Hermann Giesecke:

Gesammelte Schriften

Band 10: 1971 - 1972


Inhaltsverzeichnis aller Bände

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© Hermann Giesecke
Zu dieser Edition
Dieser 10. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1971 und 1972. In dieser Zeit war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist Lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien (In dieser Zeit ist erschienen: Die Jugendarbeit, München 1971).

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.


Inhalt von Band 10

73. Jugendarbeit und Emanzipation (1971)
74. Jugendarbeit (1971)
75. Jugendtourismus (1971)
76. Ins eigene Netz gegangen (1971)
77. Jugendbildungsstätten (1971)
78. Gebildetes Proletariat (1971)
79. Jugendhilfe (1971)
80. Von der Einheitsschule zur Gesamtschule (1972)
81. Die "linke" politische Pädagogik und das Grundgesetz (1972)
82. Janusz Korczak - Der Anwalt des Kindes (1972)

73. Jugendarbeit und Emanzipation (1971)

Theodor Wilhelm zum 65. Geburtstag

(In: Neue Sammlung, H. 3/1971, 216-230)
 

Seit dem Jugendpflegeerlaß der preußischen Staatsregierung vom 18. Januar 1911, der allgemein als Geburtsstunde der außerschulischen Jugendarbeit in Deutschland gilt und dem die spontane Entstehung einer bürgerlichen und einer proletarischen Jugendbewegung vorausgegangen war, hat sich bis in die Gegenwart die öffentliche Jugendarbeit als eine quantitativ expandierende Praxis ohne nennenswerte theoretisch-pädagogische Fundierung entwickelt. Keine andere pädagogische Institution ist über Jahrzehnte hinweg mit einem derartigen Minimum an Theorie ausgekommen. Dabei wurden im Jahre 1970 allein vom Bundesjugendplan für Zwecke der Jugendarbeit 80 Mill. DM ausgegeben (für 1971 sind 113

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Mill. veranschlagt), die Zuschüsse der Länder dürften in gleicher Höhe liegen, wozu noch die Aufwendungen der Kommunen und der freien Träger selbst zu rechnen wären. Seit dem genannten preußischen Erlaß hat sich die Jugendarbeit nicht nur quantitativ ausgedehnt, sondern sich auch inhaltlich derart differenziert, daß die pädagogischen Maßnahmen kaum noch auf einen Nenner gebracht werden können. Was immer seither der Gesellschaft an pädagogischen Maßnahmen für das Jugendalter wichtig erschien und im öffentlichen Schulwesen nicht unterzubringen war, wurde der außerschulischen Jugendarbeit und damit - von der Nazi-Zeit abgesehen - ganz überwiegend nicht-staatlichen Trägern überantwortet: der Betrieb von Lehrlingswohnheimen, von Freizeitstätten, von Jugendbildungsstätten, die Durchführung von Kursen zur politischen, musisch-kulturellen oder berufsbegleitenden Bildung, Maßnahmen der Jugenderholung und der familienbegleitenden Erziehung, - um nur einiges aus der Vielfalt anzudeuten.

Der Bereich der Jugendarbeit, der sich von dem der Zwangs- oder Ersatzerziehung durch die rechtlichen Grundlagen und pädagogischen Intentionen unterscheidet, läßt sich allgemein wie folgt definieren: Jugendarbeit bezeichnet diejenigen von der Gesellschaft Jugendlichen und Heranwachsenden angebotenen Lern- und Sozialisationshilfen, die außerhalb von Schule und Beruf erfolgen, die Jugendlichen unmittelbar, also nicht auf dem Umweg über die Eltern, ansprechen und von ihnen freiwillig wahrgenommen werden.

Warum nun dieser pädagogische Bereich bisher keine ausgeführte Theorie hervorgebracht hat, läßt sich hier nicht im einzelnen diskutieren (1). Vielmehr soll im folgenden lediglich versucht werden, diesen Mangel dadurch zu beseitigen, daß die Jugendarbeit in die jüngste Diskussion um den Zielbegriff "Emanzipation" einbezogen wird. Zu diesem Zwecke muß der Begriff "Emanzipation" zunächst selbst bestimmt werden, um davon ausgehend einen ersten theoretischen Ansatz gewinnen zu können.

1. Zum Begriff "Emanzipation"

Emanzipation ist ursprünglich ein politischer Begriff. Er meint die "Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit oder Beschränkung" (dtv-Lexikon) und geht zurück auf die Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution, die den Rechten des Individuums vor den Vergesellschaftungen in Staat und Gesellschaft den Vorrang gab und insofern heute noch in den Bestimmungen unseres Grundgesetzes weiterlebt. Das Ziel aller seitherigen Emanzipationsbestrebungen ist die Gleichberechtigung (nicht unbedingt Gleichheit) im öffentlichen Leben. Die Menschenrechte waren zwar allgemein formuliert, galten aber praktisch zunächst nur für den "dritten Stand", für das Bürgertum. Nachdem dieser sich gegen die beiden

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oberen Stände, Adel und Geistlichkeit, vor allem mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts durchgesetzt hatte, zeigte sich, daß der allgemeine Prozeß der Emanzipation damit keineswegs zum Abschluß gekommen war. Vielmehr waren Unterprivilegierungen teils immer noch vorhanden, teils neu eingetreten. So kann man die Sozialgeschichte seit der Französischen Revolution als eine Geschichte von Emanzipationskämpfen beschreiben: der Arbeiter, der Armen, der Frauen, der Kinder, der Jugendlichen. Zunächst ging es dabei um politische Emanzipation im Sinne des gleichen Wahlrechts, aber darüber hinaus auch um die gleichberechtigte Teilnahme an den materiellen und Bildungschancen (Kampf um die Gleichheit der Bildungschancen, um die gleichberechtigte Teilnahme am Sozialprodukt, um die Mitbestimmung in den gesellschaftlichen Institutionen wie Betrieben usw.). Das Endziel dieser in der Französischen Revolution begründeten Idee der Emanzipation ist ein gesellschaftlicher Zustand, in dem alle Mitglieder derselben Gesellschaft in gleichem Maße voneinander abhängig und unabhängig sind.

Marx und Engels haben diesen historischen Prozeß auf den Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit bzw. von Produktionsmitteln und Produktionsverhältnissen inhaltlich zurückgeführt. Danach ist wenn nicht der einzige, so doch der dominante Gegner eines jeden Emanzipationsprozesses diejenige Klasse, die über die Produktionsmittel verfügt. Die Anwendung dieser ursprünglich politisch-revolutionären These auf Phänomene und Probleme der Sozialisation und Erziehung hat sich jedoch bisher, auch in Arbeiten der "neuen Linken" (2), als wenig ergiebig erwiesen, so daß es zumindest vorläufig geraten erscheint, sich nicht auf diese pauschale, für unsere Zusammenhänge noch nicht hinreichend differenzierte "politik-ökonomische'' Reduktion festzulegen.

So oder so gibt jedoch der allgemeine Leitgedanke der "Emanzipation" für präzise Analysen von Emanzipationsbestrebungen noch wenig her. Im konkreten geschichtlichen Prozeß nämlich ändern sich die Zielsetzungen in erheblichem Maße. Emanzipationsbestrebungen lassen sich schon aufgrund der jeweils vorherrschenden Machtverhältnisse nicht auf einen Schlag realisieren. In der Regel werden immer nur Teilerfolge erzwungen im

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ursprünglich für den politisch-revolutionären Kampf formulierten Rahmen dessen, was innerhalb einer bestimmten Konstellation möglich ist oder erscheint, und deshalb können ursprünglich intendierte, aber nicht realisierbare Teilziele in andere verwandelt werden, nur weil diese realisierbar sind (z. B. ökonomische Gesamtziele in freizeitpolitische Teilziele). Politische Emanzipationsbestrebungen bedürfen also einer exakten historischen Analyse, wenn sie nicht zu Schlagworten gerinnen sollen. Wie wichtig solche Nuancen sind, zeigt sich etwa daran, daß das "klassische" Emanzipationsziel, nämlich die Erlangung des Wahlrechts, in den Emanzipationsbewegungen der Jugend niemals eine Rolle gespielt hat; nicht einmal in der Gegenwart wurde diese Forderung ernsthaft erhoben, die Herabsetzung des Wahlalters ist den jungen Wählern kampflos geschenkt worden.

Aber nicht nur die konkrete geschichtliche Ausprägung von Emanzipationsprozessen muß analysiert werden, sondern auch ihr lebensgeschichtlicher Stellenwert. Je nach Lebensalter in einer bestimmten geschichtlichen Situation gibt es offenbar Abhängigkeiten, die als besonders lästig empfunden werden, und solche, die widerspruchslos hingenommen werden. Der historische Prozeß der Emanzipation kann nicht ohne Rest über die naturwüchsige Abhängigkeit der Kinder von erwachsenen Fürsorgepersonen verfügen. Gleichwohl scheinen sich altersbedingte Emanzipationswünsche je nach dem Stand des historischen Emanzipationsprozesses zu unterscheiden. Sonst wäre z. B. nicht zu erklären, warum sich die bürgerliche Jugendbewegung von ihren Familien, nicht jedoch von der höchst reaktionären Schule distanzierte, die sie lediglich ignorierte. Lag es daran, daß der Kampf gegen die Schulen damals völlig aussichtslos gewesen wäre, daß man also klugerweise den Weg des geringsten Widerstandes ging? Und warum richtet sich heute der Protest vorwiegend gegen eine vergleichsweise harmlose Schule und kaum gegen die elterliche Autorität, die nun eher ignoriert wird?

Emanzipation ist also ein politischer Begriff, er zielt auf gesellschaftliche Veränderungen zum Zwecke der Abschaffung einseitiger Abhängigkeiten und Unterprivilegierungen. Insofern betrifft er lediglich politische Handlungen und Aktionen, die mit pädagogischen zunächst noch gar nichts zu tun haben. Pädagogisch relevant wird dieser Begriff erst in dem Augenblick, wo man davon ausgeht, daß diesen politischen Befreiungsaktionen bestimmte Lernleistungen entsprechen müssen bzw. wo die gesellschaftlichen Lernziele überhaupt so definiert werden, daß eine zielgerichtete Veränderung der Gesellschaft im Sinne zunehmender Demokratisierung intendiert wird. Es leuchtet ein, daß die Lernziele ganz oder teilweise sich unterscheiden, je nachdem, ob man vom Leitbild einer im wesentlichen stabilen oder mehr mobilen Gesellschaft ausgeht. Nun war in gewisser Weise Emanzipation auch in der Vergangenheit ein Erziehungsziel, man nannte es "Mündigkeit". Ziel des Erziehungsprozesses war auch bisher das Selbständigwerden gegenüber den Eltern, das Unabhängigwerden von der Schule, die mit dem Abschluß des Jugendalters erreichte volle individuelle Selbständigkeit. Aber dieses Ziel blieb orientiert an einem statischen Gesellschaftsverständnis.

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Man wurde "mündig" zu dem Zweck, in der Gesellschaft, so wie sie war, seinen Platz einzunehmen. Zwar ging man immer auch schon davon aus, daß sich die Gesellschaft ändern werde und müsse, aber dies wurde dem politischen Handeln der "Mündigen" überlassen. Die Pädagogik jedoch sah keinen Grund, die Forderung nach gesellschaftlicher Veränderung bereits in den Erziehungsprozeß einzuprogrammieren.

Diese Abstinenz wurde in dem Augenblick jedoch fragwürdig, wo man erkennen mußte, daß der "mündige" Mensch keineswegs, wie erhofft, auch der für Veränderungen disponible Mensch war, daß vielmehr gerade die Erziehung und die Sozialisation im ganzen bis dahin ihm den Wunsch, Machtverhältnisse zu verändern, mehr oder weniger gründlich ausgetrieben hatten. Insbesondere psychoanalytische Forschungen zeigten, daß Gehorsam und Unterwerfung unter jegliche Macht und der Verzicht auf selbständiges Urteilen und Handeln so sehr den tatsächlichen Prozeß der kindlichen und jugendlichen Entwicklung bestimmen, daß man annehmen könnte, er sei eigens zu diesem Zwecke so geplant worden (3).

Mit dieser Einsicht ergibt sich die Alternative, entweder zuzulassen, daß gesellschaftlicher Selbstanspruch ( = fortschreitende Demokratisierung) und realer Sozialisationsprozeß sich weiterhin ausschließen, oder aber zu versuchen, den Wunsch nach politischer Emanzipation so früh wie möglich in den Sozialisationsprozeß selbst mit einzuprogrammieren. Für diese letztere Absicht steht der pädagogische Zielbegriff der Emanzipation, der sich also insofern signifikant vom traditionellen Zielbegriff der "Mündigkeit" unterscheidet, als er dessen Intentionen zwar aufnimmt, sie aber in dem eben beschriebenen Sinne ausweitet (4).

Nun ist eine solche Absicht leichter formuliert als verwirklicht, denn sie sieht sich einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten gegenüber:

1. Da das gesamte, traditionell überlieferte und institutionalisierte Erziehungssystem nicht-emanzipatorisch ist, ergibt sich die wichtige Frage nach den Prioritäten. Es wäre ja völlig aussichtslos anzunehmen, man könne etwa durch Dekrete (oder auch durch Revolution) das ganze Erziehungssystem kurzfristig entsprechend umfunktionieren. Vielmehr bedarf es der Überlegung, an welchen Stellen der emanzipatorische Ansatz am ehesten

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eine Chance hätte. Die Frage betrifft sowohl den Vergleich der einzelnen Sozialisationsinstitutionen (ist Schule leichter zu demokratisieren als der Kindergarten oder die Jugendarbeit?) wie auch vor allem eine entsprechende Analyse der einzelnen Institutionen selbst (z.B.: sind in der Schule bestimmte Fächer dieser Intention eher zugänglich als andere? Sind großstädtische Schulen geeigneter als kleinstädtische? usw.).

2. Mit welchen gesellschaftlichen Realitäten und Prozessen kann man sich zu diesem Zwecke verbünden? Emanzipatorische Pädagogik ist darauf angewiesen, die realen gesellschaftlichen Prozesse dialektisch zu begreifen, d.h. diejenigen ihrer Aspekte herauszufinden, die für einen Fortschritt an Emanzipation nutzbar gemacht werden können. Wo immer also einseitig reale gesellschaftliche Entwicklungen, wie etwa das Freizeitsystem oder die Technisierung der Lernprozesse, politisch und pädagogisch denunziert werden, wird die emanzipatorische Strategie ihrer wichtigsten methodischen Grundlage beraubt. Das gilt gerade auch dann, wenn man letztlich nur auf revolutionärem Wege Emanzipation für möglich hält. Auch in diesem Falle kommt es darauf an, in der gegenwärtigen Gesellschaft die diesem Ziel nützlichen dialektischen Momente solange zu verstärken, bis die vielzitierte Quantität in die neue Qualität umschlagen kann. Derartige Analysen sind deshalb so wichtig, weil ohne die (möglicherweise nur zeitweilige) Unterstützung durch möglichst mächtige Trends der pädagogische Gedanke der Emanzipation keine Realisierungschance haben könnte.

3. Daraus folgt die Frage, ob Emanzipation für alle pädagogischen Institutionen zu einem gegebenen geschichtlichen Zeitpunkt das gleiche bedeuten kann, oder ob die Ziele sich nicht "taktisch" differenzieren müßten. Muß man unter diesem Aspekt vielleicht die technologische Entwicklung in den Schulen unterstützen, aber eine Jugendarbeit etablieren, die dem so optimalisierten formalistischen Leistungszwang entschieden widerspricht?

4. Die bisher angedeuteten Probleme zeigen, daß die pädagogisch-theoretische Bewältigung dessen, was mit "Emanzipation" gemeint ist, erst am Anfang steht. Jedenfalls ist Emanzipation ein Zielbegriff, der angesichts der historisch bedingten Realität zumindest auf absehbare Zeit nicht in Form umfassender Planung der Gesamterziehung verwirklicht werden kann, sondern nur in Form einer strategisch und taktisch wohldosierten Korrektur bestehender Einrichtungen, Maßnahmen und Intentionen. Damit taucht aber die Frage auf, an welchen Punkten im Hinblick auf die Befindlichkeit der einzelnen Individuen didaktisch anzusetzen wäre. Müßte man z.B. annehmen, daß die Individuen sich im Zustand nicht-emanzipatorischer Sozialzusammenhänge eigentlich ganz wohl fühlen, wären emanzipatorische Bestrebungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der pädagogische Gedanke der Emanzipation muß vielmehr davon ausgehen, daß der charakterisierte Widerspruch von bisheriger Erziehung und gesellschaftlichem Selbstanspruch nach zunehmender Demokratisierung gesellschaftliche Widersprüche erzeugt, die ihrerseits in den Individuen zu Konflikten führen. Nur wenn diese Hypothese zutrifft, ist Emanzipation didaktisch

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überhaupt organisierbar, nämlich als der Versuch, derartige Konflikte zu ermitteln und solche Möglichkeiten der Bearbeitung zu schaffen, die zugleich Handlungsspielraum und Lernspielraum zu erweitern vermögen.

Der pädagogische Begriff der Emanzipation - so wie wir ihn hier verstehen - geht also davon aus, daß die bestehende Sozialisation im ganzen gegen-emanzipatorisch ist, und daß sie nicht durch ein ebenso konsequent durchorganisiertes Gegenmodell von Emanzipation ersetzt werden kann, weil dafür die entsprechenden historisch-gesellschaftlichen Bedingungen fehlen. Es ist deshalb sinnvoll, eine begriffliche Nuance einzuführen: Emanzipierte Pädagogik ist unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen unmöglich, eine uneinlösbare Utopie. Möglich hingegen wäre eine emanzipatorische Pädagogik. Sie würde den herrschenden Erziehungs- und Sozialisationssystemen Korrekturen entgegensetzen, indem sie davon ausgeht, daß die Menschen sich zu jedem Zeitpunkt ihrer Lebensgeschichte in bestimmten Abhängigkeiten befinden, die mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in Widerspruch stehen und von denen sie sich daher zu befreien trachten.

Die Widersprüche und Konflikte jedoch, an denen emanzipatorische Pädagogik anzusetzen hätte, müssen dialektisch wieder auf die gesellschaftliche Gesamtsituation zurückbezogen werden: Sie müssen als gesellschaftlich bedingte und vermittelte, nicht nur individuell erklärbare, interpretiert werden. Geschieht dies nicht, so werden sie nur in die inneren psychischen Instanzen abgedrängt. Die Konflikte und Widersprüche müssen also politisch qualifiziert werden können. Dazu sind mindestens die drei folgenden Leitgesichtspunkte nötig:

1. Gegen welche Abhängigkeiten wenden sich die Individuen? Warum gegen diese und nicht gegen andere?

2. Welchen objektiven Stellenwert hat das, wogegen sich die Emanzipationsbestrebung richtet, im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Herrschaftssituation? Ist - mit anderen Worten - der Adressat des Kampfes objektiv politisch ebenso bedeutsam, wie er subjektiv erscheint?

3. Sind die Ziele und Gegner der Emanzipationsbestrebungen lebensgeschichtlich relevant, also etwa typisch für das Jugendalter in modernen Gesellschaften, oder sind sie eher schichtenspezifisch relevant, für Kinder aus Unterschichten also möglicherweise andere als für Kinder aus Mittelschichten? Oder lassen sich beide Aspekte kombinieren, so, daß Jugendliche zum Teil als Jugendliche die gleichen Emanzipationsprobleme quer durch alle sozialen Schichten und Klassen haben, die aber durch die Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit entscheidend modifiziert werden?

Wesentlich für unseren Begriff der Emanzipation ist also, daß er nicht nur den Prozeß der Ablösung aus der Abhängigkeit pädagogischer Zwänge (z.B. Familie) meint, sondern aus allen gesellschaftlich verursachten Abhängigkeiten, sofern - und dies ist die einzige, aber entscheidende pädagogische Einschränkung - diese Abhängigkeiten subjektiv als "Übel"

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erlebt werden bzw. erlebbar gemacht werden können und daraus Motivierungen für die pädagogische und politische Bearbeitung dieses "Übels" erwachsen können. Dabei ist eine der wichtigsten Lernaufgaben die, die Verursachungszusammenhänge des "Übels" gesamtgesellschaftlich zu reflektieren, weil es so in der Regel nicht erlebt wird.

II. Gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche im Jugendalter

Wenn nun unsere Hypothese stimmt, daß Emanzipation zwar einerseits das Fernziel einer Gesellschaft vor Augen hat, in der alle an allen Entscheidungen gleichberechtigt mitbestimmen können, daß andererseits sich die konkreten Emanzipationsziele jedoch aus den historisch-aktuellen Lebenszusammenhängen der Menschen definieren lassen müssen, und daß schließlich der Ausgangspunkt für solche Definitionen nur in den subjektiv erlebten Konflikten und Widersprüchen liegen kann, - dann ist für unseren speziellen Zusammenhang der Jugendarbeit zu fragen, ob sich allgemeine und für das Jugendalter typische Konflikte inhaltlich näher beschreiben lassen, so daß sich die individuelle jugendliche Situation als individuelle Kombination solcher allgemeinen Konflikte beschreiben ließe.

Nötig wäre dazu eine umfassende konfliktorientierte Sozialisationstheorie des Jugendalters. Sie kann jedoch hier nicht entwickelt werden; denn trotz einer umfangreichen erziehungswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Literatur zum Jugendalter ist unser Gesichtspunkt bisher kaum zum erkenntnisleitenden Interesse gemacht worden (5). Deshalb wollen wir uns hier fürs erste auf eine additive Zusammenstellung solcher Konflikte beschränken, die das Jugendalter heute offensichtlich bestimmen, ohne diese schon im Zusammenhang zu theoretisieren. Wir beschreiben diese Konflikte im folgenden knapp aus der Perspektive der Jugendlichen selbst, so wie sie von diesen im allgemeinen erlebt werden.

1. Der Widerspruch zwischen Jugendlichen- und Erwachsenenrollen. Er besteht darin, daß einerseits erwachsenes, d. h. voll verantwortliches und optimales Verhalten vor allem in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie im Beruf erwartet, andererseits aber doch wieder nicht - eben wegen der Jugendlichkeit - für möglich gehalten wird. Das ergibt eine sehr inkonsistente Erwartungsstruktur, bei der vielleicht auf der einen Seite optimale Berufsleistungen verlangt werden, andererseits jedoch eine Kontrolle von Freizeit und Konsum für nötig erachtet wird. Mißerfolge im jugendlichen Verhalten können durchaus entschuldigt werden, aber auch solche Rücksichten verstärken nur den Eindruck der Inkonsistenz. Der Jugendliche umgekehrt kann oft wechselnd wählen zwischen dem Anspruch auf Rücksicht oder dem Anspruch auf Erwachsensein. Die hier gemeinte Inkonsistenz läßt sich deutlich an den widersprüchlichen Rechtsbestimmungen ablesen,

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die für das Jugendalter gelten. Auf der einen Seite ziemlich schonungslose Unterwerfung unter das Leistungsprinzip in Betrieb und Schule sowie die Heranziehung zum Wehrdienst, auf der anderen Seite Maßnahmen des Jugendschutzes und des Jugendstrafrechts. Dieser Widerspruch hängt insofern mit einem gesamtgesellschaftlichen zusammen, als darin die Unbestimmtheit der Jugendrolle in modernen Gesellschaften überhaupt zum Ausdruck kommt.

2. Der Widerspruch von Pflichten und Rechten. Üblicherweise gibt es unter dem Anspruch der Demokratie eine Art von Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten. Den am Leistungsprinzip orientierten Pflichten der Jugendlichen jedoch entsprechen keineswegs angemessene Rechte. Bis zur juristischen Mündigkeit bleiben alle wichtigen Rechte den Eltern bzw., etwa im Betrieb, den erwachsenen Repräsentanten vorbehalten. Das Jugendalter ist ein verhältnismäßig rechtloser, aber pflichtenreicher Altersstatus. Gesamtgesellschaftlich gesehen kommt darin eine eigentümliche Weise von Unterprivilegierung zum Ausdruck, die noch dadurch verstärkt wird, daß das Jugendalter sich politisch nicht selbst vertreten kann, sondern dazu immer auf die Unterstützung von Erwachsenen angewiesen ist.

3. Widersprüche zwischen den Erwachsene-Rollen. Daß die Erwartungen der Erwachsenenwelt an die nachwachsende Generation nicht einheitlich, sondern diffus und mehrdeutig sind, wird am deutlichsten im soziologischen Deutungsmodell der Rollentheorie ausgedrückt. Die Widersprüchlichkeit resultiert in erster Linie aus dem arbeitsteiligen Charakter der modernen Gesellschaft und aus der Verselbständigung der gesellschaftlichen Funktionen. Als allgemein bekannte Beispiele können dienen: der Widerspruch von Arbeit und Freizeit, von hoher emotionaler Intensität in den Intimbeziehungen und optimaler emotionaler Distanz in den beruflichen und politischen Beziehungen, zwischen rein ökonomisch-profitorientierten Verhaltensnormen einerseits und sozial-humanistischen andererseits. Dieser Widerspruch ist nicht allein aus "sachlichen" Gründen (etwa der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) erklärbar, sondern beruht wesentlich auch darauf, daß gesamtgesellschaftliche Ziele (wie Emanzipation oder Demokratisierung) nicht vorliegen, sondern durch das isolierende und Widersprüche notwendigerweise erzeugende Prinzip der Profitmaximierung und der diesem dienenden allgemeinen Konkurrenz ersetzt sind.

4. Der Widerspruch zwischen Triebbedürfnis und Befriedigung ist durch die moderne Sex-Welle nur scheinbar überwunden. Dieser schon in der Kindheit konstituierte Widerspruch erlangt nun im Jugendalter eine neue Bedeutung. Die frühe Sexualreife steht in einem eklatanten Mißverhältnis zu den ökonomischen und rechtlichen Chancen einer gesellschaftlich anerkannten und persönlich befriedigenden Partnerbeziehung. Jugendliche Sexualität, die nicht partnerbezogen ist, bleibt erst recht trotz aller sexualpädagogischen Fortschritte sozial diskriminiert. Daß es sich hierbei um einen gesamtgesellschaftlich höchst relevanten Widerspruch handelt, kann seit den Schriften von Herbert Marcuse ernsthaft nicht mehr bestritten werden.

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5. Der Widerspruch von Lust und Leistung. Lustbetonte Bedürfnisse stehen durchgängig in einem Widerspruch zu den gesellschaftlich erwünschten, fremdbestimmten schulischen und beruflichen Leistungen. Diese verlangen, jene zu verdrängen bzw. auf unbestimmte Zeit in die Zukunft zu verschieben, als spätere mögliche Belohnungen für die einstweilen geforderten Versagungen. Nicht zuletzt an diesem Widerspruch hat sich ein großer Teil des jugendlichen Protestes entzündet. Er wird um so gravierender, je ungenauer und uneinlösbarer die für später versprochenen Belohnungen für Lustverzicht werden. Die Entstehung von jugendlichen Subkulturen, auch von kriminellen, geht zu einem guten Teil auf diesen Widerspruch zurück.

6. Der Widerspruch von ideologischer und realer Lebensperspektive. Den Versprechungen dieser Gesellschaft, jeder trage seinen Marschallstab im Tornister und der Lohn für Leistungen und Versagungen im Jugendalter werde sich später auszahlen, steht schon von Kindheit an die andersgeartete Erfahrung gegenüber. In nicht-revolutionären Gesellschaften wächst jede junge Generation in ein System hinein, in dem Macht und Chancen verhältnismäßig unabänderlich bereits verteilt sind, - nicht nur im Hinblick auf bestimmte Personen, sondern vor allem auch im Hinblick auf bestimmte Klassen und Schichten. Spätestens in diesem Punkte konstituieren sich die Konflikte des Jugendalters klassen- und schichtenspezifisch. Die realen Lebensperspektiven sind weitaus begrenzter, als die Ideologie verspricht.

7. Der Widerspruch von Bedürfnissen und ökonomischen Chancen. Relativ unabhängig von Schicht- und Klassenzugehörigkeit ist jedoch der Widerspruch zwischen den eigenen Bedürfnissen und Plänen und den ökonomischen Chancen zu ihrer Realisierung. Trotz verhältnismäßig großer Konsumausgaben bleibt das Jugendalter in ökonomischer Abhängigkeit von den Eltern. Zudem erhöht sich der Arbeitsverdienst erst in zunehmendem Alter, junge Leute hingegen, die z. B. eine Familie gründen, werden zu einer erheblichen Reduzierung ihrer Lebensansprüche gezwungen. Man kann also durchaus von einer ökonomischen Unterprivilegierung der Jugend als sozialer Gruppe sprechen, - und dies grundsätzlich quer durch alle sozialen Schichten.

Vermutlich geht diese ökonomische Unterprivilegierung - wie die anderer benachteiligter Gruppen - auf die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems zurück, nicht unmittelbar der Profitmaximierung dienende Tätigkeiten - wie etwa das Lernen - zu fördern bzw. deren mittelbaren, langfristig zu erwartenden Ertrag aus Mangel an rationaler Planung zu erkennen.

8. Der Widerspruch von Mitbestimmung und Herrschaft. Die gesellschaftliche Ideologie verspricht allen Bürgern die Mitbestimmung an den sie betreffenden Angelegenheiten. Abgesehen jedoch vom allgemeinen Wahlrecht ist dieses Versprechen im Hinblick auf gesellschaftliche Institutionen (z. B. Schule und Betrieb) noch nicht einmal für die Erwachsenen realisiert. Jugendliche sind immer noch - sieht man von der Herabsetzung des Wahlalters ab - in allen sie betreffenden Bereichen von jeder nennenswerten

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Mitbestimmung ausgeschlossen und fremdbestimmten Herrschaftsinteressen unterworfen. Sie sind in Schule wie Betrieb Objekte anderer Interessen, sei es unmittelbar einwirkender ökonomischer Interessen oder pädagogisch kaschierter.

Die Reihe dieser Konfliktbeschreibungen ließe sich noch ergänzen. Es würde sich jedoch herausstellen, daß alle denkbaren Konflikte keine spezifischen des Jugendalters sind, sondern gesamtgesellschaftliche, die sich nur in den Erfahrungen der Jugendlichen spezifisch modifizieren. Emanzipatorische Jugendarbeit hätte also bei solchen Konflikten anzusetzen, die sich als gesellschaftlich vermittelte (d. h. nicht bloß als individuell begründete) in der jugendlichen Erfahrung notwendigerweise niederschlagen und politisch und pädagogisch bearbeitet werden müssen.

Nun könnte man einwenden, daß diese Aufgabe, wenn sie überhaupt plausibel erscheint, für alle gesellschaftlichen Erziehungsinstitutionen gelten müsse, also auch für die Schule, und keinen spezifischen Ansatz für die außerschulische Jugendarbeit abgeben könne. Einem solchen Einwand wäre grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings muß hier an die obengenannten strategischen Differenzierungen erinnert werden. Die Frage wäre nämlich, ob eine Institution wie die Schule mit einer solchen Aufgabe nicht überfordert wäre, weil sie ja doch als "demokratische Leistungsschule" notwendigerweise auf der Seite derjenigen gesellschaftlichen Interessen steht, die solche Konflikte allererst hervorrufen. Die Jugendarbeit hingegen, die im Vergleich zur Schule einstweilen noch marginale Bedeutung hat, könnte emanzipatorische Ziele in weit höherem Maße als die Schule akzeptieren.

III. Spezifische Aufgaben der Jugendarbeit

Diese Unterschiede werden vielleicht klarer, wenn wir nun versuchen, die spezifischen Aufgaben der Jugendarbeit etwas genauer zu beschreiben. Eine erste wichtige Folgerung läßt sich so ziehen: Wenn die Konfliktverarbeitung mit dem Ziel zunehmender Emanzipation durch die Jugendlichen selbst das zentrale Thema der Jugendarbeit ist, dann sind die Stoffe gemessen daran sekundär. Die Stoffe konstituieren sich vielmehr erst im Vollzug der konfliktverarbeitenden Kommunikationen selbst, wenngleich sie auf Grund allgemeiner Analysen in gewissem Umfange durchaus auch vorher schon bereitgestellt werden können. Diese allgemeine Aufgabe der Jugendarbeit läßt sich in vier Dimensionen beschreiben, die allerdings nicht streng voneinander zu trennen sind. Wir meinen die lebensbegleitende, die korrigierende, die aktuelle und die solidarisierende Dimension.

a) Die lebensbegleitende Dimension. In die Veranstaltungen der Jugendarbeit kommen junge Menschen nicht als "unbeschriebene Blätter", vielmehr bringen sie immer schon mit ihre Sorgen und Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen, Pläne und Perspektiven, Erfolge und Mißerfolge. Sie sind schon mehr oder weniger "fertige" Produkte ihrer bisherigen Sozialisation, haben dabei Bestimmtes gelernt, anderes nicht. Nicht jedoch bringen

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sie unbedingt die Bereitschaft mit, ihre Konflikte auch im Rahmen von Bildungsveranstaltungen aufzuarbeiten. Wahrscheinlicher ist vielmehr, daß sie die Veranstaltung der Jugendarbeit zunächst als ein Refugium betrachten, an dessen Pforte man die Probleme und Konflikte für eine Weile abzulegen wünscht, um sich unbeschwert der Unterhaltung und Entspannung zu widmen. Auch dieses Bedürfnis gehört zur lebensbegleitenden Dimension. Es wäre daher ganz falsch, die Aufgabe der Konfliktverarbeitung so zu verstehen, als ob nun pausenlos geplante Bildungsveranstaltungen stattfinden müßten. Diese können sich vielmehr erst aus einem entsprechenden Kommunikationsklima ergeben und haben nur dann Erfolg, wenn sie von den Beteiligten wirklich gewünscht werden. Oft kommt es gar nicht zu langfristigen Bildungsveranstaltungen, sondern es bleibt bei informellen Gesprächen, deren Wert jedoch meist zu gering veranschlagt wird.

"Lebensbegleitend" meint, daß die Themen und Inhalte nicht oder nur in groben Umrissen vom Veranstalter geplant werden, daß sie sich vielmehr aus den Lebenszusammenhängen der Teilnehmer entwickeln und artikulieren müssen. Jede darüber hinausgehende Lehrplanung würde die fremdbestimmten Leistungszwänge der Schule und des Betriebes nur wiederholen und damit das Konfliktpotential nur verstärken, anstatt es zu bearbeiten. Auch in der Erfahrung der Teilnehmer muß die Alternative zu fremdbestimmten Leistungszwängen lebendig werden können.

Der Gegensatz zu dieser Dimension wäre die "lebens-vorbereitende'' Perspektive: Das zu Lernende dient nicht in erster Linie der jeweils aktuellen Lebensbewältigung, sondern wird gleichsam für die "spätere" Benutzung "eingefroren". Der klassische Lehrplan der Schule ist hierfür das beste Beispiel. So wenig es sich bei der lebensbegleitenden und lebensvorbereitenden Perspektive um einander ausschließende Vorstellungen handelt - auch die aktuelle Lebensbewältigung stellt das dabei Gelernte für die Zukunft bereit - , so sehr verschieben sich andererseits jedoch verschiedene Prämissen. Liegt der Akzent nämlich auf der lebensvorbereitenden Aufgabe einer pädagogischen Institution, so kann die Mitbestimmung der jugendlichen Partner folgerichtig keinen besonders hohen Stellenwert haben: Das Jugendalter wird dann vielmehr als ein Lernalter bestimmt, das spätere Mitbestimmung erst ermöglichen soll. Gibt man jedoch der lebensbegleitenden Dimension den Vorzug, so erklärt man damit auch in ganz anderem Maße die Jugendlichen zu Subjekten ihrer Lernprozesse: an der Ermittlung dessen, was für ihn richtig und nützlich sei, muß der Jugendliche nun selbst mitwirken.

b) Die korrigierende Dimension. Darunter ist zunächst einmal zu verstehen, daß die absolute Gültigkeit bisheriger Sozialisationsergebnisse von der Jugendarbeit in Frage gestellt wird, sofern sie einer emanzipatorischen Weiterentwicklung hinderlich sind. Jugendarbeit hat also zu einem guten Teil die Aufgabe, als selbstverständlich geltende Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu kritisieren, auch wenn dies im Widerspruch zu den herrschenden Auffassungen in Schule, Betrieb und Familie geschieht.

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Dies käme einer Korrektur des Bewußtseins und des Verhaltens zugute. Aber auch auf die Korrektur der Realität kommt es an. So können Maßnahmen der Jugendarbeit durchaus als Basis für die Planung und Reflexion von Aktionen gegen andere Sozialisationsinstitutionen wie Schule und Betrieb in Frage kommen.

Der Gegensatz zu dieser Dimension wäre die "bestätigende": die bloße Verdoppelung und Verstärkung dessen, was ohnehin schon gelernt wurde. Um den didaktischen und methodischen Sinn dieser korrigierenden Dimension präzise erfassen zu können, bedarf es einer genauen Analyse der bisherigen Sozialisationsergebnisse und derjenigen Perspektiven, die in einem bestimmten Augenblick sich für eine Korrektur im Sinne zunehmender Emanzipation anbieten. Wie die jüngste Entwicklung zeigt, gelten solche Analysen immer nur verhältnismäßig kurzfristig. So war es noch vor wenigen Jahren kaum möglich, Jugendliche in der Jugendarbeit zur Selbstorganisation von Lernprozessen zu ermutigen; auch sie erwarteten vielmehr - so hatten sie es in ihrer bisherigen Sozialisationsgeschichte gelernt - , daß pädagogische "Anbieter" ihnen von außen Lernorganisationen arrangierten, und ihre Eigenaktivität bestand bestenfalls darin, solche Angebote - wie andere Konsumangebote - zu akzeptieren oder abzulehnen. Heute jedoch verstärkt sich zumindest bei Minderheiten das Bedürfnis, die Organisation und Planung von Lernprozessen in eigene Regie zu nehmen.

c) Die aktuelle Dimension. Im Unterschied zu den Lehrplänen der Schule, die auf einen langfristigen Stufengang der Lehre hin orientiert sind und auf aktuelle Ereignisse und Bedürfnisse verhältnismäßig wenig Rücksicht nehmen können, ist Aktualität im subjektiven wie objektiven Sinne ein Kernstück aller Jugendarbeit. Subjektiv geht es dabei um die Aktualität der jugendlichen Interessen und Bedürfnisse, objektiv um die Aktualität von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen. Die bisher erworbenen Kenntnisse, Einsichten und Erfahrungen zu aktualisieren heißt, sie zu einem praktikablen Handlungswissen umzustrukturieren. Nur in solcher Aktualisierung lassen sich die genannten Konflikte des Jugendalters verarbeiten, läßt sich bloße Verinnerlichung von Schuldgefühlen verhindern.

Diese Dimension darf jedoch nicht mißverstanden werden: Was "aktuell" ist, unterliegt zu einem großen Teil der Definition und der gesellschaftlichen Veränderung. Der Rückgang der frühen bürgerlichen Jugendbewegung auf romantische Vorbilder des Vagantentums aktualisierte diese; die Wiederentdeckung marxistischer Autoren in Kreisen der politisch engagierten Jugend heute verschafft diesen politisch-kritischen Theorien eine neue Aktualität. Aktuell ist nicht unbedingt nur das, was von den Massenkommunikationsmitteln vorgestellt wird, sondern unter Umständen gerade das, was verschwiegen wird, aber für den Fortschritt an Emanzipation sich als nützlich und notwendig erweist. Der Gegensatz dazu wäre die nichtaktuelle Dimension - ein besserer Begriff als die bloße Verneinung steht nicht zur Verfügung. Darunter wären zu fassen alle solchen fremdbestimmten Lernorganisationen und Lernziele, die - aus welchen Gründen immer - aus

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anderen Konzeptionen erwachsen als der, charakteristische Konflikte des Jugendalters zu bearbeiten. Dazu gehören insbesondere solche, die das Jugendalter lediglich als "Lernalter" auffassen, in dem für später erst relevante Funktionen ausgebildet wird, dem man jedoch eine eigene politische und soziale Existenz nicht zuerkennt.

d) Die solidarisierende Dimension. Sowohl die sozialwissenschaftlichen Forschungen wie auch die praktisch-pädagogischen Erfahrungen zeigen das durchgängige Bedürfnis der Jugendlichen, in Gleichaltrigen-Gruppen zusammen zu sein. Es ist ein solidarisches Verhalten derjenigen, die die gleichen Probleme und Konflikte haben - mag eine solche Solidarität nun bewußt sein oder nicht.

Diese Tatsache ist von großer Bedeutung für die Jugendarbeit. Sie ermöglicht nämlich, die zunächst nur individuell erfahrenen Probleme als kollektive zu entdecken, für die also auch kollektive Lösungen ausprobiert werden können. Eine an Emanzipation orientierte Jugendarbeit muß diese Solidarisierungen fördern, und zwar nicht nur dann, wenn sich daraus sozial und politisch relevante Handlungen (Aktionen) ergeben, sondern auch dann, wenn sie lediglich unterhaltend-entspannende Formen der Geselligkeit zum Inhalt haben.

Der Gegensatz dazu wäre die sozial-integrierende Dimension. Sie verrät sich in Vorstellungen wie "Einfügen in die Gemeinschaft" und manipuliert das Bedürfnis nach Solidarität für fremdbestimmte Zwecke. Das Interesse an Gruppenbeziehungen unter Gleichaltrigen kann nämlich auch entgegen einer emanzipatorischen Intention pädagogisch instrumentalisiert werden. So etwa dann, wenn in Gestalt der verbindlichen, formellen Gruppe dieses Bedürfnis - meist verbunden mit Zugeständnissen an jugendliche Freizeitbedürfnisse - einfach mit den Interessen eines Verbandes gekoppelt wird, wie bei den meisten Jugendverbänden. Eine emanzipationsfeindliche Instrumentalisierung des Gruppenbedürfnisses liegt ferner dann vor, wenn - wie in der traditionellen Gruppenpädagogik - ein Gruppenverhalten und Gruppenbewußtsein erstrebt wird, das dem Leitbild des "Gleichgewichts als sozialer Norm" verpflichtet ist, also die Meinungen und Einstellungen rein formal auf "mittlere Positionen" zu konvergieren trachtet, so daß Außenseiter-Positionen zum Verschwinden gebracht werden. Schließlich widerspricht auch die traditionelle "Gemeinschaftsbildung" - nach wie vor im Repertoire aller Richtlinien - der solidarisierenden Funktion. Einmal impliziert sie nämlich ein so hohes Maß an emotionaler Intensität, daß sie sehr bald unüberwindliche rationale und emotionale Lernbarrieren aufrichten muß. Ferner tendiert eine solche Gruppe leicht zur selbstgenügsamen Introvertiertheit, die der hier so wichtigen praktischen Wendung nach außen, in die Realität des Alltags, nur im Wege stehen kann. "Gemeinschaftsbildung" hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, daß das vorhandene Konfliktpotential statt als gesellschaftliche Kritik nach außen lediglich individuell oder kollektiv nach innen gewendet werden konnte.

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Diese Aufgaben-Dimensionen der Jugendarbeit bedürften einer weiteren Präzisierung, insbesondere im Hinblick auf die realen Bedingungen der entsprechenden pädagogischen Felder. Darum geht es uns an dieser Stelle jedoch nicht mehr. Vielmehr war unsere Ausgangsüberlegung, wie man im Hinblick auf eine bestimmte pädagogische Institution - die Jugendarbeit - den Zielbegriff der Emanzipation so bestimmen und bearbeiten kann, daß er für eine zielkritisch kalkulierte praktische Veränderung nutzbar gemacht werden kann. Da der Begriff Emanzipation in den letzten Jahren eine geradezu inflatorische Ausweitung angenommen hat, sollten künftig bei seiner Verwendung folgende Prinzipien maßgebend sein:

1. Emanzipation ist ein historisch-dynamischer Begriff. Er produziert keine abstrakten und utopischen didaktischen Konstrukte, die geschichtslos der vorhandenen Realität gegenübergestellt würden. Vielmehr geht er aus vom historisch-dialektischen Charakter der gesellschaftlichen Realitäten und Prozesse und ihrer pädagogischen Korrelate, indem er deren - im Sinne der Emanzipation - fortschrittliche Momente zu analysieren und real weiterzutreiben trachtet.

2. Daraus folgt, daß die emanzipatorischen Chancen einer besonderen pädagogischen Institution - in unserem Falle: der Jugendarbeit - im historischen und gesellschaftlich-funktionalen Kontext so genau wie möglich analysiert werden müssen. Rückschrittlich z. B. ist in der Jugendarbeit nach wie vor das in ihr herrschende pädagogische Bewußtsein; fortschrittlich dagegen sind z. B. ihre Freizeitbedingungen, die u. a. eine Distanz zu fremdbestimmten, profitorientierten Leistungszwängen erlauben.

3. Daran anknüpfend wären institutionsspezifische Teilstrategien zu entwickeln (oben: "Aufgabendimensionen" genannt), die die spezifischen institutionellen Chancen voll auszuschöpfen vermögen.

4. Die zu analysierenden fortschrittlich-emanzipatorischen Bedingungen und Momente der realen gesellschaftlichen Prozesse im allgemeinen und der spezifischen institutionellen Chancen im besonderen können nur in der Weise didaktisch thematisiert werden, in der sie als persönliche Konflikte den Individuen erfahrbar werden.

5. Möglicherweise führt dieses Verfahren auf die Dauer zur Formulierung einer konfliktorientierten Sozialisationstheorie des Jugendalters, in der sich empirische Forschungen sowie die marxistischen und psychoanalytischen Theoreme überzeugend kombinieren lassen. Ohne eine so fundierte Sozialisationstheorie muß - und dies soll unser Beitrag auch zeigen - jede pädagogische Theorie der Emanzipation fragmentarisch bleiben.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. dazu mein in diesem Jahr erscheinendes Buch "Die Jugendarbeit" (Juventa Verlag München). Die folgenden Überlegungen behandeln ein Teilthema des Buches. Ferner: Annelie Keil: Jugendpolitik und Bundesjugendplan. München 1969.

(2) Vgl. die bei Friedhelm Nyssen: Schulkritik als Kapitalismuskritik. Göttingen 1971, abgedruckten Texte. Der politikökonomischen Perspektive gelingt zwar durchgehend der Nachweis der Abhängigkeit pädagogischer Realitäten von den dominanten ökonomischen Interessen, wobei allerdings zwischen kapitalistischen und bloß technologischen Bedingungen kaum mehr unterschieden wird. Vollends unergiebig wird diese Perspektive - zumindest bisher - aber dort, wo es um den Entwurf pädagogischer Strategien und Handlungsanweisungen geht. Dann rächt sich vielmehr, daß die politik-ökonomischen Kategorien aus dem methodisch komplizierten Kontext des "historischen Materialismus" isoliert werden, damit auch ihre politisch-verändernde Kraft einbüßen und so nur noch der Interpretation des immer gleichen dienen: Der Kapitalismus sei überall. Diese Verkümmerung des Marxschen Instrumentariums zeigt sich auch in sogenannten "antikapitalistischen" Positionen in der gegenwärtigen Jugendarbeit. Vgl. Manfred Liebel: Überlegungen zum Praxisverständnis antikapitalistischer Jugendarbeit, In: deutsche jugend, Heft 1/1971, und das Themenheft "Auf dem Weg zu einer antikapitalistischen Jugendarbeit?", deutsche jugend, Heft 5/1970.

(3) Vgl. Friedhelm Nyssens Bericht über die hierzu bedeutsame Sozialisationsforschung: Kinder und Politik. Überlegungen und empirische Ergebnisse zum Problem der politischen Sozialisation. In: betrifft: erziehung, Heft 1/1970.

(4) Der Verzicht auf diese Unterscheidung macht den Begriff ,,Emanzipation'' in der gegenwärtigen Diskussion sehr ungenau. Weder bei Klaus Mollenhauer: Erziehung und Emanzipation. München 1969, noch bei Herwig Blankertz: Theorien und Modelle der Didaktik. München 1969, wird die notwendige begriffliche Klarheit geschaffen - die allerdings auch für beide Autoren theoretische Konsequenzen hätte. Martin Rudolf Vogel: Erziehung im Gesellschaftssystem: München 1970, benutzt zwar die politische Bedeutung des Begriffes in seiner Argumentation, ohne jedoch dessen pädagogischer Transformation Aufmerksamkeit zu schenken. Für Helmut Kentler schließlich ist Emanzipation ein Synonym für Mündigkeit (Jugendarbeit mit emanzipierter Jugend, in: deutsche jugend, Heft 5/1969).

(5) Einen interessanten Ansatz für die spezielle Situation der Oberschüler hat vorgelegt Franz Wellendorf: Zur Situation des höheren Schülers in Familie und Schule. in: Liebel/ Wellendorf: Schülerselbstbefreiung. Frankfurt 1969.


 

74. Jugendarbeit (1971)

(In: Neues pädagogisches Lexikon. Stuttgart 1971, Sp. 533-534)

(Hinweis: Die Abkürzungen, wie sie bei Lexika meistens verwendet werden,  sind aus dem Original übernommen. H.G.)

 

1. Der Begriff J. wird in unterschiedlichem Umfang verwendet. Er bezeichnet i. w. S. alle päd. Maßnahmen, die außerhalb von Familie und Schule bzw. Beruf jungen Menschen angeboten werden, und fällt in dieser Form nahezu mit dem Begriff Jugendhilfe zus. I. e. S. bezeichnet er die freiwillig, in der Freizeit genutzten Bildungsangebote, grenzt diese somit von den Maßnahmen der Zwangserz. (Fürsorge) ab und gerät in enge Nachbarschaft zur Erwachsenenbildung.

2. Die Unklarheit des Begriffs spiegelt die Widersprüche im geschichtl. Ursprung wider: Relig. und karitative (Fürsorge für junge Arbeiter, die nicht bei ihren Familien wohnen konnten) Motive bestimmten die kirchl. J. im 19. Jh.; da diese die Arbeiterjugend immer weniger erreichte und damit der Sozialdemokratie überließ, entstand vor dem Ersten Weltkrieg eine staatliche Jugendpflege als großzügiges Förderungsprogramm, von dem die sozialistischen Arbeiterjugendvereine jedoch ausgeschlossen blieben; aus Protest gegen die Zustände im Lehrlingswesen entstand ebenfalls vor dem Ersten Weltkrieg eine gegenüber Partei und Gewerkschaften autonome Arbeiterjugendbewegung - von jenen zeitweise bekämpft; schließlich ist noch die bürgerliche Jugendbewegung an der Entstehung der J. beteiligt. Von Anfang an war für die J. der Gegensatz von auf gesellsch. Emanzipation gerichteter "Bewegung" und diese behindernder "Pflege" durch staatliche und gesellsch. Institutionen bestimmend, der später in der päd. Lit. ungebührlich heruntergespielt wurde. Im RJWG von 1922 fanden diese widersprechenden Strömungen einen Kompromiß. Die emanzipatorischen Momente wurden - polit. mißbraucht - in der Jugendpolitik des Nationalsozialismus wieder aktiviert.

3 Nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die emanzipatorische Dimension zunächst keine Rolle, sie wurde erst infolge der jugendlichen Protestbewegung Ende der sechziger Jahre wieder bewußt. Zunächst waren die Aufgaben durch die Not vorgegeben: Beseitigung der Wohnungsnot, der Berufsnot, der gefährdenden Einflüsse der Nachkriegsgesellsch. (Schwarzmarkt; Kriminalität), Schutz vor polit. Radikalisierung. In dem Maße, wie sich diese Bedingungen wandelten, veränderten sich auch die Aufgaben. Umfangreiche staatliche Förderungspläne (Bundesjugendplan seit 1950; Landesjugendpläne) setzten den Trägern neue Ziele: Polit. Bildung; internationale Begegnung; freiwillige soziale Dienste; musisch-kulturelle Bildung; Freizeithilfen. So wurde aus einer negativen Aufgabenbestimmung (Abwehr von Gefahren) zunehmend eine positive (zusätzliche Bildungsangebote; J. als "3. Erz.institution"). Im selben Maße jedoch wurde auch die "Einheit der Jugendhilfe" wieder problematisch, weil organisatorisch wie päd.-methodisch Maßnahmen der Zwangserz, und der freiwilligen Bildung in der Freizeit schwer zu verbinden sind.

4. Nach den Bestimmungen des JWG darf der Staat nur dann selbständig als Träger von Jugendhilfe-Maßnahmen und also auch von J. tätig werden, wenn kein nichtstaatlicher Träger diese Aufgaben in 

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zureichender Weise wahrnimmt. Infolgedessen ist J. ganz überwiegend eine Aufgabe staatlich subventionierter freier Träger, deren wichtigste sind: die Jugendverbände, die Kirchen, freie Wohlfahrtsverbände und Kommunen. Die Vielfalt der miteinander konkurrierenden Träger und ihrer Programme macht die J. zunehmend undurchsichtig und unkontrollierbar für die Öffentlichkeit. Dies wird verstärkt durch die im Charakter der Subvention beschlossene Abhängigkeit der Träger von den Zielen der mit der Subventionierung betrauten staatlichen Exekutive. Diese Abhängigkeit entzieht die in den Maßnahmen der J. immer schon mitgesetzten jugendpolit. Ziele zwangsläufig der notwendigen öffentlichen Kritik und Kontrolle. Andererseits lähmt sie die päd. Initiative der Träger insbes. im Hinblick auf die Ermittlung neuer Aufgaben und deren wenigstens experimentelle Lösung.

5. Die J. war nach dem Kriege zunächst vor allem eine Aufgabe der Jugendverbände.Sie versuchten, möglichst viele Jugendliche als Mitglieder in ihre Gruppen zu bekommen und die Ziele des jeweiligen Verbandes in regelmäßigen Gruppenzus.künften ("Heimabende") zu vermitteln. Im Jahre 1949 schlossen sich in Form einer Arbeitsgemeinschaft die meisten Jugendverbände und die Landesjugendringe zum "Dt. Bundesjugendring" (DBJR) zus. Durch sie wurden aber nie mehr als etwa 25 % der Jugendlichen zur Mitarbeit gewonnen. Für die große Zahl der "Unorganisierten" wurden daher neue Formen informeller Angebote erprobt (z. B. "Heim der offenen Tür"; Jugendcafe). Dazu kamen überregionale Jugendbildungsstätten. Aber auch diese neuen Formen gerieten zunehmend in eine Konkurrenz mit den allg. zugänglichen Freizeitangeboten. Sie hat seit einigen Jahren die Träger zu einer Revision der Vorstellungen über die künftigen Aufgaben der J. gezwungen. Die Überlegungen gehen dabei in folgende Richtung:
a) Die Angebote der J. müssen jeweils aus den als gesellsch. vermittelt zu verstehenden jugendlichen Bedürfnissen entdeckt und als entspr. Lernangebote formuliert werden. b) An diesem Prozeß müssen die Jugendlichen mit maximaler Mitbestimmung beteiligt werden. c) J. hat nicht nur die Funktion der gesellsch. Integration (= Einübung in die gesellsch. Rollenerwartungen), sondern auch die der Unterstützung und Klärung jugendlicher Emanzipationsbedürfnisse gegen die Gesellsch. d) J. hat die Aufgabe, in einem ständig sich differenzierenden Freizeitsystem zunehmend differenzierte und höher qualifizierte Lernangebote für junge Menschen zu offerieren. e) J. hat die Aufgabe, in diesem Rahmen polit., kulturelle und berufliche Beteiligungen junger Menschen zu ermöglichen. 

6. Von allen päd. Feldern ist die J. bisher am wenigsten erforscht. Die Entwicklung eines theoret. durchstrukturierten päd. Selbstverständnisses befindet sich erst in den Anfängen. Insbes. empirische Untersuchungen liegen kaum vor, dafür jedoch eine Reihe von didaktisch-methodisch orientierten Beschreibungen päd. Institutionen und Maßnahmen, die einer systematischen Darstellung noch harren.

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Lit.: Nohl-Pallat. Bd. V - H. Kentler: J. in der Industriewelt, 1963. - M. Zwerschke: Jugendverbände und Sozialpolitik, 1963 (Bibl.). - C. W. Müller: Jugendpflege als Freizeiterz., 1965. - Ders. u. a.: Was ist J.?, 3. Aufl. 1967 - A. Keil: Jugendpolitik und Bundesjugendplan, 1969 (Bibl.). - H. Giesecke: Die J., 1971 (Bibl.). - Z'schr. Dt. Jugend 

 

75. Jugendtourismus (1971)

(In: Neues pädagogisches Lexikon. Stuttgart 1971, Sp.557-559)

(Hinweis: Die Abkürzungen, wie sie bei Lexika meistens verwendet werden,  sind aus dem Original übernommen. H.G.)
 

1. Unter J. versteht man das zeitlich begrenzte Verreisen von Jugendlichen im Alter von 16 - 25 Jahren unter Benutzung touristischer Dienstleistungsorganisationen mit dem Ziel, am Urlaubsort altershomogene Gruppen anzutreffen. Unbefristete Reisen wie "Gammeln" fallen ebensowenig unter diesen Begriff wie das Reisen mit Familienangehörigen oder im Rahmen des üblichen Erwachsenen-

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Tourismus. Die Veranstalter solcher Reisen kann man hinsichtlich ihrer mehr oder weniger dominanten päd. Zielsetzung unterscheiden (kommerzielle Reiseorganisationen mit z. T. eigenen Jugendabteilungen auf der einen, und Jugendhilfe-Organisationen wie Jugendverbände auf der anderen Seite); die Grenzen sind aber fließend, weil auch kommerzielle Unternehmen z.B. "Bildungsreisen" anbieten. Wie im übrigen Tourismus, zeichnet sich auch hier eine zunehmende Differenzierung des Programmangebotes ab (z. B. Bildungsurlaub, Hobbyurlaub, relig. Freizeiten usw.). Geschichtlich gehört J. wie Tourismus überhaupt in den Zushg. des Auseinandertretens von Arbeit und  Freizeit und der daraus resultierenden "Freizeit-Industrie"; deshalb ist es nicht zweckmäßig, geschichtl. Vorformen wie die Bildungsreise des "jungen Herrn", das spätm.a. Vagantentum oder "Fahrt  und Lager" der "Jugendbewegung" als kontinuierliche Vorläufer zu betrachten; ihnen fehlte das für die Gegenwart wichtige Moment der durch ubiquitäre Organisation ermöglichten Expansion des touristischen Systems. So verstanden gibt es J. in Deutschland erst seit Ende der fünfziger Jahre.

2. Der bisher noch ungenügend erforschte Bereich des J. ist päd. bedeutsam, weil er a) für das Verständnis jugendlichen Verhaltens einen sonst nicht vorfindbaren Experimentier- und Forschungsraum mit verhältnismäßig konstanten Bedingungen, b) ein "unaustauschbares Lern- und Erfahrungsfeld" (GIESECKE) darstellt und c) aus dem bisherigen Bildungsgang resultierende soziale und kulturelle Lerndefizite offenbart. Unter den relativ autoritätsarmen Bedingungen des J. entwickeln sich subkulturelle Verhaltensweisen (KENTLER), die ambivalent auf die rigiden Anforderungen des Alltages bezogen sind: Einerseits zeigen sie eine "Flucht aus dem Alltag" mit vergleichsweise großer Experimentierfreudigkeit im Hinblick auf die Sozialkontakte (vor allem auch gemischt-geschlechtliche Beziehungen), verbunden mit empfindlicher Abneigung gegen jede Art von Bevormundung; andererseits werden im Alltag verinnerlichte Verdinglichungen selbstverständlich reproduziert (Beispiel: das Braunwerden mit dem Ziel, zu Hause erhöhte Gesundheit in die - keineswegs nur berufliche - Leistungskonkurrenz einzubringen). Diese im einzelnen sehr differenzierte und weiterer Forschung harrende Ambivalenz teilt der J. mit allen anderen Formen jugendlicher Subkulturen. - J. als "unaustauschbares Lernfeld" bezeichnet die von jener Ambivalenz eröffneten und zugleich begrenzten Lernmöglichkeiten durch und in der touristischen Situation (Selbsterfahrungen durch Abwesenheit heimischer Autoritäten; Sozialbeziehungen in der Skala von "sehr distanziert" bis "sehr intim" mit vorher unbekannten Menschen; Auseinandersetzung mit fremden polit. und sozio-kulturellen Gegebenheiten). Versuche, diese Möglichkeiten planmäßig päd. zu intendieren (z. B. "internat. Begegnungen", "jugendgemäßer Urlaub", "Erz. zur Gemeinschaft"), sind problematisch, wenn sie an den spezifischen Chancen der jugendtouristischen Situation vorbeizielen und etwa allg. Ziele der heimischen Jugendarbeit bloß übertragen. Der J. kann ein Beitrag zur jugendlichen Emanzipation werden, insofern er durch Lernprozesse zu realisierende Befreiungen vom Milieu als lebenslangem sozialen Schicksal, vom wirtsch. Existenzminimum und von der Totalität der Berufsrolle wenigstens zeitweise und experimentell ermöglicht. Aus diesen Gründen ist eine päd. Grundausbildung für Jugendreiseleiter auch kommerzieller Unternehmen wichtig und wird auch zögernd bereits versucht. Dafür fehlen aber noch weitgehend Maßstäbe und Erfahrungen, zumal sich eine Zusatzausbildung für sozialpäd. Vorgebildete wegen der dabei zu überwindenden päd. Voreinstellungen als bes. schwierig herausgestellt hat und andererseits die meisten Reiseleiter nur kurze Zeit nebenberuflich tätig sind. - Die

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Lernchancen im J. werden erheblich erschwert durch Defizite der Allg.bildung. Durchgängig fehlen: ein hinreichendes hist.-kulturelles Verständnis, um fremde polit. soziale, wirtsch. und psychol. Gegebenheiten vorurteilsfrei zu erfassen; die Souveränität in der Inanspruchnahme von Dienstleistungen; die Fähigkeit, distanziert-neutrale Sozialbeziehungen einzugehen. Die Entstehung dieser und anderer Lerndefizite hat zu der Frage geführt, ob das Spezifische des J. im Rahmen des allg. Tourismus eher eine neue Form jugendlicher Emanzipation sei, indem man die Erwachsenen ausschließt, weil man nur ohne ihre Gegenwart wirklich erwachsen sein darf (KENTLER), oder ob es sich eher um ein zweckmäßiges Durchgangsstadium für einen bestimmten Typ des touristisch noch bes. unsicheren Jugendlichen auf dem Wege zum üblichen Tourismus hin (GIESECKE) handelt.

3. Es gab 1969 25 kommerzielle und gemeinnützige Veranstalter des J., die 12 größten hatten 1968 zus. ca. 180000 Teilnehmer. Die Teilnehmerzahlen sind in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, und der Wettbewerb hat überall zu größeren organisatorischen Zus.schlüssen geführt. So haben die zahlreichen früher lokal begrenzten Reiseorganisationen der ev. und kath. Kirche sich zu Bundesarbeitsgemeinschaften zus.geschlossen. Die Zahl der jugendlichen Urlauber steigt ständig; im Jahre 1967 verreisten 47% der 16- bis 20jährigen, 50% der 21- bis 24jährigen und 46% der 25- bis 29jährigen.

Lit.: H. J. Knebel: Soziol. Strukturwandlungen im modernen Tourismus, 1960. - H. Giesecke/A. Keil/ U. Perle: Päd. des Jugendreisens, 1967 (Bibl.). - H. Kentler/Th. Leithäuser/H. Lessing: Jugend im Urlaub, 1969 (Bibl.).

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76. Ins eigene Netz gegangen (1971)

Die Dogmen der Bildungspolitiker werden fragwürdig

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 40/ 3.10.1971)
 

In der bildungspolitischen Debatte ist eine Art von Denkpause eingetreten. Sie wurde vor allem dadurch nötig, daß auf absehbare Zeit eine Finanzierung der ehrgeizigen Ziele (zum Beispiel Gesamtschule, Ganztagsschule, Gesamthochschule) an deutliche Grenzen stößt. Die konservative bildungspolitische Opposition stellt dies nicht ohne Genugtuung fest, und die Kulturpolitiker der links-liberalen Koalition sehen sich auch in ihren eigenen Reihen einer zunehmenden Zielkritik ausgesetzt.

In der Tat ist eine Überprüfung der Ziele und Argumente angebracht. Aus politischen Gründen mußte man vor einigen Jahren mit unmittelbar plausiblen, aber noch keineswegs ausgereiften und sachlich belegbaren Argumenten die Bildungsfrage erst einmal politisieren, der Öffentlichkeit und ihren parlamentarischen Vertretern als politisches Thema vorstellen. Dieser Start ist gelungen und politisch nicht mehr zurückzunehmen. In diesem Stadium des Prozesses wäre es keine politische Kapitulation, sondern politische Klugheit, die nächsten strategischen Ziele neu zu bestimmen und die zunächst notwendigerweise groben Begründungen zu präzisieren. Besonders folgende Voraussetzungen müssen von Grund auf neu diskutiert werden:

1. Mit erstaunlicher Einhelligkeit tun alle bildungspolitischen Kontrahenten so, als ob es nur um die Höherqualifizierung von Arbeitskräften gehe. Auch die linksliberale Koalition ist in dieser Frage inzwischen zum Gefangenen ihrer eigenen Propaganda geworden. Denn nur mit der Überstrapazierung jenes ökonomischen Argumentes war die bildungspolitische Diskussion überhaupt in Gang zu bringen. Nimmt man dieses Argument beim Wort, so könnten die Bildungsausgaben in dem Augenblick gekürzt werden, wo die Nachfrage nach höherqualifizierten Arbeitskräften zurückginge.

Die einseitig ökonomische Fixierung des "Out put" ist jedoch von Anfang an schlicht falsch gewesen. Es geht vielmehr auch darum, den Freizeitwert der höheren (und längeren) Bildung wieder in die Diskussion zu bringen. Auch früher war ja der Besuch des Gymnasiums und der Universität in hohem Maße "nutzlos", wenn man an die Arbeitsqualifikation der Absolventen denkt. Mindestens gleichrangig war vielmehr immer schon der "Freizeitwert", der bezogen war auf einen bestimmten bildungsbürgerlichen Status. Was spricht eigentlich dagegen, nun diesen "nutzlosen Freizeitwert" massenhaft nach unten zu sozialisieren? Was spräche gegen Facharbeiter und Bauern mit ausgeprägten literarischen, politischen und musikalischen Interessen? Das öffentliche Bildungssystem muß auch begriffen werden als eine öffentliche Freizeitdienstleistung wie die Unterhaltung von Parks, Bädern und Verkehrsmitteln, und es hat auf lange Sicht nur Sinn, wenn es auch auf eine neue politische Massenkultur im Rahmen der herannahenden Freizeitgesellschaft zielt.

2. Damit steht die "heilige Kuh" des bildungspolitischen Nulltarifs zur Debatte. Die rigorose Forderung nach Kostenfreiheit aller höheren Bildungsstufen ist zwar historisch verständlich, dürfte aber in Zukunft revidierbar sein - unbeschadet der Verbesserung und Vermehrung von Stipendien. In dem Maße, wie das Bildungssystem den Charakter einer öffentlichen Freizeitdienstleistung erhält, erscheint eine individuelle Kostenbeteiligung folgerichtig. Warum sollten nicht immer mehr Konsumenten einen Teil ihres Konsumbudgets statt in mehr oder weniger törichte Gebrauchsgüter in den Besuch von Schulen stecken? Verstärkter Schulbesuch könnte also volkswirtschaftlich gesehen auch so etwas wie eine Verlagerung des Kaufverhaltens sein. Das Argument, dadurch würden sozial schwache Gruppen vom Besuch höherer Bildungsanstalten ausgeschlossen, geht längst am Kern vorbei. Der Nulltarif kommt tatsächlich diesen Gruppen kaum zugute, dafür in zunehmendem Maße denjenigen Gruppen, die sich eine Kostenbeteiligung sehr wohl leisten könnten, nun jedoch zu einer massenhaften Ausbeutung der staatlichen Finanzen animiert werden. Der Nulltarif, verbunden mit inzwischen fast leistungsunabhängigen Stipendien, finanziert zum großen Teil auf Dauer gestellte, kleinbürgerliche Subkulturen, deren Mitgliedern inzwischen jede "sekundäre" Leistungsmotivation zur produktiven Veränderung ihres Studentenstatus fehlt.

3. Das Ziel, mehr Arbeiterkinder zum Besuch höherer Bildungsanstalten zu animieren, ist nicht erreicht worden, wenn es überhaupt je ernsthaft beabsichtigt war. Die Bildungsmilliarden werden bislang vor allem in den Ausbau der Hochschulen gesteckt, und die werden immer noch zu 93 Prozent von Nicht-Arbeiterkindern in Anspruch genommen. In diejenigen Bildungsbereiche, in denen Arbeiterkinder die große Mehrheit bilden, in der Berufsausbildung etwa, wurde dafür so gut wie nichts investiert, ja, Berufsausbildung und Berufsschule blieben schon in der Planung praktisch ausgeklammert.

Die neue Bildungspolitik hat die Chancenungleichheit nur verstärkt, und hinter ihrer ideologischen Fassade zeigt sich eine ganz andere Wirklichkeit: die preisgünstige Eroberung der vermehrten Studienplätze durch Mittelstandskinder, die noch vor wenigen Jahren einen praktischen Beruf ergriffen hätten und nun zum großen Teil nicht einmal zum Studium motiviert und befähigt sind. Die Bildungsreform hat einen lautlosen Klassenkampf hervorgerufen, der wegen des Mangels an studierenden Arbeiterkindern präventiv geführt wird; die von ihr ausgegangene Bildungswerbung hat kaum die Arbeiterkinder erreicht, dafür aber um so mehr die Statusfurcht des Bürgertums und Kleinbürgertums mobilisiert: Denn im Unterschied zu früher ist Nichtstudieren für diese Schichten zu einer sozialen Katastrophe geworden, Berufe ohne Studium sind endgültig diskriminiert.

Angesichts dieser Entwicklung ist sehr zweifelhaft, ob durch die geplante Einführung von Gesamtschulen die immer größer werdende Benachteiligung der Arbeiterkinder wirklich korrigiert werden kann. Es ist abzusehen, daß die begrenzten Mittel für die Bildung immer schon von den Mittelschichten verzehrt sein werden, bevor sie die unteren sozialen Schichten wirklich erreicht haben. Wäre es da nicht richtiger, statt eines für alle geltenden (und somit vor allem von den Mittelschichten genutzten) Vorschulsystems Vorschulen in Arbeitervierteln zu bauen und dort auch, statt aufwendiger Gesamtschulen für alle, neue, sozialwissenschaftlich-naturwissenschaftlich orientierte Oberschulen zu bauen, deren Lehrpläne den Erkenntnissen über die spezifischen Leistungsfähigkeiten von Unterschichtkindern entsprechen?

4. Fragwürdiger noch als die bildungspolitischen sind die pädagogischen Ausgangspunkte der neuen Bildungspolitik. Das liegt vor allem daran, daß das Arsenal der pädagogischen Argumente eng mit den Standesinteressen der Volksschullehrer verflochten ist. Genaugenommen kommen nur solche Argumente zum Zuge, die mit diesen Interessen übereinstimmen. Für diese ist zum Beispiel das Eintreten für die Gesamtschule sekundär, es erwächst vielmehr folgerichtig aus der Forderung nach einheitlicher Lehrerbildung, also nach Statusangleichung der Volksschullehrer an die Gymnasiallehrer. Seit Jahrzehnten gehört zum beruflichen Selbstverständnis der Volksschullehrer eine krasse Überbewertung der pädagogischen Möglichkeiten der Schule, wie sie heute in der generellen Forderung nach einer Ganztagsschule zum Ausdruck kommt. In dieser Vorstellung werden pädagogischen Einflüssen, die nicht durch die Schule kanalisiert sind, nebensächliche oder nachteilige Wirkungen zugesprochen.

Nun ist jedoch - von genau zu definierenden und zu begründenden Sonderfällen abgesehen - die Forderung nach allgemeinen Ganztagsschulen schon deshalb ideologisch, weil sie von einer falschen Sozialisationsvorstellung ausgeht. Es ist nämlich gar nicht mehr möglich, alle für das Heranwachsen wichtigen Erfahrungen und Lernleistungen in einer einzigen Institution zu organisieren. "Modern" ist nicht eine Erweiterung und Verlängerung der Schule, sondern eher ihr Abbau, der übrigens ohne Einbußen an späterer Qualifikation möglich wäre (zum Beispiel ist erwiesen, daß Schularbeiten nur einen ganz geringen Lernwert haben, und auch der Lehrplan könnte allein schon dadurch erheblich vermindert werden, daß seine rein disziplinierenden Partien gestrichen würden).

Jedenfalls brauchen Kinder und Jugendliche eine möglichst umfangreiche schulunabhängige Sozialisation, nicht zuletzt übrigens auch durch Teilnahme an den Massenmedien. Es gehört aber zur politisch herrschend gewordenen Volksschullehrerideologie, daß es keinen pädagogischen Lehrsatz geben darf, der die Bedeutung und die Macht der Schule nicht erhöht.

Es wäre nicht schwer, auch andere pädagogische Theorien der gegenwärtigen Bildungsdiskussion zu kritisieren, aber es geht nicht darum, den Beifall von der falschen Seite zu provozieren. Das Verdienst der bildungspolitischen Reformer kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Aber die finanziell bedingte Denkpause sollte zur Überprüfung der Ziele, Mittel und Wirkungen des bisherigen Handelns benutzt werden. Möglicherweise stellt sich dabei heraus, daß die Bildungsreformer sich von einigen ihrer bisherigen Verbündeten lösen müssen; zumindest sollten sie besser als bisher erkennen lassen, welche politischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Theorien welchen gesellschaftlichen Teilinteressen wirklich dienen.

 

77. Jugendbildungsstätten (1971)

(In: Neues pädagogisches Lexikon. Stuttgart 1971, Sp. 538-539)

(Hinweis: Die Abkürzungen, wie sie bei Lexika meistens verwendet werden,  sind aus dem Original übernommen. H.G.)

 l. Die J. ist eine Einrichtung der Jugendarbeit. Ihre Entstehung geht zurück auf jugendpolit. Maßnahmen der engl. und amerik. Besatzungsmächte nach dem Kriege, die u. a. durch Einrichtung von Jugendhöfen (vor allem Barsbüttel bei Hamburg, Vlotho) das in ihren Ländern übliche Modell der verbandlich ungebundenen Jugendarbeit nach Deutschland brachten. Von den dt. Erziehern wurden die J. zunächst als überverbandliche und überparteiliche Begegnungsstätten für Jugendliche und teilweise auch Erwachsene des ganzen Volkes angesehen, in denen die polit. Entscheidungen der Nachkriegszeit in demokratisch-partnerschaftlicher Weise diskutiert werden konnten. Dadurch sollte die polit. Zersplitterung der Jugendarbeit vor 1933, die als wichtige Voraussetzung für die Entstehung des Nationalsozialismus angesehen wurde, und die man im Wiederaufleben der rein verbandlichen Jugendarbeit sich wiederholen sah, wenigstens gemildert werden. Aus diesem Grunde versuchten die J. auch, die Ausbildung und Fortbildung der verbandlichen Jugendführer und Jugendleiter zu übernehmen, was sie teilweise in einen Gegensatz zu den Jugendverbänden brachte.

2. Seither entwickelten sich die J. von "Begegnungs-Stätten" zu "Bildungsstätten". Während zunächst das Programm im wesentlichen in der Bereitstellung eines umstrittenen Themas und kontroverser Referenten bestand, standen bald didaktisch genauer geplante, lehrgangsähnliche Programme im Vordergrund. Zudem richteten die meisten verbandlichen Träger der Jugendarbeit ebenfalls eigene J. ein, zumeist für die Ausbildung des eigenen Nachwuchses; oder Einrichtungen der Erwachsenenbildung (z. B. Ev. Akademie Loccum, Bad Boll) boten spezifische Jugendbildungsveranstaltungen an. Da in den fünfziger Jahren die verbandliche Jugendarbeit sich durchsetzte, gerieten die überverbandlichen J. zeitweise in Bedrängnis und mußten teils schließen (z. B. Barsbüttel), teils den Verbänden als Gästehäuser ohne eigenen Einfluß auf das Programm dienen. Nur wenige J. verfügen über einen hauptamtlichen päd. Mitarbeiterstab.

3. Heute bieten die verbandlichen und freien J. in Wochenend- und Wochenkursen Tagungen für Jugendliche mit einer breiten Skala von Themen an, wobei die politische Bildung nach wie vor deutlich überwiegt. Einige J. haben dabei neue Formen der didaktischen Organisation ausprobiert, die auch einer didaktisch-methodischen Verbesserung des Schulunterr. zugute kommen können (z. B. Planspiel; Produktion; Provokation). Gegenüber der Sch. haben die J. den Vorteil, daß sie ohne Bindung an für das Schulwesen charakteristische institutionelle, rechtliche und lehrplanmäßige Zwänge sich auf die Bedürfnisse ihrer Teilnehmer einstellen und in hohem Maße mit der Sozialsituation der Tagung experimentieren können; andererseits unterliegen die J. stärker als die
Sch. den Bedingungen des kulturindustriellen Marktes, dem Wechsel der Themen im Rahmen von Ange-

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bot und Nachfrage und damit den Gefahren eines vordergründigen Kulturbetriebes. Zudem haben junge Lehrlinge und Arbeiter kaum Gelegenheit zur Teilnahme, solange Bildungsurlaub nicht gesetzlich ermöglicht wird. Gegenwärtig ist deren Teilnahme fast nur mit Zustimmung ihrer Betriebe möglich, was zu z. T. erheblichen Abhängigkeiten der päd. Veranstalter führt. Gleichwohl kommt den J. für die Zukunft einer Gesellsch. mit zunehmender Freizeit große Bed.  zu. In ihnen hat sich die für die Jugendarbeit überhaupt nötige Entwicklung von traditionellen jugendpflegerischen Angeboten und sogenannten jugendgemäßen Gesellungsformen hin zu qualifizierten und didaktisch experimentierfreudigen Lernangeboten am Weitesten durchgesetzt. Ihre päd. und organisatorische Beweglichkeit ermöglicht schnelle Anpassung an  neue päd. Aufgaben. Obwohl die J. zum Ressort der Jugendpflege gehören, fühlen sie sich päd. in der Regel als Stätten der Erwachsenenbildung für junge Leute.

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Lit.: H. H. Schepp: Offene Jugendarbeit, 1963. - H. Giesecke: Polit. Bildung in der Jugendarbeit, 1966.


 

78. Gebildetes Proletariat (1971)

(In: Der Arbeitgeber, 20.8.1971, S. 678-680)
 

Bürgerrecht auf Bildung - nicht auf Karriere / Bildung vermittelt eigenständigen personalen Wert / Facharbeiter und Bauern mit intellektuellem Interesse? / Bildung zugleich Investitions- und Konsumgut / Wirtschaft muß Arbeitsplätze anpassen an Bildungsangebot / Bildung zum Null-Tarif wird fragwürdig / Gesellschaftliche Konsequenzen schwer vorhersehbar

(Vorspann der Red., H. G.)
 

In der gegenwärtigen bildungspolitischen Diskussion scheinen zwei Positionen unversöhnlich gegenüberzustehen. Man könnte sie die politische und die wirtschaftlich-pragmatische nennen. Die politische stützt sich auf den von Ralf Dahrendorf geprägten Slogan "Bildung ist Bürgerrecht" und will möglichst viele Bürger zu möglichst hohen Schulabschlüssen bringen. Sie begründet dies damit, daß in der Vergangenheit höhere Bildungsqualifikationen - und damit auch ein höherer sozialer Status - immer nur einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe möglich gewesen seien, was dem demokratischen Prinzip der Chancengleichheit entschieden widerspreche.

Das Ja - aber der Pragmatiker

Die wirtschaftlich-pragmatische Position, wie sie etwa in letzter Zeit Kultusminister Hahn eingenommen hat, widerspricht dieser politischen Forderung nicht unbedingt, verweist aber auf das dadurch heraufbeschworene Überangebot an hochqualifizierten Schulabschlüssen, für das unser Wirtschaftssystem in absehbarer Zeit keine adäquaten Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl zur Verfügung stellen könne.

Prognostischer Nebel

Ruft man in diesem Streit die Bildungsökonomen und ihre Berechnungen zu Hilfe, so klärt sich das Problem keineswegs von selbst; denn die Prognosen widersprechen sich zum Teil erheblich, weil einerseits die Methoden noch nicht genügend fundiert sind und andererseits zu viele Unbekannte in solche Berechnungen einfließen müssen. Bleibt der Blick auf vergleichbare andere Industrienationen (USA, Schweden, und vor allem die Ostblockländer). In diesen Ländern ist der prozentuale Anteil höher qualifizierter Schulabschlüsse z. T. erheblich größer als bei uns, ohne daß es dort bereits zu einem Bildungsproletariat gekommen wäre. Vor allem aber läßt der Blick aufs Ausland einige schwerwiegende Fehler unserer bildungspolitischen Diskussion offenbar werden, die - so könnte man sagen - selbst schon ein klassischer Bestandteil unserer überlieferten Bildungspolitik sind.

Die ökonomischen Geister wollen nicht mehr weichen

Das gilt zunächst einmal für die Fixierung auf den reinen Berufs- und Produktionswert der intendierten Bildungsabschlüsse. Mit erstaunlicher Einhelligkeit tun alle bildungspolitischen Kontrahenten so, als ob es nur um die Höherqualifizierung von Arbeitskräften gehe. Auch die bildungspolitisch "Progressiven" sind in dieser Frage inzwischen die Gefangenen ihrer eigenen Propaganda geworden; denn nur mit der Überstrapazierung jenes "ökonomischen" Argumentes war die bildungspolitische Diskussion überhaupt in Gang zu bringen. Das Bild verändert sich jedoch grundlegend, wenn man auch den " Freizeitwert" einer höheren Bildungsqualifikation mit einbezieht - zumal in einer Wirtschaftsgesellschaft, die ganz ohne Zweifel nicht nur mehr Freizeit haben wird, sondern auch erheblich mehr wirtschaftlich davon existieren wird als bisher. Auch früher war ja der Besuch des Gymnasiums und der Universität in hohem Maße "nutzlos", wenn man an die Arbeitsqualifikation der Absolventen denkt. Mindestens gleichrangig war vielmehr immer schon der "Freizeitwert", der bezogen war auf einen bestimmten bildungsbürgerlichen Status. Was spricht eigentlich dagegen, nun diesen "nutzlosen Freizeitwert" massenhaft nach unten zu sozialisieren? Was spräche gegen Facharbeiter und Bauern mit ausgeprägten literarischen, politischen und musikalischen Interessen? In diesem Sinne nutzlos war zum Beispiel lange Zeit die "höhere Mädchenbildung" und ein großer Teil des Frauenstudiums überhaupt, das weniger einer beruflichen Qualifikation als vielmehr der Qualifikation einer "bürgerlichen Lebensgefährtin" diente.

Rentabilität von Bildung - zulässiges Kriterium?

Gegen eine solche Vorstellung, die die einseitig fixierte bildungspolitische Diskussion wieder produktiv auflockern könnte, sprächen die hohen Kosten. Können wir uns solche Kosten leisten für Bildungseinrichtungen, die u. U. nicht in erster Linie wieder volkswirtschaftlich produktiv werden? Auch in dieser Frage wird man volkswirtschaftlich umdenken müssen: Das Bildungswesen ist auch eine öffentliche Freizeit-Dienstleistung wie Parks, Badeanstalten und die öffentlichen Verkehrsmittel, und für ihre Benutzung müßte dann folgerichtig ebenfalls ein vernünftiger, sozial richtig kalkulierter Eigenbetrag geleistet werden. Auch die rigorose Forderung nach Kostenfreiheit aller höheren Bildungsstufen ist zwar historisch-politisch verständlich, aber für die Zukunft zweifellos revidierbar.

Anders in der Planwirtschaft

Nur in einer gesamtgesellschaftlichen Planungswirtschaft wie in den Ostblockländern hätte eine solche Forderung Sinn, weil in diesem System auch die Löhne und Gehälter gesamtwirtschaftlich eingeplant werden und es sich volkswirtschaftlich gleich bleibt, ob man höhere Löhne zahlt und Gebühren für Freizeitdienstleistungen dann wieder einbehält, oder ob man bei vergleichsweise niedrigen Löhnen solche Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellt. Und warum sollten nicht auf die Dauer immer mehr Konsumenten einen Teil

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(S. 679 = Werbung, H. G.)

ihres Konsum-Budgets statt in mehr oder weniger törichte Gebrauchsgüter in den Besuch von Schulen stecken? Verstärkter Schulbesuch könnte also volkswirtschaftlich gesehen auch so etwas wie eine Verlagerung des Kaufverhaltens sein - was zudem bestimmten Industriezweigen neue Perspektiven eröffnen würde. Wenn es also bei der Bildungsreform nur um die Höherqualifizierung von Arbeitskräften geht, dann ist sie zweifellos zu einem großen Teile jenes abenteuerliche Risiko, als das sie ihre Kritiker hinstellen. Sinn hat sie vielmehr nur, wenn sie auch auf eine neue Massenkultur der herannahenden Freizeitgesellschaft zielt, wobei das Engagement für öffentliche Angelegenheiten sicher einen erheblichen Raum einnehmen muß.

Bildung bestimmt gesellschaftlichen Status

Damit ist jedoch eine Prognose der beruflichen Aussichten und Perspektiven keineswegs erledigt, denn einstweilen bestimmt der berufliche Status den gesellschaftlichen immer noch in sehr hohem Maße.

Versäumnisse der Wirtschaft

Aber auch in diesem Punkte zahlen sich nun Sünden der vergangenen Jahrzehnte aus. Die Berufsstruktur unserer Wirtschaft ist in der Tat - wie die Kritiker feststellen - so gut wie gar nicht auf den geplanten "out put" eingestellt. Für Abiturienten, die eine Berufstätigkeit in der Wirtschaft aufnehmen wollen, gibt es kaum angemessene "Einstiege". In den meisten Fällen müßte der Abiturient erst noch einmal - wie der 14jährige Volksschüler - eine Lehre machen. Weil das verständlicherweise wenig attraktiv ist, gehen heute schon viele zu den Hochschulen, weil sie gar keine plausible Alternative haben. Hier rächt sich, daß sich die deutsche Wirtschaft - sehr im Unterschied zu anderen Industrieländern - jahrzehntelang auf den Volksschulabschluß und die anschließende Lehre hat festlegen lassen oder auch festlegen wollen, ohne zu bemerken, daß sie auf diese Weise ihr Rekrutierungssystem einer undemokratischen Sozialstruktur und Bildungsstruktur verdankt, das in dem Augenblick gefährdet werden muß, wo Demokratisierungstendenzen sich durchzusetzen vermögen.

Wirtschaft muß sich umstellen

Genau dies aber hat seit einigen Jahren stattgefunden, und politisch kann dieser Prozeß zwar verlangsamt, aber sicher nicht aufgehalten oder gar rückgängig gemacht werden. Für die Wirtschaft liegt dabei das Problem weniger darin, daß sie sich leisten könnte, auf die Dauer "überzählige" Abiturienten abzuweisen, als vielmehr umgekehrt darin, ob sie sich leisten kann, ein solches Arbeitskräftepotential einfach zu verschmähen. Denn die Kassandra-Rufe gegen die Überproduktion von Abiturienten haben zunächst einmal nur die gegenwärtige Situation der privaten Wirtschaft im Auge. Ganz anders sieht jedoch die Lage bei den öffentlichen Dienstleistungen aus, die eine starke Personennachfrage aufweisen und die ohne Zweifel allein im Bereich sozialpädagogischer Dienstleistungen erheblich expandieren werden. Es ist vorauszusehen, daß ein großer Teil der Abiturienten in den öffentlichen Dienstleistungssektor eintreten wird, der auf eine Aufnahme von Abiturienten wesentlich besser vorbereitet ist als die private Wirtschaft. Und die private Wirtschaft wäre sicherlich gut beraten, wenn sie für ihre mittleren Positionen damit in einen Wettbewerb treten könnte.

Höhere Bildung wird sich auszahlen

So oder so wird aber von der angeblichen Überproduktion höherer Schulabschlüsse ein nicht unerheblicher Kostendruck ausgehen. Welche Qualifikation für welche Tätigkeit ausreichend ist, ist ja in bestimmten Grenzen eine Frage der Definition und keineswegs eine "objektive" Tatsache. Zumindest für den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen gibt es dafür deutliche Beispiele. So sind die in Fürsorgeerziehungsheimen und Jugendgefängnissen tätigen Personen eklatant unterqualifiziert, was jenen inzwischen allgemein bekannten minimalen Berufserfolg verursacht. Es ist völlig sicher, daß bei entsprechend höher qualifiziertem Personal die Erfolgsquote erheblich steigen würde. Die Interessenten - nicht zuletzt der Staat selbst - scheuen aber bislang den notwendig von höher qualifizierten Mitarbeitern ausgehenden Kostendruck, obwohl sich rein rechnerisch vermutlich herausstellen würde, daß gesamtgesellschaftlich gesehen die Kosten durch die höhere Erfolgsquote zumindest wieder "eingespielt" würden. Auch für den Bereich der privaten Wirtschaft ließe sich fragen, ob zunächst höhere Personalkosten für dieselben Tätigkeiten sich nicht wieder ausgleichen würden, wenn die entsprechenden Mitarbeiter in ihrer höheren Schulqualifikation z. B. gelernt hätten, emotionelle Konflikte besser zu durchschauen und zu verarbeiten und damit die Krankheitsraten erheblich zu senken (und dies primär in ihrem eigenen Interesse und höchstens sekundär im "Profitinteresse" des Unternehmers).

Führungsstil für höhere Ansprüche

Aber nicht nur ein Kostendruck wird von den Massen höher qualifizierter Mitarbeiter ausgehen, sondern auch ein Mitbestimmungsdruck, oder neutraler gesagt: die Forderung nach einer Revision des Kommunikationsstiles. Höhere Bildung - sofern sie als solche mit gesellschaftlichem Prestige ausgestattet war - hat die Menschen immer schon selbstbewußter und auch widerspenstiger gemacht. Diejenigen, die in der Vergangenheit eine höhere Bildung der Mehrheit verhindert haben, haben das auch immer gewußt. Die Führungen der Unternehmen wie auch die hierarchischen Strukturen der öffentlichen Dienstleistungen werden sich zweifellos auf die Dauer neu orientieren müssen. Qualitative Prognosen für solche Entwicklungen lassen sich nur schwer stellen. Im besten Falle führen die stark auf Selbständigkeit und Kreativität aufgebauten Reformpläne der Gymnasien und Hochschulen zu einem neuen Mitarbeitertyp, der Optimales leistet und doch nicht "nur für die Firma lebt", der hartnäckig Mitbestimmung fordert, ohne politischer Phantast zu sein und der durch höhere Sensibilität für die menschlichen Beziehungen und Interessen am Arbeitsplatz die seit den Tagen des Frühkapitalismus unterdrückten sozialen Impulse der Arbeit wieder freilegen kann. Aber sicher ist das nicht. Jedenfalls steckt hinter dem Gespenst von einem volkswirtschaftlich nutzlosen und politisch brisanten Bildungsproletariat zuviel Angst vor den längst überfälligen Veränderungen und vor allem eine zu enge und einseitige Vorstellung vom volkswirtschaftlichen Nutzen der "Bildungsexplosion".

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79. Jugendhilfe (1971)

(In: Neues pädagogisches Lexikon. Stuttgart 1971, Sp. 544-545)

(Hinweis: Die Abkürzungen, wie sie bei Lexika meistens verwendet werden,  sind aus dem Original übernommen. H.G.)
 

1. Der Begriff J. "ist nichts als ein Sammelname" (MOLLENHAUER), unter dem sehr versch. Maßnahmen zus.gefaßt werden, die kaum unter gemeinsame Prinzipien zu subsumieren sind. In der päd. Praxis versteht man darunter meist diejenigen Aufgaben der öffentlichen Erz. die in den §§ 4 - 5 des Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) vom 11. Aug. 1961 genannt sind, zu dem die Länder Ausführungsvorschriften erlassen haben. Demnach sind Träger der J. das Jugendamt und die Träger der freien Jugendhilfe. Zu den unbedingten Pflichtaufgaben des Jugendamtes gehören u. a. Schutz der Pflegekinder, Mitwirkung im Vormundschaftswesen, Mitwirkung bei der Erz.beistandsschaft, der freiwilligen Erz.hilfe und der Fürsorgeerz., der Beaufsichtigung des Arbeitsschutzes für Kinder und Jugendliche und die Jugendgerichtshilfe. Ferner soll es die Träger der freien Jugendhilfe, die im § 5, 4 JWG näher definiert sind, bei folgenden bedingten Pflichtaufgaben unterstützen: Erz.beratung; Hilfen für Mutter und Kind; vorschulische und außerschulische Pflege und Erz. von Kindern; Gesundheitshilfe von Kindern und Jugendlichen; Kinder-, Jugend- und Familienerholung ("Jugendtourismus"); Freizeithilfen, politische Bildung und internationale Begegnung; berufsorientierte Erz.-hilfen; erzieherische Maßnahmen des Jugendschutzes und für gefährdete Minderjährige.

2. Die Ursprünge der J. gehen ins 19. J. zurück, aber erst um die Jh.wende setzten unter dem Eindruck steigender jugendlicher Kriminalität und Verwahrlosung und zunehmender Ausbeutung der jugendlichen und kindlichen Arbeitskraft nachhaltige Bemühungen um Schutz und Pflege der durch die Industrialisierung gefährdeten Jugendlichen ein. Jedoch konnten erst im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 (RJWG) zus.hängende Maßnahmen der J. gesetzl. verankert werden, die aber teilweise wegen der wirtsch. Schwierigkeiten des Reiches nicht ausgeführt wurden.

3. Das Ziel der öffentlichen J. wird im § I des JWG formuliert, wonach jedes Kind ein "Recht auf Erz. zur leiblichen, seelischen und gesellsch. Tüchtigkeit" hat, für dessen Realisierung im Falle des Versagens der Familie die J. einzutreten hat. In § 2 Abs. 2 JWG werden die Bemühungen der öffentlichen J., nämlich Jugendpflege und Jugendfürsorge, unter dem Gesichtspunkt der "Förderung der Jugendwohlfahrt" zusammengefaßt. Diese Formulierung postuliert eine

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Einheit der J., die das BVG am 18. 7. 1967 in einem Grundsatzurteil bestätigte: "Der Begriff der 'öffentlichen Fürsorge' in Artikel 74, 7 GG umfaßt auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt nicht nur die Jugendfürsorge im engeren Sinne, sondern auch die Jugendpflege". Die Maßnahmen der Jugendpflege würden künftigen Gefährdungen vorbeugen. Diese Entscheidung hat die grundsätzliche Kontroverse aber nicht beseitigt: Die Maßnahmen der Jugendpflege leiden zunehmend unter der Ressortierung im Jugendamt, weil die Maßnahmen der Jugendfürsorge wegen der damit verbundenen Eingriffe in Personenrechte ein strengeres rechtliches und verwaltungstechnisches Vorgehen verlangen als die auf Freiwilligkeit basierenden Maßnahmen der Jugendpflege; andererseits wird befürchtet, daß im Falle einer Trennung die soziale Diskriminierung der Jugendfürsorge und ihrer Klienten sich weiter verschärfen werde. Die sozialpäd. Theorie tritt heute nahezu geschlossen für den Gedanken einer „Einheit der J." ein, die allerdings durch ein noch zu konzipierendes J.recht auf eine neue Basis gestellt werden müßte. Dabei ginge es vor allem um folgende Probleme: a) das Jugendgerichtsges. (JGG, letzte Fassung vom 4. Aug. 1953) ist nur unzulänglich mit dem JWG integriert, so daß der Widerspruch von Jugendstrafe und Jugenderz. nicht aufgehoben werden kann; b) im Jugendamt dominieren die Maßstäbe der öffentlichen Verwaltung gegenüber den päd., die zur Korrektur geschaffenen Jugendwohlfahrtsausschüsse sind in den meisten Fällen prakt. arbeitsunfähig; c) die einzelnen Aufgaben der J. haben sich hist. aus vielfältigen Notsituationen entwickelt und stehen heute z. T. additiv, in der päd. Theorie nicht integriert nebeneinander. Es fehlt eine päd. Theorie des Jugendalters, die alle Lern- und Sozialisationsprobleme und die darauf antwortenden päd. Maßnahmen (einschl. der schulischen) in einen Zushg. bringt. Die versch. Ressortierungen (Erwachsenenbildung; Jugendarbeit; Ersatzerz.), die auf diese Aufgaben spezialisierten Träger und Institutionen, die ihnen zugeordneten päd. Ausbildungsstätten und massive gesellsch. Vorurteile drohen erneut den Zushg. der kindlichen und jugendlichen Sozialisation ungebührlich zu trennen, während in der wiss. Diskussion die Grenzen von "sozial" und "dissozial, von "normal" und "verwahrlost" immer schwerer zu bestimmen sind. d) Die sozialpäd. Theorie, insbesondere die in den sozialpäd. Ausbildungsstätten vertretene, droht zu einer bloß methodisch-technischen Ausführung der Inhalte des JWG und des JGG zu werden. Ihre Aufgabe wäre aber gerade auch, Gesichtspunkte für eine Änderung bestehender gesetzl. und prakt. Maßnahmen zu entwickeln, was ihr nur gelingen kann, wenn sie ihre spezielle Problematik wieder in die Diskussion der allg. Päd. einbringen kann. Dies wird auch dadurch erschwert, daß die Sozialpäd. als Disziplin nur an wenigen Universitäten vertreten ist. e) Gemessen am Umfang der aus dem Ges. abgeleiteten J.-Maßnahmen ist die wiss. Erforschung der Grundlagen sowie der Erfolge bisher in Deutschland noch äußerst dürftig. Die Adaption anglo-amerik. und skandinavischer Forschungen sowie die Einbeziehung sozialwiss. und psychoanalytischer Erkenntnisse kommt nur zögernd voran. f) Die J. begegnet immer noch massiven gesellsch. Vorurteilen, die den ihr zugeordneten päd. Berufen wenig Ansehen verleiht und die Öffentlichkeit für die nötigen Investitionen wenig aufgeschlossen macht. 

  Lit.: NOHL-PALLAT, Bd. V. - H. Schüler-Springorum/R. Sieverts: Sozial auffällige Jugendliche. 1964 (Bibl.). - K. Mollenhauer: J., 1968 (Bibl.). - Ztschr.: Dt. jugend, 1953ff. - Unsere Jugend, 1949ff.

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80. Von der Einheitsschule zur Gesamtschule (1972)

Interessenwidersprüche zwischen Lehrern und Arbeiterkindern

(In: Neue Sammlung, H. 3/1972, S. 187-203)
 

 (Überarbeitetes Funkmanuskript, das am 10. 12. 1971 im NDR III gesendet wurde. Die zum Hören bestimmte Textfassung wurde weitgehend beibehalten.)

Die Gesamtschul-Entwicklung ist nicht nur finanziell in eine Krise geraten, seit sich herausgestellt hat, daß sie auf absehbare Zeit gar nicht für alle Kinder zum Abschluß gebracht werden könnte. Vielmehr mehren sich auch die Stimmen, die ihre Konzeption für unzureichend halten. Ziehen wir diejenigen ab, die sich nur aus politisch-taktischen Gründen auf diese Diskussion eingelassen haben, um "am Ball zu bleiben" und so viel Reform wie möglich zu verhindern, so bleiben immer noch nicht unerhebliche pädagogische und politische Bedenken zurück. In der Annahme, daß dem aufmerksamen Zeitgenossen Pro und Kontra hinreichend bekannt sind, wollen wir uns im folgenden auf einen bestimmten politisch-historischen Aspekt konzentrieren, der bisher kaum zur Debatte gestanden hat.

Wir fragen nämlich nach den tatsächlichen gesellschaftlichen Interessen an der Errichtung von Gesamtschulen und - in logischer Konsequenz - an der Errichtung von Gesamthochschulen. Dabei geht es uns jedoch nicht um die Anwendung des marxistischen Kapitalverwertungstheorems - dessen analytische Produktivität im übrigen nicht bestritten sein soll - , das eine ideologiekritische Zuordnung von Schulreform-Ideen zu kapitalistischen Verwertungsinteressen anstrebt (1). Vielmehr gehen wir aus von der Tatsache, daß die gegenwärtige Schulreformpartei sich verhältnismäßig deutlich bestimmen läßt: es sind Sozialdemokraten, die Liberaldemokraten, die Gewerkschaften und die Volksschullehrer, wobei ganz offensichtlich die in der GEW organisierten Volksschullehrer die treibende Kraft darstellen. Der Schlüssel zum Verständnis der an der Gesamtschule und Gesamthochschule

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beteiligten gesellschaftlichen Interessen scheint also das Emanzipationsinteresse der Volksschullehrer zu sein. Sie wären in der Tat sowohl finanziell (Besoldungsanstieg zu den Gymnasiallehrern) wie hinsichtlich ihres beruflichen Prestiges (Universitätsbildung) auf den ersten Blick die Hauptgewinner. Diese Interessen können die Volksschullehrer jedoch nur dann erstreiten, wenn tatsächlich auch die Qualifikationen und die Arbeitsanforderungen für alle Lehrer gleich sind. Da beide Merkmale aber von der historischen Entwicklung her höchst ungleich sind, müssen sie eben durch bildungspolitische Maßnahmen gleichgemacht werden.

Neben dem standespolitischen Interesse der Volksschullehrer steht das bildungspolitisch formulierte Emanzipationsinteresse des Arbeiterkindes, ausgedrückt durch die der Gesamtschule auferlegte Zielsetzung der "Chancengleichheit" bzw. des Abbaus der Chancen-Ungleichheit. In der gegenwärtigen Diskussion wird nun stillschweigend davon ausgegangen, daß beide gesellschaftlichen Interessen, nämlich das des Volksschullehrers und das des Arbeiterkindes, zumindest in Sachen Gesamtschule identisch seien. Genau dies soll die folgende historische Skizze bestreiten.

Die Idee, daß alle Kinder des Volkes ohne Unterschiede der Herkunft in ein- und dieselbe Schule gehen sollen, also die Idee der "nationalen Einheitsschule", stammt nicht von den Volksschullehrern. Sie wurde vielmehr fast übereinstimmend von den großen pädagogischen Theoretikern in der ersten Phase der bürgerlichen Gesellschaft verkündet: von Comenius, Ratke und später von Fichte und Diesterweg - von den pädagogischen Theoretikern der französischen Revolution ganz zu schweigen. Vor allem in der Zeit der Befreiungskriege und ihrer demokratischen Impulse erhielt sie große Bedeutung, wurde aber in den darauffolgenden Jahrzehnten der politischen Restauration wieder unterdrückt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kein nennenswertes gesellschaftliches Interesse an einer solchen "Einheitsschule". Die bürgerlichen Intellektuellen fanden keine gesellschaftliche Basis für solche Ideen, das feudal-autoritäre Regime arrangierte sich mit den frühkapitalistischen Interessen der Bourgeoisie, und das Proletariat war erst im Entstehen begriffen. Auch die Lehrer an den Elementarschulen, die man seit etwa 1820 Volksschulen nannte, waren zu unterprivilegiert und zu ungebildet, um ihre standespolitischen Interessen bereits erkennen und wahrnehmen zu können. Sie kamen aus anderen Berufen und wurden entweder gar nicht oder nur notdürftig in sogenannten "Lehrer-Pflanzstätten" für ihre Lehrertätigkeit ausgebildet. So waren im Jahre 1806 in einem Lehrerseminar in Ostpreußen unter 242 Zöglingen 109 Schneider, 91 Schuster und 5 Tischler. Die Klagen über die "verdorbenen Schneider, Garnweber und abgedankten Soldaten" in den Schulstuben sind damals weitverbreitet (2).

Die unwürdige Lage der Volksschullehrer, die oft genug hart am Rande des Existenzminimums lebten und selbst zum gerade entstehenden Prole-

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tariat zu rechnen waren, war keine geeignete Grundlage für die Herausbildung eines politischen Bewußtseins. Dennoch begannen kleine Gruppen, sich mit den Gedanken der Aufklärung zu beschäftigen. Im Amt tätige Lehrer schlossen sich zu Lese-Gesellungen zusammen, in deren Mittelpunkt vor allem die deutschen Klassiker standen. Erste Organisationsformen ergaben sich aus der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Selbsthilfe und der Begründung von Unterstützungskassen in Notfällen. Bei den Zusammenkünften wurde auch über methodische Probleme des Schulehaltens diskutiert, und bald wählten diese Lehrervereine Repräsentanten, die ihre Klagen über die Schulmisere und über die eigene soziale Not der Regierung überbrachten. Das ergab sehr bald Konflikte, und 1842 hieß es in einem Erlaß der preußischen Regierung:

"In mehreren Provinzen sind die äußeren und inneren Verhältnisse des Elementarschulwesens von den Lehrern zum Gegenstand öffentlicher Besprechungen in einer Weise gemacht worden, daß dieselbe die Aufmerksamkeit der Behörden hat auf sich ziehen müssen ... (Es ist) weder der Stellung des Lehrers angemessen noch ihrer eigenen Sache förderlich, ein Verfahren zur Verbesserung ihrer äußeren Lage planmäßig zu organisieren, zu diesem Zweck besondere Vereine zu bilden und die Wahl von Repräsentanten derselben zu veranlassen" (3).

Ideelle Schützenhilfe erhielten die Lehrer - was jedenfalls ihre unmittelbare Berufstätigkeit anging - von der jungen pädagogischen Wissenschaft, wie sie Pestalozzi, Herbart und Diesterweg begründeten. Ihr Gegenstand war die berufliche Arbeit der Volksschullehrer selbst, nämlich die Methoden und Aufgaben des Schulehaltens, und indem dies als eigenständige wissenschaftliche Angelegenheit angesehen wurde, mußte die Herrschaft der Kirche über die Schule, und das hieß: die Herrschaft des niederen Ortsklerus über die örtlichen Lehrer, als unwissenschaftlich und fachfremd erscheinen. Zudem waren in diese pädagogisch-wissenschaftlichen Arbeiten die Grundgedanken der Aufklärung eingegangen, nach denen alle Menschen von Natur aus gleich sind. Es lag daher nahe, daß die Lehrer diese Gedanken auch mit ihrer eigenen unterprivilegierten Situation konfrontierten. Die aus der neuen Pädagogik entwickelten und begründeten Forderungen der Lehrer wurden zum ersten Mal auf der Gründungsversammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins im Revolutionsjahr 1848 in Eisenach zusammenhängend der Öffentlichkeit präsentiert. Sie enthielten bereits im Keim die Idee der Gesamtschule und der Gesamthochschule:

"§ 1. Die einheitlich vom Kindergarten bis zur Hochschule aufwärts gegliederte, auf gemeinsamer menschlich volkstümlicher Grundlage beruhende deutsche Volksschule tritt als eine mit den übrigen Staatsanstalten gleichberechtigte und gleichverpflichtete in den Gesamtorganismus des Staates ein.

§ 4. Für den gesamten Unterricht auf den allgemeinen Schulen wird kein Schulgeld entrichtet; auch der unentgeltliche Besuch der besonderen Bildungsanstalten wird auf geordnete Weise Unbemittelten gewährt, welche Befähigung und Neigung dazu besitzen.

§ 5. Geeignete Vorbildung und Prüfung, geregelte Anstellung und Beförderung, gleichmäßige bürgerliche Stellung und Berechtigung, ausreichende Besoldung und Pensio-

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nierung der Lehrer sowie Versorgung ihrer Witwen und Waisen aus Staatskassen sind die unerläßlichen Bedingungen eines den Anforderungen der Gegenwart entsprechenden Lehrerstandes, also unerläßliche Bedingungen der neuen Volksschule" (4).

An dieser Versammlung waren auch Realschul- und Gymnasiallehrer beteiligt, und für einen Augenblick schien es so, als ob dies ein Programm aller Lehrer sein könnte. Aber der Enthusiasmus war verfrüht. Die gemeinsamen Interessen waren nicht ausgeprägt genug, weltanschauliche und kirchliche Positionen spalteten die Lehrerschaft. Die Idee einer einheitlichen Schule, in der ein einheitlicher, pädagogisch-wissenschaftlich ausgebildeter Lehrerstand in pädagogischer Autonomie unterrichtete, zerbrach unter dem Druck der politischen Reaktion. War das Volksschulwesen bis 1848 bloß faktisch armselig und rückständig, so wurde es von da an in dieser Rückständigkeit planmäßig festgehalten.

Die nun einsetzende restriktive Schulpolitik wurde normiert in den berüchtigten Regulativen von 1854. Diese regelten sowohl die Ausbildung der Lehrer als auch die Aufgaben der Volksschule in ausdrücklichem Gegensatz zu den aufklärerischen Ideen, die der Gründungsversammlung des allgemeinen deutschen Lehrervereins 1848 zugrundelagen. Die Regulative stützten sich dabei auf einen Topos, der seither immer wieder für die Rechtfertigung restriktiver Bildungspolitik herhalten mußte: die rationale Bearbeitung des Bewußtseins sei für die unteren Schichten nicht nützlich, sondern unpraktisch, und also auch für ihre Lehrer unangebracht.

"Zunächst ist unter Berücksichtigung der faktisch bestehenden Verhältnisse ... als erste und unter allen Umständen zu lösende Aufgabe des Seminarunterrichts die anzusehen, daß ... die angehenden Lehrer zum einfachen und fruchtbringenden Unterricht in der Religion, im Lesen und in der Muttersprache, im Schreiben, Rechnen, Singen, in der Vaterlands- und der Naturkunde ... theoretisch und praktisch befähigt werden. Die unbedingte Erreichung dieses Zieles darf nicht in Frage gestellt oder behindert werden durch den Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung von Disziplinen. ... Nicht diejenige Bildung, welche in einzelnen Fällen von einem Lehrer für eine gehobene Stadtschule gefordert werden mag, sondern die Bildung und das Können, welches das Schulhalten in der gewöhnlichen, aus einer Klasse bestehenden Elementarschule von dem Lehrer erfordern, ist die an allen Zöglingen zu erreichende Aufgabe des Seminars. Der letzte Zweck des Seminarunterrichts ist nicht, daß der Zögling lerne, sondern daß durch das im Unterricht vermittelte Lernen und Gelernte Leben geschaffen und der Zögling seinem Berufe gemäß herangebildet werde zu einem Lehrer für evangelisch-christliche Schulen, welche die Aufgabe haben, mitzuwirken, daß die Jugend erzogen werde in christlicher, vaterländischer Gesinnung und häuslicher Tugend. Der künftige Lehrer ist zur Erteilung des Lese- und Sprachunterrichts fähig, wenn er die Fibel und das Lesebuch richtig zu behandeln versteht" (5).

Der anti-intellektuelle, gegenaufklärerische Affekt griff sogar in das Privatleben der Lehrerstudenten ein: "Ausgeschlossen von der Privatlektüre muß die sogenannte klassische Literatur bleiben."

Die strikt durchgesetzten Regulative hatten eine verheerende Wirkung für die weitere Entwicklung des Schulsystems in Deutschland. Zahlreiche

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Lehrer wurden entlassen, fortschrittliche Lehrerbildner wie Diesterweg mußten ihren Dienst quittieren. Die junge pädagogische Wissenschaft erhielt kein Praxisfeld, auf dem sie sich erproben konnte, und wurde entweder zur praxisfernen Theorie oder kam auf bloß technisch-methodische Unterrichtsanweisungen herunter. Die Regulative richteten sich aber nicht nur gegen die Lehrer, sondern vor allem gegen die Schüler der unteren Klassen, die auf ihrem Arbeiter- und Dienstboten-Status festgenagelt bleiben sollten. In der Sprache der Regulative hieß das:

"Der Gedanke einer allgemein menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos und schädlich erwiesen. Das Leben des Volkes verlangt seine Neugestaltung auf Grundlage und im Ausbau seiner ursprünglich gegebenen und ewigen Realitäten auf dem Fundament des Christentums, welches Familie, Berufskreis, Gemeinde und Staat in seiner kirchlich berechtigten Gestaltung durchdringen, ausbilden und stützen soll. Demgemäß hat die Elementarschule, in welcher der größte Teil des Volkes die Grundlage, wenn nicht den Abschluß seiner Bildung empfängt, nicht einem abstrakten System oder einem Gedanken der Wissenschaft, sondern dem praktischen Leben in Kirche, Familie, Beruf, Gemeinde und Staat zu dienen und für dieses Leben vorzubereiten" (6).

Der unverhüllte Klassencharakter dieser Schulkonzeption, der aus den Dokumenten spricht, artikulierte sich noch klarer in den Schuldiskussionen im preußischen Abgeordnetenhaus in der Zeit von 1854 bis etwa 1872, als die Regulative endlich außer Kraft gesetzt wurden. Peter Martin Roeder hat diese Diskussionen untersucht und kommt zu dem Ergebnis:

"Das Ziel der offiziellen Kulturpolitik läßt sich zusammenfassend so definieren: Vor allem die Elementarschule müsse Grundlage des monarchischen, protestantisch-nationalen Klassenstaates bleiben. Den sichersten Weg zu diesem Ziel sahen die Regierung und die ihr darin samt dem Herrenhaus verbündete konservative Fraktion des Abgeordnetenhauses in der engen Bindung der Schule an die Kirche, die mit der Schulaufsicht durch den Geistlichen auf lokaler Ebene begann und in der Person des Unterrichtsministers gipfelte, der als Kultusminister zugleich oberster Beamter der Kirche war. Die Opportunität dieses Prinzips wurde erst mit dem Ende der sechziger Jahre sich verschärfenden Kulturkampf zweifelhaft. Die innere Bindung der Schule an die Kirche ist das eigentliche Ziel der Regulative von 1854. Sie machen den Religionsunterricht zum zentralen Fach der Elementarschule, das den Schülern zugleich eine enorme Lernleistung abnötigt. Hunderte von Kirchenliedern und Bibeltexten sind neben dem Katechismus auswendig zu lernen. Ein Lesebuch von unglaublicher literarischer Dürftigkeit liegt nicht nur dem muttersprachlichen, sondern auch - wo die Verhältnisse einen solchen überhaupt zulassen - dem naturkundlichen Unterricht zugrunde. Die Lehrerbildung im Seminar wird von allem sogenannten abstrakten Wissen befreit, eine handwerkliche Schulkunde tritt an die Stelle von Pädagogik und Psychologie (7).

Das unmittelbare und vitale Interesse der Volksschullehrer an einer sozialen, wirtschaftlichen und beruflichen Emanzipation war also durch die Regulative von 1854 rigoros abgewehrt worden. Für die weitere schulpolitische Entwicklung hatte das bis in die gegenwärtige Diskussion hinein nachhaltige Folgen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte sich eine

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schulpolitische Grundkonstellation gebildet, die seither nur noch variiert wurde. Auf der einen Seite standen die ökonomischen Interessen des Großgrundbesitzes und der Bourgeoisie; mit ihnen verband sich das gesellschaftliche Interesse der Kirchen an der Herrschaft über die Schule sowie das Status-Interesse der bürgerlichen Intellektuellen, also auch der Gymnasiallehrer und der Hochschullehrer. Auf der anderen Seite standen die Volksschullehrer allein, noch nicht einmal unterstützt von Organisationen des Proletariats, dessen Kinder sie unterrichteten; denn solche Organisationen gab es noch nicht. In dieser historischen Situation war das partielle Interesse der Volksschullehrer mit dem allgemeinen Interesse an Demokratisierung - und das hieß konkret: mit dem gesellschaftlichen Interesse des proletarischen Kindes - noch identisch. Gleichwohl waren schon damals im ideologischen Ausdruck dieses Interesses Momente enthalten, die diese Interessenidentität später bedrohen sollten:

1. Die Hoffnung, gemeinsam mit den Gymnasiallehrern und den Realschullehrern eine schulpolitische Strategie entwickeln zu können, mußte nach den Regulativen aufgegeben werden. Im Gegenteil waren es nicht zuletzt Gymnasiallehrer und Hochschullehrer, die im preußischen Abgeordnetenhaus die Regulative hartnäckig verteidigten. Die Volksschullehrer blieben mit ihren Interessen nicht nur auf sich allein gestellt, sie mußten in Zukunft diese vielmehr auch gegen die der anderen Lehrergruppen durchsetzen. Daraus erwuchs auf die Dauer ein tiefes Ressentiment gegen alles, was an pädagogischen oder schulpolitischen Ideen aus dem Kreis jener anderen Gruppen kam. Mehr und mehr wurde als der "eigentliche" Gegner des Emanzipationsinteresses der Volksschullehrer die Gruppe der Gymnasiallehrer gesehen, immer mehr dieses Interesse auf die kleinbürgerliche Perspektive des sozialen Aufstiegs zu diesen Gymnasiallehrern eingeengt.

2. Diese Tendenz wurde dadurch verstärkt, daß die pädagogische Wissenschaft von Anfang an auch als Instrument verstanden wurde, das dem Aufstiegsinteresse der Volksschullehrer dienen sollte. Die Gedanken Pestalozzis, Herbarts und Diesterwegs fanden damals kaum soziale Resonanz bei den Gymnasiallehrern. Diese verstanden ihre Arbeit als die Vermittlung von Wissenschaft. Dazu jedoch bedurfte es - so meinte man - keiner eigenen pädagogischen Handwerkslehre; Wissenschaft erschließe sich vielmehr von ihrer eigenen Struktur her. Anders bei der Elementarbildung, die Aufgabe der Volksschullehrer war. Im Unterschied zu den Gymnasiallehrern, die praktisch überhaupt nicht pädagogisch ausgebildet wurden, mußten die Volksschullehrer wenigstens einige methodische Kenntnisse erlangen. In den Augen der meisten damaligen Gebildeten war daher Pädagogik das Un-Eigentliche, ein Ersatz dafür, daß dem niederen Volk eine wissenschaftliche Bildung nicht beizubringen war. Die Volksschullehrer nahmen nun die junge pädagogische Wissenschaft als ihre ureigene Disziplin auf, und zwar in einem doppelten Sinne: einmal als ein Instrument, das ihre berufspraktischen Probleme lösen helfen sollte, zum anderen aber auch

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als eine Ideologie, mit der sie gesellschaftliches Bewußtsein erlangen konnten. Sie, die Volksschullehrer, seien die eigentlichen Fachleute im schulischen Umgang mit Kindern; die anderen Lehrer dagegen hätten nur ihre wissenschaftlichen Fächer studiert.

Seither ist die Entwicklung der Erziehungswissenschaft mit der standespolitischen Emanzipation der Volksschullehrer eng verbunden geblieben. Nur solche pädagogischen Erkenntnisse und Theoreme fanden eine politisch relevante Verbreitung und Bearbeitung, die dem Emanzipationsinteresse der Volksschullehrer nützten. Vor allem aber erwuchs aus diesem Zusammenhang die auch heute noch verhängnisvolle Konfrontation von Fachwissenschaft und Pädagogik. Die Erziehungswissenschaft in ihrer Begrenzung auf eine Volksschullehrerwissenschaft hat die didaktische Erfahrung der Gymnasiallehrer, daß die wissenschaftliche Struktur einer Sache zugleich auch ihre beste Lernstruktur sei, z. B. nie ernsthaft überprüft, sondern vorweg abgewehrt. Für die berufliche Selbstdefinition des Volksschullehrers wurde es unerläßlich, daß nichts an Schulkinder herankam, was nicht durch den Filter des - in der Person des Lehrers verkörperten - Pädagogischen gegangen war. Nur der Volksschullehrer wußte fachlich genügend Bescheid über die Behandlung von Kindern und konnte beurteilen, was für diese Kinder gut war. Vom Ansatz her schloß die Konvergenz von pädagogischer Wissenschaft und Standesinteresse der Volksschullehrer die Gefahr einer totalen Pädagogisierung des kindlichen Lebens ein, dessen Selbstverständlichkeit in nicht unerheblichen Resten noch heute vorhanden ist (8). Sie stellt sich auch dar in der Begrenzung der pädagogischen Wissenschaft auf eine Wissenschaft vom Schulehalten. Erst durch die Entwicklung von Sozialisationstheorien ergibt sich eine Möglichkeit, das Heranwachsen prinzipiell unabhängig von der Schule zu thematisieren und die Bedeutung der Schule im Sozialisationsprozeß kritisch zu relativieren. Unter diesen neuen sozialisationstheoretischen Aspekten könnte auch erst das Bild der pädagogischen Geschichtsschreibung korrigiert werden, das - einschließlich der DDR-Geschichtsschreibung - den pädagogischen Fortschritt naiv am Fortschritt der Schule - und nicht an dem der Sozialisation der Kinder! - mißt, der über weite Strecken doch nur ein solcher der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Lehrer war. Die Abwehr dem widersprechender, z.B. auch wissenschaftlicher, Einflüsse in die Volksschule war spätestens in der Reformpädagogik der Zwanziger Jahre nicht nur ein Interesse der herrschenden Klassen, sondern auch der Volksschullehrer selbst. Das mußte um so problematischer werden, als die pädagogisch-wissenschaftliche Ideologie an die Stelle eines durchstrukturierten politischen Bewußtseins trat.

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3. Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts verstand sich der seiner Interessen bewußte Volksschullehrer als Vollstrecker des wissenschaftlich-pädagogischen Fortschritts, dessen Amt politische Interessen eher im Wege standen. Selbst bei den aufgeklärten Wortführern der Lehrerbewegung finden sich kaum politische Interpretationen der eigenen Lage. Andererseits betrachteten die herrschenden Klassen die Emanzipationsbestrebungen der Volksschullehrer durchaus als einen politischen Angriff, der entsprechend abgewehrt wurde. Indem die Volksschullehrer ihren Gegnern nun die objektiv politische Klassenauseinandersetzung als einen Kampf unterschiedlicher pädagogischer Lehrsätze aufzwangen, mußten die Konservativen notgedrungen auch in pädagogischen Begriffen antworten. Angesichts des allgemeinen wissenschaftlichen Zeitgeistes blieb ihnen keine andere Wahl. So begann sich die politische Auseinandersetzung in pädagogisch-ideologische Klischees zu übersetzen, was zu merkwürdigen, aber durchaus beabsichtigten Mißverständnissen führte. Während etwa Pädagogen wie Pestalozzi und Diesterweg gerade von der unmittelbaren Anschauung ausgehen wollten, von dem, was das Leben den Kindern ringsumher anbot, wurden diese Versuche in den Regulativen als "abstrakte Intellektualität" bezeichnet und abqualifiziert, während zugleich das Auswendiglernen von umfangreichem kirchlichen Memorierstoff als "lebensnah" und "volkstümlich" vorgeschrieben wurde. Es gehört seither zu den konservativen Defensivstrategien gegen schulpolitische Reformversuche, fortschrittliche pädagogische Zielvorstellungen dadurch zu entwaffnen, daß sie von den Konservativen übernommen und möglichst zu einer Leerformel gemacht werden. Die unterschiedliche Verwendung des Begriffs "Gesamtschule" ist dafür noch in der Gegenwart ein charakteristisches Beispiel. Die von den Konservativen geforderte sogenannte "kooperative" Gesamtschule ist fast das Gegenteil dessen, was die andere Seite zunächst ebenfalls mit dem Begriff "Gesamtschule" gefordert hatte. Indem man nun die pädagogische Wissenschaft zum ideologischen Kampfplatz umfunktionierte, wurde ihre aufklärerisch-emanzipatorische Spitze stumpf. Die Volksschullehrer, die ihre partiellen gesellschaftlichen Interessen bis heute lediglich in pädagogischen Zielformeln ausdrücken und sie als solche nicht in die politische Auseinandersetzung einbringen, tragen zur Verschleierung der tatsächlichen politischen und ökonomischen Interessenhintergründe auf diese Weise bei.

4. Dies wird insbesondere dort problematisch, wo es um den Zusammenhang der Standesinteressen mit dem Schulschicksal der Kinder aus Unterschichten geht. Zur Zeit der Regulative zeigte sich, daß das Interesse der Lehrer untrennbar mit den Interessen der unteren Schichten und Klassen verbunden war. Ihre eigene Unterprivilegierung spiegelte nur die Unterprivilegierung derjenigen wider, mit denen sie beruflich zu tun hatten. Die Lehrer konnten eine Verbesserung ihrer eigenen Lage nur fordern, wenn sie zugleich andere Schul- und Bildungsziele für die Kinder der Unterschichten anstrebten. So ergab sich aus ihren eigenen Interessen zwingend

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die Vorstellung von einer Einheitsschule, in der in pädagogisch-wissenschaftlicher Autonomie nur gleichberechtigte Lehrer wirkten. Indem die Lehrer der Gesellschaft die soziale und schulische Misere des Unterschichtkindes vorhielten, präsentierten sie immer auch ihre eigene Misere. Diese Interessenidentität erklärt, daß die Volksschullehrer sich vor allem um die Jahrhundertwende mit besonderem Nachdruck nicht nur für die Verbesserung der schulischen, sondern auch der sozialpädagogischen Verhältnisse des Unterschichtkindes eingesetzt haben. Der Kampf gegen die Kinderarbeit beispielsweise ist über Jahrzehnte fast ausschließlich von Volksschullehrern geführt worden (9). Und auch in der Gegenwart spielt das Argument, die schulische Benachteiligung der Unterschichtenkinder müsse beseitigt werden, eine zentrale Rolle im Kampf um die Gesamtschule.

Die hierbei implizierte Interessenidentität blieb bis zum Beginn unseres Jahrhunderts unbestreitbar, ja, sie wurde durch das schulpolitische Bündnis mit der deutschen Arbeiterbewegung nachdrücklich bestätigt. In dem Maße nämlich, wie die Väter der Volksschulkinder in der Arbeiterbewegung zu politischem Bewußtsein gelangten und ihre Interessen organisierten, entdeckten sie, daß die schulische Benachteiligung ihrer Kinder nicht nur eine pädagogische war, sondern eine eminent politische, nämlich eine geplante Verhinderung von Mitbestimmung. Im Unterschied zu den Lehrern, die der politischen Interpretation der Schulverhältnisse gerade ausgewichen waren, und geschult durch die marxistische Gesellschaftstheorie erklärten sie die Misere der Volksschule als das, was sie war: als Instrument des Klassenkampfes in der Hand der herrschenden Klassen.

Zu Beginn unseres Jahrhunderts begann die sozialdemokratische Partei der Schulfrage stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Anlaß dazu war das preußische Schulunterhaltungsgesetz von 1906, das eigentlich nur die Finanzierung der Volksschule neu regeln sollte. Aber seit etwa 1904 nutzten die schulpolitischen Parteien die Gelegenheit, auch die Schulorganisation, die Schulziele, die Lehrpläne und Methoden aus diesem Anlaß zur Debatte zu stellen (10). Auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 formulierte die SPD zum ersten Mal ein schulpolitisches Programm, das in einer umfassenden Rede von Heinrich Schulz - einem Volksschullehrer - begründet wurde. Es forderte unter anderem:

"Organische Angliederung der höheren an die niederen Bildungsanstalten. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen

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Schulen. Beihilfe des Staates für die Weiterbildung befähigter, aber unbemittelter Schüler. ... Materielle und soziale Hebung der Lage der Lehrerinnen entsprechend der Bedeutung ihrer Aufgabe. Universitätsbildung für sämtliche Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen" (11).

Die wichtigsten Forderungen der Volksschullehrer waren nun also auch von der parteipolitischen Organisation der deutschen Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen Partei, aufgegriffen worden. Dieses schulpolitische Bündnis zwischen der im allgemeinen liberal eingestellten Mehrheit der Volksschullehrer (12) und der sozialistisch orientierten SPD markierte eine neue Phase der schulpolitischen Entwicklung. Die Volksschullehrer waren nun nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, allein auf ihre eigenen Interessen verwiesen; sie konnten sich nun verbünden mit denen, die das politische und wirtschaftliche Interesse ihrer Kinder nach außen hin vertraten. Wie groß die Gemeinsamkeiten waren, zeigte sich in den schulpolitischen Forderungen des deutschen Lehrervereins aus dem Jahre 1919, die von der SPD ausdrücklich unterstützt wurden:

"Da sich die Anteilnahme am Leben und Schaffen des Volkes grundsätzlich nach Befähigung und nach Neigung entscheiden muß, so kann auch die Zulassung zu den öffentlichen Bildungsanstalten nur nach diesen Grundsätzen erfolgen. Das gesamte öffentliche Bildungswesen muß darum nach dem Plan der Einheitsschule aufgebaut werden, der Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Unterrichtsmittel für alle Zöglinge und erhöhte Fürsorge für Unterhaltsbeihilfen für Unbemittelte zur Voraussetzung hat ... Auf der für alle Kinder gemeinsamen Grundschule bauen sich alle anderen Schularten auf. Das Fortbildungs- und Fachschulwesen ist in sich und mit den betreffenden allgemeinen Bildungsanstalten so in Verbindung zu setzen, daß auch auf diesem Wege ein geordneter Aufstieg bis zur Hochschule möglich ist. ... Die erziehungswissenschaftliche Fachbildung erfolgt auf der durch eine erziehungswissenschaftliche Abteilung (Fakultät) erweiterten Universität. ... Für alle Lehrer und Lehrerinnen des Staates besteht eine einheitliche Besoldungsordnung" (13).

Ein Erfolg der nunmehr gemeinsamen Schulpolitik von Volksschullehrern und Sozialdemokraten schien greifbar nahe, aber er scheiterte dann doch am Widerstand der schulpolitischen Gegner. Weder die Einheitsschule noch die einheitliche universitäre Lehrerbildung konnten nach dem Ersten Weltkrieg realisiert werden. Lediglich das sogenannte Grundschulgesetz trat im Jahre 1920 als Reichsgesetz in Kraft. Es bestimmte, daß bis zum Ende des vierten Schuljahres alle Kinder die Volksschule besuchen müßten, erst danach war ein Übergang in weiterführende Schulen möglich. Im übrigen jedoch wurde die noch heute gültige Dreigliedrigkeit des deutschen Schulwesens festgelegt, wobei auch Kinder der unteren Schichten grund-

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sätzlich für den Besuch höherer Bildungsanstalten zugelassen wurden. Schon damals jedoch zeigten sich die sozio-ökonomischen Hemmnisse, die seitens der proletarischen Kinder einem Ergreifen dieser Chance im Wege standen und heute erstmals wissenschaftlich systematisch untersucht werden (14). Die Volksschullehrer wurden nicht - wie sie gefordert hatten - an Universitäten, sondern an neugeschaffenen pädagogischen Akademien ausgebildet. Sie blieben also sowohl im Hinblick auf den Sozialstatus wie im Hinblick auf die Bezahlung den Gymnasiallehrern untergeordnet.

Unter dem Eindruck des schulpolitischen Mißerfolges zerbrach die Koalition zwischen Sozialdemokraten und Volksschullehrern allmählich. Es zeigte sich, daß den Lehrern das politische Bewußtsein fehlte, das für eine Solidarität untereinander und mit der Arbeiterbewegung nötig gewesen wäre. Lehrersein wurde nicht im gleichen Maße als soziales Schicksal erlebt wie Arbeitersein. Die Solidarität wurde vor allem gebremst durch konkurrierende politische Zugehörigkeiten zu verschiedenen Parteien und Kirchen. Die erbitterte Auseinandersetzung um den konfessionellen oder weltlichen Charakter der Volksschule, die bis in unsere unmittelbare Gegenwart anhielt, lenkte die Aufmerksamkeit von den notwendigen realen politischen Analysen ab. Hinzu kamen sehr bald völkische, nationale Einflüsse, die, wie andere Gruppen des Bürgertums und Kleinbürgertums, auch die Lehrer erfaßten. Einschließlich späterer nationalsozialistischer Ideologien boten sie Kompensationen für die erlittene gesellschaftliche Niederlage an. Überraschend schnell fanden sich die Lehrer daher mit der neuen Lage ab, zumal sich erwies, daß die fortschrittlichen Forderungen nur von einer vergleichsweise kleinen Minderheit ernsthaft vertreten wurden.

Aber das Bündnis scheiterte nicht nur am politischen Widerstand der Gegner, auf den wir hier nicht näher eingehen können (15), sondern auch an einem inneren Widerspruch, der sich am besten wieder an der Rolle der Pädagogik beschreiben läßt. Die deutsche Arbeiterbewegung verfügte seit

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1906 zwar über ein schulpolitisches Programm, nicht jedoch über ein eigenes pädagogisches Konzept. In der von Marx übernommenen politisch-gesellschaftlichen Theorie fanden sich zwar Gedanken über die Entwicklung der menschlichen Gattung, es fehlten jedoch sozialisationstheoretische Ansätze, d.h. Aussagen darüber, welchen Bedingungen das Heranwachsen des einzelnen Menschen unterliegt. So entwickelte die Arbeiterbewegung selbst keine pädagogischen Reformvorstellungen, sondern übernahm diese fast uneingeschränkt von den liberalen Volksschullehrern, die ihrerseits durchweg die Grundsätze der sogenannten Reformpädagogik vertraten. Begründet wurde dies nicht zuletzt mit einem historischen Argument: Erst müßten die "fortschrittlichen" Momente der bürgerlichen Pädagogik realisiert sein, bevor eigenständige sozialistische Konzeptionen sich entwickeln und realisieren können. In diesem Bündnis erwarteten die Lehrer, daß ihre fachliche Kompetenz für das Schulehalten unbestritten blieb; sie wiederum versprachen gewissermaßen, Arbeiterkinder soweit wie möglich schulisch zu fordern.

Die Reformpädagogik aber sah das Kind lediglich als ein psychologisches Phänomen an und klammerte die sozio-ökonomischen Kontexte grundsätzlich aus. Kind war Kind; allenfalls berücksichtigte die Reformpädagogik noch, daß es Arbeiterkinder in bestimmter Hinsicht schwerer hatten als andere. Aber diese Erkenntnis fand in den bürgerlich-pädagogischen Theorien der Zwanziger Jahre selbst keinen Niederschlag. In dieser unpolitischen Vorstellung vom Kind und seiner Bildbarkeit setzte sich die schon erwähnte Tendenz des unpolitischen, fachlich-pädagogischen Lehrerbewußtseins fort. Ihm galt die Schule als politisch exterritorial, und mit Emphase wurde immer wieder betont, daß Politik, insbesondere in Gestalt von Parteipolitik, wie alle anderen Ärgernisse des wirklichen Lebens vom Kinde ferngehalten werden müßte. Man sah zwar, daß konservative Gruppen die Politisierung der Schule auch nach 1918 ungebrochen weiterbetrieben, aber man glaubte, unter dem Anspruch der pädagogischen Autonomie nicht nur diese besondere, sondern überhaupt jede Politisierung abweisen zu können (16). Wie verhängnisvoll diese falsche Trennung von Politik und Pädagogik wirklich war, zeigte sich an der Konzeption der sogenannten volkstümlichen Bildung, die in den neugegründeten pädagogischen Akademien zur herrschenden Pädagogik für die Volksschulen wurde.

Die volkstümlich-gemüthafte Bildung wurde in ausdrücklichem Gegensatz zur wissenschaftlichen Bildung entwickelt. Der praktische Lebensbezug und die Vorbereitung auf die konkreten Rollen in Beruf und Familie standen im Mittelpunkt des pädagogischen Interesses. Gemüthaftes Erleben wurde gegen rationales Denken ausgespielt; die Unterrichtsmethoden wurden nicht aus der strengen gedanklichen Analyse gewonnen, sondern

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den unmittelbaren, einfachen Sozialbeziehungen der Menschen - wie sie sich etwa im alten Handwerk und auf dem Lande darstellten - abgeguckt.

Diese pädagogischen Prämissen, die die soziale und berufliche Selbstdefinition der Volksschullehrer begründeten, widersprachen zweifellos den Emanzipationsbedürfnissen der unteren Klassen; sie fixierten deren Kinder auf die Chancenungleichheit, die die gesellschaftlichen Verhältnisse ihnen aufzwangen, und enthielten ihnen die Bildungsmomente vor, die ihrer Emanzipation hätten dienen können: nämlich die wissenschaftlich-methodische Schulung ihrer Vorstellungen. Nicht einmal die aufklärerischen Momente der positivistischen Naturwissenschaften wurden für die Volksschule didaktisch nutzbar gemacht, und erst recht nicht die theoretischen und methodischen Elemente des Marxismus.

Während also etwa bis zur Jahrhundertwende das Emanzipationsinteresse der Volksschullehrer mit dem ihrer proletarischen Schüler weitgehend identisch war, enthüllte sich nach dem Ersten Weltkrieg, was immer schon in diesem Bündnis angelegt war: daß es nämlich historisch überholt sein mußte, sobald die Arbeiterschaft ihre Interessen - und damit auch die ihrer Kinder - selbst zu organisieren und theoretisch zu begründen begann. Die dann notwendigerweise auftretende Divergenz der Interessen war nicht nur in dem allgemeinen Gegensatz von bürgerlicher Existenz auf der einen und proletarischer Existenz auf der anderen Seite begründet. Hinzu kam vielmehr die spezifische Emanzipationsproblematik der Volksschullehrer innerhalb der bürgerlichen Interessenkonkurrenz selbst.

In der Reformpädagogik wird das proletarische Schulkind zwar aus den unmittelbaren autoritären Herrschaftsverhältnissen der alten Schule befreit, aber nur, um nun durch die pädagogische Autonomie seines Lehrers aus seinen realen gesellschaftlichen Interessen in das politisch exterritoriale Ghetto der Schule überführt zu werden. Hier steht alles andere zur Debatte als die Einsicht in die eigene Lage oder das Erlernen gesellschaftlicher Mitbestimmung. Diente das proletarische Kind dem Emanzipationsinteresse des Lehrers früher dadurch, daß dieser auf dessen Misere hinweisen und damit die eigene zur Sprache bringen konnte, so gibt es nun - als psychologische Abstraktion - eine Art von beruflichem Eigentum ab, auf das ein Ausschließlichkeitsanspruch erhoben wird.

Diese grundsätzliche Interessendivergenz ist auch in der gegenwärtigen Gesamtschuldiskussion erhalten geblieben. Die Einrichtung von Gesamtschulen und Gesamthochschulen würde die Emanzipationsbewegung der Volksschullehrer zwar zu einem gewissen Abschluß bringen, mit Sicherheit jedoch nicht die des Arbeiterkindes und seiner Klasse. Im Unterschied zu früher wird dieses Dilemma heute von immer mehr jungen Lehrern und Studenten erlebt, zumal auch Forschungsergebnisse über die unterschiedliche Sozialisation in der Unter- und Mittelschicht nicht zu übersehen sind (17). Sie zeigen unter anderem, daß in der Unterschichtserziehung sich

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die kommunikationsarmen, initiativarmen, weitgehend sprachlosen und bloß exekutiven Erfahrungen am Arbeitsplatz in der Sozialisation reproduzieren. Die autoritären Beziehungen am Arbeitsplatz setzen sich in den Familienbeziehungen weitgehend fort. Die wichtigste Folge davon ist, daß das Unterschichtenkind wenig Selbstvertrauen in eigene Leistungen und wenig langfristige Motivationen lernt, was beides für einen erfolgreichen Besuch unserer Schulen nötig wäre. Da die Gesamtschule an dieser sozioökonomischen Ausgangslage nichts zu ändern vermag, kann sie auch wenig zur schulischen Chancengleichheit des Unterschichtkindes beitragen. Im Gegenteil: Die am selben Ort stattfindende Leistungskonkurrenz mit Mittelschichtkindern kann eher zusätzlich diffamierend und frustrierend wirken.

Es gäbe allerdings Möglichkeiten, die schulische Chancengleichheit voranzutreiben, aber sie würden nicht dem Emanzipationsinteresse der Volksschullehrer zugutekommen; eher wären sie nämlich durch Modifizierungen des überlieferten Schulsystems zu erreichen. Man müßte die Klassengegensätze, die sich auch in der unterschiedlichen Sozialisation ausdrücken, öffentlich anerkennen und spezifische Schulsysteme in Arbeitervierteln einrichten, die mit besonderen Methoden und mit besonderen Lehrplänen die spezielle Leistungsfähigkeit der Unterschichtkinder ansprechen. Ein solcher Vorschlag hätte jedoch noch kaum Chancen, denn er würde zu viele liebgewordene Überlieferungen in Frage stellen. Kind wäre nicht mehr gleich Kind, vielmehr müßten bis in die Lehrpläne hinein für die Benachteiligten spezifische Lernziele und Lehrmethoden entwickelt werden. Außerdem müßte mit der auch heute noch vorherrschenden pädagogischen Ideologie gebrochen werden, daß die Schule auch dann soziale Integration anstreben müsse, wenn diese außerhalb ihrer Mauern kaum erwünscht und nicht real ist.

Nicht einmal die neo-marxistisch orientierten Lehrerstudenten fassen ein solches Alternativkonzept ins Auge. Sie sprechen zwar unermüdlich davon, daß die Lehrer von der kapitalistischen Gesellschaft selbst zu einem Teil des Proletariats gemacht würden (18), verzichten deshalb aber keineswegs auf ihre standespolitischen Interessen, die sie auf die Gesamthochschule und damit auch auf die Gesamtschule fixieren. Ihre Lösung des Problems, daß die Gesamtschule ohne entsprechende politisch-ökonomische Veränderungen kaum Chancen hat, die Bildungsbenachteiligung der Unterschichtkinder zu kompensieren, läuft auf die unrealistische Vorstellung hinaus, man könne in den Gesamtschulen marxistisches Klassenbewußtsein lehren. Wenn dies überhaupt eine Chance hätte, dann am ehesten wohl in einer Volksschule, die wie bisher im wesentlichen eine Schule der Unterschichten

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bliebe; denn in einer Gesamtschule würde marxistische Aufklärung den dort notwendig vorherrschenden Interessen des höheren Bürgertums zu unmittelbar widersprechen

Die widersprüchliche Haltung der neo-marxistischen Lehrerstudenten macht den Interessen-Antagonismus besonders deutlich, der sich in den Volksschullehrern notwendigerweise abspielt. Aber auch die große Mehrheit der nicht-marxistischen Volksschullehrer hat dieses Problem erkannt und gibt darauf eine Antwort, die konsequent im Rahmen der historisch gewachsenen Lehrerideologie liegt. Sie liegt in dem, was heute "kompensatorische Erziehung" genannt wird, und sie läuft auf eine quantitative Vermehrung von Schulveranstaltungen hinaus, was umgekehrt wieder mit einem Prestigezuwachs für die Lehrer selbst verbunden ist. In sogenannten Vorschulen sollen die Sozialisationsdefizite des Unterschichtkindes in schulähnlicher Weise kompensiert, also ausgeglichen werden, und in der Gesamtschule selbst sollen Leistungskurse diese kompensatorischen Strategien fortsetzen. Ferner sollen in Ganztagsschulen auch die Schularbeiten beaufsichtigt werden, damit auf diese Weise das bildungsarme Milieu der Unterschicht-Familie ausgeglichen werden kann.

Diese Vorschläge wären plausibel, wenn sie nur als Ausgleich für die wirtschaftliche und erzieherische Benachteiligung der Unterschichten gedacht wären. Sie werden jedoch allgemein für alle Kinder erhoben, weil sie nur so den standespolitischen Interessen der Volksschullehrer zugutekommen können. Gelten die Vorschläge aber für alle Kinder, so ist bereits heute abzusehen, daß die unteren Schichten davon am wenigsten profitieren werden; da Bildung nach wie vor Mangelware ist, was sich an der gegenwärtigen Finanzmisere überaus deutlich zeigt, werden die zur Verfügung stehenden Mittel angesichts des tatsächlich vorhandenen Bildungsprivilegs der mittleren und höheren Schichten immer schon von diesen verzehrt sein, bevor sie die unteren Schichten erreichen können. Insofern ist die Finanzierungslücke auch ein Argument gegen solche globalen Reformen. Die Bildungsmilliarden werden vor allem in den Ausbau der Hochschulen gepumpt, und diese werden immer noch zu 93 % von Nicht-Arbeiterkindern in Anspruch genommen. Daran gemessen wird die Berufsausbildung, die für Unterschicht-Kinder in erster Linie interessant ist, grob vernachlässigt. Und die Forderung, für alle Kinder Vorschulen einzurichten, wird verhindern, daß solche Schulen in Arbeitervierteln und in ländlichen Gebieten mit Vorrang eingerichtet werden. Sogar der pauschale "Null-Tarif" für den Besuch höherer Bildungsstufen verstärkt nur das überkommene Privileg.

Aus unserer notgedrungen nur skizzenhaften historischen Darstellung ergeben sich für die gegenwärtige Gesamtschul-Diskussion folgende abschließende Thesen:

1. Das historisch gesehen früheste Interesse an einer einheitlichen Schule und Lehrerbildung bildete sich bei den Volksschullehrern aus. Nur auf diesem Wege konnten sie ihre berufliche und wirtschaftliche Emanzipation einleiten.

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2. Mit dem Entstehen der deutschen Arbeiterbewegung erwuchs den Lehrern ein wichtiger Verbündeter. Trotz unterschiedlicher und zum Teil einander ausschließender politisch-ideologischer Grundsätze schien das soziale und Bildungsschicksal des proletarischen Kindes eine hinreichende gemeinsame Plattform für schulpolitische Aktivitäten abzugeben.

3. Diese Hoffnung erwies sich jedoch spätestens nach dem Ersten Weltkrieg als falsch, wie sich an der unterschiedlichen Interpretation des Schulkindes zeigte. Für die Arbeiterbewegung mußte es darum gehen, die Proletarierkinder zu wirtschaftlich und bildungsmäßig gleichen und gleichberechtigten Partnern der Kinder aus den privilegierten Schichten und Klassen zu machen. Für die Lehrer dagegen war das Kind das berufsspezifische Objekt, das sie von seiner Klassenlage lösen mußten, um es für ihre interne bürgerliche Emanzipationsstrategie einsetzen zu können. Diese Definition des Kindes schlug sich in der sogenannten Reformpädagogik nieder, die zur herrschenden erziehungswissenschaftlichen Theorie überhaupt wurde.

4. Trotzdem konnte die Vorstellung einer Interessenidentität auch für die gegenwärtigen Schulreformer erhalten bleiben, weil die in der Bundesrepublik fragmentarisch erhalten gebliebene Arbeiterbewegung - repräsentiert etwa durch SPD und Gewerkschaften - keine eigenen pädagogischen Konzepte für die Bildungsemanzipation unterprivilegierter Schichten entwickelte; marxistisch orientierte Theorie-Ansätze wurden schon zu Ende der Weimarer Zeit abgewehrt und durch den Nationalsozialismus vollends liquidiert.

5. Weil sich jedoch die gegenwärtige Schulreform-Partei die in ihr vertretenen, unterschiedlichen Interessen nicht bewußt macht, droht das Gegenteil dessen einzutreten, was die Reformer fordern. Die Gesamtschule und die übrigen damit zusammenhängenden Teilziele der Reform werden die Chancenungleichheit der Unterschichtkinder nicht beseitigen, sondern vergleichsweise verstärken. Die Gewinner dieser Reform werden einerseits die Volksschullehrer sein - insofern sich ihr Aufstiegsinteresse erfüllt - andererseits die bisher schon privilegierten Schichten, die unter dem Schein der formalen Chancengleichheit für alle Kinder in einer Schule ihr überliefertes Privileg nicht nur erhalten, sondern vermutlich sogar ausbauen können.

6. Verlierer dieser Schulreform werden also die schon immer unterprivilegierten Schichten sein. Wäre es wirklich das Ziel, die Differenz zwischen ihnen und den anderen Schichten abzubauen, dann müßten die Bildungsausgaben in ländliche Gebiete und in Arbeiterviertel verlagert werden; dann müßte die Berufsausbildung verbessert und verstaatlicht werden; dann müßten die bildungsprivilegierten Schichten, die ihren Status durch höhere Bildung reproduzieren, in ganz anderem Maße finanziell herangezogen werden. Vorschulen, Hauptschulen und Oberschulen wären in unterprivilegierten Gebieten zu errichten und deren Lehrpläne, didaktische

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Strategien und methodische Varianten müßten auf die spezifischen Lernfähigkeiten dieser Kinder abgestellt sein und deshalb auch einen nennenswerten Teil von ihnen bis zur Hochschulreife führen können. Selbst in der DDR hat bekanntlich die "Einheitsschule" allein das überkommene Bildungsprivileg nicht brechen können. Zusätzlich mußten vielmehr über Jahre Arbeiter- und Bauernkinder in eigens für ihre Lernfähigkeit eingerichteten "Arbeiter- und Bauernfakultäten" unter gleichzeitiger Benachteiligung "bürgerlicher'' Studenten zum Hochschulstudium geführt werden. Ein solcher Schritt wäre bei uns rechtlich und verfassungsmäßig nicht möglich, aber der Vergleich zeigt immerhin die politische Naivität des Geredes von der "Chancengleichheit". Unser Vorschlag, das Bildungswesen nicht wie bisher nur vertikal, sondern nunmehr auch horizontal nach schichtspezifischen Gesichtspunkten zu differenzieren, hätte im Unterschied zu früher auch keine nennenswerten diffamierenden Wirkungen ("Gymnasium II. Klasse") mehr. Seit nämlich die Einheitlichkeit des klassischen Bildungsideals, das keine Varianten der Bildung, sondern nur der Unbildung neben sich duldete, unwiderruflich zerbrochen ist; seitdem es wissenschaftstheoretisch wie bildungstheoretisch nur noch pluralistische, konkurrierende Bildungskonzepte geben kann - wenn dies auch durch manche Curriculum-Theorien wieder verdunkelt wird: seitdem spricht nichts mehr dagegen, etwa einen neuen Typus des sozialwissenschaftlich-technischen Gymnasiums im Hinblick auf die Lernfähigkeiten bestimmter Schichten zu konzipieren.

7. Voraussetzung für solche Pläne wäre jedoch, den geschichtlich entstandenen Zusammenhang von pädagogischer Wissenschaft, Volksschullehrerinteresse und Interesse des Unterschicht-Kindes selbst wieder in seine Bestandteile aufzulösen, also etwa das an sich berechtigte Standesinteresse der Lehrer von der Frage zu trennen, wie die Bildungsbenachteiligung der unteren Schichten am besten ausgeglichen werden könnte. Alles spräche auch dann noch dafür, den Volksschullehrern die Gleichstellung mit den anderen Lehrergruppen zu verschaffen, aber nichts spräche mehr dafür, dies durch Einrichtung von Gesamtschulen zu realisieren. Die alte mittelständische Wunschvorstellung gerade auch der Lehrer, es gebe keine sozialen Klassen mehr, wird nicht zuletzt durch die jüngste Sozialisationsforschung wieder Lügen gestraft. Nur ein Schulsystem, das die Klassenunterschiede nicht nur politisch, sondern vor allem auch pädagogisch wieder ernst nimmt, kann auf lange Sicht die Chancengleichheit im Bildungssystem verbessern. Nicht die Liquidation der überlieferten Dreigliedrigkeit der Schule stünde dann zur Debatte, sondern seine Sozialisierung nach unten. Aber dafür, so scheint es, läßt sich heute noch kein nennenswertes gesellschaftliches Interesse mobilisieren.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. dazu Friedhelm Nyssen: Schulkritik als Kapitalismuskritik. Göttingen 1971. - Das "Kapitalverwertungsinteresse" erheischt nicht notwendig die Gesamtschule, sondern könnte u.U. auch für andere, in diesem Sinne vielleicht sogar geeignetere Konzepte votieren; es erheischt nicht einmal die Existenz eines Klassen- und schichtspezifischen Bildungswesens, denn es könnte ihm gleichgültig sein, aus welchen Klassen und Schichten sich die jeweils optimal verwertbare Arbeitskraft rekrutiert, wenn sie nur optimal verwertbar ist. Warum die gegenwärtigen Reformpläne sich ausgerechnet auf die Gesamtschule kaprizieren, kann die marxistische politische Ökonomie jedenfalls nicht erklären; sie könnte höchstens beweisen, daß die Gesamtschule dem Kapitalverwertungsinteresse nicht widerspricht. Die Erklärung liegt vielmehr in der geschichtlichen Entwicklung solcher gesellschaftlicher Interessen, die unmittelbar mit dem Kapitalverwertungsinteresse gar nichts zu tun haben.

(2) Vgl. Karl Bungardt: Die Odyssee der Lehrerschaft. 2.Aufl. Hannover 1965.

(3) Bungardt, a.a.O. S.36.

(4) Zit. nach: Quellen zur Geschichte der Erziehung. Berlin-Ost 1962, S. 239.

(5) Zit. nach: Theo Dietrich: Geschichte der Pädagogik. Bad Heilbrunn 1970, S.113f.

(6) Zit. nach Theo Dietrich, a.a.O. S. 115.

(7) Peter Martin Roeder: Gemeindeschule in Staatshand. Zur Schulpolitik des preußischen Abgeordnetenhauses. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 6/1966, S.539ff.

(8) Man denke heute etwa an die Propagierung der Ganztagsschule und überhaupt an die Fixierung der Bildungsplanung auf das formelle Schulsystem unter Ausklammerung der sozialpädagogischen Korrekturen. Daß Schule durch sozialpädagogische Institutionen nicht nur ,,ergänzt", sondern vor allem auch korrigiert werden muß, bleibt schon in dieser Planung unberücksichtigt. Vgl. Hermann Giesecke: Die Jugendarbeit. München 1971.

(9) Vgl. etwa die Arbeiten des Lehrers Konrad Agahd, die z.T. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Lehrerverein entstanden: Die Erwerbstätigkeit schulpflichtiger Kinder im Deutschen Reich. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 12. 1898, S. 373-428; Kinderarbeit und Gesetz gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeitskräfte in Deutschland. Jena 1902; Gesetz betr. Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben vom 30. März 1903. Jena 1905.

(10) Vgl. Egon von Bremen: Das Schulunterhaltungsgesetz vom 28. Juli 1906. Stuttgart 1906; von sozialdemokratischer Seite: Max Quarck: Kommunale Schulpolitik. Berlin 1906; Paul Göhre: Zum Kampf um die Schule. In: Sozialistische Monatshefte 1904/II Bd., S. 945 ff.; ders.: Schule, Kirche, Arbeiter. Berlin 1906.

(11) Zit. nach: Quellen zur Geschichte der Erziehung... S.323. Die sozialdemokratische Schulkonzeption ist ausführlich dargestellt in: Heinrich Schulz: Die Schulreform der Sozialdemokratie. Dresden 1911

(12) Vgl. dazu die Schriften von Johannes Tews, des damaligen Geschäftsführers des Deutschen Lehrervereins: Schulkämpfe der Gegenwart. Leipzig 1906; Sozialdemokratie und öffentliches Bildungswesen. Langensalza 1921, 7. Aufl.; Die deutsche Einheitsschule. Leipzig 1916.

(13) Zit. nach: Quellen zur Geschichte der Erziehung...S.347f. Vgl. auch Johannes Tews: Ein Volk, eine Schule. Osterwieck 1919.

(14) Die materiellen und sozialen Benachteiligungen des proletarischen Kindes wurden von sozialistischen Autoren zwar schon deutlich als Sozialisationsdefizite erkannt, es fehlte aber noch an zuverlässigen empirischen Forschungsmethoden und an einer angemessenen Sozialisationstheorie. Vgl. Otto Rühle: Das proletarische Kind. München 1911, ders.: Die Seele des proletarischen Kindes. Dresden 1925, Nachdruck in: Otto Rühle: Zur Psychologie des proletarischen Kindes. Frankfurt o. J. Otto F. Kanitz: Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft. Jena 1925, Nachdruck in: O. F. Kanitz:, Kämpfer der Zukunft. Frankfurt 1970.

(15) Vgl. Hermann Giesecke: Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preußen und im Reich 1918/19. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, H. 2/1965, S.162ff. Sehr detailliert über die Entwicklung in Hamburg: Hildegard Milberg: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890 -1935. Hamburg 1970. - Aus der Sicht von Lehrerverein und Sozialdemokratie: Johannes Tews: Parteipolitische Spaltungen im Lehrervereinswesen. Langensalza 1920; ders.: Zum deutschen Schulkampf. Die deutschen Reichsschulgesetzentwürfe in ihrem Verhältnis zu Staat, Kirche und Erziehung. Frankfurt 1926. - Heinrich Schulz: Der Leidensweg des Reichsschulgesetzes. Berlin 1926; ders.: Kirchenschule oder Volksschule? Berlin 1927.

(16) Charakteristisch dafür sind die schon genannten Arbeiten von Johannes Tews, sowie natürlich das "Autonomie"-Verständnis der damaligen "geisteswissenschaftlichen" Pädagogik im ganzen.

(17) Zur Unterschichten-Sozialisation vgl. u. a.: Ulrich Oevennann: Sprache und soziale Herkunft. Frankfurt 1972; Peter Martin Roeder u. a.: Sozialstatus und Schulerfolg. Heidelberg 1965; Klaus Mollenhauer: Sozialisation und Schulerfolg. In: Deutscher Bildungsrat (Hrsg): Begabung und Lernen. Stuttgart 4. Aufl. 1969; Hedwig Ortmann: Arbeiterfamilie und sozialer Aufstieg. München 1971; Gerda Kasakos: Zeitperspektive, Planungsverhalten und Sozialisation. München 1971.

(18) So Lutz von Werder unter Bezug auf Ernest Mandel in: Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung. Frankfurt 1972, S. 22. 

 

 
 

81. Die "linke" politische Pädagogik und das Grundgesetz (1972)

(In: Erich Frister/ Luc Jochimsen (Hrsg.): Wie links dürfen Lehrer sein? Unsere Gesellschaft vor einer Grundsatzentscheidung. Reinbek 1972, S. 144-147)
 

Die für alle Bürger unseres Landes verpflichtende, allgemeinste politische Konvention ist das Grundgesetz. Seine Bestimmungen haben einen geschichtlichen und einen zukunftsbezogenen Aspekt. Historisch steht es in einem zeitlichen Kontinuum zum Teil heftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen (Klassen- und Emanzipationskämpfe), deren Ziel letzten Endes das demokratische Ideal war und ist, daß alle (erwachsenen) Bürger zwar nicht in der gleichen Weise, aber doch in gleichem Maße voneinander abhängig oder unabhängig sein sollen. Spätestens seit der Entstehung des modernen Kapitalismus sind dabei neben den vielen möglichen vor allem diejenigen Abhängigkeiten als besonders schwerwiegend empfunden worden, die den Zugang zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse und zur Befriedigung der immateriellen Bedürfnisse eröffnen, soweit diese von jenen mitbestimmt sind. Wer einem anderen Arbeit und Lohn geben kann, beherrscht ihn, insofern er beides auch entziehen kann. Dies gilt nach wie vor auch dann, wenn die unmittelbare persönliche Konfrontation von "Gebern" und "Nehmern" durch industrie- und verwaltungsbürokratische Entscheidungsprozesse weitgehend ersetzt und verstellt wurde.

In diesem langfristigen demokratischen Emanzipationskampf markiert die Konvention des Grundgesetzes eine Art von "Waffenstillstand", der zugleich Regeln für die weiteren demokratischen Auseinandersetzungen enthält. Einerseits hält es bestimmte Ergebnisse des

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historischen Emanzipationsprozesses als unverlierbaren Ertrag fest (z. B. die Grundrechte); andererseits ermöglicht es den weiteren Kampf für den Fortschritt an Demokratisierung (z. B. Gleichheitsgrundsatz; Sozialstaatsklausel).

Angesichts der vorhandenen gesellschaftlichen, nur partiell demokratischen Realität gilt nun aber das Grundgesetz für ganz unterschiedliche sozioökonomische Ausgangs- und Interessenlagen und damit für ganz unterschiedliche gesellschaftliche und politische Chancen - etwa für den Hilfsarbeiter ebenso wie für den Besitzer eines Zeitungskonzerns. Und je nach dieser Ausgangslage müssen die Interessen an den einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ganz verschieden sein. Das Recht der freien Meinungsäußerung z. B. hat für den Inhaber einer Zeitung eine ganz andere Qualität als z. B. für jemanden, der davon allenfalls im Kollegen- und Freundeskreis Gebrauch machen kann; und den Besitzer einer Zeitung wird der im Grundgesetz verbürgte Schutz des Eigentums mehr interessieren als dessen ebenfalls im Grundgesetz geforderte soziale Verpflichtung, die wiederum eher den angeht, der kaum über Eigentum (zumal an Produktionsmitteln) verfügt.

Geht man nun davon aus, daß es Hauptziel der politischen Bildung ist, Menschen durch Lernen zu befähigen, den vom Grundgesetz zugelassenen Spielraum für Mitbestimmung möglichst vollständig zu realisieren, so ergibt sich daraus für den politischen Erzieher denknotwendig die Pflicht, "links" zu sein. Denn da die große Mehrheit unserer Bürger zu den vergleichsweise sozioökonomisch Benachteiligten gehört, müssen auch die Ziele des politischen Unterrichts zumindest zu einem großen Teil für sie spezifisch formuliert werden können. Schließlich müssen die Benachteiligten gerade auch das lernen, was den Bevorteilten wenigstens Teile ihrer überlieferten Privilegien nimmt. Für den Hersteller einer Zeitung sind andere Lernziele interessant als für den Leser einer Zeitung, und "wie ein Gesetz gemacht wird", ist für den weitgehend uninteressant, der nie eines machen wird; er müßte vielmehr lernen, wie man Gesetze optimal zu seinem Vorteil ausnutzt.

Nun kann man aus diesen zugespitzten Antinomien allerdings nicht folgern, daß es für jede Interessenposition eine eigene Schule mit eigenen Lehrplänen geben müßte oder daß die einen nicht lernen dürften, was die anderen lernen. Es geht nicht in erster Linie um verschiedene Stoffe, sondern um verschiedene interessengeleitete Akzente, mit denen die Stoffe (und Verhaltensweisen) jeweils zu bearbeiten wären. Und "links" ist ein politischer Erzieher in dem Augenblick, wo er die Interessenpositionen der benachteiligten großen Mehrheit im Rahmen des Spielraums des Grundgesetzes aktiv unterstützt oder zumindest to-

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lerant zum Zuge kommen läßt. Dies kann er nämlich nicht, ohne den (tatsächlichen oder vermeintlichen) Interessenpositionen derjenigen zu widersprechen, denen ja gerade Macht und Einfluß abgerungen werden soll. Und dieser Konflikt kann sich innerhalb der sozialen Zusammensetzung der Schulklasse selbst abspielen.

Genau dies ist der Punkt, wo "linke" Lehrer der Schulbürokratie und darüber hinaus den ökonomisch-politisch bevorteilten Interessengruppen unbequem werden. Diese haben bisher nämlich streng darauf geachtet, daß die Schule "politisch exterritorial" blieb, und sie haben dies pädagogisch begründet: es sei der jugendlichen Entwicklung schädlich, wenn die Schule zum Tummelplatz politischer Auseinandersetzungen würde, und zudem sei Politik sowieso eine Sache der Erwachsenen. Dahinter stand aber immer die Erkenntnis, daß diese Art von Neutralität letzten Ende dem "Establishment" zugute kommen würde, zumindest dem Status quo der Machtverteilung nicht entgegenwirke.

Alle Lehrpläne und die allermeisten Schulbücher gehen deshalb von der Fiktion aus, die Schüler seien alle "gleiche Staatsbürger" - was sie zwar in einem formal-rechtlichen Sinne, nicht aber im sozioökonomischen Sinne sind. Der "linke" Lehrer wird nun nicht etwa deshalb verfolgt, weil er das Grundgesetz verletzt, sondern umgekehrt gerade deshalb, weil er es den Interessen der großen Mehrheit nutzbar machen will. "Grundgesetzwidrig" handeln also nicht die fraglichen Lehrer, sondern die Schulbürokratien selbst, indem sie verhindern wollen, daß die Benachteiligten durch politisches Lernen zur Ausnutzung der ihnen vom Grundgesetz ermöglichten Chancen gelangen.

Gemessen daran sind die Begründungen für die politische Reglementierung "linker" Lehrer nur allzu durchsichtig. Der Vorwurf der "Grundgesetzwidrigkeit" des Lehrerverhaltens wird aus Klugheit nur noch selten erhoben, seit sich herumgesprochen hat, daß das Grundgesetz sehr weitgehende Änderungen etwa auch der Eigentumsverhältnisse durchaus zuläßt. Statt dessen stützen sich die Reglementierungen zunehmend auf beamtenrechtliche Auslegungen, was die Frage aufwirft, ob das ursprünglich intendierte "Widerstandsrecht" (Herbert von Borch) des Beamten heute nicht neu garantiert werden müßte. Oder man zieht sich auf formale innerschulische Begründungen zurück, z. B. auf "Störung der Schulordnung" oder auf "unpädagogisches Verhalten". Gewiß ist "unpädagogisches Verhalten" gegenüber Schülern immer ein Fehler, aber entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß ein solches Verhalten nur "links" sanktioniert wird während es doch im ganzen in unseren Schulen eher die Regel als die Ausnahme sein dürfte. Es ist also an der Zeit, dem "grundgesetzwidrigen" Verhalten der Schulbürokratie die größte öffentliche Aufmerk-

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samkeit zu widmen.

Andererseits muß nun allerdings darauf hingewiesen werden, daß nicht alles "links" ist, was sich heute so nennt. Manche junge Lehrer geben sich "links", um höchst persönliche Probleme damit zu kompensieren, z. B. um Vorwürfe auf die politische Gesinnung abzulenken, die auf die fachliche Qualität der Berufsarbeit gemünzt waren. Man erkennt derartige Motivationen meist an der intellektuellen Dürftigkeit der politischen Argumentation und an der didaktisch-methodischen Unfähigkeit, mit den Schülern anders als dogmatisch-doktrinär zu kommunizieren, oder auch daran, daß die diffusen Aggressionen der Schüler lediglich für eigene Zwecke mobilisiert werden, anstatt daß sie rational politisiert würden.

Noch wichtiger jedoch ist die politisch-didaktische Einschränkung, daß "linke" Lehrer ihre Position im Rahmen des Grundgesetzes und seiner weiteren Realisierung bestimmen müssen. Unbeschadet der rechtlichen Frage, ob Lehrer linksradikalen Organisationen angehören und in ihnen politisch tätig sein dürfen, kann es keinen Zweifel daran geben, daß "linke" Positionen, die sich außerhalb des Grundgesetzes oder gar in Widerspruch zu ihm definieren, im öffentlichen Schulwesen keine Chance erhalten können. Wo dennoch zu derartigen Definitionen gegriffen wird, handelt es sich bei näherem Zusehen auch meist entweder um unzureichende intellektuelle Bearbeitungen der politischen Probleme, oder wiederum um problematische persönliche Motivationen, für die die radikale persönliche Selbstdarstellung wichtiger ist als der Auftrag, benachteiligten Gruppen optimale Lernhilfen für ihre Emanzipation anzubieten. Offensichtlich besteht in nicht wenigen Fällen das Bedürfnis, unter dem Vorwand, für die Emanzipation der anderen zu arbeiten, lediglich die eigene Position in der bürgerlichen Individualkonkurrenz zu verbessern. Aber auch dies ist kein Problem, das sich administrativ lösen ließe, denn es gilt für die berufliche Selbstdefinition des Lehrers schlechthin und gehört deshalb in den Bereich der didaktischen Kritik und Kontrolle. Was überhaupt noch zu leisten wäre, ist, "linke" politisch-pädagogische Positionen auch didaktisch-systematisch aus dem Sinn und dem Geist des Grundgesetzes zu entwickeln.

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82. Janusz Korczak - Der Anwalt des Kindes (1972)

(In: deutsche jugend, H. 9/1972, S. 397-402)
 

Den Friedenspreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels erhält in diesem Jahr der polnische Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak. Damit wird Leben und Werk eines Mannes gewürdigt, der in der westlichen Welt, selbst unter Fachleuten, noch wenig bekannt ist.

Janusz Korczak wurde im August 1942 in Treblinka zusammen mit etwa 200 seiner Waisenkinder ermordet, nachdem er das Angebot von Freunden ausgeschlagen hatte, mit gefälschten Papieren das Warschauer Getto ohne die Kinder zu verlassen. Nach dem Kriege sorgten seine Freunde dafür, daß sein Werk nicht in Vergessenheit geriet. Der Pole Igor Newerly gab seine Schriften neu heraus, und der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht besorgte die deutsche Edition.

Sein furchtbares Ende in Treblinka war jedoch keineswegs nur der tragische Schluß eines im übrigen allseits anerkannten bürgerlichen Lebens. Auch vorher schon hatte Korczak unter seiner jüdischen Abstammung zu leiden. Mit bürgerlichem Namen hieß er Henryk Goldszmit und wurde im Jahre 1878 oder 1879 als Sohn eines assimilierten jüdischen Advokaten in Warschau geboren. Die Familie war zunächst wohlhabend, verarmte aber dann infolge einer Geisteskrankheit des Vaters. Henryk mußte mit Stundengeben neben dem Studieren für sich, seine Mutter und seine Schwester den Lebensunterhalt verdienen. Diese Tätigkeit brachte ihn in Kontakt mit bürgerlichen Kindern. Außerdem unterrichtete er Kinder in einem Warschauer Armenviertel, in dem er wohnte.

Bereits diese Tätigkeiten erweckten sein Interesse an einem Studium des Kindes und an der Kritik herkömmlicher Erziehungsmethoden. Es schlug sich zunächst in ersten schriftstellerischen Arbeiten nieder, von denen vor allem der 1904 erschienene Roman "Das Salonkind" größere Aufmerksamkeit erregte. Er erschien bereits unter seinem Schriftstellernamen "Janusz Korczak", den er vorher schon als Pseudonym für einen literarischen Wettbewerb gewählt hatte und unter

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dem er von nun an lebte. Von 1906 bis 1910 arbeitete er als Arzt an einem Kinderkrankenhaus in einem Warschauer Arbeiterviertel. Durch seine schriftstellerischen Arbeiten bereits bekannt, wurde er in den bürgerlichen Salons herumgereicht und konnte für die Behandlung reicher Kinder hohe Honorare nehmen. Seinen Urlaub jedoch benutzte er zweimal, um in einer Ferienkolonie für arme Kinder als Erzieher mitzuwirken.

Im Jahre 1911 gab Korczak seine glänzend gehende Arztpraxis auf, um das nach seinem Entwurf errichtete jüdische Waisenhaus "Dom-Sierot" zu übernehmen, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. Mit diesem Berufswechsel begann die pädagogische und zugleich auch die eigentliche schriftstellerische Karriere des Janusz Korczak, in ihm dokumentierte sich jedoch auch bereits Korczaks Verzicht auf eine Beteiligung an den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen seiner Zeit, die nun auch in seinen Schriften keinen konkreten, sondern höchstens noch einen allgemein kulturkritischen Niederschlag fanden: Obwohl er sich in seiner Studienzeit in politisch engagierten linken Studentenkreisen bewegte, wurde seine Pädagogik von nun an unpolitisch.

Über seine Motive für den Berufswechsel schwieg sich Korczak sogar in seinen späteren Erinnerungen aus. Sicher scheint jedoch zu sein, daß seine soziale Stellung als Jude dabei eine Rolle spielte. Als assimilierter, polonisierter Jude hätte er - wie sich zeigte - zwar durchaus Karriere machen können, aber er wäre in der bürgerlichen Gesellschaft ein Fremder geblieben, hätte dort seine soziale Identität nicht finden können. Sie bot sich ihm aber an in der Solidarität mit den Allerschwächsten der Gesellschaft, den Kindern, die zudem noch arm und Waisen waren. In seinen später im Getto verfaßten Erinnerungen beschrieb er, wie er als Kind zum erstenmal mit seiner jüdischen Abstammung konfrontiert wurde, als er seinen geliebten Kanarienvogel begraben wollte:

"lch wollte ein Kreuz auf seinem Grab errichten. Das Dienstmädchen sagte, das ginge nicht, weil es nur ein Vogel sei, also etwas weit niedrigeres als ein Mensch, sogar um ihn zu weinen, sei Sünde. Soweit das Dienstmädchen. Und noch schlimmer war, daß der Sohn des Hausverwalters feststellte, der Kanarienvogel sei Jude gewesen. Ich auch. Ich bin auch Jude, und er - Pole und Katholik. Er würde ins Paradies kommen, ich dagegen, wenn ich keine häßlichen Ausdrücke gebrauchen und ihm immer folgsam im Haus stibitzten Zucker mitbringen würde, käme nach dem Tod zwar nicht gerade in die Hölle, aber irgendwohin, wo es ganz dunkel sei. Und ich hatte Angst in einem dunklen Zimmer. Tod - Jude - Hölle. Das schwarze jüdische Paradies. Es gab genug Grund zum Grübeln"(2, S. 25O/251).

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im nationalistischen Polen der soziale Antisemitismus, der sich nicht auf religiöse oder weltanschauliche Argumente stützte, sondern die jüdische Berufs- und Wirtschaftskonkurrenz in den mittelständischen Berufen beseitigen wollte, zu einer fast offiziellen politischen Ideologie. Und als Korczak in den dreißiger Jahren mit großem Erfolg seine "Radioplaudereien des alten Doktor" über den Rundfunk sprach, konnte man nicht wagen, seinen Namen zu nennen.

Im Ersten Weltkrieg wurde Korczak in die russische Armee einberufen. In den Marschpausen entstand das Manuskript zu seinem ersten pädagogischen Buch mit dem Titel "Wie man ein Kind lieben soll". Es enthält bereits die pädagogische Grundkonzeption, die später nur noch modifiziert wird.

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Die Kinder, das "Proletariat auf kleinen Füßen", die mit der harten Arbeit des Aufwachsens beschäftigt sind, haben nach Ansicht von Korczak eine Reihe von autonomen Rechten, die gerade auch gegenüber ihren Erziehern gelten:

"Vielleicht gibt es noch andere - aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden: 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod, 2. das Recht des Kindes auf den heutigen Tag, 3. das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist" (1, S. 40).

Nur wenn man das Recht des Kindes auf seinen Tod respektiert, wird man eine überängstliche Erziehung vermeiden; nur dann kann man es den jeweiligen Tag genießen lassen, und man kann dem Kind nur gerecht werden, wenn man es nimmt, so wie es ist, und nicht andere Kinder oder die Meinungen der Nachbarn zum Maßstab nimmt. Um diese "Grundrechte" gruppieren sich alle weiteren Rechte, die ein Kind als Kind für sich beanspruchen darf: zum Beispiel das Recht darauf, daß sein Sprechen ernstgenommen wird; daß seine Bemühungen, die Welt zu entdecken, nicht verlacht werden; daß seine Gefühle: Trauer, Schmerz, Freude, Enttäuschung, die erste zaghafte Liebe, unbedingte Achtung finden. Getreu seiner Devise, daß Pädagogik zuerst nicht die Wissenschaft vom Kinde, sondern vom Menschen sei, räumte Korczak dem Kind die gleichen Rechte ein, die auch ein Erwachsener für sich beanspruchen würde, nur daß sie für das mit der Arbeit des Aufwachsens beschäftigte Kind eine weit größere Bedeutung haben. In seinem Waisenhaus wandte Korczak eine Reihe von Methoden an, die charakteristisch für die gesamte damalige Reformpädagogik waren. Aber zwei Einfälle verdienen eine besondere Erwähnung:

1. Korczak machte das geschriebene Wort geradezu zu einer pädagogischen Institution. Er hielt die Kinder an, Tagebücher zu schreiben, damit sie sich über ihre Probleme klar wurden und ihre eigene Entwicklung besser ins Bewußtsein nehmen konnten. Ferner erschien jede Woche eine mit den Kindern gemeinsam gestaltete Zeitung, die mangels geeigneter Vervielfältigungsmöglichkeiten vorgelesen wurde und zu der Korczak selbst fast immer den Leitartikel schrieb. Später, in den Jahren 1926 bis 1931 gründete und redigierte er für eine Warschauer Zeitung eine Wochenbeilage, an der ausschließlich Kinder und Jugendliche mitarbeiteten und die große öffentliche Beachtung fand. Die schriftliche Kommunikation, so begründete Korczak, schaffe gerade in der distanzlosen Atmosphäre eines Waisenhauses Abstand von unmittelbaren Gefühlsausbrüchen und von zuviel Intimität. Wie bedeutsam die schriftliche Kommunikation zwischen den Kindern sein konnte, zeigt eine längere von Korczak abgedruckte Passage, wo es darum geht, daß ein 9jähriger, schwieriger und noch nicht integrierter Junge seiner 12jährigen Betreuerin sein Tagebuch zeigt, während diese die Eintragungen mit schriftlichen Kommentaren versieht (1, S. 298 ff.). Korczak selbst vermied nach Möglichkeit spontane Entscheidungen, wenn die Kinder etwas von ihm wollten. Er veranlaßte sie, ihr Anliegen schriftlich über seinen Briefkasten vorzubringen.

"Der Briefkasten bringt den Kindern folgendes bei:

1. Auf eine Antwort zu warten: sie nicht sofort, nicht auf Zuruf zu erhalten.

2. Geringfügige und vorübergehende Kümmernisse, Sorgen, Wünsche und Zweifel von wichtigen zu unterscheiden. Es bedarf eines Entschlusses, um sich hinzusetzen und zu

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schreiben (und auch dann noch machten die Kinder oft einen bereits eingeworfenen Brief wieder zurückziehen).

3. Er lehrt sie denken und begründen. 4. Er lehrt zu wollen und zu können. Ich behaupte, daß ein Briefkasten eine mündliche Verständigung mit den Kindern nicht erschwert, sondern erleichtert. Ich suche mir die Kinder aus, mit denen ein längeres vertrauliches, herzliches oder ernstes Gespräch notwendig ist, und ich wähle dazu einen für mich und für das Kind günstigen Augenblick. Der Briefkasten hilft mir, Zeit einzusparen, und so wird mein Tag länger" (1, S. 289 f.).

2. Eine weitere pädagogische Institution im Waisenhaus war das Gericht, das über die Erzieher und über die Kinder urteilte. Mit Kinder- und Jugendgerichten wurde überall in der Reformpädagogik experimentiert. Die besondere Bedeutung des Gerichts bei Korczak bestand jedoch darin, daß es nicht in erster Linie das allgemeine Interesse gegenüber dem einzelnen Kind vertrat, sondern umgekehrt vor allem der Ort war, wo das einzelne Kind anklagte, um zu seinem Recht zu kommen. Nichts lag Korczak ferner, als mit Hilfe des Gerichts oder der anderen Selbstverwaltungseinrichtungen jene Gemeinschaftsideologie durchzusetzen, wie sie etwa charakteristisch für die deutsche Reformpädagogik war.

"Es gibt in einer Kinderschar keine absolute Kameradschaftlichkeit und Solidarität, und es kann sie auch nicht geben. Mit dem einen verbindet mich nur das gemeinsame Dach über dem Kopf, das Glockenzeichen zum Aufstehen am Morgen, mit einem anderem - die gemeinsame Schule, mit dem dritten - gleiche Neigungen, dem vierten - Freundschaft, mit dem fünften - Liebe. Kinder haben das Recht, in Gruppen oder für sich allein zu leben, nach eigenem Bemühen und eigenem Denken" (1, S. 303).

Korczak schrieb jedoch nicht nur über Kinder für deren Erzieher, sondern auch für sie. Im Jahre 1923 erschien der Kinderroman "König Hänschen I." und die Fortsetzung "König Hänschen auf der einsamen Insel". Hänschen erbt als Kind den Thron seines Vaters, wird in Kriege verwickelt, errichtet ein Kinderparlament, das eines Tages beschließt, die Rollen von Kindern und Erwachsenen auszutauschen: die Erwachsenen sollen zur Schule gehen und lernen, die Kinder dafür die Arbeiten der Erwachsenen übernehmen. Das Experiment scheitert, weil die Kinder nicht nur unglücklich, sondern auch böse sind und das Land ruinieren. Hänschen wird von seinen Feinden besiegt und auf eine einsame Insel verbannt. Er flieht, und nach einer langen Odyssee, die ihn unter anderem durch ein Straflager, ein Waisenhaus und die Wohnungen armer Leute führt, kehrt er zurück, verzichtet auf die Krone und arbeitet in einer Fabrik, wo er an einem Unfall stirbt.

Dieser Kinderroman enthält viele autobiographische Züge, so daß man annehmen könnte, Korczak habe in König Hänschen den Kindern die Geschichte seiner eigenen Träume und Leiden erzählen wollen, weil nur sie - und nicht die Erwachsenen - Verständnis dafür aufbringen können. Ohne die Kinder zu idealisieren, ergreift das Buch zum Teil mit köstlicher, auch Kindern verständlicher Ironie Partei gegen die Erwachsenen. So wenn etwa der Leiter eines Waisenhauses sich aufplustert:

"Meine Herrschaften, ich bin ein gelehrter Erzieher, ich habe viele kluge Bücher über Kinder geschrieben. Eins trägt den Titel: '365 Arten, den Kindern das Lärmen abzu-

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gewöhnen'. Dann habe ich ein zweites Buch geschrieben: 'Was ist besser, Blech- oder Hornknöpfe?' Mein drittes pädagogisches Buch heißt: 'Die Schweinezucht in den Internaten'. - Sie müssen nämlich wissen, daß überall dort, wo es viele Kinder gibt, große Mengen von Kartoffelschalen und Abwaschwasser anfallen. Und das darf doch nicht verkommen. In meinen Internaten wird selbst aus einem ganz mageren Ferkel ein ausgezeichnetes Schwein" (4, S. 41).

Gemessen an landläufigen Vorstellungen ist das kein idyllisches Kinderbuch. Es handelt von Krieg, Intrigen, Bosheiten und Unzulänglichkeiten der Menschen, aber auch von den Idealen eines Kindes, die sich an der Realität abarbeiten müssen. Hänschen lernt einsehen, daß man nicht alles auf einmal machen kann, daß man mit der Schwäche der Menschen rechnen muß und daß Kinder auch nur Menschen sind. Das Regieren ist eine schwierige Sache, es gibt keinen Trick, mit dem man es allen recht machen könnte. Selbstbestimmung und Mitbestimmung muß man lernen, sie lassen sich nicht durch ein Parlament verordnen.

In der Schrift "Die Regeln des Lebens. Eine Anleitung zur Erziehung für junge Menschen und Erwachsene" - zusammen mit anderen Arbeiten in dem Band "Das Recht des Kindes auf Achtung" erschienen - wendet sich Korczak ebenfalls in erster Linie an die Kinder, um ihnen seine pädagogischen Grundsätze deutlich zu machen, sie als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung anzusprechen. Ausdrücklich bezeichnet er diese Abhandlung als eine "wissenschaftliche", und das heißt für ihn: Fragen für wichtiger halten als Antworten; zugeben, wenn man etwas nicht weiß; sich an die genaue Beobachtung und an die Erfahrung halten; dieselbe Sache aus verschiedenen Perspektiven betrachten; Zutrauen zum eigenen Denken haben, obwohl man noch ein Kind ist.

"Ein Dichter ist ein Mensch, der sehr ausgelassen und tieftraurig sein kann, der leicht aufbraust und leidenschaftlich liebt - ein Mensch, der tief empfindet, der Rührung und Mitleid kennt. Und genauso sind auch die Kinder. Ein Philosoph ist ein Mensch, der sehr gründlich nachdenkt und unbedingt wissen will, wie alles wirklich ist. Und wiederum, genauso sind die Kinder auch. Kindern fällt es schwer auszudrücken, was sie empfinden und woran sie denken, weil man das alles in Begriffe fassen muß. Und Schreiben ist noch viel schwerer. Aber die Kinder sind ihrem Wesen nach Dichter und Philosophen" (2, S. 163).

Korczak, der Anwalt des Kindes, kämpfte auf drei Fronten, um das "Recht des Kindes auf Achtung" durchzusetzen: In seiner eigenen pädagogischen Praxis versuchte er seine Konzepte zu realisieren; bei den Eltern und Erziehern warb er publizistisch in immer neuen Variationen für seine Ideen, und auch den Kindern selbst wollte er sie mitteilen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob er auch ohne die moralische Autorität seines Todes die ihm posthum verliehene Auszeichnung verdient hätte. Was an seinem Lebenswerk hat heute noch Bedeutung?

Schon Mitte der dreißiger Jahre wurde an seinem Erziehungssystem im Waisenhaus Kritik laut. Auch wohlwollende Kritiker wiesen etwa darauf hin, daß die Zöglinge, die das Heim verließen, wenig praktischen Sinn und Initiative entwickelten, schüchtern waren und ein zu hohes Gefühl für Menschenwürde im Kampf ums Dasein zeigten.

Zweifellos wäre Korczaks pädagogische Praxis schon deshalb auf die Dauer in Schwierigkeiten gekommen, weil er bei seinen Analysen historisch-politische und ökonomische Prozesse vollständig ausklammerte und sich ganz auf die Ausgestal-

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tung der je individuellen Innerlichkeit verließ. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen seine Zöglinge sich letzten Endes doch bewähren mußten, interessierten ihn kaum. In diesem Punkte teilte er die Schwächen der reformpädagogischen Bewegung im ganzen.

Man braucht jedoch nur einen Blick auf unsere gegenwärtige Heimerziehung zu werfen, um zu erkennen, wie revolutionär Korczaks Ideen hier wirken müßten. Die Differenz zwischen wissenschaftlichem und praktischem Bewußtsein ist hier nach wie vor so ungeheuerlich, daß man die zeitbedingten Einseitigkeiten mühelos vom nach wie vor gültigen Kern der Konzeption trennen kann: das Kind unter allen Umständen zum Subjekt und nicht zum Objekt seines gegenwärtigen und künftigen Lebens zu machen.

Nur deshalb jedoch, weil für Korczak die individuelle Innerlichkeit des Kindes so wichtig war, konnte er einer der besten pädagogischen Schriftsteller dieses Jahrhunderts werden, dessen erkenntnisleitendes Interesse die Emanzipation des Kindes war. Das Geheimnis seiner Wirkung als Schriftsteller ist nach wie vor die Kombination von präziser Beobachtung und intuitivem Einfühlungsvermögen ins individualisierende Detail. Der sowjetische Sozialpädagoge Makarenko, mit dem sich Korczak am ehesten vergleichen ließe, war ihm sicherlich politisch-theoretisch überlegen; aber gerade den Problemen der individuellen Innerlichkeit stand er geradezu hilflos gegenüber, sofern sie sich nicht gesellschaftlich erklären ließen.

Die Kinder selbst scheinen Korczak die Schriften diktiert zu haben, als wären sie durch sein Medium hindurch zum sprachlichen Bewußtsein ihrer Misere und ihrer wirklichen Bedürfnisse gekommen. In der bedingungslosen Solidarität mit ihnen, die nicht einmal der Versuchung der Idealisierung erlag, hat der herumgestoßene Jude Korczak seine Identität gefunden. Trotz der Fortschritte der Kinderpsychologie und der Sozialisationsforschung haben seine Schriften wenig von ihrer sachlichen Zuverlässigkeit eingebüßt, und den eilfertigen Erziehungsratgebern der Gegenwart sind sie ohnehin schon durch das Fehlen jeder manipulativen Absicht überlegen. Vielleicht liegt das auch daran, daß dabei nicht nur die Achtung vor dem unterdrückten Kind, sondern auch eine bemerkenswerte intellektuelle Skepsis die Feder führte:

"Verleger drucken manchmal goldene Worte großer Geister; wieviel nützlicher wäre es doch, eine Sammlung von irrigen Meinungen zu veröffentlichen, die von den Klassikern der Wahrheit und der Wissenschaft verkündet worden sind" (1, S. 152).
 

Literatur

1) Janusz Korczak: Wie man ein Kind lieben soll. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1967
2) Janusz Korczak: Das Recht des Kindes auf Achtung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970
3) Janusz Korczak: König Hänschen I..Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970
4) Janusz Korczak: König Hänschen auf der einsamen Insel: Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1971
5) Hanna Mortkowicz-Olczakowa: Janusz Korczak. Arzt und Pädagoge. Verlag Anton Pustet, München und Salzburg o. J.

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