Hermann
Giesecke "Humankapital"
als Bildungsziel?
Grenzen
ökonomischen Denkens für das pädagogische
Handeln In:
Neue Sammlung H.3/2005, S. 377-389
© Hermann
Giesecke Als PDF-Datei
Eine
unabhängige Jury
aus
Sprachwissenschaftlern und
Vertretern der öffentlichen Sprachpraxis hat das Wort "Humankapital"
als größten sprachlichen Missgriff zum "Unwort des Jahres 2004"
gewählt. Das mag auf den ersten Blick verwundern, weil sein Gebrauch in
der Regel gar nicht abschätzig gemeint ist. Regierung und Opposition,
Gewerkschaften, Wirtschaftsinstitute und -berater, Professoren und
Pädagogen benutzen es so selbstverständlich, als sei es längst ein
fester Bestandteil der öffentlichen Sprache, und niemand hat wohl Böses
dabei im Sinn. Den Menschen mit allen seinen geistigen und moralischen
Fähigkeiten als ein Potenzial zu verstehen, dass sich investieren lässt
zum Nutzen anderer wie zu seinem eigenen - was soll daran falsch sein?
Drückt diese Metapher nicht lediglich eine Modernisierung des alten
Bildungsideals aus, weil doch auch die klassische Selbstformung durch
Bildung nie als Selbstzweck gedacht war, sondern in irgendeiner Weise -
nicht zuletzt über den Beruf - dem Gemeinwesen wieder zugute kommen
sollte? Wird auf diesem Hintergrund dem menschlichen Lernen, der
Bildung und Ausbildung, dem Bildungswesen insgesamt einschließlich der
damit befassten Berufe nicht eine gesellschaftliche Unterstützung
zuteil, wie sie wirkungsvoller nicht sein könnte?
Hätte
man in den
siebziger Jahren,
als die neue
Disziplin der Bildungsökonomie sich entfaltete, in pädagogischen
Zusammenhängen eine ökonomische Metapher wie diese verwandt, so hätte
das noch wie eine Verfremdung gewirkt, geeignet, festgefahrene
Denkstrukturen aufzulockern. Damals nämlich wurden in der öffentlichen
Debatte Pädagogik und Ökonomie noch als unterschiedliche
gesellschaftliche Teilbereiche mit je eigentümlichen
Handlungsstrukturen, Zielen und Begriffen sowie einer je besonderen
Ethik auseinander gehalten, obwohl sie natürlich wie alle anderen
gesellschaftlichen Teilsysteme auch als aufeinander bezogen galten.
Das
hat
sich
geändert. Bis in die
Sprache hinein hat
die Ökonomisierung des öffentlichen Lebens inzwischen auch die
Pädagogik und die Bildungspolitik erfasst. Begriffe wie Effektivität,
Effizienz, Evaluation, Standard, Qualitätssicherung, Modularisierung
oder auch Humankapital schaffen keine kritische Distanz mehr, sondern
meinen genau das, was sie bezeichnen - nämlich die Reduktion
gesellschaftlicher Erwartungen auf ökonomische Verwertbarkeit von allem
und jedem. Dagegen ist mit philologischer Kleinarbeit kaum mehr
anzukommen und daran knüpft die erwähnte Kritik am Wort Humankapital
an. Was
sein Gebrauch verheißen könnte,
deckt sich immer
weniger mit der Wirklichkeit. So gelten Mitarbeiter eines Betriebes
immer häufiger als ein reiner Kostenfaktor, immer weniger als ein zu
pflegendes Potenzial an Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen, das eo
ipso einen Vermögenswert darstellt, der für Erfolg und Wachstum eines
Unternehmens unentbehrlich ist. Schon die Vermutung, dass
377
demnächst
Mitarbeiter entlassen
würden, lässt den Wert der Aktien in die Höhe schnellen.
Es
ist
schwer
auszumachen, wer für
die
Ökonomisierung der öffentlichen Sprache eigentlich verantwortlich ist.
Jedenfalls wäre zu kurz gegriffen, darin lediglich eine
interessenorientierte Propaganda etwa zum Nutzen von
Wirtschaftskreisen
zu sehen. Das würde nicht erklären, warum diese Diktion auch in anderen
gesellschaftlichen Bereichen wie gerade auch in der Bildungspolitik und
Schulpädagogik Einzug gehalten hat. Offensichtlich haben wir es mit
einem Zeitgeistphänomen zu tun, das als solches seinem historischen
Ende nicht entgehen wird, bis dahin aber im Bereich von Erziehung und
Bildung nachhaltigen Schaden anrichten kann.
Kosten
des Humankapitals
Das
Institut der
deutschen
Wirtschaft
in Köln hat jüngst den Wert des deutschen Humankapitals sogar
errechnet, indem es ermittelte, was alle vorhandenen
Bildungsabschlüsse
kosten würden, wenn sie heute noch einmal erworben werden müssten -
zuzüglich des Einkommensausfalls, der durch die Ausbildungszeit
entsteht. Es waren demnach im Jahre 1999 3.705 Milliarden Euro - 1992
waren es, wie kritisch angemerkt wird, nur 450 Milliarden Euro weniger,
was lediglich einer Steigerung von 1,8% pro Jahr entspreche (1).
Während
also das Humankapital weitgehend stagniere, habe sich das Sachkapital
in diesem Zeitraum um das fünffache erhöht.
Derartige
Berechnungen, so
anschaulich sie zunächst
erscheinen, haben natürlich nur eine begrenzte Aussagekraft. Stünden
der deutschen Wirtschaft die Mitarbeiter lediglich zum Zeitpunkt ihres
Qualifikationserwerbs zur Verfügung, könnte sie deren Humankapital nur
sehr eingeschränkt nutzen. Es besteht nämlich auch aus
Lebenserfahrungen und Berufserfahrungen, aus vielen komplexen
Lernprozessen, die außerhalb der formellen Qualifikationen erworben
wurden. Ferner muss dieses Humankapital von Geburt an, während des
ganzen Arbeitslebens und bis zum Tode versorgt, gepflegt, ermutigt,
umarmt, getröstet, geliebt und bei Laune gehalten werden im Rahmen
verbindlicher und verlässlicher Sozialbeziehungen, sonst kann es
wirtschaftlich nicht verwertet werden. Insofern dies alles nicht über
den Arbeitsmarkt verkauft wird, müsste es eigentlich dieser Rechnung
hinzugefügt werden. Wie viel Humankapital steckt in einem stabilen
Familienleben oder einem dörflichen Fußballklub, dessen freiwillige
Helfer zur sozialen Integration und Identitätsbildung von Jugendlichen
beitragen und damit überhaupt erst deren Humankapital wirtschaftlich
verfügbar machen und halten? Selbst wenn man dies alles berechnen
könnte, bliebe ein erheblicher Rest, der sich grundsätzlich solchen
Messungen - und vor allem: darauf basierenden Planungen! - entzieht und
gleichwohl unverzichtbar für den Menschen als verwertbares Humankapital
378
bleibt
- von
anderen menschlichen
Zwecken ganz zu
schweigen. Und was geschieht bzw. soll mit denen geschehen, deren
Humankapital für den Arbeitsmarkt nicht ausreicht oder die aus ihm in
die Arbeitslosigkeit entfernt werden, wenn also das Kapital Mensch
nicht die erwartete Rendite bringt? Ein Mensch, der im Arbeitsprozess
verwertet wird, hat also erheblich mehr gekostet, als diese Berechnung
erkennen lässt.
Hinzu
kommt,
dass
Finanzkapital
weltweit in Rendite
versprechenden Investitionen angelegt werden kann, es kann sich dabei
vermehren oder verloren gehen. Es muss aber nicht, wie das Humankapital
in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, zu Hause herumsitzen und auf seine
Zulassung zum Markt warten. Ob und in welchem Umfang die Investitionen,
die in die Bildung von Menschen gesteckt werden, sich wirklich
wirtschaftlich rentieren, ist sowohl statistisch wie erst recht im
Einzelfalle höchst ungewiss.
In den 60er und
70er
Jahren war man
euphorisch der
Meinung, eine höchstmögliche Bildung für möglichst alle zahle sich
wirtschaftlich aus, schaffe Innovationen und Arbeitsplätze. Die
Bildungsreformen von damals wurden letzten Endes nicht von
demokratisch-politischen ("Bildung als Bürgerrecht") oder gar
pädagogischen ("Chancengleichheit"), sondern von wirtschaftlichen
Überlegungen forciert, die vor allem den Wettbewerb mit den
kommunistischen Ländern im Auge hatten. Seitdem wurde die
Abiturientenquote zu einer magischen Zahl. Aber schon damals zeigte
sich, dass Massenarbeitslosigkeit nicht nur ungelernte Tätigkeiten,
sondern auch akademische Berufe treffen kann, und die regierenden
Sozialdemokraten hatten große Mühe, den Hochschulabsolventen zu
erklären, dass aus dem Recht zum Studium nicht auch das auf einen
angemessenen Arbeitsplatz abzuleiten sei. Tatsächlich gibt es keinen
zuverlässigen Zusammenhang zwischen Nachfrage am Arbeitsmarkt und
Qualifikationsangebot, wäre es anders, müssten Länder mit einer hohen
Akademikerquote wie Ägypten wirtschaftlich besonders gut dastehen.
Vieles spricht sogar dafür, dass es in einer Zeit hoher struktureller
Arbeitslosigkeit kein ökonomisches Interesse mehr
daran gibt,
möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur noch daran,
die wirklich Begabten optimal zu fördern, denn diese, und nicht die
anderen, sichern die ökonomische Zukunft der Gesellschaft. Diese
unangenehme Einsicht wagt kaum jemand öffentlich auszusprechen, sie
wird vielmehr unter Hinweis auf andere vergleichbare Länder mit ihren
hohen Absolventenquoten lieber verdrängt. Gerade die Pädagogik sollte
sich jedoch in diesem Punkte keine Illusionen machen. Wer auch künftig
an Chancengerechtigkeit im Bildungswesen festhalten will, braucht dafür
andere Begründungen als marktgerechte ökonomische Verwertbarkeit just
in time. Dafür
stehen die Chancen jedoch
nicht gut. Die
Öffentliche Meinung wird vielmehr beherrscht von einem neoliberalen
Grundtenor, der im Wesentlichen auf Hypothesen beruht und keineswegs
empirisch abgesichert ist, wie auch der Meinungsstreit unter den
Fachleuten zeigt. Neoliberale Vorstellungen gehen von bestimmten
Glaubenssätzen aus, nach denen allein auf die Selbstheilungskräfte des
Marktes zu vertrauen sei, der Arbeitsmarkt entregelt werden müsse und
der schlanke Staat als der beste aller möglichen gilt. Dabei
handelt
es
sich jedoch 379
nicht nur um ein
Wirtschaftskonzept,
vielmehr soll
es auch auf staatliche Systeme wie Gesundheit, öffentliche
Infrastruktur, Alterssicherung und eben auch Bildung übertragen werden
- genau das ist das Problem. Deshalb ist es sinnvoll, das Verhältnis
von Ökonomie und Pädagogik etwas genauer zu betrachten.
Überschätzung
betriebswirtschaftlicher Erfahrungen
Die
gegenwärtige
Überflutung der
öffentlichen
Sprache mit ökonomischen Begriffen geht nicht schlechthin von "der"
Wirtschaft aus, sondern von betriebswirtschaftlichen
und
weniger von volkswirtschaftlichen
Erfahrungen und Denkstrukturen. Das ist ein erheblicher Unterschied. Er
besteht vereinfacht gesagt darin, dass Gewinnmaximierung das Kernziel
des einzelnen Betriebes ist, ein hinreichendes Steueraufkommen jedoch
das einer politisch entsprechend zu regulierenden Volkswirtschaft als
Gesamtwirtschaft. Das eine ergibt sich keineswegs zwingend aus dem
anderen, florierende Betriebswirtschaften führen nicht automatisch auch
zu einer florierenden nationalen Volkswirtschaft mit angemessenen
Steuereinnahmen - nicht erfolgreiche natürlich erst recht nicht.
Privatwirtschaftlicher Reichtum kann durchaus einhergehen mit Armut der
öffentlichen Kassen. So war es zwar für die Betriebe kostengünstig,
ältere Arbeitnehmer, die nicht mehr benötigt wurden, vorzeitig in Rente
zu schicken, für die Volkswirtschaft, in diesem Falle für die sozialen
Sicherungssysteme, jedoch keineswegs. Wirtschaftlichem Handeln von
Marktteilnehmern geht es darum und muss es bei Strafe des Scheiterns
darum gehen, die verfügbaren bzw. wahrgenommenen Handlungsspielräume
nach Maßgabe von materiellen Vorteilskalkülen zu nutzen. Solange dies
im legalen Rahmen erfolgt, ist es auch nicht unmoralisch, obwohl es
gelegentlich - gemessen an allgemeinen Moralvorstellungen -
gesinnungslos erscheinen mag. Problematisch wird es dann, wenn wie seit
geraumer Zeit diese Art zu denken die Grenzen seiner Kompetenz
überschreitet, z.B. sich in pädagogischen Zusammenhängen ausbreitet.
Dann ist etwa
festzustellen, dass
die
betriebswirtschaftliche Perspektive, die in den neoliberalistischen
Glaubenssätzen zum Ausdruck kommt, mit pädagogisch bedeutsamen
Kategorien wie Erinnerung, Tradition oder Bildung sowie mit der dafür
spezifischen, nämlich intrinsischen Motivation wenig anzufangen vermag.
(Motivation wird statt dessen vor allem von materiellem Anreiz
erwartet). Ihre geschichtslosen Maßstäbe sind Veränderung, Innovation
und Flexibilität. Aus dieser Ecke kommt auch der permanente Hinweis,
dass Wissen schnell veralte, während doch nur seine
betriebswirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem Markt veraltet - was ja
nicht dasselbe ist. Biographisch gesehen, also im Rahmen eines
individuellen Bildungsprozesses, wird "altes", also bisher erworbenes
Wissen nicht überflüssig, sondern in neue Kenntnisse und Erfahrungen
integriert und dabei erweitert, korrigiert oder modifiziert. Neues
Wissen muss an "altes" anknüpfen können, sonst wird der Begriff des
Lernens sinnlos, das ja nicht aus einer endlosen Kette von Löschen und
Speichern im Gehirn besteht. Solche Prozesse anzuregen ist Kernaufgabe
des schulischen Unterrichts. Selbst Deutungen der Realität, die sich
als falsch, 380
erwiesene haben,
erhalten hier einen
Sinn, insofern den Gründen für ihr Zustandekommen nachgegangen wird.
Wie kurzsichtig
die
betriebswirtschaftliche
Perspektive ist, zeigt sich daran, dass viele Betriebe immer wieder
diejenigen Fachleute, die sie heute brauchen, gestern erst entlassen
haben, was marktgerecht Studierende dann nach den Regeln des
Schweine-Zyklus vom Studium dieses Faches über Jahre hinweg abzuhalten
pflegt. Was volkswirtschaftlich unvernünftig ist, kann aus Sicht der
einzelnen Betriebe durchaus geboten sein - und umgekehrt. Die
gegenwärtig verbreitete und propagierte Vorstellung, dass in erster
Linie betriebliche Maßstäbe und Organisationsformen als fortschrittlich
zu gelten hätten und deshalb auf alle gesellschaftlichen Institutionen
- auch auf die Schule - zu übertragen seien, beruht also auf einer
unzulässigen Expansion spezifischer, keineswegs allgemein gültiger
Erfahrungen. Abgesehen davon drängt sich immer wieder der Eindruck auf,
dass betriebswirtschaftliches Denken und darauf beruhende
Entscheidungen so rational gar nicht sind, wenn man etwa an die
"Psychologie" des Aktienmarktes oder an "feindliche Übernahmen" denkt,
die Probleme schaffen, die man vorher nicht hatte. So wunderte sich
jüngst Ralf Dahrendorf, "dass es im beträchtlichen Maße
Entscheidungsprozesse gibt, ohne dass irgendjemand Entscheidungen
trifft. Ich habe mich einmal gefragt, wie es eigentlich kommt, dass
Führer großer Unternehmen, die, sagen wir einmal, höchstens zehn
Prozent Weltmarktanteil haben, sagen: Wir sind zu klein, so können wir
nicht bestehen. Dann geht es mit dem Auffressen der Konkurrenten los.
Das ist einfach eine Grundstimmung. Es hat keine Regierung, auch keine
internationale Organisation gesagt: Ein Unternehmen mit zehn Prozent
Weltmarktanteil ist zu klein"(2).
Die
Einschätzung,
was nun
marktgerecht sei und was
nicht, folgt - was wir aus der Pädagogik und Bildungspolitik ebenfalls
kennen - teilweise und zeitweilig einem modischen Zeitgeist, von dem
niemand sagen kann, wer ihn eigentlich aufgebracht hat.
"Das modische
Stichwort für
Unternehmens- und
Fusionsstrategen heißt Kernkompetenz. Aus diesem Grund werden auch
Konzerne aufgespalten. ... In den siebziger Jahren war es modern, dass
Unternehmensführer riesige Gemischtwarenkonzerne schufen. Ihr Motto: Je
breiter das Angebot eines Unternehmens, desto unabhängiger ist es von
der Konjunktur in einzelnen Branchen. Außerdem sollte Größe vor
feindlichen Übernahmen schützen ... Inzwischen gelten die
diversifizierten Konzerne als ineffizient und an der Börse als wenig
attraktiv. ...
Von
Lean Management oder Down
Sizing, vor kurzem noch Heilsbringer für viele Konzerne, redet heute
kein Mensch mehr"(3).
Ob
also
betriebswirtschaftliches
Denken generell auf
einer hinreichenden Rationalität beruht, die einen Transfer in andere
gesellschaftliche Bereiche nahe legt oder gar geboten erscheinen
lässt,
ist mehr als zweifelhaft. Hinzu kommt, dass ein Wirtschaftsbetrieb
neben politischen auch von pädagogischen Voraussetzungen lebt, die er
selbst nicht schaffen kann. "Die" Wirtschaft - verstanden als Summe
381
der einzelnen
Betriebe bzw. als
deren verbandliche
Repräsentation im Rahmen einer Volkswirtschaft - kann gewiss Mängel der
Schulausbildung oder Erziehungsdefizite konstatieren und rückmelden,
darauf sind pädagogische und bildungspolitische Entscheidungen sogar
angewiesen. Sie kann aber von sich aus keine konstruktiven Programme
für deren Beseitigung entwickeln, geschweige denn im Rahmen ihrer
institutionellen Struktur realisieren. Äußerungen aus Kreisen der
Wirtschaft über bildungspolitische oder pädagogische Themen bleiben
deshalb spekulativ und gehen selten über das hinaus, was der
journalistische mainstream ohnehin für pädagogisch fortschrittlich
hält. Aus ihrem eigenen Handlungs- und Verantwortungshorizont heraus
vermag die Wirtschaft nicht einmal zu ermitteln, welche Bildungsgehalte
und didaktischen Konstruktionen für sie selbst besonders nützlich sind
- geschweige denn, dass sie wüsste, wie über Jahre hinweg in den
Schulen didaktisch-methodisch entwickelt werden muss, was sie zu
brauchen glaubt. Wenn alle Schüler den Abschluss eines humanistischen
Gymnasiums erreichten - würde das der Wirtschaft nützen oder nicht? Von
der Langfristigkeit und Komplexität individueller Bildungsprozesse hat
sie im Rahmen ihrer Denkmuster keine angemessenen Vorstellungen, ebenso
wenig von denjenigen Motivationen, die dafür erforderlich sind.
Selbstverständlich können auch Fachleute der Wirtschaft sich über
pädagogische Fragen kundig machen, aber sobald sie pädagogisch
argumentieren, müssen sie ihre betriebswirtschaftliche Logik verlassen.
"Die Wirtschaft"
benötigt z.B. - wie
ihre
Repräsentanten immer wieder betonen - Flexibilität, also die Fähigkeit,
sich veränderten Arbeitsweisen, Zielen und Methoden am Arbeitsplatz und
auch am Arbeitsmarkt zügig anzupassen. Aber welche pädagogischen
Strategien nötig sind, um eine dafür geeignete geistige, soziale und
affektive Disposition zu lernen, weiß sie von sich aus nicht. Die
Schule soll zur "Teamarbeit" erziehen - heißt es - , weil diese
Fähigkeit als "Schlüsselqualifikation" im Betrieb gebraucht werde -
aber Sinn und Zweck der betrieblichen Teamarbeit,
die übrigens
dort so verbreitet gar nicht ist, kann die Schule in ihren Räumen nicht
arrangieren, weil hier nichts mit Gewinn produziert wird, also das
entscheidende Erfolgskriterium fehlt. Die für das unterrichtliche
Lernen optimalen Sozialformen sind nicht identisch mit den im Betrieb
gebotenen. Übersieht man das, würde "Teamfähigkeit" nur in den Rang
einer prinzipiellen Tugend erhoben, als sei sie mehr als nur eine
situationsbezogene Verhaltensstrategie, die in anderen Situationen
unangebracht ist. Dass unterrichtliche Arrangements gesellschaftliche
Veranstaltungen sui generis
sind, mit eigenen Regeln
und
einer eigenen Logik, wird merkwürdigerweise auch in breiten Teilen der
Bevölkerung leicht ignoriert; nur wenn der Schulunterricht von etwas
angeblich Wichtigerem - z.B. der Produktion - abgeleitet wird, kann man
ihm eine Bedeutung abgewinnen. Das planmäßige Lehren hat jedoch selbst
dann eine andere innere Struktur und Ordnung als das marktgerechte
Produzieren, wenn es sich ausdrücklich wie in der Berufsschule darauf
bezieht. Diese Erfahrung mussten auch diejenigen machen, die in der
Vergangenheit versucht haben, den Unterricht mit der
Arbeitsorganisation zu verbinden - ein bekanntes Exempel war etwa die
polytechnische Erziehung und Bildung in der DDR
382
("Unterrichtstag
in der
Produktion"). Stets konnte
die Lösung nur im Wechsel von der einen Tätigkeit in die andere
bestehen - entweder Schule oder Produktionsort. Wer seinen Arbeitsplatz
zum Zweck der Fortbildung verlässt, bemerkt diesen Unterschied schnell.
Der
Begriff "Schlüsselqualifikation"
- ein weiteres
Zauberwort, mit dem Wirtschaftskreise gerne hantieren - tauchte in den
achtziger Jahren im Rahmen von Reformüberlegungen zur Berufsausbildung
auf. Dort hatte sich die überlieferte Praxis, die gewerbliche
Ausbildung in Hunderte von Einzelberufen aufzugliedern, als kaum noch
durchführbar und wenig erfolgreich erwiesen. Historisch gesehen beruhte
dieses System auf einer Notlösung, weil es von einem relativ niedrigen
Niveau der in der früheren Volksschule erworbenen Allgemeinbildung
auszugehen hatte. Nun fahndete man nach komprimierten Grundlagen für
möglichst viele Berufe. Als man jedoch daran ging näher zu bestimmen,
was darunter zu verstehen sei, stellte sich schnell heraus, dass die
dabei ermittelten generellen Qualifikationen eigentlich für akademische
Berufe ebenso gelten können wie für Facharbeiter. Im Grunde handelt es
sich hier um Fähigkeiten, die man früher als "formale Bildung"
bezeichnet hat, nämlich um Techniken der geistigen Arbeit und der
Kommunikation, die allerdings ebenso wenig wie eine gründliche
Allgemeinbildung leicht und offensichtlich auch nicht von allen
Schülern im erwünschten Maße und vor allem nicht inhaltsfrei gelernt
werden können. Von der "lernenden Organisation", zu der auch die Schule
werden sollte, spricht inzwischen kaum noch jemand, weil dieses Konzept
selbst im Hinblick auf einen Wirtschaftsbetrieb von zu vielen
realitätsfernen Prämissen ausgeht (4).
Zwischen einem
Wirtschaftsbetrieb
und einer Schule
bestehen gravierende Unterschiede. Was die Schule leistet, lässt sich
nicht über eine Preisfindung in den Markt einbringen und dort
verkaufen. Eine Schule kann zwar - aus welchen Gründen auch immer -
geschlossen werden, aber sie kann nicht in Konkurs gehen. Im
eingeschränkten Sinne gibt es zwar eine Marktkonkurrenz zwischen
einzelnen Schulen, insofern sie - zumal bei geburtenschwachen
Jahrgängen - um Schüler werben, aber wer dabei ins Hintertreffen gerät,
muss keine existenziellen Konsequenzen fürchten. Das Personal - die
Lehrer - kann selbst beim Schließen einer Schule (in Deutschland) nicht
entlassen und nach Bedarf wieder eingestellt werden, und die Kunden
haben kaum die Wahl zwischen mehreren Produkten. Für das, was man hier
als Produkt bezeichnen könnte - nämlich den Bildungsstand der Schüler -
muss keine Haftung übernommen werden. Was soll unter diesen Bedingungen
"Qualitätssicherung" heißen (5)?
Man
muss also mit der
Übertragung
betriebswirtschaftlicher Begriffe auf die Institution Schule vorsichtig
umgehen. Man mag die Schule als eine Dienstleistung betrachten, aber
deshalb ist sie noch lange kein Dienstleistungsunternehmen.
Die
Schüler bzw. deren Eltern sind keine Kunden, weil es hier nichts zu
383
kaufen gibt und
weil der Schulträger
Staat nicht als
Unternehmer agiert. Wird die Idee des Wettbewerbs, der keineswegs ein
gesellschaftliches Allheilmittel ist, hier übertrieben, setzt sich wie
beim Fernsehen möglicherweise ein relativ niedriges Niveau durch. Soll
oder muss eine Hochschule um die meisten oder um die besten Studenten
mit anderen in Wettbewerb treten? Das hängt wesentlich davon ab, worauf
sich ihre Finanzierung gründet.
Gleichwohl
können in
einem analogen
Sinne
betriebswirtschaftliche Leitmotive von Nutzen sein. Die Verwaltung kann
mit ihrer Hilfe gestrafft, die Leistungskontrolle getrennt davon
effektiv organisiert werden. Nützlich sind auch zeitökonomische
Überlegungen im Hinblick darauf, welche Unterrichtsmethoden in einer
bestimmten Situation besonders ergiebig sind. Wenn man der Einzelschule
einen eigenen Etat zur Verfügung stellt, mit dem sie selbstständig
wirtschaften darf, würde viel bürokratische Umständlichkeit
verschwinden; zudem erhielte die Mitbestimmung der Schüler einen neuen
Sinn, weil Haushaltsfragen bekanntlich immer auch Anlass zu
inhaltlichen Debatten geben; man muss begründen, wofür man warum wie
viel Geld oder Dienstleistungen haben will.
Es kann also
nicht um die
Übertragung
betriebswirtschaftlicher Maßstäbe auf die Schule gehen. Vielmehr muss
der Eigensinn der Schule zunächst einmal auf dem Hintergrund ihrer
besonderen Aufgabenstellung und der daraus abzuleitenden sachlichen und
menschlichen Dimensionen ermittelt werden. Dann stellt sich schnell
heraus, dass die Schule als Ort des planmäßigen und langfristigen
Lehrens und Lernens in wesentlichen Punkten mit keiner anderen
gesellschaftlichen Institution vergleichbar ist, in ihr gelten vielmehr
die Regeln der Bildungsgemeinschaft, nicht einer Betriebsgemeinschaft.
So wie Lehrer mit ihren Schülern im Idealfall umgehen sollten, kann man
nicht ohne weiteres im Betrieb miteinander umgehen - von den
allgemeinen Regeln der Höflichkeit einmal abgesehen. Die eigentümliche
"pädagogische Beziehung" etwa zwischen Lehrern und Schülern kann weder
aus anderen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen importiert noch
dorthin exportiert werden.
Unterschätzung
volkswirtschaftlicher
Notwendigkeiten
Volkswirtschaftlich
betrachtet sieht
das Verhältnis von Pädagogik und Ökonomie etwas anders aus. Das
Bildungswesen kostet die staatliche Gemeinschaft viel Geld, ohne dass
sein wirtschaftlicher Nutzen exakt zu berechnen wäre. Als die mit der
Bildungseuphorie der 60er und 70er Jahre verbundenen expandierenden
Reformpläne von der Universität bis zum Kindergarten und zur
Jugendhilfe, die nicht zuletzt ökonomisch begründet wurden, sich schon
Anfang der 70er Jahre als nicht mehr finanzierbar erwiesen, kamen
zunehmend Zweifel daran auf, ob die erheblich gestiegenen Kosten zu
einem vertretbaren Resultat geführt hatten. Die nun eingeleiteten
Sparmaßnahmen legten die Frage nahe, ob ein nennenswerter Effekt nicht
auch mit weniger Investitionen zu erreichen sei. Daraus hat sich
inzwischen unter dem Diktat neoliberaler Marktradikalität ein
parteiübergreifender Wettbewerb der Kostensenkung gerade auch im
Bildungsbereich ergeben; Sparen ist "in" geworden, der Staat wird
verbetriebswirtschaftlicht.
384
Andererseits ist
in den letzten
Jahrzehnten dem
Bildungswesen gegenüber innerhalb der Bevölkerung eine sozialpolitisch
fundierte Anspruchshaltung entstanden, die die Balance von Angebot und
Leistung in eine Schieflage gebracht hat: Der Andrang auf die höheren
Bildungseinrichtungen - Gymnasium wie Universität - wurde verbunden mit
der Einstellung, dies alles stünde einem zu, sei als ein Recht ohne
Gegenleistung zu verstehen. Selbst der offenkundig lernunwillige
Schüler oder auch Student habe das Recht, optimal gefördert zu werden.
Wer nicht begabt sei, müsse eben begabt werden
- nicht
etwa zumindest auch sich selbst zu begaben versuchen. Universitäten und
Gymnasien sind teilweise besetzt mit Schülern und Studenten, die im
Grunde dort nicht hingehören, bzw. nur dann dort einen Platz
beanspruchen dürften, wenn sie das Ihre zu einer effektiven Nutzung
dieser Einrichtungen beitragen würden. Inzwischen hat sich wieder
herausgestellt, dass Bildung auch bei uns - in Entwicklungsländern
ohnehin - ein knappes und deshalb teures Gut bleibt. Der Erziehung von
Kindern und Jugendlichen würde gewiss nicht schaden, solche
wirtschaftlichen Gesichtspunkte wieder ins Feld zu führen und deutlich
zu machen, dass Ökonomie die Verwaltung eines Mangels
ist und
dass deshalb die Inanspruchnahme einer gesellschaftlichen Ressource wie
des Bildungswesens einer je persönlichen Gegenleistung bedarf. Selbst
pädagogische Grundphänomene haben eine ökonomische Basis. So ist das
Generationenverhältnis, auf dem letztlich jedes pädagogische
Selbstverständnis nach wie vor beruht, im Kern ein volkswirtschaftlich
fundiertes. Es resultiert bekanntlich aus der biologisch bedingten
Tatsache, dass die nachwachsende Generation von sich aus über Jahre
hinweg nicht nur physisch nicht überlebensfähig ist, sondern auch ihren
Unterhalt nicht selbst erwirtschaften kann. Deshalb hat das
Generationenverhältnis die ideelle Form eines Kredits, der von den
Kindern zurückgezahlt werden muss, wenn sie erwachsen geworden sind.
Entsprechendes gilt für das Angebot von Schulen. Auch sie sind
Bestandteil des Generationenvertrages, auch sie beruhen demnach auf dem
Grundsatz eines wechselseitigen Gebens und Nehmens. Sie sind primär
eine Veranstaltung des Staates bzw. der Gesellschaft, und dies nicht
zuletzt in ökonomischer Hinsicht, nämlich zur Sicherung der
wirtschaftlichen Produktion und Reproduktion zum Nutzen aller
Mitglieder der Gesellschaft. Wenn dabei in der Moderne der
Persönlichkeit und der Individualität des Kindes nachdrücklich Rechnung
getragen wird, dann nicht aus romantischer Sentimentalität, sondern
weil moderne Gesellschaften eines hohen Maßes an Individualisierung
möglichst aller Menschen bedürfen. In diesen Zusammenhang gehört auch
die Freisetzung des Kindes- und Jugendalters von
unmittelbaren
ökonomischen Zwängen sowie die Abschaffung der Kinderarbeit, was die
Ausdifferenzierung eines hochkomplexen Bildungs- und Erziehungssystems
überhaupt erst möglich machte. Kinder und Jugendliche - heißt das -
können dem Arbeitsmarkt für eine Reihe von Jahren entzogen werden. Dies
war nur möglich auf dem Hintergrund entsprechend gestiegener
volkswirtschaftlicher Ressourcen; aber die ökonomischen Implikationen
und Zwecke verschwanden damit nicht, sondern wurden nun auf eine
höhere, effektivere Ebene gehoben: der Nutzen sollte später um so höher
ausfallen. 385
Auf
der anderen Seite war dieser
Prozess der
ökonomischen Ausgliederung von Kindheit und Jugend auch Voraussetzung
für eine weitgehende Emanzipation der professionellen Pädagogik von
unmittelbaren wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Gesellschaft konnte
sich zunehmend den Luxus relativ autonomer pädagogischer Einrichtungen
und darauf bezogener Konzepte und Theorien leisten. Und erst in diesem
Prozess entfalten sich auch die modernen pädagogischen Vorstellungen
und Begriffe. Die Pädagogik erhält nun einen relativ unabhängigen
eigenen professionellen Handlungsrahmen, von dem aus sie Erwartungen
der gesellschaftlichen Interessenten - auch der Wirtschaft - nach
eigenen Maßstäben überprüfen und sortieren kann. Die enormen Kosten für
all das mussten aber erst einmal der Volkswirtschaft zur Verfügung
stehen, und es hat lange gedauert, bis es so weit war. Die Pädagogik
tut gut daran, diesen ökonomischen Zusammenhang, die Basis ihrer
eigenen Existenz, nicht zu vergessen - auch nicht im Hinblick auf ihre
gegenwärtigen Programme, Ziele und Wünsche.
Betriebswirtschaftlich
gesehen mag
es in einer Zeit
hoher struktureller Arbeitslosigkeit kein Interesse mehr daran geben,
möglichst alle möglichst hoch zu qualifizieren, sondern nur noch die
wirklich Begabten optimal zu fördern, wobei die bestmögliche Förderung
des ganzen Nachwuchses allenfalls zur Ermittlung
der besonders
Begabten dient. Das betriebswirtschaftliche Interesse beschränkt sich
hier auf das Vorhandensein eines Reservoirs von unterschiedlich
qualifizierten Menschen, die nach Bedarf eingestellt und gegebenenfalls
auch möglichst problemlos wieder entlassen werden können.
Volkswirtschaftlich
betrachtet gilt
eine andere
Rechnung. Hier müssen Kosten beglichen werden, die im Gemeinwesen
entstehen, ohne dass sie als solche auf einem Markt erwirtschaftet
werden können: für die notwendigen staatlichen Organe und Tätigkeiten,
für Arme, Arbeitslose und Rentner und eben auch für das Bildungswesen.
Auf dieser Ebene entsteht zum Beispiel die Frage, ob durch einen Mangel
an Bildung (mit) verursachte Marginalisierung von Bürgern das
Gemeinwesen letztlich teurer zu stehen kommt als höhere Investitionen
in das Bildungswesen. Oder ob Bildungsausgaben nicht eine präventive
Wirkung gegen Kriminalität haben. Auch das sind für sich genommen
berechtigte Kostenkalküle, die abgewogen werden müssen.
Aber solche
volkswirtschaftlichen
Kosten-Nutzen-Rechnungen reichen allein nicht aus, um Pädagogik und
Bildungspolitik gesellschaftlich zu verorten. Hinzukommen muss der
politische Wille. Eine höchstmögliche Bildung für alle lässt sich nicht
allein aus wirtschaftlichen Erwägungen ableiten, obwohl sie dazu nicht
in Widerspruch stehen muss, sondern beruht auf einem demokratischen
Menschenbild, wie es Dahrendorf mit der Formel von der "Bildung als
Bürgerrecht" formuliert hat. Demnach ist es Aufgabe des Bildungswesens,
die menschlichen Fähigkeiten insgesamt zu fördern, nicht nur im
Hinblick auf die wirtschaftliche, sondern auch auf die politische und
kulturelle Beteiligung - auch wenn diese Partizipationschancen sich
nicht in betrieblichen und volkswirtschaftlichen Bilanzen
niederschlagen. Eine solche Vorstellung entsteht nicht am Markt,
sondern im Rahmen politischer Entscheidungen. Die Ökonomisierung der
öffentlichen Sprache scheint diese politische Verantwortung des
386
Staates
allerdings allmählich zum
Verschwinden zu bringen und dies im gleichen Atemzug zu rechtfertigen.
Ein
Zurückweichen
des Staates ist
auch unverkennbar
im Hinblick auf seine politische Verantwortung für die
Rahmenbedingungen des privatwirtschaftlich betriebenen Marktes, die
dieser von sich aus nicht herstellen und garantieren kann. Ohne solche
Bedingungen könnte sich das ökonomische Vorteilskalkül nicht entfalten.
Der Markt kann seine Existenz nicht selbst garantieren, nicht z.B.
Handel statt Raub durchsetzen. In der Notwendigkeit des politischen
Handelns treffen das - in der erwähnten Bedeutung - gesinnungslose
ökonomische Vorteilsdenken einerseits und wertorientiertes Denken über
das erwünschte und nach Lage der Dinge mögliche gesellschaftliche
Zusammenleben andererseits aufeinander.
Die neoliberale
Weltanschauung
erweckt dagegen den
Eindruck, als seien die mit dem Stichwort "Globalisierung" bezeichneten
Veränderungen eine Art Naturereignis, dem sich niemand entziehen könne.
Tatsächlich jedoch ist das daraus resultierende Wirtschafts- und
Finanzsystem politisch gewollt und könnte deshalb hinsichtlich seiner
Rahmenbedingungen auch politisch geändert und modifiziert werden. Die
Verantwortung dafür trägt also nicht die Wirtschaft, sondern die
nationale bzw. internationale Politik (6).
Ohne einen
international
verabredeten bzw. geduldeten politischen Schutz könnte der
"Heuschrecken-Kapitalismus" in Gestalt des weltweit die Chancen zu
seiner Maximierung abgrasenden Finanzkapitals so nicht funktionieren.
Schon eine geringfügige Steuer auf jeden Kapitaltransfer würde die
Bedingungen dafür verändern. Das macht aus der Sicht des Bürgers den
wesentlichen Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft aus: Politiker
kann er wählen und abwählen, Unternehmer nicht. Wenn Politiker an die
Moral von Unternehmern appellieren, anstatt ihnen die dafür nötigen
Rahmenbedingungen vorzugeben, sind sie gemeinhin mit ihrem
wirtschaftspolitischen Latein am Ende. Die Pädagogik und hier vor allem
die politische Bildung sollte sich nicht daran beteiligen, eine
richtige (politische) Moral im dafür falschen (ökonomischen)
Handlungszusammenhang zu erwarten.
Homo
neoliberalis
In
der
neoliberalen Ökonomisierung
der Sprache drückt sich aber auch eine bestimmte Anthropologie aus, die
der Pädagogik nicht gleichgültig sein kann. Friedhelm Hengsbach hat sie
am Beispiel der gegenwärtig durchgesetzten Agenda der Bundesregierung
wie folgt kritisiert:
"Die Agenda
rechnet
mit
gesellschaftlich
entkoppelten Menschen. Deren Individualisierung wird als Chance
gedeutet. Dass ihr eine Individualisierung gesellschaftlicher Risiken
korrespondiert, wird verschwiegen. Die Individuen gelten als hochgradig
flexibel und mobil. Sie
387
verknüpfen ihre
Biographien und
Rollen zu einem
variablen Identitätsbündel. Die Agenda nutzt die individuellen
Bedürfnisse betrieblicher, beruflicher und zeitlicher Flexibilität
sowie räumlicher Mobilität, um verkrustete Regeln des Arbeitsmarkts
zugunsten der Freiheit des Individuums zu verändern. Sie unterscheidet
nicht zwischen authentischen Flexibilitäts- und Mobilitätsbedürfnissen
souveräner Individuen und der erzwungenen Flexibilität und Mobilität
abhängig Beschäftigter. Den flexiblen und mobilen Agenda-Menschen,
denen eine Erwerbsgelegenheit angeboten wird, ist zuzumuten, dass sie
die Rücksichtnahme auf familiäre, partnerschaftliche oder regionale
Bindungen sowie alle Emotionen abstreifen, die ihre Karriere
behindern"(7).
Das in der
Moderne entstandene
gesellschaftliche
Konzept der Individualisierung, das uns zahlreiche öffentliche und
private Freiheiten errungen, die persönliche Verantwortung für die
Lebensgestaltung freigesetzt hat und zur Grundlage der Idee einer
allgemein gültigen Menschenwürde wie auch der klassischen Bildung
wurde, droht hier auf die Freiheit des Marktzugangs reduziert zu
werden. Deshalb ist es an der Zeit, auch pädagogische Vorstellungen von
Individualisierung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Führen
sie zu einer vielseitigen Entwicklung der Persönlichkeit oder nicht
lediglich zur vorweggenommenen Eingliederung in eine ökonomische
Reservearmee, deren wirtschaftliche Inanspruchnahme gleichwohl ungewiss
bleibt? Wie ist auf diesem Hintergrund die teilweise geradezu kultische
Betonung der kindlichen Individualität zu deuten - bis hin zur
Forderung nach individualisierten Unterrichtsangeboten in der Schule?
"Die These vom
'selbständigen Kind'
korrespondiert
mit (vermeintlichen) psychischen und sozialen
Entwicklungsnotwendigkeiten, die als zwingende Folge von
Globalisierungsprozessen angesehen werden. In Zeiten schnellen
gesellschaftlichen Wandels, so die Auffassung der
Modernisierungsbefürworter, verlieren bisher sicher geglaubte
Zukunftsvorstellungen an Wert. Man wisse nicht mehr, was Kinder für ihr
zukünftiges Leben brauchen und deshalb auch nicht, wohin man ihren Weg
leiten soll. Ihre Lebensgestaltung werde weitgehend individualisiert
sein, mit enormen Gestaltungsspielräumen versehen, von Unvorhersehbarem
geprägt. Flexibilität gilt als unumgängliche Voraussetzung, um im Leben
zu bestehen, und damit die Fähigkeit, sich schnell auf Neues
einzustellen und Altes zu vergessen. In den Hintergrund gerät dabei all
das, was auf Langfristigkeit ausgelegt ist. Sicher sei nur der Wandel.
Auf Grund einer solchen Ungewißheit verbiete sich ein zielgerichtetes
Einwirken auf Kinder und Jugendliche"(8).
Bernd Ahrbeck
sieht
solche Tendenzen
insbesondere in
systemisch-konstruktivistischen Ansätzen, wonach sich die kindliche
Entwicklung vor allem als Selbstkonstruktionsprozess vollziehe, der einer inneren, von außen kaum noch zu
beeinflussenden
Entwicklungslogik folge. Die
Frage,
inwieweit pädagogische
Theorien der im Begriff Humankapital
verdichteten
ökonomischen Reduktion der Individualisierung
nahe stehen,
bedürfte einer
gründlicheren Untersuchung,
als sie an dieser Stelle erfolgen kann.
Sieht man auf
den
gegenwärtigen öffentlichen
Sprachgebrauch,
dann besteht eine erhebliche
Differenz zwischen
"Bildung" und "Humankapital",
insofern die
öko-
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nomische Engführung
substanzielle Aspekte des
Bildungsprozesses außer Acht
lässt,
nämlich "eigenständige Urteilskraft, intrinsische Motivation, Stärke
der Persönlichkeit, Empathie, kulturelle Offenheit, Sprachen als
Schlüssel zu zeitgenössischen und vergangenen Lebenswelten,
historisches Bewusstsein, Orientierungswissen, auch
mathematisch-naturwissenschaftliches, statt Vielwisserei"(9). Versteht
man unter
Humankapital jedoch das, was
die Wirtschaft
an menschlichen
Fähigkeiten tatsächlich
braucht, dann ergibt
sich ein
Paradox:
Was sie
benötigt, kann
nur entstehen, wenn
man möglichst
wenig dabei
an sie denkt. Die
beste Berufsausbildung
beruht auf
einer möglichst
hohen Allgemeinbildung,
weil nur sie anschlussfähig
ist für
jeweils notwendige An- und Umlernprozesse. "Deutschland sollte sich in
diesem Sinne wieder als eine Bildungs- und Kulturnation definieren.
Wenn es dabei am wenigsten an den unmittelbaren ökonomischen Nutzen
denkt, wird dieser am größten sein. Bildung darf nicht lediglich der
Ausbildung dienen, nein, paradoxerweise ist Bildung spätestens heute
zur besten Ausbildung geworden"(10).
"Der
Humboldtsche
Bildungsbegriff
ist moderner denn
je. Fast alle scheinbar ewigen Formen, Unsicherheit zu bewältigen,
verlieren an Bedeutung - Familie, Ehe, Geschlechterrollen, Klassen,
Parteien, Kirchen, zuletzt auch der Wohlfahrtsstaat. Auf diese
Vervollkommnung der Unsicherheit gibt es bislang nur drei Antworten:
Bildung, Bildung, Bildung!"(11)
Voraussetzung
für
entsprechende
pädagogische
Strategien ist jedoch nach wie vor ein besonderer, institutionell
abgesicherter sozialer Ort - Schule bzw. Hochschule - , der in Distanz
zu Staat und Markt bleiben darf und gerade deshalb auch zu seiner
Selbstverständigung eine eigentümliche, nämlich relativ komplexe
Begrifflichkeit für seine spezifischen Denk- und Handlungsmuster
braucht. "Humankapital" im Sinne ökonomischer Verwertbarbeit ist dann ein
Resultat von Bildung neben anderen, macht aber nicht deren Substanz
aus; sie muss vielmehr für die gesamte Lebensführung und gerade auch
für diejenigen Menschen "verwertbar" sein, die ganz oder zeitweilig vom
Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. So gesehen bezeichnet Bildung "die
Spannung oder Brücke ... zwischen tradierten Idealen und aktuellem
Kompetenzbedarf, zwischen philosophischer Selbstvergewisserung und
praktischer Selbsterhaltung der Gesellschaft. Ich hätte auch - mit
Platons großem Gleichnis - sagen können: Bildung ist beides - Aufstieg
ans Sonnenlicht und Abstieg in die Höhle. Das eine ist ohne das andere
sinnlos und unbekömmlich"(12).
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Anmerkungen
1
Iwd (=
Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft) Nr. 3/2005,
S. 6f. 2
Ralf Dahrendorf
in: DIE ZEIT Nr. 5/27.1.05
3
Wilfried Herz:
Variabel wie die Rocklänge.
Politiker, Manager und Wissenschaftler unterwerfen sich wechselnden
Moden - oft zum Schaden ihrer Sache. In: DIE ZEIT Nr:11/4.3.05, S. 28
4
Vgl. Konrad Fees:
Schule als "Lernende
Organisation". Zur Problematik eines Theorieimportes. In: Die Deutsche
Schule, H1/2004, S. 10-22
5
Vgl.: Ewald
Terhart: Qualität und Qualitätssicherung im Schulsystem. In:
Zeitschrift für Pädagogik, H. 6/2000, S. 809-829
6
Eine knappe
Beschreibung der politischen und
ökonomischen Hintergründe in: Friedhelm Hengsbach: Das Reformspektakel.
Freiburg 2004 7
Friedhelm
Hengsbach: Das Reformspektakel. Freiburg 2004, S. 10f.
8
Bernd Ahrbeck:
Das Schlüsselkind - ein Held der
neuen Zeit? Der Rückzug der Erwachsenen aus der Erziehung. In:
Forschung& Lehre, H. 4/2005, S. 178-180, hier S. 179f.
9
Julian
Nida-Rümelin: Das hat Humboldt nie gewollt.
Weil wir uns nur für den wirtschaftlichen Nutzen interessieren,
verkennen wir den Wert der Bildung. Das muss sich ändern. Aus
Deutschland sollte wieder eine Kulturnation werden. Ein Plädoyer. In.
DIE ZEIT Nr. 10/3.3.05
10
ebenda 11
Ulrich Beck:
Vorwärts zu "Humboldt 2". Als
nationale Institution ist die Universität am Ende. Sie muss neu
erfunden werden. In: DIE ZEIT Nr. 47/11. Nov. 2004
12
Hartmut von
Hentig: Bildung. München/Wien 1996, S. 58
URL dieser
Seite: www.hermann-giesecke.de/humkap.htm
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