivalisierende Führer, das letztlich nur noch eine Begrenzung kannte: ob Hitler es erlaubte oder nicht.

Für "normales" bürgerliches Handeln, also auch für politisches Handeln, gilt jedenfalls in den westlichen Demokratien, daß versucht wird, die Folgen möglichst vorauszusehen, zu antizipieren. Das hängt damit zusammen, daß in modernen Demokratien das Wohl der Bürger und gerade auch die von Baeumler so verhöhnte wirtschaftliche Sekurität und Prosperität ein zentraler Wert dieses Handelns sind. Wie schon Hitler, so orientierte sich auch Baeumler mit seinem Handlungsbegriff an Ausnahmesituationen, die es auch in der gegenwärtigen Politik geben kann. Ein gutes Beispiel ist der Beitritt der DDR zur alten BRD; das war tatsächlich ein in seinen Folgen schwer zu kalkulierendes "Wagnis" mit noch ungewissem Ausgang. Aber auch in diesem Falle ging es ganz offensichtlich um die Realisierung von Werten. Baeumlers Begriff des politischen Handelns war orientiert am Beispiel des letztlich einsam entscheidenden Führers, der dabei keiner parlamentarischen oder sonstigen Kontrolle unterliegt, der nur durch massives Gegenhandeln zu stoppen ist - so wie man sich das bei einem germanischen Heerführer vorstellen mag. In einem funktionierenden parlamentarischen System sind dem politischen Handeln jedoch vielfache institutionell-rechtliche Grenzen gesetzt. Wenn allerdings solche Regeln nicht mehr funktionieren, wie am Ende der Weimarer Zeit, und insofern eine revolutionäre Situation entsteht, wird der politische Handlungshorizont offen und Macht steht gegen Macht. Dennoch bleibt eine Handlungstheorie, die von solchen Grenzssituationen ihren Ausgang nimmt, für den Normalfall unrealistisch.

Auch damals hatten lediglich Hitler und schon sehr viel weniger die anderen Parteigrößen einen solchen institutionell entgrenzten Handlungsspielraum zur Verfügung; die "Normalbürger", die ihrer Arbeit nachgingen, wären in erhebliche Schwierigkeiten geraten, wenn sie sich diese Handlungstheorie ebenfalls zu eigen gemacht hätten. Dann hätten sie etwa den nach ganz anderen Handlungsregeln organisierten Industriebetrieb ins Chaos gestürzt. Zweifellos hat Baeumler mit seiner Handlungstheorie zunächst einmal das "Ausnahme-Handeln" der Naziführer - vor allem Hitlers - gerechtfertigt - ob das nun Absicht war oder nicht.

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Ein anderer Aspekt dieser Handlungstheorie ist nicht minder problematisch. Baeumler wies zu Recht darauf hin, daß menschliches Handeln irrationale Elemente enthalte, nicht voll der Vernunft unterworfen sei. Der Mensch denke nicht irgendetwas sorgfältig zu Ende, um dann dementsprechend zu handeln, vielmehr spielten dabei Spontaneität und Emotionalität eine große Rolle.

Das ist im Prinzip richtig. Gleichwohl ist diese Einsicht einseitig, weil nicht die Verantwortung, sondern nur der Erfolg zum Maßstab des Handelns wird. Wenn es auch zutrifft, daß der Mensch als handelndes, tätiges Wesen nicht nur seiner Vernunft folgt, so gilt andererseits doch auch, daß wir nur durch den Einsatz unserer Vernunft, durch Denken und Nachdenken unser Handeln zu steuern und vor allem in moralischen und rechtlichen Grenzen zu halten vermögen. Sonst ist blinder Aktionismus das Ergebnis, und in Baeumlers Begriff des "Einsatzes", bei dem nicht viel nach Sinn, Zweck und Ziel gefragt wird, kommt eine solche Tendenz auch zum Ausdruck.

Im Blick steht nur die "Richtung" des Handelns, nicht ein bestimmtes Ziel. Insofern kommt Baeumler Krieck wieder nahe: Baeumler erwartete die Festlegung der Handlungsziele von der politischen Führung, Krieck vom Fortschreiten der völkischen Revolution.

Gleichwohl soll nicht verkannt werden, daß Baeumler mit seinem anthropologischen Handlungsansatz - der Mensch sei ein ursprünglich handelndes Wesen - der Pädagogik neue, realistische Perspektiven eröffnet hat, die er allerdings selbst nicht weiter verfolgte. Nötig wäre etwa gewesen, diesen Ansatz zu differenzieren im Hinblick auf die jeweiligen sozialen Orte - Schule, Jugendarbeit, Betrieb usw. -, wobei die Schule sich im besonderen Maße angeboten hätte, weil Baeumler über sie und über die Stellung der Lehrer mehrmals geschrieben hat. So wie Krieck versäumt hat, an seinem soziologischen Ansatz weiterzuarbeiten, so verfolgte auch Baeumler das handlungsorientierte Konzept nicht weiter. Ein Grund dafür mag sein, daß er nicht über angemessen differenzierte Vorstellungen über Institutionen und über soziale Strukturen verfügte, was wiederum daraus resultierte, daß er sich auf die Tatsache der modernen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung gar nicht erst einließ, weil er diese ja für

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ein Produkt "westlicher Zivilisation" und insofern für "undeutsch" hielt. Gelungene Sozialität konnte er sich nur als unmittelbar personales System vorstellen, wie es im Führer-Gefolgschafts-Modell und im Verbande der "Mannschaft" seinen Ausdruck finden sollte. Daß in modernen Gesellschaften die Menschen in erster Linie Funktions- und Rollenträger sind, also im guten Sinne des Wortes Funktionäre", wollte er nicht einsehen.

Das hatte Folgen für die Verantwortung des Handelns. Soziales Handeln muß vor anderen gerechtfertigt werden können, und dafür muß es Maßstäbe, Regeln und Verfahrensweisen geben, wie sie etwa im parlamentarischen System vorgesehen sind. "Verantwortung" ist in Baeumlers Konzept nicht vorgesehen, weil sie gar keinen institutionellen Ort hätte. Die Verantwortung übernimmt der Führer, dem unterstellt wird, daß er seine "Treuepflicht" gegenüber den Geführten wahrnimmt - was Hitler zur späteren Überraschung Baeumlers eben nicht getan hat.

In den Notizen aus der Internierungszeit gesteht Baeumler diesen "Irrtum" ein:

"Ich habe das Geld als die verächtlichste Form der Macht angesehen. Das ist abstrakt. Ich habe den Personalismus in seiner idealen Gestalt gegen die Geldherrschaft in ihrer schlimmsten Gestalt gesetzt. Aber die personale Herrschaft hat Möglichkeiten des Absinkens, die noch grauenhafter sind als die der Geldherrschaft" (1991, 194).

Pädagogik für Mitläufer

Baeumler war nach Berlin geholt worden, um unter anderem "politische Pädagogik" zu lehren. Darunter verstand er etwas ganz anderes, als wir heute unter "politischer Erziehung" oder "politischer Bildung" verstehen; heute meinen wir damit das Erlernen solcher Kenntnisse und Fähigkeiten, die den Bürger instand setzen, seine politischen Teilhabemöglichkeiten auch optimal nutzen zu können.

Dies meinte Baeumler nicht, auch nicht in dem für ihn naheliegenden Sinne, daß die Menschen nun für die Nazi-Bewegung zu indoktrinieren seien. Vielmehr meinte er damit die anthropologische Umorientierung der Pädagogik vom an

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Idealen orientierten, kontemplativen Menschen zum handelnden, politisch tätigen Menschen, wobei er unverhüllt, wie wir sahen, zum "Einsatz" für die Hitlerbewegung aufforderte, nur dies als politisches Handeln gelten ließ. Weitere Präzisierungen etwa im Hinblick auf die Bedeutung von Institutionen, oder auf unterschiedliche soziale Handlungsformen, Mittel und Ziele, auf Machterwerb und Machtkontrolle, auf Rechtsfragen usw. haben ihn nicht interessiert, so daß alles eigentlich darauf hinauslief, die politische Führung fraglos anzuerkennen und im übrigen an seinem jeweiligen Platz in der Volksgemeinschaft nicht nur den individuellen Nutzen anzustreben, sondern sich immer auch als Glied der Gemeinschaft zu verstehen. So total sein Handlungsbegriff auch gemeint war - Handeln sei immer ein Wagnis und nicht durch Werte gedeckt -, so führte er doch nur zum Typus des entpolitisierten Mitläufers.

Weil Baeumler die gesellschaftliche Arbeitsteilung für einen Verfall hielt, konnte er seine Handlungstheorie und damit das Politische auch nicht weiter differenzieren, denn diese gesellschaftliche Ausdifferenzierung der öffentlichen Handlungsorte setzt dem menschlichen Handeln Chancen und Grenzen: in der Politik, der Rechtsprechung, der Verwaltung oder auch der Erziehung. Wenn der Begriff des Politischen einen Sinn ergeben soll, dann hätten solche Unterschiede geklärt oder zumindest fraglich gemacht werden müssen.

Baeumler ließ jedoch nicht nur die institutionellen und sozialen Randbedingungen des Handelns außer Acht, sondern auch die menschlichen Motive. Handeln erscheint bei ihm wie eine Art von irrationalem Trieb oder Antrieb. Aber warum handeln die Menschen so, wie sie es tun, welche Ziele verfolgen sie dabei?

Ein solches Motiv wollte er ausdrücklich nicht gelten lassen: das materielle Interesse, den Wunsch nach Wohlstand, nach einem guten Leben. Das gehörte für ihn zur weiblich-urbanen Kultur und galt deshalb als "undeutsch", als "nicht heroisch". Hier zeigt sich, daß die Handlungstheorie so realistisch gar nicht war, weil sie fundamentale Bedürfnisse zumindest des modernen Menschen ignorierte. Als ob die meisten Menschen Hitler wegen des symbolischen Mummenschanzes gefolgt wären, und nicht, weil er Arbeit und Brot und da-

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mit die Aussicht auf ein halbwegs befriedigendes materielles Leben versprochen hatte!

Bildung als Individualisierung

Weder eine "politische" noch eine nationalsozialistische Pädagogik hat Baeumler vorgelegt. Als er 1933 seinen Lehrauftrag in Berlin übernahm, war das Feld der Erziehung von Krieck bereits besetzt, und zu pädagogischen Fragen hatte er sich bis dahin nicht geäußert. Ins "Amt Rosenberg" ging er mit dem Vorsatz, eine "Deutsche Geschichte" zu schreiben. Als er dann über pädagogische Fragen schrieb, behandelte er Einzelprobleme, ohne damit auf eine systematische "nationalsozialistische" Erziehungswissenschaft zuzusteuern. Es geht dabei vor allem um die Begriffe "Bildbarkeit" , "Bildung" und "Allgemeinbildung" als Aufgabe der Schule.

a) Das Problem der "Bildbarkeit" des Menschen ist ein Grundproblem der Erziehungswissenschaft. Nur insofern und insoweit ein Mensch "bildbar" ist, können entsprechende pädagogische Maßnahmen - wie der Schulunterricht - auch eine Erfolgschance haben. Jede Pädagogik muß also ein Mindestmaß an "Bildbarkeit" des Menschen unterstellen, das gilt sogar für die Sonderpädagogik, die es zum Beispiel mit geistig behinderten Menschen zu tun hat.

Wovon hängt die Bildbarkeit eines Menschen ab, wodurch wird sie bestimmt? Im wesentlichen von drei Faktoren - sagen wir heute: Von der erblichen Ausstattung, von den darauf gerichteten Umwelteinflüssen - zu denen auch Maßnahmen der Erziehung und Bildung gehören - und von der Tätigkeit des Menschen, also von dem, was er aus den gegebenen Bedingungen durch Handeln zum Vorschein bringt.

Dieser modernen Auffassung kam Baeumler recht nahe. Allerdings hatte er die genetische Ausstattung stärker im Blick als die Umwelteinflüsse, aber er machte klar, daß die genetisch vorgegebenen Möglichkeiten sich nicht von selbst realisieren, sondern durch Erziehung und Bildung herausgefordert werden müssen. "Rasse" war dabei für ihn so etwas wie eine kollektive genetische Grundsubstanz, die allen Mitgliedern einer Rasse zu eigen sei. Das trifft nicht zu, aber in dieser Form war der "Rassismus" der Nazis einigermaßen ent-

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schärft, denn ob nun im Einzelfall das erkennbare körperliche und geistige Erscheinungsbild auf rassische oder auf irgendwelche anderen genetischen Vorgaben zurückgeht, ist für die pädagogische Praxis unerheblich. Gefährlicher wirkte sich allerdings der Umkehrschluß aus: Im Umgang mit den sogenannten "Asozialen" oder den schwer geistig Behinderten zogen vor allem Mediziner von den äußerlich erkennbaren Merkmalen unbewiesene Rückschlüsse auf genetische Defekte, so daß solche Menschen in großer Zahl sterilisiert oder gar ermordet wurden.

Baeumlers Betonung der genetischen Ausstattung richtete sich gegen den vor 1933 vor allem in der Reformpädagogik herrschenden Erziehungsoptimismus, der der Umwelt und damit auch der Erziehung einen Vorrang bei der Entwicklung der Persönlichkeit einräumte. Über das Verhältnis dieser beiden Faktoren zueinander gibt es eine bis heute dauernde Diskussion unter den Fachleuten. Vermutlich wird die moderne Genforschung hier größere Klarheit bringen können. Aber verständlicherweise neigen Pädagogen eher dazu, den Umwelteinflüssen ein größeres Gewicht zu geben, weil das Ansehen ihres Berufes um so bedeutender ist, je mehr er angeblich zu bewirken vermag.

b) Auch dem Tätigsein der Kinder maß Baeumler eine eigenständige Bedeutung zu. Das wird an seinem subjektorientierten Bildungsbegriff erkennbar. Während nach der bildungsbürgerlichen Tradition unter "Bildung" der "Besitz" eines bestimmten Kanons von "Bildungsgütern" wie Griechisch, Latein, klassische Literatur verstanden wurde, bezog Baeumler den Bildungsbegriff auf das lernende, sich bildende Subjekt. Diese Wendung kommt besonders zum Ausdruck in dem Aufsatz "Jugenddienstpflicht, Hitler-Jugend und Schule" (Weltanschauung und Schule, 1943). Thema ist hier die Abgrenzung der Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Hitlerjugend. Aufgabe der Schule sei der Unterricht, der mittelbar immer auch erziehe, und zwar im Durchgang durch die Sachzusammenhänge. Dabei sei der "Selbstbildung des Schülers" hohe Bedeutung zu schenken. Der Lehrer "muß die Masse als Einheit zu beherrschen verstehen, und darf doch keinen Augenblick seine Hauptaufgabe vergessen, die darin besteht, jeden einzelnen Schüler anzusprechen, nach seiner Individualität zu behandeln, in seiner Entwicklung zu fördern, und, wo es notwendig ist, zu strafen.

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Dogmatischer Unterricht kann sich an ein Kollektiv wenden; lebendiger Unterricht führt nur über die Individualität, denn er ist nichts anderes als Erweckung und Lenkung der Selbständigkeit des Einzelnen" (161).

Die Form der schulischen Betätigung sei "Arbeit", die der HJ "Dienst", die Schule wirke "mittelbar" erzieherisch, die HJ "unmittelbar"; die pädagogischen Ergebnisse der Schule lägen wesentlich in der Zukunft, die Formationserziehung der HJ sei "gegenwartsorientiert".

Aus den unterschiedlichen Funktionen folge auch eine unterschiedliche Form von "Kameradschaft".

"Die Kameradschaft zwischen Lehrer und Schüler, sowie der Schüler als Schüler untereinander, ergibt sich aus der gemeinsamen Verpflichtung zu konkreten, genau umschriebenen und in begrenzten Zeiteinheiten zu erfüllenden Leistungen" (160).

In dieser "Leistungskameradschaft" habe der Lehrer eine bestimmte Funktion:

,Er ist Kamerad - aber er steht doch zugleich in seiner Funktion als Lehrer den Schülern in einer gewissen Ferne gegenüber. Er ist nicht nur der Ältere, er ist auch der, der das schon ,kann', was verlangt wird; er hat das Pensum bereits hinter sich" (161).

Baeumler verlagerte also den Bildungsbegriff und damit die Aufgabe der Schule auf die subjektive Seite, die Individualisierung des Schülers betonend.

Der traditionelle Bildungsbegriff war dagegen bezogen auf einen inhaltlichen Kanon und insofern auf eigentümliche Weise sachlich begrenzt. Er schloß zum Beispiel die Naturwissenschaften im Prinzip aus, d.h. diese wurden nur insofern berücksichtigt, als sie sich - z.B. in ethischer Hinsicht - den humanistischen Werten unterordneten. Die Frage war also nicht, welche wichtigen Ergebnisse die Naturwissenschaften vorzuweisen hatten und auf welchen methodischen Wegen sie dazu gekommen waren, und schon gar nicht, was man mit diesen Erkenntnissen technisch z.B. im Rahmen der modernen Industrie bewirken könne; gefragt wurde vielmehr nach dem "Bildungswert" dieser neuen Wissenschaften und die Maßstäbe dafür wurden von außen, aus dem

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Blickwinkel der einschlägigen Geisteswissenschaften, an die Naturwissenschaften herangetragen. Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hat die besten philosophischen Köpfe der Zeit bewegt, und es war allgemein klargeworden, daß die Unterordnung der Natur- unter die Geisteswissenschaften nicht länger haltbar war. Kriecks Versuch einer Kombination beider Wissenschaftsformen in seiner "Völkisch-politischen Anthropologie" gehört in diesen Zusammenhang.

Wegen des stürmischen Vormarsches der Naturwissenschaften war der am humanistischen Kanon orientierte Bildungsbegriff längst brüchig geworden; äußerer Ausdruck dafür war die 1900 erfolgte Einrichtung des naturwissenschaftlichen Gymnasiums (Realgymnasium) als neben dem humanistischen Gymnasium gleichberechtigte Form der höheren Schule. Je brüchiger der Bildungskanon wurde, um so deutlicher wurde sein sozial-separativer Charakter: die nach dem alten Kanon "Gebildeten" verstanden sich als geistige Elite. Und die spöttische Kritik Baeumlers wie auch Kriecks an dem Typus des so "Gebildeten" hatte durchaus eine gewisse Berechtigung.

Baeumler glaubte offenbar nicht, auf der objektiven Ebene der Fächer und Stoffe das Problem der Bildung lösen zu können, und deshalb ist seine Wendung zur subjektiven Seite, also zum lernenden Individuum hin, durchaus beachtenswert, weil sie in die Zukunft wies. Kriecks pädagogische Theorie war - wie wir gesehen haben - nicht zuletzt deshalb wenig ergiebig für die Praxis, weil sie die Perspektive des lernenden Individuums gar nicht kannte.

Allerdings hat Baeumler das nun entstandene Problem nicht weiter thematisiert: an was soll der junge Mensch sich denn nun bilden in der Schule, an welchen Stoffen und Fächern, und warum gerade an diesen? Der Unterricht in der Schule ist ja nun einmal auf Stoff- und Lehrpläne angewiesen, und wer sollte diese nun nach welchen Maßstäben festsetzen?

Die gesellschaftliche Bedeutung des alten Bildungskanons bestand darin, daß die Kultur- und Wirtschaftselite Deutschlands über eine annähernd gleiche Allgemeinbildung verfügte. Es war keineswegs so, daß die Naturwissenschaftler per se sich bzw. ihre Kinder vom humanistischen Gymna-

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sium fernhielten. Im Gegenteil gaben noch nach dem Zweiten Weltkrieg viele diesem Gymnasium für ihre Kinder den Vorzug - oft mit der vordergründigen Erklärung, dort sei die Allgemeinbildung besser aufgehoben als bei anderen Gymnasien, und je besser diese Allgemeinbildung sei, um so besser gelinge später z.B. an der Technischen Universität dann die berufliche Spezialisierung. Es ging dabei jedoch um mehr, nämlich um eine gemeinsame Bildungsgrundlage für die beruflich unterschiedlich plazierten Eliten. Sie kannten alle "ihren" Cicero, Cäsar, Platon, Goethe und Schiller einschließlich der zu jeder Lebenslage passenden Sinnsprüche, und das gab das Gefühl einer bei aller sonstigen beruflichen, religiösen und politischen Verschiedenheit grundlegenden kulturellen Gemeinsamkeit.

Mit der Wendung auf die Subjektivität des Bildungsvorgangs zerbrach diese gemeinsame geistige Fundierung unserer Führungsschichten, und die Folge sind jene Individualisierungs-Prozesse, wie wir sie vom gegenwärtigen Gymnasium her kennen, in deren Oberstufe z.B. Fächer mit einem gewissen Spielraum von den Schülern gewählt werden können. Diese Konsequenz der Individualisierung hat Baeumler zweifellos nicht vorausgesehen.

c) Gegen den Expansionsdrang der HJ, die ihre Erziehungsvorstellungen in die Schule hineintragen wollte, und gegen einen vordergründigen Praktizismus aus Kreisen der Industrie, die an einer frühen qualifizierten beruflichen Spezialisierung interessiert waren, weil Ende der 30er Jahre Mangel an Facharbeitern herrschte, verteidigte Baeumler den schulischen Auftrag der Allgemeinbildung. Damit stellte er sich in eine lange schulpädagogische Tradition. Erst müsse der Mensch seine allgemeinen Fähigkeiten entwickeln und allgemeine Kenntnisse erwerben, danach sei eine berufliche Spezialisierung angebracht - so hatte Wilhelm von Humboldt es sinngemäß formuliert.

Diese Idee der Allgemeinbildung ist eine wichtige Voraussetzung für die Demokratisierung des Bildungswesens, aber auch für berufliche Mobilität; denn nur eine allgemeine, möglichst für alle Kinder geltende schulische Grundbildung ermöglicht sozialen Aufstieg durch persönliche Leistung, die frühe Fixierung auf eine bestimmte berufliche Tätigkeit dagegen würde die Möglichkeiten der Berufswahl frühzeitig

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verkürzen und Berufswechsel - im horizontalen wie vertikalen Sinne - erheblich erschweren.

Diese demokratische Implikation des Bildungsbegriffs widersprach der NS-Ideologie nicht unbedingt; denn mit der Feindschaft gegen den Parlamentarismus konnte sie durchaus ein gewisses Maß an "sozialer Demokratisierung" vereinbaren, also Begabten Chancen des sozialen Aufstiegs zu ermöglichen und die herkömmlichen Führungseliten sozial zu öffnen.

Ansätze einer pluralistischen Erziehung

Baeumlers Trennung der Erziehungsfunktionen, wie er sie im eben genannten Aufsatz präsentierte, war für die damalige Zeit ungewöhnlich und in die Zukunft weisend. Die herrschende pädagogische Meinung vor 1933 war, daß alle Erziehungsinstanzen an einem Strick ziehen müßten, und in Herman Nohls berühmtem "Pädagogischen Bezug", der die Beziehung des Erziehers zum Zögling beschreibt, wird im Grunde das familiäre Beziehungsmodell auf die pädagogischen Berufe ausgedehnt. Baeumler stellt dagegen fest:

"Die Klasse ist keine Familie, sondern eine Arbeitskameradschaft, und der Lehrer ist weder ein Vater noch ein Führer, sondern eben Lehrer, d.h. Erzieher im Medium des Unterrichts. Man nützt dem ganzen nicht, sondern schadet ihm nur, wenn man das Spezifische des Lehrerseins aufhebt, und durch den Ehrennamen des Klassen-Vaters oder der Klassen-Mutter die Seins-Sphären verwischt und die Würde der Funktionen aufhebt" (160).

Damit hatte Baeumler angesprochen, was wir heute "pluralistische Erziehung" bzw. "pluralistische Sozialisation" nennen. Unsere Kinder wachsen auf in Familie, Kindergarten, Schule, unter Gleichaltrigen, unter dem Einfluß der Massenmedien, und die Wirkungen dieser Faktoren sind widersprüchlich, sie ziehen eben nicht an einem Strang. Die Folge davon ist, daß "Erziehung" kein einheitliches Geschehen mehr ist, das von einem Ort - Familie oder Schule - im ganzen zu steuern wäre; vielmehr lebt das Kind unter unterschiedlichen, widersprüchlichen Erwartungen, zwischen denen es balancieren muß.

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Indem Baeumler nun die Erziehungsfunktionen von Familie, Schule und Jugendverband strikt voneinander unterschied mit der zutreffenden Begründung, sie seien nicht auseinander ableitbar, machte er den Weg frei für eine pluralistische Betrachtung des Erziehungsprozesses. Zwar ging er davon aus, daß alle drei Instanzen im Rahmen der NS-Ideologie und insoweit in einem einheitlichen Sinne wirken würden. Aber wie sollte das geschehen und welche Instanz sollte dafür Sorge tragen? Wir werden sehen, daß Schirach in diesem Punkte eine entgegengesetzte Position vertrat, er wollte nämlich die "Einheit der Erziehung" unter Zugrundelegung der Erziehungsprinzipien der HJ auch in der Schule realisieren.

Baeumler hat jedoch die Konsequenzen seines pluralistischen Ansatzes nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Dabei war schon in den Friedensjahren zu bemerken, wie gegensätzlich die Erziehungsabsichten und die Erziehungswirkungen der HJ und der Schule waren, und Baeumler hat diesen Widerspruch auch deutlich gesehen. Aber er hat ihn zwar beschrieben, aber doch auch ideologisch zu harmonisieren versucht.

Baeumlers Äußerungen zu pädagogischen Fragen sind also prinzipieller Natur - wie es für einen systematisch denkenden Philosophen naheliegt, aber um die daraus resultierenden pädagogischen Konsequenzen im einzelnen hat er sich nicht weiter gekümmert. Dies zeigt, daß er den pädagogischen Auftrag, den er mit seiner Berliner Professur übernommen hatte, nicht sonderlich ernstnahm.

Baeumlers und Kriecks Positionen und grundlegende Argumentationen sind nur zu verstehen auf dem Hintergrund ihrer Kritik am damals herrschenden Erziehungs- und Bildungsverständnis. Sie sahen die Hitler-Bewegung auch als eine kulturelle Revolution, die Erziehung und Bildung einschließen müsse.

Gründe für eine solche Kritik gab es genug. Der Enthusiasmus der Reformpädagogik war einer Ernüchterung gewichen. Der Versuch", vom Kinde aus", also unter Berücksichtigung seiner Interessen und Bedürfnisse die Schule zu organisieren, hatte vielfach dazu geführt, die Objektivität der Welt, also die "Sachen" nicht mehr ernst zu nehmen. Lernen, so stellte sich heraus, war nur bis zu einem gewissen Grade

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zu erleichtern, aber ohne Anstrengung führte es nicht weit. Über die "Grenzen der Erziehung" wurde nachgedacht. Dem pädagogischen Denken waren soziale Dimensionen fremd, es sah den Menschen in der Tat abstrakt-individualistisch, als "Werte verwirklichendes Wesen". Auch eine reformpädagogische Erfindung wie die Gruppenarbeit führte nicht zu einer realistischen Einschätzung der außerhalb der Schule geltenden sozialen Differenzierungen in der Gesellschaft. Wie viele Erfindungen der Reformpädagogik war auch die Gruppenarbeit letztlich ein formalistisches Prinzip, sozusagen ein methodischer Trick der Lehrer.

Der Unterricht, vor allem auch auf dem Gymnasium, war rationalistisch ausgerichtet, sprach also die emotionale Seite der Schüler wenig an. Beispielhaft dafür war etwa das philologische "Zerpflücken" der großen Dichtung in alle möglichen Einzelheiten ohne Rücksicht auf den künstlerischen Gesamteindruck, bis Faust oder "Wallenstein" den Schülern zum Halse heraus hingen.

Nur auf diesem Hintergrund lassen sich Kriecks und Baeumlers pädagogische Argumentationen verstehen und trotz aller Kritik, die hier gegen beide vorgebracht wurde, muß auch betont werden, daß sie im Vergleich zur damaligen Erziehungstheorie und Erziehungspraxis so schlecht nicht aussehen. Kriecks soziologischer und Baeumlers anthropologischer Ausgangspunkt hätten durchaus tragfähig für die Zukunft der Erziehungswissenschaft sein können, wenn sie weiter präzisiert worden wären. Tatsächlich etablierte sich nach 1945 aber jene Erziehungswissenschaft wieder, die schon 1933 weitgehend am Ende ihres Lateins war. In Bewegung geriet das pädagogische Denken erst wieder, als Ende der 50er Jahre die Soziologie und ein Jahrzehnt später die Psychoanalyse sich in die Diskussion pädagogischer Probleme einschaltete.

Obwohl Krieck und Baeumler ihre politischen und pädagogischen Vorstellungen als zusammengehörig betrachteten, ist es nützlich, das eine vom anderen zu unterscheiden und auch getrennt zu beurteilen. Ihre politischen Irrtümer teilten sie mit vielen ihrer zeitgenössischen Intellektuellen, die sich ebenfalls in der Tradition des deutschen national-konservativen Denkens bewegten. In diesem vorgegebenen Bewußtseins-Rahmen versuchten sie den politischen Verfall der Re-

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publik und die daraus hervorwachsende Hitlerbewegung zu verstehen, und sie taten dies auf dem Hintergrund ihres geistigen bzw. wissenschaftlichen Repertoires, das ihnen im Laufe ihres Lebens zugewachsen war. So interpretierten sie die Hitlerbewegung nach ihren Wünschen und Hoffnungen - ein Umgang mit der eigenen Gegenwart, der auch heute keineswegs ungewöhnlich ist.

Rückblickend läßt sich - wie Baeumler es tat - sagen, daß ihr Verstand hätte ausreichen müssen, die Zeichen rechtzeitig zu erkennen, die auf Auschwitz und die Kriegsverbrechen hindeuteten. Aber für die planmäßige Inszenierung des Terrors und des Völkermordes gab es in Deutschland keine Tradition, die hätte warnen können. Die politische Kriminalität des NS-Regimes war bis dahin einmalig und so nicht vorauszusehen. Als Propagandisten des Regimes wurden sie dennoch mitschuldig an seinen Untaten, die sie selbst nicht gewollt und auch nicht für möglich gehalten haben.

Bemerkenswert bleibt aber, daß mit Krieck und Baeumler zwei Professoren sich als pädagogische "Chefideologen" in der NS-Zeit etablieren konnten, deren Positionen sich in wichtigen Punkten ausschlossen.

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