Titelbild Hermann Giesecke

Hitlers Pädagogen

Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung
2. Überarb. Aufl. Weinheim: Juventa-Verlag 1999
Teil III: Fazit

Gesamtes Inhaltsverzeichnis


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Zu dieser Edition:

Der Text des Buches, das in 1. Aufl.1993 erschien, wird hier vollständig wiedergegeben. Zum biographischen Hintergrund vgl. meine Autobiographie Mein Leben ist lernen. Das Literaturverzeichnis befindet sich naturgemäß auf dem Stand des Erscheinungsjahres 1999.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert. Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Der Text darf zum persönlichen Gebrauch kopiert und unter Angabe der Quelle im Rahmen wissenschaftlicher und publizistischer Arbeiten wie seine gedruckte Fassung verwendet werden. Die Rechte verbleiben beim Autor.
© Hermann Giesecke

Inhalt


Teil 3: Fazit

6. Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität

7. Fazit II: Kriminelles Arrangement und die Ohnmacht der Erziehung


6. Fazit I: Der Kampf um die verlorene Identität

Zu den bis heute beunruhigenden Aspekten der NS-Herrschaft gehören vor allem zwei Phänomene: Das bis dahin in der modernen deutschen Geschichte beispiellose und insofern nicht leicht voraussehbare Maß an politischer Kriminalität einerseits und die hohe Akzeptanz dieses Regimes in der deutschen Bevölkerung andererseits. Zur Erklärung beider Phänomene gibt es bis heute keine schlüssige, lückenlose Deutung. Möglich sind offenbar nur jeweils begrenzte Erklärungen aus ebenso begrenzten wissenschaftlichen Perspektiven.

Als Pädagoge möchte ich in diesem ersten Fazit eine ebenfalls begrenzte Erklärung versuchen für das Phänomen der Akzeptanz - und zwar mit einem Begriff, der schon mehrfach aufgetaucht war: Identität. Exemplarisch für eine Vielzahl von Menschen, die Hitler gefolgt sind, läßt sich dieses Problem beschreiben an den drei Männern, die in dieser Arbeit auch biographisch ausführlicher vorgestellt wurden: Krieck, Baeumler und Schirach. Was hat sie, die in der NS-Zeit an herausragender Stelle tätig waren und die doch gerade auch in ideologischen Fragen so wenig miteinander gemein hatten, in die Arme der Hitler-Bewegung getrieben?

Vordergründig liegt die Antwort auf der Hand: Schirach war mit 17 Jahren fasziniert von Hitler und folgte ihm wie ein Jünger; Baeumler wollte - wie er später sagte - nicht länger abseits stehen und hielt Hitlers Wahlsieg für eine Volksabstimmung; Krieck war verbittert über seine Erfahrungen in und mit der Republik und hoffte, zusammen mit der Nazi-Bewegung seine völkisch-pädagogischen Vorstellungen realisieren zu können.

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Wenn wir aber etwas genauer hinsehen, zeigt sich, daß solche individuellen Erklärungen nicht ausreichen. Schließlich gab es sehr viele Menschen, die Hitler begeistert gefolgt sind. Dafür hatten sie manche vordergründigen Anlässe, z.B. Hitlers Versprechen, die Arbeitslosigkeit und andere Nöte der Zeit zu beenden. Aber das allein würde höchstens einen Wahlerfolg oder die Bereitschaft zur Gefolgschaft erklären, nicht aber die massenhafte, teilweise rauschhafte Emotionalität. Hitler muß also seine Anhänger in einer tieferen Dimension angesprochen haben. Ich wage dazu folgende These und möchte sie in diesem letzten Kapitel begründen: Die Menschen, die Hitler folgten, waren auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität, und Hitler versprach, sie ihnen zurückzugeben.

"Identität" meine ich nicht im Sinne einer der bekannten Identitätstheorien. Diese sind durchweg psychologischer Herkunft, viel später entstanden und beziehen sich deshalb auf andere historische Situationen. Ich folge hier überhaupt keiner besonderen Theorie, sondern verbleibe im alltagssprachlichen Erfahrungshorizont. Dann stellt sich Identität als ein bedeutsames soziales Phänomen dar, das vom Individuum her gesehen aus der subjektiv befriedigenden Antwort auf einige wenige existentielle Grundfragen resultiert, z.B.: Wer bin ich? Zu wem gehöre ich? Wozu bin ich da? Holt man sich die Antworten daraus aus der NS-Ideologie, dann bekommt deren konfuse, irrationale und widersprüchliche Kontur einen Sinn. Wer bin ich? Ein Deutscher. Zu wem gehöre ich? Zur deutschen Volksgemeinschaft. Wozu bin ich da? Um in dieser Volksgemeinschaft meine Pflicht zu tun. Diese Antworten schließen ein, daß der Betreffende mit einem sozial anerkannten Status in der Volksgemeinschaft rechnen kann.

Sie hätten damals auch anders lauten können: Ich bin ein Kommunist. Ich gehöre zur kommunistischen Internationale. Ich bin dazu da, im Rahmen meines Parteiauftrages an der Weltrevolution mitzuwirken.

Die Nazis waren damals also nicht die einzigen Identitäts-Anbieter, und der wechselseitige Haß von Kommunisten und Nationalsozialisten mag auch darin begründet gewesen sein, daß sie gerade auf diesem Gebiet die schärfsten Konkurrenten waren. Rationale Argumentationen, Versuche zu einer kompromißorientierten Verständigung und Toleranz nicht

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nur zwischen diesen beiden Identitätslagern, sondern allgemein in der politischen Auseinandersetzung der Weimarer Zeit, waren deshalb kaum möglich, weil sie sofort die eigene Identität angegriffen hätten. Der politisch-ideologische Fanatismus der Auseinandersetzungen hatte etwas von psychosozialer Heimatverteidigung an sich, etwa nach dem Motto, daß, wenn die andere Seite recht hat, die eigene soziale Heimat bedroht ist.

Die rapiden sozialen Umwälzungen, die etwa seit 1870 einsetzten, rissen viele Menschen aus ihren sozialen Heimatbeziehungen. Hunderttausende zogen aus den ostelbischen Agrargebieten in die neuen Industriezentren, wo Großstädte entstanden und sich ausdehnten. Im Rahmen der Arbeiterbewegung organisierten die Arbeiter ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Beeinflußt von marxistischen Ideen gab sich diese Bewegung revolutionär, propagierte die Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische. Parallel dazu schuf sich die Wirtschaft mächtige Großverbände und Kartelle. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten fühlten sich von beiden Seiten bedroht. Die kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden gerieten durch Großunternehmen, die kleinen Händler durch die nun entstehenden großen Warenhäuser unter Druck. Der Fortschritt der Produktionstechniken ermöglichte billige Massenware, die kleinere Unternehmer oft in den Konkurs trieb. Vom Bildungsbürgertum, dem sozialen Träger der "Kultur", das in seiner Bedeutung und in seinem Ansehen vom neuen Wirtschaftsbürgertum überrundet wurde, war schon die Rede. Die von ihm repräsentierte, an Klassik und Humanismus orientierte Kultur geriet bis zum Ersten Weltkrieg in einen unübersehbaren Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität, wurde immer mehr zur von der politischen wie wirtschaftlichen Realität abgehobenen Sonntags- und Feiertagskultur. Lokalisiert war diese Kultur vor allem in den humanistischen Gymnasien und in den philosophischen Fakultäten der Universitäten. Die inneren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Widersprüche und Krisen waren derart angewachsen, daß nicht wenige den Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eine Erlösung empfanden, als könne er alle diese Schwierigkeiten wegzaubern.

Im Unterschied zum Bildungsbürgertum, das eine Verbesserung seiner Lage durch Wiederherstellung alter Zustände

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nicht zuletzt von seiner Jugend erwartete, hatte die sozialistische Arbeiterbewegung den Blick optimistisch nach vorne gerichtet; in ihrer Vorgeschichte gab es nichts, wonach zurückzusehnen sich gelohnt hätte. Die SPD fühlte sich nicht nur als eine politische Partei, sondern als eine darüber hinausgehende Teilkultur. Es gab sozialdemokratische Sportvereine, Gesangvereine usw. Die Partei machte ihren Mitgliedern insofern ein Identitätsangebot, bot ihnen eine soziale und kulturelle Heimat an.

Der Krieg hatte jedoch die bürgerliche Identitätskrise nur aufgeschoben, nun wurde sie durch die Tatsache noch verstärkt, daß der Krieg verloren war und die alten Ordnungen weitgehend zerbrochen waren. Verletzt erschien nun auch noch die "nationale Würde". Der nun aufbrechende zum Teil blinde Nationalismus ist nur auf diesem Hintergrund verständlich, zumal der Krieg gerade das Bürgertum besonders getroffen hatte - nicht nur in seiner Selbstachtung, sondern auch materiell, indem er z.B. die Ersparnisse in Gestalt von Kriegsanleihen oder durch die nachfolgende Inflation verschlungen hatte, die viele zu ihrer Zukunftssicherung angesammelt hatten. Die von ständigen Krisen geschüttelte Republik, zu denen auch das neue Phänomen der Massenarbeitslosigkeit gehörte, konnte da keinen Identitätsersatz anbieten.

Aber auch die Arbeiterbewegung hatte nach dem Krieg viel von ihrer identitätsstiftenden Bedeutung vor allem deshalb verloren, weil sie sich während des Krieges gespalten hatte und nun die Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten unüberbrückbar geworden waren. Hinzu kam eine allgemeine Kommunismusfurcht, die genährt wurde durch die Schreckensnachrichten, die aus der Sowjetunion eintrafen: erbarmungsloser Bürgerkrieg, Millionen von Hungertoten, Gewalt und Chaos allerorten. Am Ende der Republik sah es für viele so aus, als gebe es nur noch die Alternative zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, und da fiel die Wahl gerade in den Reihen des Bürgertums nicht schwer.

Vielleicht noch gravierender war die Freisetzung des kulturellen Pluralismus. Es gab kaum einen kulturellen Wert, der nicht in Frage gestellt wurde. Die traditionellen nationalen und militärischen Werte und Symbole wurden von linken

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und pazifistischen Intellektuellen verhöhnt und verspottet. Die Alltagsmoral wurde verunsichert. Es gab eine umfangreiche Diskussion über Sexualität und sexuelles Verhalten. Entsprechende Aufklärungsbücher für die Jugend wurden verbreitet. Selbst Ehe und Familie waren nicht mehr das, was sie vorher waren. Immer mehr Frauen traten in das öffentliche Leben, in Beruf und Politik ein, die Männer gerieten zum ersten Mal in die Defensive und mußten ihre traditionellen Rollen überdenken; die bürgerliche Familie wurde zum unsicheren Ort. Die Konsumgüter-Industrie verkaufte alles, was gekauft wurde und nicht ausdrücklich verboten war. Mit Jugendschutzgesetzen gegen "Schmutz und Schund" und gegen sittlich-verwahrlosende Filme sollte die Flut wenigstens im Hinblick auf Jugendliche eingedämmt werden.

In einer seiner schon zitierten antisemitischen Reden aus der Wiener Zeit, denen Schirach seine spätere Verurteilung in Nürnberg verdankte, kommt diese kulturelle Verunsicherung deutlich zum Ausdruck.

"Das Judentum" habe versucht, "die gesunde Jugend zu verderben. Alle Ideale, die unserem Kontinent heilig sind, wurden öffentlich beschmutzt, lächerlich gemacht und als unzeitgemäß verworfen. Durch die korrupten Gazetten kursierte das jüdische Wort: 'Es gibt kein dümmeres Ideal als das des Helden'. Der jungen Generation wurde dafür schrankenlose Freiheit im sexuellen Genuß gepredigt. Je grauer der Alltag wurde, um so strahlender entwickelte sich das Nachtleben. Der amerikanische Film und die amerikanische Revue, drüben von Juden geschaffen, hier von Juden importiert, appellierte immer von neuem an die Sinne halbwüchsiger junger Menschen, diese verderbend und in den Strudel des Chaos hineinziehend, aus dem sie nie mehr zu ihrer Nation zurückgekehrt sind."

Natürlich war "das Judentum" nicht die Ursache dieser kulturellen Entfremdung.

Auch unter Juden wurden damals die Produkte der modernen Unterhaltungsindustrie kontrovers diskutiert. Wenn sie z.B. Bildungsbürger waren, standen sie der Sache nicht weniger kritisch gegenüber als viele "arische" Bildungsbürger auch. Richtig ist nur, daß zu den Protagonisten dieser modernen Industrie auch Juden gehörten. Das Beispiel zeigt, wie kulturelle Entfremdungsgefühle bestimmten Personen an-

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gelastet werden, anstatt sie aus der gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären - z.B. als Konsequenz des international gewordenen Marktes.

Jedenfalls kann man ohne Übertreibung sagen, daß zwischen 1919 und 1933 ein großer Teil des deutschen Volkes auf einer teilweise verzweifelten Suche nach seiner Identität war. Oft ist gefragt worden, warum gerade die Deutschen einer Bewegung wie der Hitlers in die Arme gelaufen sind, während doch die Weltwirtschaftskrise andere westliche Industrieländer nicht minder schwer heimgesucht habe. Neben der Tatsache, daß diese anderen Länder eine viel stärkere, auf gute wie schlechtere Zeiten zurückgehende demokratische Tradition aufweisen - die Deutschen bekamen ihre erste Demokratie als Resultat eines verlorenen Krieges -, dürfte eine wichtige Rolle gespielt haben, daß in diesen Ländern keine derartigen massenhaften Identitätskrisen ausbrachen, wobei gewiß das eine mit dem anderen zusammenhängt: wo Nationalgefühl und demokratisches Bewußtsein verbunden sind, entstehen vermutlich auch derartige Krisen des kollektiven Selbstbewußtseins nicht so leicht. Jedenfalls beruhte der Erfolg der Hitlerbewegung auf der Kombination der wirtschaftlichen und sozialen Versprechungen, also die real vorhandenen Krisen zu lösen, mit dem als "Volksgemeinschaft" formulierten Identitätsangebot.

Wenn wir Schirachs Ausfälle gegen das Judentum, Baeumlers Germanismus und Kriecks Streben nach allgemeinverbindlicher völkischer Weltanschauung zusammennehmen, dann sind dies verzweifelte wie aggressive Versuche, die entfremdenden und sozial zerstörerischen Wirkungen der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung aufzuhalten und die ökonomischen und sozialen Prozesse wieder den alten Werten eines völkisch gegliederten Gemeinschaftslebens oder eines nationalorientierten, auf politisches Soldatentum gegründeten neuen deutschen Reiches zu unterwerfen. Zum Feind wurde dabei alles, was den zerstörerischen Kapitalismus bestärkte bzw. von ihm zu profitieren schien: Das Judentum, weil Juden an herausragender Stelle zu den Protagonisten im Bankwesen, im Handel, im Unterhaltungssektor, in der Publizistik usw. gehörten; der Liberalismus, weil er als treibende ideelle Kraft des kapitalistischen Wirtschaftens galt; der Parlamentarismus, weil er als die der möglichst ungehemmten Ausbreitung des Kapitalismus dienende Staats-

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form angesehen wurde. So ergab sich scheinbar logisch die Feind-Koalition Judentum, Liberalismus, Parlamentarismus. Hinzu kam der Sozialismus, weil er nach der Lehre von Marx den Kapitalismus als Durchgangsstadium akzeptierte und seine kämpferischen Massenorganisationen, denen nichts "Organisches" im Sinne Kriecks eigen war, auf den Prinzipien moderner Verbandorganisationen beruhten. Thomas Manns Warnung an die Deutschen vor politischer Romantik nach der Lektüre von Baeumlers Bachofen-Einleitung kam der Sache sehr nahe. In der Tat unternahmen Baeumler und Krieck den Versuch, historisch überholten sozialen und politischen Ordnungsvorstellungen wieder zur Realität zu verhelfen.

Die Kapitalismuskritik ist bis auf den heutigen Tag ein epochales Thema geblieben. Die warnenden Hinweise des Club of Rome auf die "Grenzen des Wachstums" gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie gegenwärtige ökologische Bewegungen, und der Zusammenbruch des stalinistischen Sozialismus in den osteuropäischen Ländern hat das Problem keineswegs aus der Welt geschafft, das letzten Endes auf die Frage zurückgeht, welche Werte das Leben eigentlich lebenswert machen und wie man unter kapitalistischen Bedingungen ein lebenswertes Leben gesellschaftlich und sozial ermöglichen kann. Dabei geht es - damals wie heute - nicht um vordergründige politische Meinungen, sondern um Fundamente der menschlichen Existenz, um Identität.

Identität ist primär ein soziales Phänomen, das läßt sich aus der Betrachtung dieser Zeit lernen. Sie stellt sich ein, wenn der Mensch sich sozial zugehörig weiß und in dieser Zugehörigkeit auch anerkannt und geachtet wird. Als soziale Tatsache ist Identität immer auch auf Abgrenzung aus. Soziales unterschiedet sich von anderem Sozialen. Zu der Frage: "Wer bin ich"? gehört die Gegenfrage: "Wer bin ich nicht"? Üblicherweise ist eine solche Abgrenzung nicht mit Feindschaft verbunden. In besonderen Situationen jedoch, wo das Selbstwertgefühl wie in den Jahren vor 1933 erheblich angeschlagen ist, wird Feindschaft gegen andere zu einem wesentlichen Bestandteil des sonst zu schwachen Wir-Gefühls. Damals beruhte die Idee der "Volksgemeinschaft" von vornherein auf der Feindschaft zu anderen, vor allem zu Juden, Kommunisten oder linken Intellektuellen, deren Bücher als Symbole dafür verbrannt wurden - nicht weil sie eine an-

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dere Meinung vertraten, sondern weil diese Meinung als eine Bedrohung der Identität empfunden wurde.

Toleranz, Respekt vor anderen Überzeugungen und Lebensstilen und verhandelnde Kompromißbereitschaft kann man im allgemeinen nur erwarten von Menschen, die eine zumindest relativ stabile soziale Identität aufweisen.

Im geschichtlichen Zusammenhang gesehen war das Identitätsangebot der "Volksgemeinschaft" jedoch nicht nach vorne, sondern nach rückwärts orientiert, weil ihm die schon erwähnte Pluralität fehlte bzw. weil es den Ausschluß der Pluralität zu seiner Voraussetzung hatte. Das Problem der modernen Identitätsfindung und Identitätsbewahrung besteht aber gerade darin, daß sie unter den genannten Bedingungen der Pluralisierung und der Individualisierung erfolgen muß, sonst ist sie objektiv eine Scheinidentität, mag sie subjektiv auch anders, nämlich als gelungene soziale Integration erlebt werden.

Die "Volksgemeinschaft" als Identitätsangebot war also ein rückwärts gerichteter Traum, und das wurde schnell deutlich, als nach dem ersten Rausch der nationalsozialistische Alltag eingekehrt war. Krieck bekam es sehr bald zu spüren, seine Enttäuschung ist ab etwa 1936 unübersehbar. Statt des historisch gewachsenen Pluralismus, der durch die Ausgrenzung des "Jüdischen" und durch die Reduktion der Kirchen auf das rein Seelsorgerische und allenfalls Sozialfürsorgerische unterbunden worden war, gab es nun den Pluralismus des Macht- und Kompetenzgerangels der Parteiführer. "Volksgemeinschaft" war bald zur Phrase verkommen, und Kriecks Versuche, durch seine sozial orientierte Erziehungslehre und mit seiner Anthropologie ihr einen theoretisch fundierten Gehalt zu verschaffen, waren parteioffiziell nicht mehr gefragt. Kriecks und Baeumlers Bewunderung der "Massenbewegung" Hitlers und der erfolgreichen Art und Weise, wie er damit umging, verrät auch ein wenig den Neid derer, denen niemand zuläuft. Was Krieck und Baeumler taten, war keine Unterwerfung unter eine fremde Ideologie, sondern entsprang dem Wunsch dazuzugehören, in diesem sozialen Rahmen tätig zu sein, gebraucht und anerkannt zu werden. Dabei bekämpften sie den "Individualismus", den sie der vergangenen liberalistischen Epoche zurechneten, obwohl sie selbst geradezu Prototypen eines bildungsbürgerlichen Individualismus waren und blieben.

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Prinzipiell gibt es zwei extreme Möglichkeiten der Identitätsfindung: Entweder durch weitgehende Anpassung an die vorgegebenen Normen und Regeln der sozialen Gemeinschaft, etwa im Sinne eines "Typus", wie ihn Krieck in früheren Gemeinschaften zu finden geglaubt hatte. "Ich bin einer von..." könnte der so Angepaßte dann auf die Frage antworten, wer er sei. Für individuelle Variationen wäre hier nur ein geringer Spielraum vorhanden. Die Anerkennung würde durch Rückmeldungen der anderen Gemeinschaftsmitglieder erfolgen: "Ja, du bist einer von uns!"

Das andere Extrem wäre die totale Individualisierung. Die Bindekraft der Gemeinschaften würde hier fehlen, ein "Typus" könnte nicht herausgebildet werden, der dadurch entstandene Freiraum müßte durch individuelle Entscheidungen bzw. Identifikationen gefüllt werden. Die soziale Rückmeldung würde weitgehend entfallen, der Maßstab für das Gelingen der Identität müßte in die je subjektive Innerlichkeit verlegt werden.

Beide Extreme dürften in modernen Gesellschaften allenfalls in sozialen Sondersituationen vorkommen (z.B. beim Militär unter Kriegsbedingungen, oder beim sozial isolierten Gefangenen). Gleichwohl läßt sich - um wieder auf das Jugendalter zu kommen - seit Beginn unseres Jahrhunderts die Tendenz feststellen, daß kollektive Vorgaben immer brüchiger werden und die Notwendigkeit individueller Entscheidungen immer mehr zunimmt. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es z.B. noch kulturelle Milieus, deren Bindekraft stark genug war, die Identitätsfindung für diejenigen, die darin aufwuchsen, zumindest zu erleichtern. Ich denke dabei an das katholische, protestantische, sozialistische und bildungsbürgerliche Milieu, das man zwar - weil Jugend nun öffentlich wurde - gerade wegen des Prozesses der Identitätsfindung auch verlassen konnte, das aber zumindest zunächst einmal kollektive Orientierungen bot. Im Verlaufe der Weimarer Zeit nimmt die Bindekraft dieser Mileus deutlich ab, die Nazis versuchten dann mit der "Volksgemeinschaft" eine neue soziale und - was immer auch dazu gehört - ideologische Bindung zu stiften. Sie taten dies nicht ohne Geschick, z.B. mit zahlreichen öffentlichen Ehrungen und Auszeichnungen, von denen das Mutterkreuz wohl am bekanntesten geworden ist.

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Nach dem Kriege schienen zumindest die kirchlichen Milieus wieder zu Ansehen und erzieherischem Einfluß zu gelangen, das sozialistische konnte im Westen Deutschlands nicht mehr zu Geltung kommen, sei es, weil die entsprechenden Traditionen der Arbeiterbewegung durch die Nazis zerschlagen worden waren, sei es, weil es durch die Konfrontation mit der Sowjetunion und der SBZ/DDR erneut diskreditiert bzw. diffamiert wurde.

Im Rahmen der schon geschilderten Vergesellschaftung bzw. Emanzipation des Jugendalters wurde jedoch die Bindekraft dieser Milieus schnell geschwächt und neue entstanden nicht. Zu einem guten Teil wurde die entstandene Lücke gefüllt durch die Identitätsangebote der Medien, die unter den Gleichaltrigen in unmittelbare Einstellungen und Verhaltensweisen umgesetzt werden. Allerdings darf man hier keine einseitige Kausalität unterstellen. Auch die Umkehrung gilt, daß nämlich die modernen Medien die Aushöhlung der traditionellen Milieus mitbewirkt haben. Eine im hohen Grade industrialisierte Jugendkultur mit jugendspezifischer Musik und Mode entstand, die offensichtlich für den Identitätsprozeß bei vielen Jugendlichen von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Gleichwohl ist dieser Prozeß immer schwieriger geworden. Im Rahmen pluralistischer Wahlmöglichkeiten und der nehmenden Individualisierung müssen Identitätsbildungen in einem komplizierten Geflecht von Teil-Identifikationen erfolgen, mit gleichsam immer nur partikularen Vorbildern. Selbst wer z.B. seine Eltern für großartige Vorbilder hält und ihnen nachzueifern trachtet, kann sich nur partiell an ihnen orientieren, weil es sonst zu einer vorschnellen Typen-Bildung käme und die notwendigen Individualisierungs-Leistungen nicht erbracht werden könnten. Der Pop- oder Sport-Star kann ebenfalls eine Rolle spielen oder jemand, der Vorbild für den angestrebten Berufserfolg sein könnte. Und immer wieder die Gleichaltrigen: Bei ihnen sozial anerkannt zu sein, kann als wichtiger erscheinen als z.B. gute Schulleistungen zu erbringen.

Dies alles spielt sich zudem in einem lebensgeschichtlichen Prozeß ab, dem die auf die Zukunft gerichteten Orientierungspunkte wie Schuleintritt, Schulabschluß, Berufsausbildung/Studium, Berufsbeginn, Heirat usw. weitgehend ab-

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handen gekommen sind, zumal zumindest bei Studenten der Berufseintritt sich oft bis über das 30. Lebensjahr hinaus verschoben hat - wenn er aufgrund der Arbeitsmarktlage überhaupt zustande kommt. Weil diese Orientierungspunkte fehlen, schrumpft auch die Zeitperspektive: erst einmal das Nächstliegende erreichen, dann wird man weiter sehen.

Von der spezifischen Emanzipationsproblematik der Mädchen und Frauen war schon die Rede. Die weibliche Identität war über lange Zeit familiär definiert - zunächst durch die Herkunftsfamilie, später durch die eigene Familie. Eine subjektiv befriedigende Balance zwischen öffentlichen und familiären Rollen zu finden, war bis in unsere Gegenwart hinein ein spezifisch weibliches Identitätsproblem. Gegenwärtig hat es jedoch den Anschein, als seien die Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Identitätsproblematik relativ bedeutungslos geworden; beide Geschlechter müssen sich heute um die erwähnte Rollen-Balance bemühen.

Der Entscheidungsdruck, der angesichts von Pluralisierung und Individualisierung auf dem Prozeß der Identitätsfindung lastet, legt für diejenigen, die dem nicht gewachsen sind, Fluchtbewegungen nahe. Jugendsekten, Rechtsextremismus, "Autonome", Drogenmilieu sind Szenerien, in denen man diesen Druck loswerden kann durch Unterwerfung, durch einen archaischen Rückzug auf den Typus. In solchem Verzicht auf die Freiheit der Individualität erfährt man als Lohn wieder die Rückmeldung der anderen: Du bist einer von uns! Diejenigen, die solche Fluchtwege nicht betreten wollen, sind wesentlich auf den Maßstab ihrer Innerlichkeit angewiesen, der aber höchst unzuverlässig ist, weil er ständig von schwer zu durchschauenden Gefühlen überschwemmt werden kann.

Sieht man auf diesem Hintergrund das Identitätsangebot des Nationalsozialismus, so wird schnell deutlich, daß es eine Scheinlösung darstellte, die auf künstlich arrangierten Sozialgebilden und Sozialideen fußte, die historisch längst verloren gegangen waren. Deshalb kommt uns vieles daran heute auch geradezu lächerlich vor. Historisch gesehen war die NS-Zeit unter diesem Gesichtspunkt nur ein retardierendes Moment, weil ihre Lösungsversuche trotz der dazu gehörenden kultischen Inszenierungen der Appelle, Massenauf-

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märsche, der Fahnen und Trompeten, der Feiern und heroischen Texte an der wirklichen Problematik vorbeigingen. Wie allerdings der Hinweis auf die jugendlichen Fluchtszenen gezeigt hat, sind solche Lösungsversuche damit keineswegs historisch erledigt, weil die dahinter stehenden Probleme nicht nur weiter bestehen, sondern sich noch verschärft haben.

Und dies noch aus einem anderen Grund. Gemeinhin gehen wir davon aus, daß das Problem der Identitätsfindung spezifisch für das Jugendalter sei, nach seiner Lösung und durch diese sei man erwachsen geworden und deshalb davon befreit.

In diesem Zusammenhang wird nun der Generationsunterschied zwischen Schirach einerseits und Baeumler und Krieck andererseits interessant. Schirach fand seine Identität als 17jähriger durch die Identifikation mit Hitler - in einem Alter also, wo üblicherweise auch damals schon alternative Lebensperspektiven durchgespielt und vielleicht zumindest teilweise probiert wurden. Nicht einmal gegen seine Eltern mußte er seine Option für Hitler durchsetzen, die hatten - untertrieben gesagt - nichts gegen ihn.

Schirach hat eine Reihe von Gedichten Hitler gewidmet bzw. über ihn verfaßt, in denen das Identitätsthema mit Händen zu greifen ist. Dafür ein Beispiel:

"Dem Führer.

Das ist die Wahrheit, die mich Dir verband:

Ich suchte Dich und fand mein Vaterland.

Ich war ein Blatt im unbegrenzten Raum,

Nun bist Du Heimat mir und bist mein Baum.

Wie weit verweht, verginge ich im Wind,

Wärst Du nicht Kraft, die von der Wurzel rinnt.

Ich glaub an Dich, denn Du bist die Nation,

Ich glaub an Deutschland, weil Du Deutschlands Sohn".

(Schirach: Die Fahne der Verfolgten, Berlin 1933, 38)

Vielleicht lag es an dieser frühen Festlegung, daß Schirach den Eindruck erweckte, er sei nie richtig erwachsen geworden.

Überraschenderweise hat man diesen Eindruck teilweise auch bei den beiden Älteren. Baeumler war 1933 46 Jahre alt, Krieck sogar schon 51. Im Unterschied zu Schirach waren sie also beide längst aus dem Alter heraus, in dem man nach her-

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kömmlichen Vorstellungen noch seine Identität sucht. Sie waren schon erheblich in die Jahre gekommene Erwachsene mit einem jugendlichen Problem. Baeumlers anti-feministische Marotten und sein schwadronierender Heroismus wirken wenn nicht peinlich, so doch zumindest seinem Alter unangemessen, zumal er immerhin Philosophieprofessor war. Krieck scheute zwar keine Auseinandersetzung, wenn es ihm um wichtige Fragen ging, aber für einen Mann seines geistigen Formats war es schon eigenartig, von Hitlers Fähigkeiten der Massenmobilisierung weit über ein wissenschaftliches Interesse hinaus fasziniert zu sein. Zu erklären ist das alles nur, wenn man davon ausgeht, daß es sich hier um Versuche handelt, eine soziale Heimat zu finden - natürlich möglichst an der Seite der Erfolgreichen. Opportunismus und Eitelkeit mögen dabei auch eine Rolle gespielt haben, aber es wäre sicher falsch, diese Faktoren überzubewerten. Das Gefühl dazuzugehören, anerkannt zu sein, neue Aufgaben von hohem Rang und Ansehen übernehmen zu können, war schon eher ausschlaggebend. Heute wissen wir, daß Identitätskrisen keineswegs nur mehr ein Problem des Jugendalters sind, sondern einen Menschen zu jedem Zeitpunkt seines Lebens treffen können. Identitätsfindung und -behauptung sind zu einem lebenslangen Prozeß geworden.

Damals jedoch war eine solche Einsicht noch nicht möglich, sie wäre auch nicht akzeptabel gewesen. Wer als Erwachsener - vor allem als Mann! - sich sozial unbehaust und entfremdet fühlte, führte das auf Feinde zurück - Kapitalisten, Kommunisten, Juden, Parteibonzen -, die ihm das angetan hatten. In diesen Zusammenhang gehört auch das vorhin erwähnte Schirach-Zitat. Konnte man diese Feinde ausschalten, würden sich auch die ersehnten sozialen Geborgenheiten wieder einstellen. Ganz in diesem Sinne hoffte Krieck darauf, daß das durch Hitlers Revolution in Bewegung geratene Volk die revolutionären Ziele schon finden werde. So erklärt sich auch ein guter Teil des Hasses, der den inneren Auseinandersetzungen anhaftete. Personen oder bestimmte Personengruppen trügen Schuld an der eigenen Entfremdung. Identitätskrisen, die als solche nicht wahrgenommen wurden, konnten sich so in innen- und außenpolitische Feindschaften verwandeln. Baeumler und Krieck stehen exemplarisch für dieses Problem, obwohl sich ihre Feindseligkeit gegen andere in Grenzen hielt.

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Die Einsicht, daß auch Erwachsene noch Identitätskrisen verarbeiten müssen - Krisen, die sich folgerichtig aus der Pluralisierung und Individualisierung unseres öffentlichen und privaten Lebens ergeben -, hat sich erst sehr spät durchgesetzt. Und jetzt erst treten entsprechende psychologische Konzepte und Therapien auf den Plan, die zwar keine neuen sozialen Geborgenheiten anbieten können, wohl aber versuchen, dem Einzelnen zur Stärkung seiner Entscheidungsfähigkeit zu verhelfen. Die Individualisierung des Problems hat eine am Individuum orientierte Hilfe in Gestalt von Beratung oder Therapie zur Folge.

Gleichwohl suchen nicht wenige Menschen unter den Bedingungen des normativen Pluralismus nach neuen sozialen Geborgenheiten; denn die psychologische Hilfe kann dafür kein Ersatz sein. Das Individuum als solches kann keine Identität haben. Auch heute suchen die Menschen nach sozialen Beziehungen, die ihnen Rückmeldungen zur Bestätigung der Identität anbieten. Die Soziologie spricht z.B. von "Bezugsgruppen" und meint damit, daß wir alle in irgendwelchen informellen Gruppen leben - Freunde, Bekannte, Kollegen -, die keineswegs beliebig und zufällig zustandekommen, sondern normative Gemeinsamkeiten aufweisen, in diesem Sinne also den Pluralismus für sich selbst einschränken. Die Mitglieder vertreten bestimmte gemeinsame politische, feministische, religiöse usw. Grundüberzeugungen, der Toleranzspielraum ist weit, aber doch auch begrenzt, weil sonst die Funktion dieser informellen Gruppen in Frage stünde. Wir müssen uns also heute einen Kreis von Menschen suchen, deren Urteil uns wichtig ist, um unsere Identität sozial stabilisieren zu können.

Dabei können wir ähnliche Fehler machen wie die Generationen derer, die auf Hitlers Identitätsangebot hereingefallen sind, indem wir nämlich die falschen sozialen Rückmelder wählen, z.B. extremistische Gruppen, autoritäre Sekten oder die sogenannte "Psychoszene" mit all ihren Merkwürdigkeiten. "Falsch" sind solche Lösungen in dem Sinne, daß sie nur innerhalb solcher Gruppen und Organisationen von Wert, für das Leben außerhalb aber kaum brauchbar sind. Ähnliches war auch bei der HJ zu beobachten, deren Tugenden und Verhaltensstile galten auch zunächst einmal nur in den eigenen Reihen, schon weniger in der Schule oder gar im Beruf.

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Unter dem Gesichtspunkt der Identitätssuche lassen sich auch die pädagogischen Konzepte beurteilen. Eine NS-Pädagogik, die sich von anderen weltanschaulichen pädagogischen Theorien abgrenzen ließe, ist nicht zustande gekommen. Die pädagogischen Vorstellungen der drei NS-Pädagogen sind unübersehbar Teil ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrung und Befindlichkeit. Schirach bot der HJ seine eigene Identitätserfahrung als Hitlers Gefolgsmann an in der falschen Erwartung, daß sich diese persönliche Erfahrung auf Serie legen lasse. Krieck entdeckte die typenbildende erzieherische Kraft der Gemeinschaften zu einem Zeitpunkt, als sie längst brüchig geworden war, und er meinte, sie in den massenbewegenden "Formationen" der Nazis wieder zur Geltung kommen zu sehen. Baeumler wandte sich vom Bildungsbürgertum und seinen humanistischen Idealen ab, die ihm keine soziale Identität mehr bieten konnten, und versuchte, mit einer Tat-Philosophie des Mitmachens sich in die Hitler-Bewegung einzufädeln - was ihm nicht recht gelang, weil er von seinem Naturell her offensichtlich ein Einzelgänger war und blieb.

Als Fazit läßt sich vielleicht festhalten, daß die Suche nach sozialer Identität und der Wunsch, diese zu stabilisieren, offensichtlich einem tiefen menschlichen Bedürfnis entsprechen. Massenhafte Identitätskrisen, wie wir sie z.B. jetzt in den neuen Bundesländern erleben, enthalten immer einen unkalkulierbaren politischen Sprengstoff. Der Haß gegen die moderne parlamentarisch verfaßte Industriegesellschaft, die einerseits den Menschen erhebliche persönliche Entscheidungsspielräume und damit Freiheiten verschafft, andererseits aber auch deren soziale Geborgenheiten ständig bedroht, war ein wichtiger Motor der Hitler-Bewegung und kann jederzeit neu ausbrechen. Anzeichen dafür sind unübersehbar. Die Ausländerfeindlichkeit ist auch ein Signal dafür, daß Identität zur Not gegen andere erprügelt wird.

Wir wären gut beraten, wenn wir bei der Lösung sozialer und ökonomischer Probleme nicht nur an finanzielle Kosten-Nutzen-Rechnungen denken, sondern auch daran, daß die Menschen eine soziale Heimat brauchen. Die meisten Menschen schaffen sie sich, indem sie die durch Pluralisierung und Individualisierung gebotenen Freiheitsräume nutzen zur Herstellung entsprechender sozialer Felder - sei es in Form verläßlicher Familien- und Freundschaftsbeziehun-

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gen, sei es im Rahmen von informellen Beziehungen unter Gleichgesinnten.

Es gibt aber auch eine nicht geringe Zahl von Menschen, die dies nicht schaffen, die z.B. den modernen Arbeits- und Leistungserwartungen nicht gewachsen sind, die randständig werden und sich soziale Nischen in der Gesellschaft suchen, wo sie eine wenn auch noch so labile Identität finden können. Wir sehen sie unter anderem in der radikalen Jugendszene. Bei der Beurteilung dieser Szenen und im Umgang mit ihr sollten wir deren psycho-soziale Funktion bedenken. Wenn wir z.B. eine neo-nazistische Jugendorganisation verbieten, haben wir die Probleme derer noch nicht gelöst, die sich dorthin geflüchtet haben.

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7. Fazit II: Kriminelles Arrangement und die Ohnmacht der Erziehung

Wenn wir uns die politische Kriminalität des NS-Regimes vor Augen führen, dann drängt sich die Frage auf, welchen Anteil die Erziehung daran gehabt haben mag. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Bilanzierung des Entsetzlichen unausweichlich wurde, ist darüber nach allen möglichen Richtungen hin diskutiert worden. Man hat praktisch die gesamte deutsche Bildungstradition dafür verantwortlich gemacht: die politische und soziale Weltfremdheit des humanistischen Gymnasiums; den undemokratischen Aufbau des Schulwesens; das autoritäre Milieu der deutschen Schule ebenso wie ihre militaristisch-nationalistischen Traditionen. Nun läßt sich mit derlei Recherchen vielleicht manches erklären, z.B. eine kollektive Tendenz zu bestimmten Ideologien, Einstellungen oder Verhaltensweisen, zu nationalistischen und militaristischen Grunddispositionen.

Angesichts des Ausmaßes der hier zur Debatte stehenden Kriminalität gehen jedoch solche Rekonstruktionen ins Leere, ja, sie verniedlichen nur das Schreckliche. Die - meinetwegen bornierte - preußische Kadettenerziehung oder das - meinetwegen weltfremde - Gymnasium als Ursache des Holocaust? Da wären die Möglichkeiten von Erziehung weit überschätzt.

Und wie steht es mit der NS-Erziehung selbst? Das Nürnberger Tribunal hat die HJ-Erziehung freigesprochen von dem Verdacht der Kriegsvorbereitung; Schirach mußte nicht wegen seiner HJ ins Spandauer Gefängnis. Und die Richtlinien für die Schulen im Nationalsozialismus zielten zwar auch auf Selbstrechtfertigungen des Regimes, auf mancherlei Indoktrination, auf rassische Verfälschung von Sachverhalten, aber eine Anleitung zur politischen Kriminalität läßt

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sich daraus nicht ablesen. Weder die Schule noch der außerschulische kultische Mummenschanz haben vermocht, das deutsche Volk kriegslüstern zu machen. Selbst das verbreitete antisemitische Ressentiment konnte nicht von selbst und folgerichtig in die neue Qualität des planmäßigen Völkermordes umschlagen. Der Glaube, durch Erziehung könne so etwas verhindert werden, mag denen schmeicheln und sie wichtig machen, die diesem Geschäft ihre Profession verdanken, aber er führt am Kern des Problems vorbei.

Nicht mit dem Begriff der Erziehung, wohl aber mit dem Begriff der Sozialisation können wir uns diesem Kern nähern.

Die Verbrechen wurden nicht durch eine bestimmte Erziehung vorbereitet, sondern durch das Arrangement von Handlungssituationen, die kriminelles Handeln nicht nur möglich machten, sondern auch positiv bewerten ließen und in denen dem entgegenstehende Bedenken kaum soziale Resonanz mehr erhielten.

Der Soldat oder SS-Mann, der sich am Morden beteiligen sollte oder auch nur Zeuge wurde, geriet in eine tiefe soziale Isolierung, wenn er auch nur Bedenken geäußert, geschweige sich verweigert hätte. Das Morden setzte voraus ein dafür passendes soziales Milieu, das sich in der Heimat nicht herstellen ließ, sondern des Krieges und der Besetzung anderer Länder bedurfte. Im europäischen Osten ließen sich - pädagogisch gesprochen - Sozialisationsbedingungen arrangieren, die denjenigen, der nicht mitmachen wollte, schon wegen der militärischen Befehlsstrukturen wenn nicht physisch, so doch mit dem Entzug von Identität bedrohte.

Die Menschen, die diese Verbrechen begangen haben, waren nicht nationalsozialistisch erzogen worden, sie hatten ihre Kindheit und Jugend ganz überwiegend vor 1933 verbracht, waren aufgewachsen in mehr oder weniger "normalen" Familien, hatten "normale" bürgerliche Schulen besucht. Die Erziehung in der Zeit zwischen 1933 und 1943 betraf eine Generation, die schon aus Altersgründen kaum Gelegenheit bekam, sich innerhalb der NS-Zeit an solchen Untaten zu beteiligen. Die meisten der in dieser Zeit Erzogenen wurden nach 1945 erst erwachsen und mußten den Wiederaufbau nach dem Kriege in die Hand nehmen. Sie taten dies bekanntlich mit erheblicher Energie und gliederten sich dabei in eine demokratische Staats- und Gesellschaftsverfassung

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ein, die sich als relativ stabil erwiesen hat. Welche Bedeutung dabei die in der NS-Zeit erlebte Erziehung hatte, ist kaum zu beurteilen. Wie aber hätte sich diese Generation verhalten, wenn Hitler den Krieg gewonnen und sie z.B. als imperiale Unterdrücker im osteuropäischen Raum eingesetzt hätte? Die entscheidende Frage ist nämlich nicht, welche Erziehung diese Menschen genossen haben, sondern welche Bewährungssituationen sie anschließend vorfanden, was dort als gut und richtig galt. Dieselben Schutzmänner, die sich an der Ermordung der europäischen Juden beteiligten, hätten unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, die andere moralische Rückmeldungen zur Folge gehabt hätten, auch anders gehandelt. Viele dieser Täter haben sich ja auch erfolgreich in den Wiederaufbau nach 1945 eingeschaltet und normale bürgerliche Berufe ausgeübt - wie die späteren KZ-Prozesse immer wieder gezeigt haben.

Der Blick auf die Erziehung darf den Blick auf die Politik nicht trüben. Zu lernen aus der NS-Zeit ist nicht, wie man Erziehung verbessern könne, um Ähnliches für die Zukunft zu vermeiden; zu lernen ist vielmehr, daß politische Verhältnisse verhindert werden müssen, in denen nur noch Helden moralische Prinzipien durchhalten können. Die politische Kriminalität des NS-Regimes offenbarte sich den Menschen erst allmählich und schleichend: "Röhm-Affäre", Boykott jüdischer Geschäfte, Nürnberger Gesetze, "Reichskristall-Nacht". Die Aktionen gegen die deutschen Juden fanden während der Friedensjahre in der Bevölkerung ebensowenig Resonanz wie der Kriegsbeginn, nicht einmal die Reichsjugendführung jubelte damals. Der von Hitler mutwillig provozierte Krieg, der - an klassischen politischen Maßstäben gemessen - keinerlei Interessen der deutschen Bevölkerung diente, brachte jenes politisch-moralische Milieu hervor, in dem die politische Kriminalität nicht nur gedeihen, sondern sogar teilweise einen Schein von Rechtfertigung gewinnen konnte. Erpreßt durch die scheinbare Notwendigkeit der Landesverteidigung und der Sicherung des Überlebens des eigenen Volkes wurden mehr und mehr Deutsche in die Verbrechen als Mittäter involviert - gleichgültig, wie und nach welchen Maßstäben sie vorher erzogen worden waren. Schirach ist da nur ein Beispiel von vielen.

Aus pädagogischer Sicht stellt sich dabei die Frage, ob und in welchem Maße Erziehung und Sozialisation normativ über

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einstimmen. Deckt sich das, was die jeweils zuständigen Erzieher (Eltern, Lehrer) an normativen Leitmotiven übermitteln, mit dem, was das Kind außerhalb dieser pädagogischen Einflüsse -nämlich im Rahmen seiner allgemeinen gesellschaftlichen Teilhabe - an Einwirkungen erfährt? Für die Kindheit und Jugendzeit der vor 1933 zur NS-Bewegung gestoßenen Erwachsenen traf das wohl im großen und ganzen noch zu. Ein Bruch wird jedoch sichtbar nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Ergebnis unter anderem die im vorhergehenden Kapitel beschriebene normative Pluralisierung der Gesellschaft war. Nun traten Erziehung und Sozialisation auseinander, und was die zuständigen Erzieher in Familie und Schule an Werten vermittelten, wurde außerhalb dieser pädagogischen Felder zumindest relativiert, wenn nicht gar verhöhnt (wie das Heroische durch Pazifisten). Mit der Idee des Erziehungsstaates haben die Nationalsozialisten die Einheit von Erziehung und Sozialisation wiederherstellen wollen.

Das Problem des Verhältnisses von Erziehung und Sozialisation stellt sich jedoch nicht nur für die Phase der Kindheit und Jugend, sondern auch für die spätere Phase des Erwachsenseins. Wenn man als "erfolgreiche" Erziehung die Tatsache versteht, daß die in Kindheit und Jugend vermittelten Werte auch für das Leben des Erwachsenen zumindest prinzipiell gültig bleiben, dann setzt das voraus, daß in den Lebenssituationen, in denen sich der Erwachsene bewähren muß, diese Werte auch "nachgefragt" werden, also auf soziale Resonanz treffen können. Die Bewährungssituationen müssen also den früheren Erziehungs- und Sozialisationserwartungen einigermaßen entsprechen, biographische Kontinuität muß hinreichend gesichert sein.

Dies traf nun für viele Männer der Kriegsgeneration nicht mehr zu, die sich nach dem Ersten Weltkrieg an die gewandelten Verhältnisse nicht gewöhnen konnten. Die "verlorene Generation", zu der auch Hitler und seine "alten Kämpfer" gehörten, erlebte, daß den Versprechungen der Kindheit nun keine angemessene Realität entsprach. Einen vielleicht noch radikaleren biographischen Bruch verursachte der Zweite Weltkrieg. Er bewirkte für nicht wenige Menschen eine Art von "Gegen-Sozialisation" zu den in Kindheit und Jugend erworbenen Normen. Da das Töten des von der Politik definierten Feindes in dieser Ausnahmesituation auch

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moralisch selbstverständlich wird - was das Getötetwerden einschließt -, gelten hier andere Maßstäbe, als sie in der Erziehung gelernt wurden. Spätestens dann, als die politische Führung - also Hitler - zumindest im Osten nicht den Sieg über den Gegner - mit der Chance eines anschließenden Friedens -, sondern seine Vernichtung anstrebte und zu diesem Zweck den Feind als "Untermenschen" definierte, war die Grenze zur politischen Kriminalität überschritten, und jeder Deutsche war nun in mehr oder weniger direkter Weise darin verwickelt, ein Mittäter geworden. Die Ermordung der europäischen Juden war nur möglich unter den Ausnahmebedingungen des Krieges - als in den Kriegshandlungen versteckte Maßnahme, in Friedenszeiten wäre sie trotz des Machtmonopols der Nazis in Deutschland kaum möglich gewesen.

Man kann in Friedenszeiten nicht für den Krieg erziehen und im Krieg nicht für den Frieden danach, weil die Sozialisationsbedingungen als Summe der realen sozialen Erwartungen und Zwänge weder hintergangen noch antizipiert werden können. Möglich wäre dies nur dann, wenn Erziehung lediglich die Formung eines von allen konkreten sozialen Bezügen losgelöst gedachten "Charakters" wäre. So ähnlich hat sich Hitler dies wohl vorgestellt, wenn er von "Erziehung des Charakters" sprach und ein boxerisches Härtetraining favorisierte. Aber gerade die NS-Zeit hat bewiesen, wie bedeutungslos Erziehung wird, wenn später diejenige soziale und gesellschaftliche Kultur nicht mehr vorhanden ist, für die sie gedacht war. Dann bleibt nur übrig ein Repertoire von angeborenen und angelernten Verhaltensmöglichkeiten, die im Hinblick auf die neue Situation um des Überlebens willen bzw. um einer erfolgreichen Karriere willen neu kombiniert werden müssen. Das Ergebnis konnte sein der mordende SS-Mann, dessen brave Kindheit vergessen war. Weder die Schule der preußischen Armee, noch das humanistische Gymnasium, noch die katholische Konfessionsschule haben die Barbarei verhindern können.

Dies ist eine bittere Erkenntnis, wenn man daran denkt, mit wieviel Hartnäckigkeit und Kampfeseifer für diese Erziehungsformen gestritten worden ist, weil doch ohne sie der Mensch nicht zum Menschen werden könne. Adornos Hoffnung, daß eine bessere Erziehung künftig so etwas wie Auschwitz verhindern möge, wird nur dann nicht trügen,

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wenn dies in erster Linie politisch verhindert werden kann, nämlich durch die rechtzeitige Klärung der Machtfrage.

Wohl zu ihrer eigenen Überraschung hatten die Nazis schon sehr bald, nämlich etwa ab 1935 keinen innenpolitischen Gegner mehr zu fürchten, der sich noch hätte machtvoll organisieren können. Übrig blieben mutige Einzeltaten, die so wenig politische Relevanz hatten, daß die Nazis nicht einmal zum offenen, im Alltag jedermann erkennbaren Terror greifen mußten, sondern sich darauf beschränken konnten, einzelne Mißliebige in den Morgenstunden "abzuholen".

Erziehung allein kann also die Barbarei nicht verhindern, wenn nicht zugleich die Politik dafür sorgt, daß die Alltagsverhältnisse die Menschen nicht zur Inhumanität zwingen oder diese ermutigen. Jedenfalls gilt dies für die Ebene des erkennbaren Verhaltens, die ja das Ergebnis der Erziehung am ehesten manifest werden läßt. Bewußtsein und Phantasie jedoch können die Sozialisationsbedingungen, die dem Verhalten vorgegeben sind, transzendieren; das gilt auch für die Ausnahmesituation des Krieges. Erziehung im Krieg für den Frieden ist nicht möglich, wohl aber Bildung. Aus den Zeugnissen vieler Menschen geht hervor, daß sie die Zeit der politischen Barbarei nur dadurch geistig zu überleben vermochten, daß sie auf den Fundus ihrer Bildung zurückgreifen konnten, auf Literatur und Kunst z.B., was ihrem Bewußtsein ermöglichte, künftige, bessere, friedliche, humane Zeiten zu antizipieren. Als die Zeit dann dafür gekommen war, das Verhalten von den Fesseln der politischen Kriminalität befreit war, konnte dieses Bewußtsein auch praktisch werden. Aber es war auch hier die politische Macht, in diesem Falle die der alliierten Sieger, die diese Wende ermöglichte.

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Betrachten wir auf diesem Hintergrund die pädagogischen Gedanken und Konzepte Kriecks, Baeumlers und Schirachs, so sind daran spezifisch nationalsozialistisch zunächst nur bestimmte politische Implikationen: ihr antidemokratischer, antiliberaler und antipluralistischer Affekt. Der aber schlägt nicht unbedingt durch auf die pädagogischen Vorstellungen und Praktiken im engeren Sinne. Die HJ z.B. war ein monopolistischer Jugendverband, das war politisch gewollt. Aber was dann im einzelnen an pädagogischen Maßnahmen innerhalb dieser Monopolorganisation geschah, unterschied sich wenig von dem, was auch vorher in der Jugendarbeit geschehen war - wenn man von der Jugenddienstpflicht absieht, die aber wiederum eine politische Entscheidung war und die pädagogisch nur insofern relevant war, als sie von denjenigen als Zwang zur Teilnahme wahrgenommen wurde, die eigentlich nicht mitmachen wollten. Immer wieder treffen wir auf politische Eigentümlichkeiten, wenn wir nach dem spezifisch Pädagogischen des Nationalsozialismus fragen.

Das gilt auch für den von den drei Pädagogen favorisierten Begriff der "Gemeinschaft", dem keine soziale Wirklichkeit mehr entsprach. Die damalige Gesellschaft bestand nicht aus Gemeinschaften, sondern aus nach rationalem Kalkül und für unterschiedliche Zwecke strukturierten Organisationen und Verbänden. Im Unterschied zu den früheren bündischen Gruppen bestand nicht einmal die HJ aus Gemeinschaften. Wer wie Schirach eine monopolistische Massenorganisation schaffen will, kann als Ergebnis nicht eine Summe von Gemeinschaften erwarten. Dem widersprach auch der militärähnliche regionale Rekrutierungsmodus. Paradoxerweise hat die HJ, die sich angeblich der Gemeinschaft so verpflichtet fühlte, die Versuche jugendlicher Gemeinschaftsbildungen, wie sie etwa in der bündischen Jugend zu finden waren, zerschlagen, ohne etwas Gleichartiges an deren Stelle setzen zu können; bei Baeumler war "Gemeinschaft" kaum mehr als eine ideologische Phrase (die Volksgenossen sollten sich bitte so fühlen), bei Krieck eine vernarrte Fiktion. Faktisch glich Schirachs Leitmotiv der "gemeinschaftsgebundenen Persönlichkeit" weitgehend dem, was wir heute als "soziales Lernen" propagieren.

Sieht man ab von dem eigentümlichen politischen Hintergrund, so kann das, was Krieck und Baeumler über pädagogische Fragen geschrieben haben, durchaus als diskutable Auseinandersetzung mit der deutschen Erziehungs- und Bildungsgeschichte verstanden werden. Die Erkenntnis, daß die "Formationen" der Nazis eine eigentümliche Wirkung - von heute aus gesagt: eine Sozialisationswirkung - hatten, die zu erforschen durchaus lohnenswert wäre, ist nicht begrenzt auf NS-Organisationen, sondern kann auf den Kommunistischen Jugendverband ebenso angewandt werden wie auf jede andere relativ dauerhafte gesellschaftliche Organisation. Wesentlich ist die Einsicht, daß alles soziale Leben eine erzieherische Implikation in sich enthält. Baeumlers anthropologi-

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sche "Wende" zum Menschen als handelndem Wesen lag in der Luft und wäre wohl auch ohne die Nazi-Bewegung früher oder später formuliert worden. Diese Betrachtungsweise, wie auch Kriecks weit ausgreifender Erziehungsbegriff waren eine Konsequenz des modernen sozialwissenschaftlichen Denkens, dessen wahre Tragweite beide wegen ihrer völkischen bzw. germanisierenden Befangenheit nicht verstanden haben, die vielmehr erst nach 1945 durch die sich allmählich etablierende Soziologie allgemein bekannt und akzeptiert wurde.

Weder aus der Tatsache, daß bestimmte pädagogische Gedanken in der NS-Zeit geäußert wurden, noch aus der anderen Tatsache, daß die Autoren sich politisch zum Nationalsozialismus bekannt haben, lassen sich diese pädagogischen Gedanken hinreichend als spezifisch nationalsozialistisch qualifizieren.

Folgern läßt sich daraus, daß die moralische Qualität eines politischen Systems nur aus der angemessenen politischen Analyse sichtbar werden kann, nicht vom Ansatz der Erziehung her. Erziehung und Bildung haben ihre eigenen Erfolgskriterien: der Schüler, der durch Unterricht zu Wissen gelangt, der Verwahrloste, der wieder lernt, legal und sozial angepaßt zu leben. Gelungenes Lernen ist also das Erfolgskriterium. Das pädagogische Handlungsrepertoire, das dafür zur Verfügung steht, ist begrenzt und kann deshalb auch nur begrenzt der politischen Zensur unterworfen werden. Insofern alle politisch-ideologischen Systeme der Moderne zumindest im Prinzip auf dieses pädagogische Erfolgskriterium angewiesen sind, wenn sie ihren Nachwuchs gesellschaftlich integrieren wollen, ist das pädagogische Handlungsrepertoire in hohem Maße systemunabhängig. Es ist also jedem System dienstbar zu machen - dem demokratischen ebenso wie dem faschistischen oder kommunistischen. Aus dieser Tatsache läßt sich nun Verachtung ableiten, als sei das pädagogische Handwerk per se ein gesinnungsloses. Andererseits aber setzen die pragmatischen pädagogischen Erfolgskriterien, auf die auch die Nazis angewiesen waren, Grenzen für die politisch-ideologische Instrumentalisierung. Die erlebnishaft-emotional und anti-intellektuell orientierte HJ-Pädagogik kam an ihre Grenzen, als die Lehrer und die qualifizierten Schulabgänger zu fehlen begannen.

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Das Verhältnis von Politik und Pädagogik ist immer kompliziert. Die Pädagogik - also die Organisation von Lernprozessen - bedarf eines Mindestmaßes an politischen Randbedingungen, um überhaupt tätig werden zu können. So müssen z.B. die Institutionen, in denen sich Pädagogik vollzieht, politisch im Hinblick auf ihre Stabilität wie im Hinblick auf ihre Zwecksetzung vorgegeben und garantiert sein. Was z.B. eine Schule und wozu sie da ist, muß mit einem hinreichenden Konsens allen Beteiligten klar sein, sonst könnte man dort ja auch Gemüse verkaufen, statt zu unterrichten. Ferner muß die Pädagogik einigermaßen genau wissen, wie das spätere Leben der Kinder und Jugendlichen aussieht, welche Bewährungen dann erwartet werden. Schon diese beiden Gesichtspunkte reichen aus zu erkennen, daß die Pädagogik der Politik bedarf, um erfolgreich handeln zu können, daß sie aus sich heraus nicht existieren könnte. Deshalb sind politische Einflüsse auf die pädagogischen Handlungsfelder im Prinzip unvermeidlich, die Frage ist nur, in welchem Umfang, in welcher Weise und mit welchen Zielen sie wirksam werden. Am Beispiel irgendeiner beliebigen Schulklasse läßt sich das verdeutlichen. Die Einwirkungsmöglichkeiten liegen grundsätzlich

1. auf der Ebene der symbolischen und faktisch-administrativen Einbindung der Schule in das politische System, in der NS-Zeit z.B. in Gestalt von Fahnenappellen, Feiern und Ansprachen;

2. auf der Ebene der Lernzielbestimmung, z.B. in Gestalt von Lehrplänen;

3. auf der Ebene der Zensur des pädagogischen - z.B. methodischen - Handlungsrepertoires;

4. auf der Ebene der Beeinflussung der "pädagogischen Beziehung" zwischen Lehrern und Schülern.

Von der ersten Eingriffsmöglichkeit haben die Nazis ausgiebig Gebrauch gemacht, von der zweiten nur begrenzt - vor allem im Hinblick auf die sogenannten "Gesinnungsfächer". Die dritte Interventionsmöglichkeit haben sie kaum genutzt - im Gegenteil versuchte die HJ z.B. in ihren Adolf-Hitler-Schulen das damals übliche methodische Repertoire zu erweitern. Da waren im Vergleich die Eingriffe viel erheblicher, die das Bildungswesen in der DDR auf der zweiten

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und dritten Ebene hinnehmen mußte. In den Schulen z.B. war die methodische Variationsbreite beschränkt auf den Frontalunterricht (der Lehrer doziert, die Schüler nehmen auf). Der Lehrstoff war bis in Einzelheiten ex cathedra vom zuständigen Ministerium vorgegeben, Unterrichtsmethodik folgerichtig auf die Techniken des Beibringens reduziert. Eine derart rigide Steuerung auf der zweiten und dritten Ebene hat es während des Nationalsozialismus nicht gegeben. Im Gegenteil hat sich z.B. Baeumler nachdrücklich für die Individualisierung des Unterrichts eingesetzt. Auf der vierten Ebene, der "pädagogischen Beziehung", waren die politischen Einwirkungen nicht leicht faßbar, aber durchaus zumindest mittelbar vorhanden. Schon aus unserer Lebenserfahrung wissen wir, daß für eine erfolgreiche pädagogische Arbeit in der Schule oder in einem anderen pädagogischen Feld ein bestimmtes menschliches "Klima" unentbehrlich ist, das vor allem durch Vertrauen, Höflichkeit, Respekt und Toleranz zu kennzeichnen ist. Deswegen bedarf das jeweilige pädagogische Feld - z.B. die Schulklasse - eines gewissen Schutzes, einer Art von Autonomie.

Man muß z.B. auch etwas Falsches sagen, mit Gedanken und Argumenten experimentieren können, ohne dafür gleich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Meinungs- und Gesinnungskontrolle vertragen sich damit nicht. Die drei NS-Pädagogen haben das auch nicht ausdrücklich propagiert, aber faktisch hing das Damokles-Schwert der Denunziation als Variante der allgemeinen politischen Repression über jedem pädagogischen Handeln.

Wie intensiv die politischen Einwirkungen auf die Erziehungseinrichtungen auch jeweils sein mögen, eine einfache und direkte Deduktion ist nicht möglich, ohne das pädagogische Erfolgskriterium außer Kraft zu setzen und damit pädagogisches Handeln wirkungslos zu machen. Der politische Wille ist dem pädagogischen nicht vollständig aufzwingbar, er kann immer nur Rahmenbedingungen setzen. Im Unterschied zu Krieck und Schirach hatte Baeumler das erkannt, wenn er betonte, daß der Lehrer "frei", also pädagogisch relativ autonom sei, wenn er den Auftrag des Führers verstanden habe.

Neben den Einwirkungsmöglichkeiten in das pädagogische Feld selbst sind natürlich die Personalentscheidungen von herausragender Bedeutung: Wer darf als Lehrer in das päd-

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agogische Feld eintreten und wer wird dafür gar nicht erst zugelassen? Jüdische Lehrer und Hochschullehrer wurden von den Nazis ebenso entlassen wie andere, die Mitglieder der kommunistischen oder der sozialdemokratischen Partei gewesen oder aus anderen Gründen als politische Gegner angesehen waren. Die richtige Gesinnung sollte garantiert sein nicht zuletzt auch durch eine stark an der Lagererziehung orientierte Lehrerbildung. Die irrige Idee, daß auch die politisch-ideologische Gesinnung zum pädagogischen Erfolgskriterium gehöre, hat die NS-Zeit überlebt und ist bis heute z.B. im Umgang mit DKP- und neuerdings mit SED-Lehrern eine offenbar unausrottbare Fiktion von Politikern.

Alle diese politischen Einwirkungs- und Behinderungsmöglichkeiten reichen jedoch nicht aus, eine spezifisch nationalsozialistische Pädagogik zu rekonstruieren. Die hat es nicht gegeben, es gab nur pädagogische Theorien und Praktiken im Nationalsozialismus. Und die waren durchaus kontrovers. Baeumlers Polemiken gegen Veröffentlichungen der "Geisteswissenschaftler" wie Litt, Nohl, Blättner, Weinstock waren in der Sache durchaus ernstzunehmen, ärgerlich und wohl auch nicht ungefährlich für die Betroffenen wurden sie nur dadurch, daß sie mit der Anmaßung der "richtigen" politischen, nämlich nationalsozialistischen Gesinnung vorgetragen wurden, die den Kritisierten abgesprochen wurde - was zumindest von der Wirkung her eine Denunziation sein konnte.

Solange das pädagogische Erfolgskriterium angewendet werden konnte, gab es dadurch auch einen gewissen Schutz für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ein verwahrloster oder krimineller Jugendlicher, der noch als "erziehbar" angesehen wurde, hatte auch eine Chance zur Resozialisierung. Wer als "unerziehbar" galt, wurde der pädagogischen Verantwortung entzogen, galt als erblich minderwertig und wurde entsprechend "behandelt" - z.B. in den "Jugenschutzlagern" Moringen (für Jungen) und Uckermark (für Mädchen), die faktisch Jugend-KZ waren. Was die Pädagogik nach ihren eigenen Erfolgskriterien - nämlich Lernen zu ermöglichen - nicht mehr sanieren konnte oder wollte - "Unerziehbarkeit" ist ja eine Frage der Definition -, übernahm die rassenbiologisch orientierte Medizin und Psychiatrie als "erbkrank". Wer aber der Pädagogik entzogen bzw. von dieser abgegeben wurde, wurde auch weitgehend der Öffentlichkeit entzogen - mit den bekannten Folgen.

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Wer sich zur Distanz zum NS-Regime entschloß oder gar zum Widerstand, konnte dabei durchaus auf die moralischen Maximen seiner früheren Erziehung zurückgreifen. Man könnte sagen, daß diese Menschen jene Bewährungssituationen einforderten, die ihnen ihre Erziehung versprochen hatte und die sie nun nicht vorfanden.

Diejenigen, die die Nazis unterstützten, hatten im wesentlichen dieselbe Erziehung erfahren wie diejenigen, die sich zu widersetzen versuchten. Die Art und Weise der erlebten Erziehung erlaubt also keinerlei Prognose für das künftige Handeln und Verhalten. Deshalb sind alle Versuche illusorisch, mit Hilfe der Erziehung und durch deren Verbesserung Einfluß auf die Zukunft nehmen zu wollen. Ihre Möglichkeiten sind sehr viel bescheidener anzusetzen: sie kann über Natur und Gesellschaft aufklären, sozial bedeutsame Tugenden und Verhaltensweisen fördern, zur Identifikation mit positiven Vorbildern ermutigen. Was die so Erzogenen und Gebildeten später mit dieser Ausstattung anfangen werden, ist nicht antizipierbar, zumal damit kein Glücksversprechen verbunden werden kann. Aufklärung z.B. über die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge entfremdet auch, kann Geborgenheiten und Loyalitäten brüchig werden lassen. Das ist ein Teufelskreis, in dem wir uns immer noch befinden.

Spezifisch nationalsozialistisch war nicht die öffentliche Erziehung, sondern das Arrangement des öffentlichen Lebens: die geradezu kultischen Selbstinszenierungen der Machthaber; das Fehlen jeder politischen Kontrolle und Gegenmacht; die Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung; die kulturelle Zensur auf allen Ebenen; das allgemeine Klima von Drohung und Einschüchterung. Das waren schon zu Friedenszeiten Sozialisationsfaktoren, die ihre Wirkung auf alle Generationen gewiß nicht verfehlten. Der Krieg schließlich akkumulierte diese Wirkungen und fügte hinzu die Notwendigkeit des Überlebens - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Aber diese Wirkungen können nicht allgemein beschrieben werden, sie lassen sich nur festmachen an einzelnen Biographien und Autobiographien, von denen es inzwischen einige gibt.

Zu lernen ist also, daß Auschwitz nicht pädagogisch, sondern nur politisch verhindert werden kann, aber die Pädagogik könnte diese Einsicht verbreiten.

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