Hermann
Giesecke Gesammelte
Schriften Band 27 (2002 – 2003)
© Hermann
Giesecke Inhaltsverzeichnis aller Bände
Inhalt
217.Was nützt
den Schülern wirklich? (2002)
218.
Fächer, Stoffe Bildung
(2002) 219. Meine Stiefkinder lehnen
mich ab (2002) 220. Bei Werner Rietz im
Vlothoer Bildungskonzern (2002)
221. Ganztagsschule
und
außerschulische Jugendbildung (2002)
222. Brauchen
wir eine neue
Unterrichtskultur?(2002) 223. Rezension zu: Wolfgang
Böttcher: Kann eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein?
(2002) 224. Werteerziehung als
schulpädagogische Aufgabe (2003)
225.
Ganztagsschulen: Operation
am lebenden Objekt (2003)
226.
Warum die Schule soziale
Ungleichheiten verstärkt (2003)
227.
PISA und der pädagogische
Zeitgeist (2003)
Zu
dieser Edition Dieser
27. Band meiner Gesammelten Schriften enthält
Arbeiten aus den Jahren 2002-2003. In dieser Zeit war ich
bereits emeritiert. Nähere biographische Angaben
finden
sich in meiner Autobiographie Mein
Leben ist
lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.
Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht
sich um
Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.
Allerdings wurden Texte, die nach Vorträgen mehrmals an
unterschiedlichen Orten - z.B. in Verbandszeitschriften - wiedergegeben
wurden, nur einmal berücksichtigt.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich
nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden
korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert.
Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch
ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der
Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit
aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die
jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten
befinden sich in den früheren Bänden.
©
Hermann Giesecke
Die Pisa-Studie
entlarvt den
pädagogischen Zeitgeist. Nun gehören die Illusionen auf den Prüfstand.
In:
Stuttgarter Zeitung, 26.1.2002,
S. 49
(Dieser Text ist in der Druckausgabe leicht redaktionell
verändert worden, H.G.) Die Ergebnisse der
PISA-Studie, nach
der die
Leistungen der deutschen Schüler im Lesen sowie in der mathematischen
und naturwissenschaftlichen Grundbildung weltweit im unteren Drittel
rangieren, kommen nicht überraschend. Zu einem ähnlichen Urteil
gelangen seit Jahren Erhebungen der Wirtschaft über die
Basisqualifikationen von Schulabgängern, die eine Ausbildung beginnen
wollen. Schon die im vergangenen Jahr veröffentlichte TIMSS-Studie, bei
der die Lesekompetenz allerdings noch nicht abgefragt wurde, hatte ein
ähnliches Resultat, aber damals dachten viele noch: wer ist oder war
schon gut in Mathematik! Nun jedoch geht es mit dem Lesen um eine
zentrale Kulturtechnik, von der nicht nur alle weiteren schulischen
Leistungen, sondern auch alle gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten
- nicht zuletzt im Arbeitsleben - abhängen. Deshalb ist die öffentliche
Aufmerksamkeit wesentlich größer. Von den getesteten 15-jährigen sind
insgesamt fast 23 Prozent nur fähig, auf einem sehr niedrigen Niveau zu
lesen. Die Forscher betrachten sie als eine "Risikogruppe" im Hinblick
auf selbstständiges Lesen und damit auf die Fähigkeit zum Weiterlernen.
Der Anteil derjenigen, die angeben, überhaupt nicht zum Vergnügen zu
lesen, beträgt 42 Prozent und wird von keinem anderen Land übertroffen.
Zu den Leistungsschwachen gehören insbesondere Ausländer, deren Eltern
nicht in Deutschland geboren wurden, Aussiedler und Kinder aus sozial
schwachen und bildungsfernen Familien. In keinem anderen Land ist zudem
der Abstand zwischen den guten und schwachen Leistungen so groß wie in
Deutschland. Die viel berufene "Chancengleichheit", in deren Namen so
viele pädagogische Experimente in den letzten 30 Jahren gemacht worden
sind, hat sich offensichtlich als Flop erwiesen.
Inzwischen dürfte
also jeder
begriffen haben, dass
sich unser Bildungswesen in einem miserablen Zustand befindet. Aber
dürfen wir uns beklagen? Wir haben genau das Schulwesen, das wir
verdienen, weil wir es seit 30 Jahren gewollt haben. Die Lehrer tun
das, was sie im Studium gelernt haben, sie erteilen den Unterricht, den
man ihnen in der Referendarzeit beigebracht hat: aufgebaut nach einem
formalen Schema, das für kreative und von der Planung abweichende
Fragen der Schüler kaum Raum lässt. Das vorher geplante Ergebnis muss
am Ende der Stunde auch herauskommen, sonst ist die Lehramtsprüfung
gefährdet. Wer die nun von allen Seiten geforderte "neue Lernkultur"
zum Maßstab seines Unterrichts machen würde, würde vermutlich
durchfallen. Ähnlich
verhält es sich mit den
meisten anderen
"Reform"-Forderungen, die jetzt von den Kultusministern eilfertig auf
den Markt geworfen werden: bessere Förderung der Leistungsschwachen,
wirksamere didaktische Ausbildung der Lehrer, größere Aufmerksamkeit
für die Grundschule. Aber was soll daran neu sein?
Haben wir nicht
in den letzten
Jahrzehnten nahezu
das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren
Schüler mit Hilfe von Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen,
verlängerter Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des
individualisierten Unterrichts zu fördern? Warum ist das offensichtlich
erfolglos geblieben? - Für die Fortbildung der Lehrer wurde noch nie
zuvor so viel Geld ausgegeben, eigene, fast monopolartige Institute mit
teurem Personal haben die Kultusminister sich dafür zugelegt - was
wurde den Lehrern dort eigentlich über all die Jahre vermittelt? -
Didaktik als wissenschaftliche Disziplin gibt es seit 40 Jahren an den
Hochschulen - warum hat sie den Ruin des schulischen Unterrichts nicht
verhindert oder wenigstens öffentlich wirksam rechtzeitig kritisiert? -
Nun sollen die Bildungsbemühungen im Vorschulbereich und in der
Grundschule verstärkt werden - aber die infantile Unterforderung von
Grundschulkindern ist schon Ende der sechziger Jahre ausführlich
diskutiert worden, und der Bildungsrat hat seinerzeit ein ausführliches
Reformkonzept vorgeschlagen - warum ist das so schnell versandet? Schon
damals lag auf der Hand, was die Kultusministerin von Baden-Württemberg
und Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Annette Schavan, heute zu
Recht betont: "In jungen Jahren sind Kinder besonders empfänglich fürs
Lernen. Sie schon in diesem Alter an Schule und Leistung heranzuführen
ist besonders wichtig für Kinder aus bildungsfernen Schichten. In der
Grundschule werden unsere Kinder systematisch unterfordert. Hier
akkumuliert sich ein Rückstand, der nur mit großer Anstrengung
aufzuholen ist. Kinder aus dem bildungsnahen Milieu haben es da
deutlich leichter". Man könnte ironisch unter Rückgriff auf die
traditionelle linke Ideologiekritik hinzufügen: Wenn wir das alte
Bildungsprivileg retten wollten - was uns ja gelungen ist, wie PISA
zeigt - dann hätten wir die Grundschule genauso planen müssen, wie wir
sie jetzt haben - einschließlich ihrer personellen
und materiellen
Unterversorgung. Es ist die Tragik der sozialdemokratischen, auf
Chancengleichheit gerichteten Bildungspolitik, dass sie von
pädagogischen Illusionisten aus ihren eigenen Reihen
torpediert wurde,
denen es gelungen ist, über Jahrzehnte einen mehr als problematischen
pädagogischen Zeitgeist zum ideellen Leitmotiv der öffentlichen Meinung
zu machen, dessen Zauberworte auch jetzt noch zur Heilung empfohlen
werden, obwohl sie Teil der Krankheit sind. Dafür nur einige Beispiele:
-
Die "Neue Lernkultur", die jetzt
Abhilfe schaffen
soll, ist ein alter Hut der gescheiterten Schulpädagogik. Inhaltlich
offen und ohne erkennbare Ziele wurde sie aus der Abneigung gegen jede
Art von gedanklich geordnetem und systematischem Unterricht geboren.
Unterstellt wird, unsere Schüler lernten etwas Falsches, nämlich nur
"theoretisches" Wissen, weshalb sie bei dessen Anwendung, wie in der
PISA-Studie gefordert, scheitern müssten. In Wahrheit lernen sie unter
dieser Flagge gar kein geordnetes Wissen, deshalb können sie angesichts
eines besonderen Problems auch nichts davon anwenden. Die Anwendung auf
einen besonderen Fall setzt immer ein geistiges Repertoire voraus, das
jenseits davon und unabhängig von ihm zur Verfügung steht. Nur was
systematisch begriffen worden ist, kann auch angewendet werden, und
dafür ist ein vom Lehrer geleiteter Unterricht erforderlich. Deshalb
sollte man lieber von "Unterrichtskultur" und "Schulkultur" sprechen,
die beide in der Tat verbessert werden müssen.
- Ein weiteres
Zauberwort ist
"Individualisierung
des Lernens". Es drückt in erster Linie die Abneigung gegen eine für
alle Schüler einer Klasse gemeinsam geltende Leistungserwartung aus.
Dahinter steckt ein verkürztes Verständnis des in der Tat notwendigen
und deshalb zu fördernden Individualisierungsprozesses von Schülern.
Der wird allerdings nicht dadurch behindert, dass alle zur gleichen
Zeit denselben Stoff bewältigen und am selben Problem arbeiten müssen,
wie das im normalen Unterricht üblich ist. "Individuell" ist in diesem
Zusammenhang nur das Lerntempo - weshalb in Einzelfällen eine besondere
Förderung nötig werden kann - und die Art und Weise der subjektiven
Aneignung, auf Grund derer das Gelernte in der Vorstellungswelt des
einzelnen eine Bedeutung erhält - oder auch nicht. Das war früher
gemeint, wenn man vom "Bildungswert" eines Faches oder eines Stoffes
sprach. Dieser Gesichtspunkt scheint allerdings wegen der
unübersehbaren Instrumentalisierung des Wissens weitgehend verloren
gegangen zu sein. Die Bedeutung dessen, was in der Schule behandelt
wird, ist für die meisten Eltern offensichtlich uninteressant und für
die Schüler erst recht. Wenn aber das Gelernte der Person äußerlich
bleibt, also den Charakter des bloß für einen bestimmten Zweck
auswendig Gelernten behält, ist es nur schwer auf neue Probleme
anwendbar. Diese subjektive Seite des Lernens kann die Schule nur
anregen, erzwingen kann sie sie nicht. Sie hat auch nicht nur etwas mit
fehlender bzw. anzuregender Motivation zu tun, sondern mit einer
komplexen Lebenseinstellung, die von gesellschaftlichen Faktoren und
Einwirkungen bestimmt wird, über die die Schule nicht verfügen kann.
Individualisierung scheitert heute also in erster Linie daran, dass die
Bearbeitung des Ich durch die Herausforderungen der Außenwelt, die sich
ja in den Schulstoffen repräsentiert, verweigert wird - nicht daran,
dass wir nicht jeden lernen lassen, was er will und wann er es will.
- Damit einher
geht jener
antistaatliche Affekt,
den die Achtundsechziger bis heute erfolgreich propagiert und zumindest
in der älteren Lehrerschaft fest verankert haben. Demnach hat der Staat
keine Ansprüche zu erheben, sondern die Mittel für das Wohlbefinden
seiner Bürger bereit zu stellen. Eine Schule, die Leistungsansprüche an
die Schüler stellt, gilt somit als eine Zumutung an deren
Persönlichkeit. Nur was der Schüler selbst lernen will, darf auch von
ihm gefordert werden. Die Schule habe sich nach den Bedürfnissen des
Kindes zu richten, nicht umgekehrt. Spätestens seit den achtziger
Jahren richtete sich der pädagogische Blick auf die subjektive
Befindlichkeit des Kindes, die Schulstoffe wurden verstanden als
Rohmaterial für das Drama der Subjektivität des jeweiligen Schülers.
Die Welt wurde nun intimisiert, nämlich auf unmittelbare menschliche
Beziehungen reduziert. Eine Kultivierung des Ich machte sich breit, ins
Zentrum der didaktisch-methodischen Reflexion drängte sich die Frage,
was ein Thema mit diesem Ich zu tun habe. Die menschlichen Beziehungen,
gerade auch zwischen Lehrern und Schülern, wurden wichtiger als die
Inhalte; menschliche Nähe wurde zum Kult und Selbstzweck. Im Verlaufe
dieser Entwicklung sind die Sachverhalte als etwas Objektives, in das
durch Lernen einzudringen ist, weitgehend abhanden gekommen. Alle
kognitive Anstrengung, die mühselige Arbeit des Denkens und
Argumentierens, wurden entwertet oder zumindest als nachrangig
angesehen. In diesem geistigen Klima ist es fast gleichgültig, was im
Lehrplan steht. Die didaktischen Überlegungen gehen nicht dahin,
grundlegende Modelle, Begriffe, Tatsachen oder Strukturen der real
existierenden Welt zu entwerfen und sie auf diese Weise erkennbar und
lehrbar zu machen; das gilt als pädagogisch unmodern. Statt dessen wird
z.B. gründlich darüber sinniert, was welcher Stoff für das "Leben" der
Schüler bedeuten könnte. Aber welches so genannte "Leben" ist damit
gemeint? Das, was die Schüler gegenwärtig führen, was sie in Zukunft
führen könnten, oder das, was sie vielleicht in den Blick nehmen, weil
der Unterricht ihnen dafür eine lohnende Perspektive verschafft hat,
auf die sie ohne ihn nicht gekommen wären? Schule hat eben –
"schülerorientiert" oder "lebensweltorientiert" oder wie die
Zauberworte sonst heißen - nicht nur die Aufgabe, das bisherige Leben
der Schüler und damit ihre jeweilige Milieubefangenheit fortzuschreiben
oder sie sogar darauf zu fixieren, sondern auch - behutsam - eine
Konfrontation damit einzuleiten. Wie sonst sollten denn wohl die Kinder
aus sozial benachteiligten Familien die Chance erhalten, sich daraus zu
emanzipieren? Das einzige Kapital, das diese Kinder von sich aus
vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie
eine Schule, in der der Lehrer nicht nur "Moderator" für
"selbstbestimmte Lernprozesse" ist, sondern die Führung übernimmt und
die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial
benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien,
eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen
und ermutigenden Unterrichts, wie alle Lernforschung zeigt. Die
Schulreformpädagogik der letzten Jahrzehnte hat entgegen ihren
Beteuerungen für diese Kinder gar nichts bewirkt, wie sich jetzt
herausgestellt hat. Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig
sind, werden einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so am
bequemsten und vor allem am billigsten ist, während andere,
erfolgreichere Länder wie Schweden niemanden in die Schule lassen, der
nicht hinreichend die Landessprache beherrscht. So manche skurrile Idee
der Grundschulpädagogik ist nichts weiter als eine darauf reagierende
Not-Philosophie; wenn Unterricht nicht möglich ist, lässt sich
wenigstens so etwas wie "interkulturelle Erziehung" veranstalten: man
spielt ein wenig miteinander, redet besänftigend über Konflikte, und
eigentlich müssten die deutschen Kinder türkisch lernen statt umgekehrt
die türkischen ihre aktuelle Landessprache.
Die
Kultusminister, geradezu süchtig
nach Konsens,
vermeiden jede Schuldzuweisung aneinander, der Blick soll nach vorne
gerichtet werden, nicht in die Vergangenheit. Aber vorne wird sich
nichts zeigen, was der Mühe wert ist, wenn nicht eine Bilanz gezogen
wird, die die Entwicklung der letzten Jahrzehnte kritisch in den Blick
nimmt. Statt hektischer Betriebsamkeit, die die Wähler beruhigen soll,
ist Besinnung angezeigt unter der Leitfrage: Was wollen wir eigentlich
mit der Schule, was kann sie leisten und was nicht? Dafür gehören nicht
zuletzt die pädagogischen Illusionen auf den Prüfstand. Auch dafür gibt
es eine einfache Leitfrage: Was nützt den Schülern im Hinblick auf ihre
gegenwärtige und vor allem zukünftige gesellschaftliche Teilhabe? Die
Lehrer sind nämlich die einzigen Beteiligten, deren Beruf es ist sich
daran zu orientieren. Bei ihren Verbänden und Gewerkschaften ist das
schon ganz anders - ganz zu schweigen von anderen Interessengruppen und
von Ministern, Verwaltern, Ausbildern, Fortbildnern. Sie haben fast
notwendigerweise auch ihre spezifischen Zwänge und Interessen im Sinn,
für deren öffentliche Rechtfertigung sie Ideologien brauchen, die in
der pädagogischen Praxis dann als Illusionen ankommen.
218.
Fächer, Stoffe Bildung
(2002)
In:
Böttcher, Wolfgang/Kalb, Peter
E.
(Hrsg.): Kerncurriculum. Was Kinder in der Grundschule lernen sollen.
Eine Streitschrift, Weinheim/Basel 2002, S. 64-81
(Abgesehen von
kleinen
redaktionellen Änderungen
Nachdruck aus: H. Giesecke: Pädagogische Illusionen. Stuttgart 1998, S.
181-198)
219. Meine
Stiefkinder lehnen
mich ab (2002) (2002)
In:
Weg. Die Zeitschrift für
alleinerziehende und getrennte Eltern, H. 2/2002, S. 11-13
(Nachdruck aus dem gleichnamigen Text
in:
www.familienhandbuch.de, Vgl. Nr. 264)
In:
Michael Günther: Werner Rietz.
Ein Leben für die politische Bildung, Münster 2002, S. 57-69.
(Leicht
überarbeiteter Nachdruck
aus: H. Giesecke: Mein Leben ist lernen. Weinheim/München 2000, S.
96-114)
In: deutsche jugend H.
10/2002, S.
440-446 Vorbemerkung: Ich freue mich, mit dem folgenden Beitrag
der
Zeitschrift "deutsche Jugend" zu ihrem 50. Geburtstag gratulieren zu
dürfen, der ich als Leser und Autor viel für meine Arbeit in den
letzten vier Jahrzehnten zu verdanken habe.
Überblickt man
die Entwicklung der
Jugendarbeit im
Spiegel der Zeitschrift "deutsche jugend" seit etwa Mitte der achtziger
Jahre des vergangenen Jahrhunderts, dann fallen mindestens zwei
problematische Entwicklungen ins Auge - nämlich die zunehmende
Sozialpädagogisierung einerseits und, damit zusammenhängend, das
abnehmende Interesse an Bildungsarbeit andererseits(1).
Die
Sozialpädagogisierung legt den
Schwerpunkt auf
Sozialintegration und aktuelle Lebensbewältigung, also in diesem Sinne
auch auf den Umgang mit Randgruppen. Historisch gesehen war die Arbeit
mit dieser Klientel zum Zwecke ihrer gesellschaftlichen Integration
kein Kernpunkt im Selbstverständnis der Jugendarbeit, diese beruhte
vielmehr auf einem gemeinsamen Lebensgefühl solcher Jugendlicher, die
nach einer "jugendgemäßen" Lebensform suchten und dabei - abgesehen von
der Zeit des Nationalsozialismus - auf eine Reihe von unterschiedlichen
politischen und weltanschaulichen Optionen zurückgreifen konnten. In
dieser Form war Jugendarbeit ein Teil des Freizeitsystems und seiner
geschichtlichen Veränderung, dessen strukturelle Besonderheiten (kein
Leistungszwang, keine Leistungsbewertung, Freiwilligkeit) auch sie
bestimmten. Auf
diesem Hintergrund hatte auch
Bildungsarbeit
lange keine Tradition in der Jugendarbeit - außer in der
sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen, aber dort hatte sie
politisch-kompensatorische Hintergründe, weil eine selbstständige
politische Tätigkeit von Jugendverbänden in diesen Organisationen nicht
erwünscht war(2). Erst nach dem
Zweiten Weltkrieg
geriet Bildung -
insbesondere als politische Bildung - auf dem Hintergrund der
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus
sowie zur Verbreitung demokratischer Vorstellungen in der Jugend schon
deshalb in den Aufgabenkatalog der Jugendarbeit, weil sie relativ
großzügig öffentlich subventioniert wurde. Aber auch dabei ging es
zunächst nicht um inhaltliche Analysen im Sinne einer wissenschaftlich
fundierten Aufklärung, sondern eher um kommunikative Übungen: die
jungen Deutschen sollten lernen, einander zuzuhören, argumentativ
miteinander umzugehen, fair zu diskutieren, Konflikte zu schlichten -
was sie in der Hitlerjugend nicht hatten lernen können. Parallel dazu
wurde seit den fünfziger Jahren "Bildung" als eine mögliche
Freizeitbeschäftigung entdeckt und öffentlich propagiert; diese Tendenz
übertrug sich auch auf die Jugendarbeit, die darin eine neue Aufgabe
erblickte, zumal sie sich damals in einer Krise befand, nachdem sie
weitgehend ungebrochen an ihre Tradition vor 1933 angeknüpft hatte(3).
Auf Inhalte bezogene, über eine rein
pragmatisch-technisch
orientierte Mitarbeiterfortbildung hinaus gehende Bildungsarbeit wurde
in der Jugendarbeit jedoch erst in dem Maße möglich, wie die vorher
dominierenden ehren- und nebenamtlichen Mitarbeiter durch
hauptamtliche, die von den Sachverhalten genügend verstanden, wenn
nicht ersetzt, so doch in zunehmendem Maße ergänzt wurden. Vorreiter
und didaktische Modellgeber waren hier vor allem einige
Jugendbildungsstätten – insbesondere Vlotho, Steinkimmen und später
Dörnberg(4). Die
didaktisch-methodische Reflexion
hatte damals bereits
einen so hohen Stand erreicht, dass später sogar die Schulpädagogik
davon profitierte. Warum das in den letzten Jahrzehnten regelrecht
vergessen wurde und die Bildungsarbeit aus dem Angebotskatalog der
Jugendarbeit weitgehend verschwand, wäre genauer zu untersuchen;
wahrscheinlich liegt das nicht zuletzt daran, dass sich auch in der
übrigen Gesellschaft ein ähnlicher Trend durchsetzte.
Und nun kommt der
"Pisa-Schock", der
die Kultusminister, die Politiker und die einschlägigen
440
Verbände zu
teilweise hektischen
Reaktionen und zu
allen möglichen Vorschlägen veranlasst, um die Resultate unseres
Schulwesens zu verbessern; Bildung ist fast über Nacht zu einem
"Mega-Thema" geworden. Nun sollen z.B. mehr oder gar flächendeckend
Ganztagsschulen eingerichtet werden, in denen sich die Schüler bis etwa
16:00 Uhr aufhalten; lediglich etwa fünf Prozent der allgemeinbildenden
Schulen bieten diese Möglichkeit gegenwärtig an.
Dieser Vorschlag
fand erhebliche
Zustimmung in der
Bevölkerung und scheint eine Reihe von Problemen auf einen Schlag zu
lösen: Eltern - vor allem Mütter - könnten gelassener ihren beruflichen
Pflichten nachgehen bzw. eine berufliche Tätigkeit aufnehmen, zumal
ihren Kindern eine ordentliche Mittagsmahlzeit gesichert wäre; die
Schüler – vor allem die weniger leistungsfähigen – könnten besser
gefördert werden; die erweiterte Schulzeit würde - so hofft man -
allgemein zu höheren Schulleistungen führen.
Ganztagsschulen.
Eher mehr Probleme als weniger?
Angesichts
dieser Euphorie wächst
bei den
Verbänden und Einrichtungen der Jugendarbeit die Sorge, die Ausdehnung
der Schule in den Nachmittag hinein könnte ihnen die Teilnehmer für
ihre eigenen Veranstaltungen entziehen oder sie müssten ihre Programme
künftig zumindest teilweise unter den besonderen Rahmenbedingungen der
Schule anbieten. Aus folgenden Gründen teile ich diese Befürchtung
nicht:
- Man muss unterscheiden zwischen
Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung.
Im Fall der
Ganztagsschule
wird die gesamte zur Verfügung stehende Zeit für schulische Zwecke
genutzt, also im Wesentlichen durch Unterricht bzw. durch damit
zusammenhängende Projekte oder Arbeitsgemeinschaften. Diese Variante
ergibt nur Sinn, wenn die Teilnahme der Schüler verbindlich ist, weil
sie ja sonst Unterricht versäumen würden. Deshalb spricht man in diesem
Falle auch von einer gebundenen oder geschlossenen
Ganztagsschule. Sie erfordert etwa 30 bis 40 Prozent mehr Lehrer und
dürfte deshalb schon aus Kostengründen nicht zur Normalschule werden –
abgesehen davon, dass mittelfristig gar nicht genug Lehrer zur
Verfügung stehen würden. Bei der Ganztagsbetreuung
jedoch - auch
"offene Ganztagsschule" oder "Schule mit Ganztagsbetreuung" genannt -
findet der Unterricht wie üblich am Vormittag statt, die
Nachmittagsangebote bestehen dann neben der Hausaufgabenhilfe und
speziellen Fördermaßnahmen aus eher freizeitpädagogischen Projekten.
Die können den Schülern bzw. deren Eltern nur als freiwilliges
Angebot angedient werden und befinden sich deshalb im Wettbewerb mit
den Angeboten der Jugendarbeit. Diejenigen Kinder und Jugendlichen, die
keine nennenswerten Schulprobleme haben und von sich aus - auch in den
Augen ihrer Eltern - pädagogisch akzeptable Freizeitinteressen zum
Beispiel im Rahmen der Jugendarbeit verfolgen, werden wenig Interesse
verspüren, ihre Schulzeit auf den Nachmittag auszudehnen, wenn es dafür
keine zwingenden Gründe gibt. - Diskutiert wird der
Ganztagsbetrieb ohnehin nur
für die Sekundarstufe I, die Oberstufe des Gymnasiums, aus der sich
zahlreiche nebenamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter rekrutieren, ist
davon prinzipiell nicht betroffen - abgesehen davon, dass auch jetzt
schon manche Unterrichtsstunden oder Arbeitsgemeinschaften aus
technischen Gründen auf den Nachmittag verlegt werden müssen.
- Überzeugend an
"Ganztagsbetreuung" durch die
Schule ist weniger der schulpädagogische als vielmehr der
sozialpädagogische Aspekt – als attraktives Gegenangebot zu einem oft
tristen Fernsehalltag und Straßenmilieu, wo die Chancen der
Jugendarbeit Fuß zu fassen ohnehin gering sind. Vor allem für jüngere
Schüler (mindestens bis zum 4. Schuljahr) in so genannten "sozialen
Brennpunkten" wäre ein solches Angebot ein Segen; deshalb sollten
Schulen in solchen Regionen bevorzugt mit entsprechenden personellen
und materiellen Ressourcen ausgestattet werden. Der oft zu hörende
Einwand, dies diskriminiere bestimmte Kinder bzw. soziale Schichten,
ist abwegig. Das "kulturelle Kapital" (Bourdieu) ist in der
Gesellschaft nun einmal sehr ungleich verteilt, und es kann nicht
ehrenrührig sein, denjenigen, die von Hause aus zu we-
441
nig davon
mitbekommen haben,
zusätzlich etwas zu
vermitteln, ohne - wie beim Kindergeld - auch diejenigen zu
berücksichtigen oder gar zu nötigen, die das nicht brauchen.
- Der
versorgungsgerechte Kernpunkt
ist offenbar
das verlässliche Mittagessen, und das sollte endlich für jeden Schüler,
der das wünscht, auch ermöglicht werden - auch wenn es sich um eine
Halbtagsschule handelt bzw. auch wenn der Schüler anschließend an den
weiteren Angeboten nicht mehr teilnimmt. Allerdings dürfte der Bedarf
je nach den örtlichen Bedingungen unterschiedlich sein - in ländlichen
Gebieten wohl erheblich geringer als in den großen Städten.
- Abgesehen von
relativ begrenzten
Sonderfällen wie
den oben erwähnten würden sich die meisten Schulen mit dem
Ganztagsprojekt übernehmen, weil sie dafür einen exquisiten und
vielseitig qualifizierten Lehrerstab benötigen, den sie in der Regel
nicht haben. Von der Jugendarbeit könnten die Schulen lernen, wie
schwierig es ist, älteren Kindern oder gar Jugendlichen ein Programm
anzubieten, das allenfalls von Minderheiten für interessant gehalten
wird; in der Jugendarbeit können die Unzufriedenen mit den Füßen
abstimmen, in der Schule werden sie vielfach mit noch größerer Renitenz
reagieren als heute schon am Vormittag, wenn sie dort zwangsweise auch
noch den Nachmittag verbringen müssten. Laut PISA-Studie ist das
schlechte Abschneiden der deutschen Schüler vor allem auf mangelnde
Qualität des Unterrichts zurückzuführen. Lediglich mehr von dem zu
veranstalten, was nach diesen Ergebnissen offensichtlich versagt hat,
kann keinen Sinn machen. Zudem gehen die Meinungen darüber, was unter
Unterricht überhaupt zu verstehen sei, inzwischen so weit auseinander,
dass sie kaum noch auf die gleiche Sache zu beziehen sind. Eine offene
Debatte darüber würde aber aufdecken, dass der gesellschaftliche
Konsens über Aufgaben und Ziele der Schule längst zusammengebrochen
ist; die Schule steckt in einer sehr viel tieferen Krise, als die
Öffentlichkeit wahrhaben will. Abgesehen davon lässt sich die für
schulisches Lernen nötige Anspannung und Konzentration nicht einfach
erhöhen, auch wenn dafür gelockerte Formen wie Projekte, Wahlfächer und
Interessengruppen angepriesen werden. Die freieren Formen des
schulischen Lernens können weitaus anstrengender sein als der
klassische Frontalunterricht. Dass der Schulunterricht auf den
Vormittag beschränkt ist, hat auch seinen guten Sinn; die Schüler
müssen auch sein Ende im Blick haben können. Die begrenzte Zeit muss
andererseits die Lehrer dazu anhalten, ihre Unterrichtsarbeit auf das
Wesentliche zu konzentrieren; mehr Zeit verspricht per se noch keine
bessere Qualität. Die Ausdehnung der Schulzeit wäre im Bewusstsein der
Schüler ebenfalls Schule - wie auch immer ihre Veranstaltungen genannt
und gestaltet werden mögen. Aus der Sicht zumindest der älteren Schüler
macht es einen erheblichen Unterschied, ob sie sich unter den
Bedingungen der Schule oder der Freizeit Anstrengungen zumuten. Mit
einem Wort: Die Schule wird sich nur dann sanieren und im
internationalen Vergleich besser abschneiden, wenn sie sich auf ihr
Kerngeschäft - den Unterricht – besinnt und konzentriert, nicht
dadurch, dass sie sich mit dem Ganztagsbetrieb auf eine neue
Unübersichtlichkeit einlässt; dass dabei auch die
didaktisch-methodischen Varianten und die Sozialbeziehungen zwischen
Schülern und Lehrern auf dem Prüfstand gehören, versteht sich von
selbst.
- Selbst wenn Ganztagsschulen sich
in der einen
oder anderen Variante durchsetzen sollten, hätten die Schüler in dieser
Zeit auch ihre Hausaufgaben erledigt und stünden davon unbelastet am
späten Nachmittag für die Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung.
Eigenständigkeit
der Jugendarbeit
Weil
sich in Deutschland seit über
100
Jahren die Vormittagsschule als Normalschule durchgesetzt hat, hat sich
hier im Unterschied zu anderen Ländern eine breite außerschulische
Kultur für Kinder und Jugendliche entwickelt. Dazu zählen nicht nur die
vielfältigen Angebote der Jugendarbeit, sondern auch die nicht weniger
breiten des Bildungsmarktes - von den Reitschulen über die Musikschulen
bis zum Balletttanz. Dies nicht zu sehen, sondern immer wieder auf die
erheblich größere Zahl von Ganztagsschulen im Ausland zu verweisen,
zeigt, mit welcher historischen Bor- 442
niertheit bei uns
bildungspolitische
Fragen
diskutiert werden. Es ist zudem keineswegs sicher, dass angesichts der
Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft und einer hochkomplexen
kulturellen Ausdifferenzierung das flächendeckende Überziehen von
Kindheit und Jugend mit Ganztagsschulen "moderner" ist als die
bisherige deutsche Lösung einer Trennung von Schule und Freizeit.
Das Verhältnis
von Schule und
Jugendarbeit wurde
schon Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre diskutiert, als die
Debatte um die Gesamtschule begann, die im Idealfall als Ganztagsschule
gedacht und gerade deshalb für viele Eltern interessant war. Schon
damals kritisierten die Verbände der außerschulischen Bildung und
Erziehung den Monopolanspruch der Schule, die sich übernehme, wenn sie
sich auch noch die Freizeitpädagogik einfach einverleiben wolle. Die
Vertreter der Gesamtschule reagierten mit dem Konzept der "Offenen
Schule", einer Schule also, die sich in ihre Umgebung hinein öffnen und
Anregungen von dort aufgreifen sollte. Daraus ist bekanntlich nicht
viel geworden, weil die Schule alles, was sie anfasst, schon aus
systemischen Gründen wieder zur Schule macht.
Der pädagogische
Zwischenraum
"Kinder- und
Jugendarbeit" hat in der modernen Gesellschaft einen eigenständigen
Wert bekommen, der weder von der Schule noch von der Familie wieder
übernommen werden kann. Die Möglichkeiten des sozialen Lernens zum
Beispiel sind in der Kindergruppe oder im Jugendverband ganz andere,
als sie im Rahmen der Familie oder der Schule gegeben sind; hier wie
dort dominieren ganz unterschiedliche rechtliche und soziale
Anforderungen. Die für die Jugendarbeit charakteristischen Merkmale wie
Freiwilligkeit der Teilnahme und Verzicht auf Leistungskontrollen
prägen die Beziehungen zwischen Pädagogen und Kindern und der Kinder
untereinander in besonderer Weise. Unter schulischen Bedingungen kann
das nicht kopiert werden. Überhaupt müssen wir uns an den Gedanken
gewöhnen, dass nicht alle wünschenswerten Lernleistungen an ein und
demselben sozialen Ort möglich sind; auch diejenigen, die sich
zusätzlich durch die Ausdehnung der Schule auf den Nachmittag ergeben
könnten, sind geringer als oft angenommen wird, weil wichtige
Sozialsituationen dort aus faktischen oder aus rechtlichen Gründen gar
nicht herstellbar sind. In der Schule gibt es keine Diskothek -
jedenfalls nicht unter Realbedingungen -, kein Kaufhaus, keine
Straßenclique, weder einen Markt noch eine Fernsehberieselung.
Welche
Schlussfolgerungen ergeben
sich nun aus
dieser knappen Analyse für die Beziehungen zwischen Schule und
Jugendarbeit? Im Falle der "geschlossenen Ganztagsschule" wird die
Jugendarbeit institutionell kaum eine Rolle spielen. Allenfalls
einzelne Personen dürften von Einzelschulen für bestimmte Projekte
unter Vertrag genommen werden. Bei den "offenen Ganztagsschulen" jedoch
könnten institutionell verbindliche Kooperationen in Aussicht stehen,
deren Schwierigkeiten jedoch nicht unterschätzt werden sollten. So ist
zum Beispiel zu klären, ob die Zusammenarbeit unter den rechtlichen
Bedingungen der Schule oder eines außerschulischen Trägers gestaltet
werden soll, beides gemischt dürfte nicht funktionieren. Denkbar wären
verschiedene Varianten: ein Träger übernimmt unter der Hoheit der
Schule in deren Räumen eine bestimmte Aufgabe; oder ein Träger wird
unter eigener Regie in einer Schule tätig; oder interessierte Schüler
suchen im Anschluss an das Mittagessen in Absprache mit Elternhaus und
Schule ein bestimmtes Angebot eines Trägers auf; oder die Schule begibt
sich selbst unter die Anbieter von Jugendarbeit, so dass daran nicht
nur die eigenen Schülerinnen und Schüler, sondern auch andere
interessierte Gleichaltrige – etwa Freunde – teilnehmen können. Aus
einer solchen Konstruktion könnte sich eine "Offene Schule" entwickeln,
die diese Bezeichnung verdient, weil sie ihre Ressourcen vom Schwimmbad
über den Computerraum bis zur Bibliothek zur Verfügung stellt und zudem
brachliegendes pädagogisches Kapital aus ihrem Umfeld zu mobilisieren
vermag. Soll das Angebot - in welcher Variante auch immer -
bedarfsgerecht sein, müssten die örtlichen Gegebenheiten und
Bedürfnisse ermittelt und berücksichtigt werden; dies könnte geschehen
im Rahmen eines informellen "runden Tisches", der nicht zuletzt auch
die Aufgabe hätte, den Schülern die vorhandenen außerschulischen
pädagogischen Möglichkeiten bekannt zu machen. "Kooperation" ist jedoch
kein Selbstzweck und dient oft lediglich dazu, präzise
Verantwortlichkeiten 443
zum Verschwinden
zu bringen;
deshalb sollte die
Jugendarbeit institutionell nur dann dazu bereit sein, wenn sie dies im
Rahmen ihrer eigenen Bedingungen tun kann. In diesem Punkte steht nicht
die Jugendarbeit, sondern die Schule unter Druck - abgesehen allerdings
von der Gefahr, dass die öffentlichen Mittel auf Kosten der
Jugendarbeit umgeschichtet werden. Über die
Ziele der Jugendarbeit neu nachdenken
Um dies zu
verhindern, muss sie
ihren besonderen
Beitrag im Rahmen der gesamten Sozialisation von Kindern und
Jugendlichen erneut formulieren und das Ergebnis wirkungsvoll
öffentlich vertreten. Wenn sie sich dabei zu sehr an den aktuellen
schulpädagogischen Debatten orientiert und sich gar in die tiefgehende
Schulkrise involvieren lässt, läuft sie Gefahr, ihre eigentümliche
Substanz aus dem Blick zu verlieren. Gewiss geht es dabei auch - aber
nicht nur - um die Wiederentdeckung der Bildungsaufgabe. Nachzudenken
wäre deshalb unter anderem über folgende Gesichtspunkte:
- Jugendarbeit
bewegt sich auf dem
Freizeitmarkt
als ein Teil davon. Diese Tatsache ist eine nicht hintergehbare
Voraussetzung und bestimmt die Erwartungen der Teilnehmer ebenso wie
die - konjunkturell wechselnden - Chancen und Grenzen der pädagogischen
Möglichkeiten. Auf dem Freizeitmarkt entfaltet und verändert sich der
kulturelle Zeitgeist, den die Jugendarbeit im Wesentlichen aufgreifen
muss, gegen den sie nur sehr begrenzt Alternativen mobilisieren kann -
zum Beispiel dadurch, dass sie gegen den Strom schwimmende Minderheiten
anspricht. Deshalb werden Bildungsangebote nur dann eine Chance haben,
wenn sie im Rahmen des Zeitgeistes wieder "in" und auf dem
Freizeitmarkt "verkäuflich" sind. Aber auch dann werden die eher
geselligen, nicht an feste Inhalte geknüpften Interessen der
Jugendlichen bestehen bleiben, und sie verdienen schon wegen des
"vorbeugenden Jugendschutzes" berücksichtigt zu bleiben. - Jugendarbeit ist
zuständig für
normal integrierte
Kinder und Jugendliche, für die Arbeit mit Randgruppen ist eine
spezifische professionelle Kompetenz erforderlich. Das schließt nicht
aus, dass Träger und Personen der Jugendarbeit sich auch um Randgruppen
kümmern, sofern diese sich im Rahmen gesellschaftlicher Normalität
bewegen können. Die teilweise problematischen Erfahrungen mit der sog.
"akzeptierenden Jugendarbeit" haben jedoch auch die Grenzen zum
Bewusstsein gebracht und bewiesen, dass manche Jugendliche etwas
brauchen, was die Jugendarbeit ihnen mangels Kompetenz nicht bieten
kann, und sie sollte sich dagegen verwahren, dass sie sozialpolitisch
als preiswerter Lückenbüßer benutzt wird. Der Denkfehler liegt nicht
darin, dass man sich um diese Jugendlichen kümmert und sie
einzubeziehen versucht; problematisch wird es jedoch, wenn man ihnen
die Definition des Standards dafür überlässt. "Normale" Jugendarbeit
kann man zunächst einmal nur mit "normalen" Jugendlichen machen, also
mit solchen, die die Grundregeln des Verhaltens in der Öffentlichkeit
bereits begriffen haben. Will man davon abweichende Jugendliche in eine
solche Kultur integrieren, muss man zunächst einmal die Defizite ihrer
Verhaltensmöglichkeiten erkennen und entsprechend mit ihnen bearbeiten.
Sonst erscheint das Randständige als das Normale, und damit ist
niemandem geholfen, schon gar nicht den abweichenden Jugendlichen
selbst. Jugendarbeit ist pädagogisch gesehen dazu da, Kindern und
Jugendlichen zusätzliche Lernerfahrungen zu
ermöglichen, die
ihnen an ihren anderen sozialen Orten nicht zur Verfügung stehen -
gerade auch nicht in der Schule. - Die pädagogische
Leitvorstellung
sollte nicht vom Begriff der Bildung, sondern von
dem des Lernens
ausgehen. Im Rahmen der besonderen strukturellen Bedingungen der
Jugendarbeit sind eine Vielzahl von kognitiven, emotionalen und
sozialen Lernleistungen möglich, die teilweise gar nicht ins
Bewusstsein dringen, aber dennoch in das Verhaltensrepertoire eingehen.
Sie ergeben sich teils aus dem Umgang mit Gleichaltrigen und mit
Erwachsenen, teils aus der Verfolgung gemeinsamer Aufgaben und Ziele.
Der Eigenwert solcher Lernleistungen muss nicht zusätzlich mit dem
Begriff "Bildung" geschmückt werden. Sonst beteiligt man sich nur an
der Inflationierung dieses Wortes, die Politi-
444
ker, Funktionäre
und Medien seit
langem betreiben
und die folgerichtig schon die Schulen intellektuell mit in den Ruin
getrieben hat. Alles, was irgendwie für wünschenswert gehalten wird,
wird als "Bildung" bezeichnet; dazu gehört auch die Ausdehnung auf
Komposita wie Bildungsforschung, Bildungswesen, Bildungsökonomie,
Gemütsbildung, Seniorenbildung, um nur einige zu nennen. Auch die oft
zu vernehmende Ansicht, dass unter Bildung jede Art von
selbstreflexiver geistiger Aktivität zu verstehen sei, führt in die
Irre, insofern die Frage offen bleibt, an welchen Maßstäben dies
geschieht. Problematisierung
des Bildungsbegriffs
Bildung ist ein
Sonderfall innerhalb
der
Vielfalt von Lernmöglichkeiten. Wenn man die historischen Variationen,
Fehldeutungen und Fehlentwicklungen außer Acht lässt und auf den Kern
der Problemformulierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
zurückblickt, ist Bildung ein Programm zur Produktion der je eigenen
Individualität. Darunter wird jedoch nicht bloße Subjektivität oder
eine genetische Vorgabe im Sinne einer herauszulockenden
innerpsychischen Tatsache, sondern eine Aufgabe
verstanden,
nämlich das Nichtsubjektive, die außersubjektive Welt, mit ihren
Regeln, Strukturen und Gesetzen ernst zu nehmen; Individualisierung
erwächst als Resultat aus einem spezifischen
geistigen Prozess,
nicht aus bloßer Wahrnehmung von Optionen. Dieses Projekt der
Selbstaufklärung ist an Weltaufklärung gebunden und verschränkt den
Prozess der Herausarbeitung der Individualität deshalb mit objektiven
Anforderungen. Wissen, dass in diesem Zusammenhang erworben wird, ist
hier jedoch kein Selbstzweck, sondern ein notwendiges Mittel,
um sich zutreffende Vorstellungen
über die Welt aufzubauen. Es geht demnach um eine eigentümliche
Beziehung von Sache und Person, nicht um die bloße Einverleibung einer
bestimmten Wissensmenge - was die Schule vielfach bildungsfeindlich
macht - , aber auch nicht um die Beliebigkeit von persönlichen
Interpretationen oder wenn diese durch die Zufälligkeit einer
Gesprächssituation zu Stande kommen. Der je individuelle
Bildungsprozess beruht auf Auseinandersetzung mit
der Welt, auf
dem immer wiederholten Abarbeiten der Differenz zwischen der bisherigen
Erfahrung einerseits und den ihr widersprechenden Ansprüchen der
Bildungsstoffe bzw. der Lebensanforderungen andererseits. Diese
Konfrontation ist nicht möglich, ohne immer wieder Sinn- und
Moralfragen nicht nur an die Welt, sondern auch an sich selbst zu
richten. Eine in diesem Sinne selbstreflexive Grundhaltung macht den
eigentlichen Kern von Bildungsprozessen aus, aber sie ist ein auch
psychisch mühsames Unterfangen, weil sie mit ständiger Verunsicherung
verbunden ist. Deshalb kann das Leben nicht allein aus
Bildungsanstrengungen bestehen, es gibt vieles Wichtige, das damit
wenig zu tun hat, im Gegenteil einer eher dumpfen, unreflektierten
Selbstverständlichkeit bedarf, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Wenn also die Jugendarbeit in diesem Sinne Bildungsveranstaltungen
anbietet, tritt sie damit in Distanz zur "normalen"
Selbstverständlichkeit etwa des üblichen Gruppenlebens. Außerdem muss
sie dann dafür sorgen, dass höchstmögliche Sachgerechtigkeit dabei
gewährleistet ist; entscheidend ist das ernsthafte Bestreben, einer
Sache auf den Grund zu gehen und dabei bisherige
Urteile und
Werteinstellungen einer Überprüfung zu unterziehen. Das Problem dabei
ist, dass die so wichtige subjektive Seite solcher Lernprozesse weder
planbar noch anschließend messbar ist; das ist vielmehr nur möglich für
den sachbezogenen Aspekt. Die besondere Chance
der
Jugendarbeit besteht nun darin, dass sie in ihren Feldern die dafür
nötige wenigstens zeitweise Distanz
zu fremdbestimmten Verwertungsinteressen - etwa einer lediglich
funktional verstandenen wirtschaftlichen Brauchbarkeit oder auch des
schulischen Zensuren-Fetischismus - arrangieren kann. Im Umfeld eines
solchen Abstandes können Kinder und Jugendliche ihre geistigen
Fähigkeiten neu erfahren. Das gilt auch für schulbezogene Themen:
Nachhilfeunterricht etwa Rahmen eines Angebotes der Jugendarbeit kann
nicht nur finanzschwachen Familien eine Hilfe bieten, sondern bei den
Schülern vielleicht auch dank des bildungsfreundlichen Ambiente
geistige Interessen mobilisieren, die in der Schule nicht zum Zuge
gekommen sind, aber nun dorthin zurückwirken. Oder didaktisch
fantasievolle Arrangements zur Sprachförderung führen möglicherweise zu
Leseinteressen, die 445
vorher nicht zu
erkennen waren.
Wenn die
Jugendarbeit vom Sinn der Bildung ausgeht, wird sie auch die kleinen
Schritte entdecken, die auf den Weg dorthin führen.
Soll dabei jedoch
nicht
Dilettantismus triumphieren,
werden Mitarbeiter gebraucht, die genügend von den zu behandelnden
Sachverhalten verstehen, sonst lohnt sich die geistige Anstrengung
nicht, die die Kinder und Jugendlichen ihrerseits aufbringen müssen -
dieses Problem haben sie oft schon in ihren infantilisierten Schulen.
Ich weiß nicht, ob solche Mitarbeiter gegenwärtig in genügender Zahl
zur Verfügung stehen; wenn nicht, bleibt die Frage, woher sie kommen
sollen. Außerdem muss die Jugendarbeit sich mehr für "elitäre"
Minderheiten interessieren, z.B. für diejenigen Schülerinnen und
Schüler, die in ihren Schulen weit unterfordert
sind. Die
Wiederentdeckung der Bildungsarbeit erfordert also mehr als nur eine
Programmänderung, sie wird ohne Auseinandersetzungen etwa mit
übertriebenen egalitären Tendenzen, mit den die gegenwärtige
öffentliche Diskussion beherrschenden vollmundigen pädagogischen
Zauberworten sowie über die erforderliche Qualifizierung von
Mitarbeitern kaum zu haben sein. Anmerkungen:
1
Vgl. dazu die Beiträge in: deutsche jugend, Heft 7-8/2002
2
Vgl. H. Giesecke: Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, München 1981;
als Volltext unter: www.hermann-giesecke.de/wv.htm
3
Vgl. Martin Faltermaier (Hrsg.).: Nachdenken über Jugendarbeit, München
1983
4
Zur Bildungsarbeit in Steinkimmen:
H.-H. Schepp: Offene Jugendarbeit, Weinheim 1963 - H. Giesecke:
Politische Bildung in der Jugendarbeit, München 1966, als Volltext
unter: www.hermann-giesecke.de/steink.htm – Zur Arbeit im Jugendhof
Dörnberg: U. Lüers u. a.:
Selbsterfahrung und Klassenlage, München 1971 – Ferner:
H. Kentler: Jugendarbeit in der Industriewelt, München 2. Aufl. 1962
In:
CDU Nordrhein-Westfalen (Hrsg.):
Blickpunkt Schule. Reden vom Kongress "Blickpunkt Schule" der CDU NRW,
29 Juni 2002, Wasserwerk Bonn, S. 31-36
Sieht man sich
die Ergebnisse von
PISA an, muss man
zu der Überzeugung gelangen, dass eine verbesserte Unterrichtskultur
unbedingt erforderlich ist. Aber was heißt das?
"Guter Unterricht
ist, wenn nicht
mehr unterrichtet
wird." So lautet eine oft zu hörende und zu lesende Parole. Tatsächlich
gehen die Meinungen darüber, was unter Unterricht überhaupt noch zu
verstehen sei, inzwischen so weit auseinander, dass sie kaum noch auf
einen Nenner zu bringen sind. Diese tiefe Kluft signalisiert einen
Konsensverlust, den es nicht einmal auf dem Höhepunkt der
Auseinandersetzungen um die Gesamtschule in den 70er Jahren gegeben
hat. Wie die vielfältigen Reaktionen auf PISA zeigen, befinden wir uns
in einer Art von Schulkulturkampf, der weniger parteipolitische als
vielmehr berufspolitische Hintergründe hat. Was in den Schulen wirklich
geschieht, wissen wir nicht zuverlässig, auch PISA gibt uns darüber
keine hinreichende Auskunft. Vieles spricht aber dafür, dass dort im
Hinblick auf einen geordneten Unterricht teilweise chaotische Zustände
herrschen, die durch gewisse Zauberworte des pädagogischen Zeitgeistes
schön geredet werden. Deshalb führt es nicht
weiter,
einfach den wohl
klingenden Zauberworten der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion
weiter zu folgen, vielmehr müssen wir die Überlegungen vom Fundament
her neu aufbauen. Welche Faktoren gehören zu einer befriedigenden und
erfolgreichen Unterrichtskultur? Unter "Kultur" verstehen ich hier
einen von Menschen gestalteten Handlungszusammenhang, der bestimmten
Zielen folgt und auf gemeinsam anerkannten Werten beruht. Dazu in der
von mir erwarteten Kürze die folgenden Hinweise:
1. Unterricht
geht vom Lehrer
aus, nicht vom
Schüler und auch nicht von den Mitschülern - so wichtig diese für das
Unterrichtsgeschehen sind. Der Lehrer hat das Pensum der
Grundbildung, das die Schüler noch vor sich haben, bereits hinter sich;
er hat die Sachverhalte studiert, er kann Wichtiges von weniger
Wichtigem unterscheiden, er kennt die Methoden des Lernens. Die
führende Bedeutung 31
des Lehrers
bleibt auch dort
erhalten, wo sie wie
bei bestimmten didaktisch-methodischen Arrangements zu verschwinden
scheint. Ohne Lehrer kann es alle möglichen Lernsituationen und
Lernerfolge geben, aber keinen Unterricht.
Das Leben selbst
lehrt zwar vieles
und wichtiges,
aber es unterrichtet nicht. Unterricht geschieht immer in Distanz zum
Leben, in das man anschließend wieder zurückgekehrt, und in dafür
eigens errichteten gewissermaßen künstlichen sozialen Orten wie Schule
und Hochschule. Diese Orte sind Institutionen sui generis, nicht
deckungsgleich mit anderen Institutionen wie etwa Industriebetriebe,
bedürfen deshalb eigentümlicher Maßstäbe und Regeln, die nicht einfach
von anderen gesellschaftlichen Orten her importiert werden können.
Unterricht ist eine geniale kulturelle Erfindung, weil sie uns
ermöglicht, die Unmittelbarkeit unserer Existenz zu überschreiten und
für noch unbekannte spätere Verwendungssituationen gleichsam auf Vorrat
zu lernen; nur wenn die künftigen Handlungssituationen weitgehend
unbekannt sind, ist Unterricht nötig; sonst könnte man sich auf Lernen
durch Mitmachen und Imitieren beschränken. Unterricht ist zudem eine
besonders effektive Form der Aneignung komplexer Sachzusammenhänge.
2. Unterricht
geht primär von
den Sachverhalten aus, erst sekundär auch von den sog. Bedürfnissen der
Schüler.
Er soll vorhandene Interessen aufgreifen, aber mehr noch neue entstehen
lassen. Man kann die Didaktik und Methodik verbessern, den Umgangsstil
modernisieren, aber es macht keinen Sinn, die Sachverhalte, um die es
gehen muss, einer mehr oder weniger interessierten Nachfrage anzupassen
oder von einem begrenzten Leistungswillen der Schüler diktieren zu
lassen. Viele aktuelle schulpädagogische Erfindungen beruhen nicht auf
pädagogischer Einsicht, sondern auf Anpassung an konsumorientierte
Einstellungen und Verhaltensweisen der Schüler einschließlich ihrer
Disziplinprobleme. 3. Unterricht,
jedenfalls an den
allgemein bildenden Schulen, hat die Bildung der Schüler zum Ziel.
Zu diesem Zweck konfrontiert
er die bisherigen Erfahrungen der Schüler mit neuen, in den
Schulstoffen gedanklich und methodisch geordneten, und vor allem auch
mit denjenigen Werten und Normen, die darin enthalten sind.
Bildungsprozesse entstehen nicht durch Fortschreibung bereits vorhan-
32
denen
Erfahrungen, sondern durch
Widerstand dagegen.
Sie sind das Ergebnis subjektiver Leistungen der einzelnen Schüler,
nämlich der Art und Weise, wie sie sich die Stoffe aneignen. Diese
Prozesse können vom Lehrer angeregt, aber letztlich nicht erzwungen und
schon gar nicht determiniert werden. Sie sind kaum messbar, weil sie
nicht in kollektivierbaren Abstraktionen aufgehen, sondern eine je
persönliche Version zum Ausdruck bringen. Diese subjektive Aneignung
kann auch verweigert werden, dann bleibt bloß äußerliches Lernen von
Informationen übrig. Gerade in Deutschland scheint es - im Unterschied
zu einem Land wie Finnland - unter Schülern wie Studenten eine
zunehmende verinnerlichte Bildungsverweigerung zu geben, also einen
Widerstand dagegen, das eigene Ich durch die Herausforderungen der
Schulstoffe kritisch zu bearbeiten. "Cool-bleiben" heißt da die Devise.
Diese subjektive
Seite des
Bildungsprozesses wird
oft vernachlässigt. Sie ist zwar im Kern Privatsache der Schüler,
deshalb nicht recht verwaltungsfähig und messbar, muss aber durch den
Unterricht angeregt werden - z.B. durch einen Wechsel vom systematisch
orientierten Frontalunterricht zum problemorientierten Anwenden sowie
durch Phasen konzentrierten gemeinsamen Nachdenkens; dafür müssen die
Lehrpläne Zeit lassen. 4. Unterrichten
ist eine Form
des sozialen Handelns.
Es richtet sich auf das Handeln anderer - der Schüler - und wirkt von
dort aus zurück. Erfolg kann nur eintreten, wenn die Beteiligten sich
über gemeinsame Ziele und Regeln verständigt haben.
Daraus folgt,
dass auch die Schüler
eine
Mitverantwortung für das Gelingen des Unterrichts haben. Davon ist
jedoch weit und breit erstaunlicherweise wenig zu hören, die
vorherrschende Meinung ist, dass es zum Beruf des Lehrers gehört, die
Schüler zur Mitwirkung zu werben, zu motivieren. Diese Aufgabe setzt
aber voraus, dass Verweigerung nicht grundsätzlich stattfindet, sondern
lediglich auf solchen Abweichungen beruht, die kommunikativ und im
Dialog behoben werden können. Ich halte es für pädagogisch höchst
bedenklich, Schüler einseitig als Opfer von irgendetwas anzusehen und
ihnen damit Ausreden für Fehlverhalten anzubieten. Wer immer davon
etwas haben mag, die Schüler sind es nicht. Auch erfolgreiches Fördern
setzt übrigens voraus, dass der betreffende Schüler auch gefördert
werden will. 33
Unterrichten als
soziales Handeln
ist andererseits
niemals nur die Anwendung von irgendetwas, sondern stets ein Schritt
ins Ungewisse mit ungewissem Ausgang. Deshalb haben auch
wissenschaftliche Forschungen dafür immer nur einen begrenzten Wert.
Sie können dieses Handeln grundsätzlich nicht konstituieren, sondern
nur vorbereiten und aufklären. Deshalb sind Untersuchungen wie TIMSS
und PISA für den Handlungshorizont der Lehrer nur von begrenzter
Bedeutung - im Unterschied zu ihrer bildungspolitischen Relevanz. Das
gilt übrigens für andere Forschungen wie die Lernforschung auch; sie
überschwemmen inzwischen die Schulen mit immer wieder neuen
Fachterminologien, deren Nutzen doch relativ begrenzt bleibt, weil die
Ergebnisse immer erst in den Standpunkt des Handelns übersetzt werden
müssen. Geschieht das nicht, brechen neue Forschungsergebnisse nur wie
einander ablösende Moden in das Schulgeschehen ein, ohne es wirklich
verbessern zu können. Die grundlegende Handlungsstruktur des
Unterrichtens ist als eine eigentümliche gesellschaftliche Praxis der
wissenschaftlichen Aufklärung vorgegeben und nicht aus ihr deduzierbar.
5. Zu
einer akzeptablen
Unterrichtskultur gehört
auch ein angemessenes soziales und ästhetisches Ambiente - nicht nur im
jeweiligen Klassenzimmer, sondern in der gesamten Schule.
Dazu
zählen Ton und Stil des Umgangs - auch unter den Schülern, freundliche
Gestaltung der Räume - nicht nur als Aufgabe der Putzfrauen,
vorbildliches Verhalten der Lehrer, ein Klima von Gewaltlosigkeit und
Gelassenheit. Auch das Thema Disziplin gehört in diesen Zusammenhang.
Disziplinlosigkeit ist primär ein ästhetisches Problem, sie treibt die
menschlichen Beziehungen in die Verwahrlosung. Wo Schüler, von der
Institution Schule nicht geschützt, sich täglich in einem Klima von
sozialem Darwinismus behaupten müssen, kann kaum noch Energie für die
Aufgabe des Unterrichts übrig bleiben. In diesem Bereich ergeben sich
die vielleicht wichtigsten Erziehungsaufgaben der Schule.
6.
Unterrichtskultur und
Schulkultur können sich jedoch nicht nur aus sich selbst heraus
entfalten.
Sie bedürfen der Unterstützung durch eine entsprechende öffentliche
Meinung. Der Erfolg des finnischen Schulwesens - so ist zu hören -
beruhe nicht zuletzt darauf, dass dort die öffentliche Meinung hinter
den Schulen, ihren Aufgaben und den Lehrern steht. In Deutschland ist
das offenbar - im Unterschied 34
zu früheren
Zeiten - ganz anders.
Hier gibt es z.B.
ein weit verbreitetes Bündnis der Eltern mit ihren Kindern gegen die
Schule und ihre Lehrer. Es würde sich lohnen, über die Gründe dafür
einmal genauer nachzudenken. An dieser Stelle kann ich nur feststellen,
dass eine Verbesserung der Schulkultur und damit der Ergebnisse des
schulischen Lernens kaum möglich sind, ohne eine entschiedene
Unterstützung durch die öffentlichen Meinung und die tonangebenden
Medien. 7.
Keine noch so gute
Unterrichtskultur kann Selektion unter den Schülern verhindern.
Wir müssen weiterhin davon ausgehen, dass nicht jeder zu jedem
wissenschaftlichem Studium taugt, auch wenn er das Abitur hat, und dass
viele Schüler nicht in der Lage sind, die psychischen und geistigen
Anforderungen, die mit dem eigentümlichen Sinn des Unterrichts
notwendigerweise verbunden sind, über ein bestimmtes Maß hinaus
auszuhalten. Die Frage ist nur, wie wir mit dieser Tatsache umgehen. An
dieser Stelle kann ich nur ein prinzipielles Ziel vorschlagen:
Schulorganisation und Unterrichtskultur so anzulegen, dass jedes Kind
diejenigen Fähigkeiten, die die Schule zu fördern vermag, optimal
ausreizen kann und dass es diese Chance generell auch so erlebt.
8. Unterrichtskultur
kann sich
nicht entfalten, wenn es nicht auch eine dementsprechende Schulkultur
gibt. Aber beides hängt in der Luft, wenn man die politische
Dimension außer Acht lässt. Schule ist eine Einrichtung der
Gesellschaft bzw. des Staates, die - wenn auch pädagogisch modifiziert
- Forderungen an die nachwachsende Generation zu
stellen hat.
Auf einen wesentlichen Grund dafür weist die PISA-Studie hin: Unsere
Gesellschaft kann sich kein soziales Dynamit leisten, das aus
massenhafter schlechter Schulbildung resultiert. In Gestalt der Schule
bietet die Gesellschaft der nachwachsenden Generation einerseits eine
Ausbildung für die optimale Partizipation an ihren beruflichen,
politischen und kulturellen Handlungsmöglichkeiten an, andererseits
braucht sie diese Fähigkeiten zu ihrer eigenen Reproduktion und
Weiterentwicklung. Beide Seiten können nur zusammen gesehen werden, den
enormen Investitionen für das Bildungswesen muss eine angemessene
Bereitschaft zur Leistung und Anstrengung seitens der Schüler - und
ihrer Eltern - entsprechen. Eine Schule, die
Leistungsanforderungen an die Schüler stellt, gilt
35
jedoch vielfach
als eine Zumutung an
deren
Persönlichkeit. Nur was der Schüler selbst lernen will, darf auch von
ihm gefordert werden – und ohne "Spaß" läuft schon gar nichts. Die
Schule habe sich nach den Bedürfnissen des Kindes zu richten, nicht
umgekehrt. Folgerichtig hat sich der pädagogische Blick immer mehr auf
die subjektive Befindlichkeit des Kindes, auf sein Ich gerichtet und
dabei die notwendige und erwünschte Selbstbildung des Subjekts über
weite Strecken in anstrengungslosen und deshalb wohlfeilen
Subjektivismus verkehrt. Diese Tendenz verkennt die zu Grunde liegenden
politischen und ökonomischen Voraussetzungen.
Leistungsfeindlichkeit
ist demnach
in dreifacher
Hinsicht problematisch: Sie dient (1.) nicht der persönlichen
Entwicklung der Schüler, ignoriert (2.) die Vorleistungen der
staatlichen Gemeinschaft und ist (3.) ökonomisch gesehen parasitär. Es
ist an der Zeit, diese außerpädagogischen Gesichtspunkte wieder
nachdrücklich zur Geltung zu bringen – auch gegenüber uneinsichtigen
Eltern. Was
die staatliche Gemeinschaft an
Leistungen von
ihrem Nachwuchs erwartet, muss knapp und bündig, möglichst für
jedermann verstehbar, in Lehrplänen oder auch nur in einem
Kerncurriculum fixiert und im Sinne einer Erfolgskontrolle in
geeigneter Weise überprüft werden. Das ist auch pädagogisch geboten,
weil sonst die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern von nicht
einsichtiger Willkür geprägt wäre. Schlussbemerkung:
Die gegenwärtige
Schuldebatte ist
bestimmt durch
eine kaum noch zu übersehende Fülle von Forderungen, Vorschlägen,
wissenschaftlich mehr oder weniger fundierten Erkenntnissen und
Ratschlägen und nicht zuletzt von einander widersprechenden
berufspolitischen Optionen. Um all das vernünftig zu sortieren, muss
man zurückgehen auf das grundlegende Handlungsmodell des Unterrichtens.
Wenn man Schüler fragt, wen sie für einen guten Lehrer halten, lautet
die Antwort sinngemäß: "Lehrer müssen etwas können, sie müssen es gut
beibringen können, und im Übrigen sollen sie nett und gerecht zu uns
sein." Das ist eine knappe und für weitere Differenzierungen durchaus
brauchbare Ausgangsformel zum Stichwort "Unterrichtskultur".
36
Schulentwicklung
zwischen Neuer Steuerung,
Organisation, Leistungsevaluation und Bildung. Weinheim und München:
Juventa-Verlag 2002, 335 S., EUR 24,50
In:
Die deutsche Schule, H.1/2003,
S. 118-119 Dass
höhere Investitionen nicht
automatisch zu
besseren Erträgen führen, weiß man aus der Betriebswirtschaft.
Angesichts knapper werdender Mittel wird seit geraumer Zeit diese
Einsicht auch auf staatliche Aufgaben übertragen - neuerdings auch im
Bildungsbereich. Spätestens seit PISA gilt die Leistung des deutschen
Schulwesens zumal angesichts der hohen Kosten als unbefriedigend.
Versuche einer zentral dirigierten Reform haben sich in den letzten
Jahrzehnten als weitgehend erfolglos erwiesen. Deshalb gilt vielen
Zeitgenossen als ausgemacht, dass Besserung nur durch Reformen auf der
Ebene der einzelnen Schule - durch deren
Autonomisierung - zu
erwarten sei. Auf diese Weise erhält die Einzelschule jedoch einen
vorher nicht gekannten Handlungsspielraum, für dessen Ausfüllung sie
folgerichtig ein neues Konzept braucht, und dafür bieten sich unter
anderem betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte wie Effektivität,
Effizienz, Organisationsmanagement und Erfolgskontrolle an.
Andererseits erwächst aus der Tendenz zur Dezentralisierung die
Notwendigkeit einer neuen "Rezentralisierung", weil nun allgemeine
Standards etwa im Sinne eines Kerncurriculum vorgegeben und auch
kontrolliert werden müssen. Auf diesem Hintergrund haben sich teilweise
heftige Debatten über die Gefahr einer Ökonomisierung der Schule und
damit der Verdrängung ihrer eigentlichen Bildungs- und
Erziehungsaufgabe ergeben. Der Aufklärung dieser
Auseinandersetzung und der
Beantwortung der Frage, ob eine ökonomische Schule auch eine
pädagogische sein könne, dient die hier anzuzeigende - als
Habilitationsschrift entstandene – Untersu-
118
chung von
Wolfgang Böttcher. Auf dem
Hintergrund der
gegenwärtigen Unzufriedenheit mit der Schule rekonstruiert er das
Projekt jener "Neuen Bildungsökonomie", indem er die ökonomischen
Kernbegriffe gründlich analysiert und sie auf ihre Verträglichkeit mit
pädagogischen Intentionen abklopft. Den zentralen Stichworten
"Organisation", "Qualität", "Dezentralisierung", Rezentralisierung",
"Standards" und "Outputkontrolle" sind jeweils eigene Kapitel gewidmet,
wobei die einschlägige amerikanische Forschung ausgiebig rezipiert
wird. Aus diesen Einzelaspekten ergibt sich "Das ökonomische Programm
der Schulreform", das der Verf. an den Beispielen "Curricula",
"Klassengröße" und "Anreizsysteme" exemplarisch konkretisiert.
Böttcher kommt zu
dem Schluss, dass
zwischen einer
ökonomischen und einer pädagogischen Schule kein grundsätzlicher
Widerspruch bestehen muss, wenn die Grenzen des ökonomischen Denkens
beachtet und kurzfristig ökonomisch inspirierte Moden vermieden werden
sowie die eigentümliche Substanz des pädagogischen Handelns im Blick
bleibt. Die Problematik wird an der empirischen Wirkungsforschung
deutlich, die selbst in den USA und erst recht bei uns unterentwickelt
ist. Aber selbst wenn sie optimal wäre bliebe die Frage, was aus ihr
ernsthaft für die pädagogische Praxis abgeleitet werden könnte. "Wie
und mit welchem Aufwand lässt sich begründet feststellen, welcher
didaktische Ansatz welchem überlegen ist, welcher Lehrer eine
Leistungszulage verdient, welche Schule ihre Schüler
unterdurchschnittlich gefördert hat?" (S.290) Möglicherweise schlägt
sich die angestrebte Ökonomisierung mit ihren eigenen Waffen, weil die
Kosten für diesen Aufwand an Empirie und Rationalität zu hoch werden
könnten. "Vielleicht kann man ja abwarten, ob solche Länder tatsächlich
erfolgreicher werden, die eine Neue Steuerung implementieren? Das wäre
auch eine Art empirischer Schulforschung." (S. 307)
Wolfgang
Böttchers nach allen
beteiligten Seiten hin
ebenso offene wie kritische, dazu materialreiche, abgewogene, aber
keineswegs standpunktlose, zudem erfreulich leserfreundliche Studie
könnte für die Versachlichung der Diskussion von großem Nutzen sein. Ob
jedoch das hier so gründlich recherchierte Reformkonzept eine
ernsthafte bildungspolitische Chance bekommt oder wie andere vor ihm
wieder in der Versenkung verschwindet, wird abzuwarten sein.
119
In:
Die Realschule in
Schleswig-Holstein, Nr. 286,
Januar 2003, S.12-22
Die öffentliche
Diskussion über die
Werte, denen die
Menschen folgen oder jedenfalls folgen sollten, hat überwiegend einen
negativen Tonfall, nämlich im Sinne eines Werteverlustes.
Das
Thema scheint die Menschen überhaupt nur in diesem Sinne zu
interessieren, obwohl das Wort "Wert" ja eigentlich positiv besetzt
ist. Folgerichtig wird in der gegenwärtigen Debatte dieser negative
Akzent mit einer ganzen Reihe von Krisenphänomenen verbunden: Erosion
des Gemeinsinns, Ellenbogengesellschaft, einseitige Freizeit- und
Spaßorientierung, Verlust moralischer Standards, ausufernder
Individualismus und Egoismus. Nun soll die Schule dagegen halten,
nämlich wieder so genannte "positive" Werte vermitteln. Über die
Schwierigkeiten und Chancen dieses Ansinnens soll ich heute zu Ihnen
sprechen. Ich möchte das in drei kleinen Kapiteln tun.
Ich möchte
1. zeigen und
begründen, warum die
sozialwissenschaftliche Werteforschung für das pädagogische Handeln
nicht besonders ergiebig ist; 2. in wesentlichen
Punkten die
Schwierigkeiten des Wertbildungsprozesses bei Kindern und Jugendlichen
skizzieren; 3.
die Chancen der Schule zur
Unterstützung dieses Prozesses beschreiben.
Zu 1: Die pädagogische
Unzulänglichkeit des
empirischen Wertebegriffs
Was wir über die
Werte wissen, die
unsere Mitmenschen vertreten und verfolgen, verdanken wir empirischen
Untersuchungen. Die Sozialwissenschaftler sprechen seit Ende der
sechziger Jahre von einem Wertewandel, bei dem
frühere Werte –
grob gesagt: die Tugenden des bürgerlichen Zeitalters - an Bedeutung
verlieren und andere in den Vordergrund treten. Das wichtigste Indiz
war damals, dass die Werteinstellungen der Jugendlichen sich von denen
der Erwachsenen - gerade auch ihrer Eltern - deutlich zu unterscheiden
begannen - und zwar quer durch alle sozialen Schichten. Seither gibt es
eine Gewichtsverlagerung von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu
Selbstentfaltungswerten. Das Selbst, die eigenen Lebensinteressen, sind
zur Leitinstanz des Denkens und Fühlens geworden. Das Bedürfnis,
Subjekt des eigenen Handelns zu sein, hat einen hohen Stellenwert
gewonnen. Nun
scheint sich seit den neunziger
Jahre eine
Trendwende abzuzeichnen. Die neue Shell-Studie 2002 zeigt, dass 85
Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 24
12
Jahren das
Familienleben, 81 Prozent
Gesetz und
Ordnung, 76 Prozent Fleiß und Ehrgeiz für wichtig halten. 71 Prozent
wollen ihre Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind. Das
deutet auf eine relativ hohe Übereinstimmung zwischen den Generationen
hin. Als
"Werte" bezeichnen die
Sozialwissenschaftler
Leitvorstellungen von dem, was die Menschen für wichtig und deshalb
auch für erstrebenswert halten, woran sie ihr soziales Handeln wenn
nicht in jedem Einzelfall, so doch in einem strategischen Sinne
ausrichten wollen. Um das herauszufinden hat die Shell-Studie 24
Vorgaben gemacht, die einzeln mit einer Bewertungsskala von eins bis
sieben bewertet werden konnten. Zu den Vorgaben gehörten
beispielsweise: "Gesetz und Ordnung respektieren", "einen hohen
Lebensstandard haben", "von anderen Menschen unabhängig sein", "an Gott
glauben". Durch Korrelationen mit anderen erhobenen Daten haben die
Forscher vier Werte-Typen herausgearbeitet: die
"selbstbewussten
Macher", die "pragmatischen Idealisten", die "robusten Materialisten",
und die "zögerlich Unauffälligen", die jeweils etwa ein Viertel der
Befragten ausmachen. Die beiden ersten
Gruppen können als
die
Leistungselite der Jugend angesehen werden. Sie akzeptieren ohne
ideologische Scheuklappen Recht und Ordnung und Leistungswettbewerb;
wichtig sind ihnen darüber hinaus materielle und körperliche Sicherheit
sowie Einfluss und Ansehen. Sie unterscheiden sich voneinander nur
durch eine andere Akzentsetzung: für die pragmatischen Idealisten steht
die Humanisierung aller Lebensbereiche im Vordergrund, während bei den
selbstbewussten Machern soziales Engagement und soziales Denken
zweitrangig sind. Die robusten Materialisten, überwiegend Hauptschüler
und aus der Unterschicht und unteren Mittelschicht stammend, reagieren
auf ihre schulischen und beruflichen Probleme häufig aggressiv:
Durchsetzung, Macht und Lebensstandard spielen in ihrem Denken eine
übergeordnete Rolle, Toleranz und soziales Engagement wie auch Respekt
vor dem Gesetz hingegen kaum. Die zögerlich Unauffälligen schließlich,
überwiegend Mädchen und junge Frauen, finden sich mit ihren familiären,
schulischen und beruflichen Benachteiligungen mehr oder weniger
resignativ ab, ohne eine nennenswerte Aggressivität gegen andere zu
entwickeln. Nun
sind solche Resultate und
Konstrukte zwar in
einem allgemeinen Sinne von pädagogischem Interesse, helfen jedoch den
Lehrern im Hinblick auf die Werteerziehung aus folgenden Gründen nicht
viel weiter: 1.
Lehrer haben es nicht mit
statistischen Typen,
sondern mit je einzelnen Personen zu tun; es wäre nicht sehr
professionell, Schüler unter einen solchen Typus zu subsumieren und
entsprechend mit ihnen umzugehen. Das pädagogische Handeln muss immer
von der Vorstellung ausgehen, dass die Zukunft des Schülers offen auch
für pädagogische Einwirkungen ist. Die Umfragen sagen also dem Lehrer
nichts Brauchbares über seine Schüler - einzeln wie
als Gruppe
- in seiner Klasse.
2. Untersuchungen
dieser Art bieten
kaum Erklärungen
für ihre Resultate – von philosophischen, anthropologischen oder
hirnphysiologischen Hintergründen ganz zu schweigen. Wie entstehen
solche Vorstellungen beim einzelnen Menschen, wie sind sie in der
13
menschlichen
Persönlichkeit
verankert, wodurch sind
sie beeinflussbar? Derartige Fragen, auf deren Klärung das pädagogische
Handeln eigentlich angewiesen wäre, können im Rahmen solcher
Untersuchungen gar nicht gestellt und bearbeitet werden.
3. Die
Untersuchungen ermitteln Meinungen
über Werte, es bleibt jedoch offen, ob bzw. in welchem Umfang und unter
welchen Bedingungen sich die Befragten auch danach richten; Meinungen
anzugeben kostet ja nichts weiter. 4. Weil es sich im
Wesentlichen um
Meinungen
handelt, bleiben die ermittelten Werte recht vordergründig. Sind alle
empirisch ermittelten Werte gleichrangig, oder muss man sie nicht in
einer Hierarchie ordnen, die nicht nur auf der statistischen Häufigkeit
ihrer Nennung beruht? Gibt es höhere Werte und weniger hohe? Wie ist
das Verhältnis von Werten zur Ethik, zur Moral, zu den Normen zu
verstehen - und zwar so, dass man darüber angesichts des
weltanschaulichen Pluralismus einen Konsens finden kann, den die Schule
ja in einer so wichtigen Frage braucht?
Was ich mit
diesen Andeutungen sagen
will ist: der
Begriff der "Werte", wie ihn die Umfrageforschung verwendet und wie er
dann von der Öffentlichen Meinung aufgegriffen wird, ist kein
zweckmäßiger Ausgangspunkt für die "Werteerziehung";
er ist zu
einem ganz anderen Zweck – nämlich der quantitativen Erhebung von Daten
– definiert worden. Ich selbst würde
lieber auf das
altmodische Programm
der "Bildung" setzen. Zur subjektiven Seite des Bildungskonzepts gehört
nämlich wesentlich auch der Aufbau verlässlicher und stabiler innerer
Orientierungen. Weil aber die Öffentlichkeit das anders sieht und auch
entsprechende Forderungen an die Schule stellt, will ich versuchen,
einen einigermaßen realistischen Zugang zu diesem Stichwort zu finden.
Zu 2: Schwierigkeiten des
Wertbildungsprozesses
Von der
empirischen Sozialforschung
können wir
Pädagogen durchaus den pragmatischen Ansatz übernehmen: Wir können
nämlich für unmittelbar evident halten, dass die Menschen sich an
verinnerlichten Wertvorstellungen zu orientieren versuchen und sie als
Leitmotive ihres sozialen Handelns im Laufe des kindlichen und
jugendlichen Lebens aufbauen und entwickeln, im Laufe des Lebens gewiss
auch verändern. Wenn wir in diesem Sinne nach den Möglichkeiten
pädagogischer Einwirkungen auf diesen Wertbildungsprozess von Kindern
und Jugendlichen fragen, müssen wir uns zunächst eine Vorstellung davon
machen, worum es sich da eigentlich handelt. Und da stoßen wir schnell
auf eine Fülle von Schwierigkeiten. 1. Das
diffuse Verhältnis von
Werten und sozialem Handeln
Werte als solche
können wir bei
anderen Menschen und
eben auch bei Schülern gar nicht erkennen, wir können sie nur insofern
wahrnehmen, als sie sich im Handeln aktualisieren.
Nur indem
Menschen argumentieren und/oder sich in bestimmter
Weise verhalten,
14
können sie
anderen ihre
Wertüberzeugungen überhaupt signalisieren.
Die Umkehrung
dieser Einsicht gilt
jedoch nicht ohne
weiteres. Aus dem konkreten sozialen Handeln im Alltag kann man
keineswegs einfach erkennen, welchen Werten der Betreffende folgt. Zum
einen haben viele routinisierte Handlungen gar nichts oder nur sehr
entfernt etwas mit Werten zu tun; es wäre lebensfremd, jede
Einzelhandlung auf ihre Werthaltigkeit hin überprüfen zu wollen. Das
normale Alltagshandeln bedarf zu einem erheblichen Teil auch einer
dumpfen Unaufgeklärtheit, um menschlich bleiben zu können. Im normalen
Alltag tragen wir nicht unentwegt die Fahne unserer Werte vor uns her.
In früheren,
stark autoritär
geprägten Zeiten, hat
man versucht, jede menschliche Regung eines Schülers oder überhaupt
eines Kindes sofort nach "gut" oder "böse" zu sortieren. Tatsächlich
jedoch ist es von der Sache her nicht möglich, ein bestimmtes
Schülerverhalten - etwa einen Faustschlag gegen einen Mitschüler -
einer bestimmten Werthaltung zuzurechnen, weil das beim Schläger
zumindest eine entsprechend geplante Strategie voraussetzen würde, und
die müsste erst einmal von außen als solche erkannt werden können.
Zum anderen ist
soziales, also auf
andere Menschen
bezogenes Handeln, niemals nur die Anwendung von Werten, selbst wenn es
so geplant sein sollte. Es ist vielmehr immer auch ein Schritt ins
Ungewisse; denn die anderen Beteiligten – z.B. die Schüler - handeln
ebenfalls mit eigenen Absichten und nach ihren eigenen Werten. In
diesem komplexen Hin und Her kann der eigene angestrebte Wert leicht
aus dem Blick geraten. Wir haben es hier also mit einer prinzipiellen
kommunikativen Unsicherheit zu tun, die es ebenso schwer macht, ein
bewusst wertorientiertes Leben zu führen, wie ein solches bei anderen
auf den ersten Blick zu beurteilen. Praktisch heißt das: Es ist für
Lehrer gar nicht so einfach, aus einem bestimmten Schülerverhalten auf
dahinter stehende Wertüberzeugungen zu schließen, und mit
entsprechenden Vermutungen sollte man deshalb vorsichtig operieren.
Normalerweise
treten vielmehr erst
in Konfliktfällen
Werte ins Bewusstsein. Deshalb kann die Bearbeitung von Konflikten in
der Schule für die Werteerziehung sehr produktiv sein; denn
Wertstrukturen bilden sich wesentlich auf Grund von Erfahrungen, die
man mit seinem eigenen Handeln macht. Die Erfahrung der Grenzsetzung
durch andere - Mitschüler oder Lehrer - ist enorm wichtig. Wer Kindern
und Jugendlichen keine Grenzen setzt, verhindert stabile Wertbildungen
bei ihnen. 2.
Die moralische Indifferenz
von Werten Werte, wie die
Sozialwissenschaften
sie ermitteln,
sind für sich genommen moralisch offen, also indifferent. Wenn jemand
etwa für den Wert "Solidarität" optiert, kann er das auf seine Clique
beziehen, was Ausländerfeindlichkeit aber keineswegs ausschließt. Auch
die Wege und Methoden zur Realisierung eines Wertes können moralisch
unterschiedlich sein. So könnte etwa der erwähnte Wert "einen hohen
Lebensstandard haben" z.B. 15
durch gute
Schulleistungen für die
Zukunft, aber
auch durch regelmäßigen Ladendiebstahl so schnell wir möglich
angestrebt werden. Die angestrebten Werte müssen also nicht nur einmal,
sondern immer wieder einer kritischen Revision unterzogen werden: Sie
müssen einer moralischen Überprüfung standhalten.
Die Maßstäbe
dafür müssen logischerweise den einzelnen Werten übergeordnet sein.
Welche sollen das sein, und kann es darüber im weltanschaulichen
Pluralismus überhaupt Konsens geben? Das Verhältnis von Werten zu den
grundlegenden moralischen Maximen ist also ungeklärt. Deshalb ist es
eine wichtige Aufgabe der Schule, die jeweilige Wertstruktur der
Schüler, die als solche nicht offenkundig ist, mit entsprechenden
Ansprüchen zu konfrontieren und darüber mit ihnen nachzudenken.
3. Die
kollektive Dimension von Werten
Wertorientierungen
werden zwar
individuell
vertreten, verweisen aber auf kollektive Zusammenhänge, sonst könnten
sie ja auch nicht von den Sozialwissenschaften statistisch erfasst
werden. Ein einzelner allein kann keine Werte anstreben, ohne dass er
sie mit anderen teilt und eine entsprechende soziale Resonanz erfährt.
Werte sind also im Kern eine soziale Tatsache, sie
werden aus
sozialen Zusammenhängen übernommen und konkretisieren sich in sozialen
Handlungen. Aus diesem Grunde ist Werteerziehung eng mit
Sozialerziehung verbunden. Deshalb ist auch von entscheidender
Bedeutung, welche Werterfahrungen ein Kind in seinen ihm besonders
wichtigen sozialen Kontexten wie Familie und Schule, aber auch in der
Peergroup macht. Es können nämlich auch die falschen
Erfahrungen sein - ein problematisches Milieu, problematische Freunde.
Auch Neonazis reklamieren für ihr Tun Werte. Deshalb ist es so wichtig,
dass die Schule in ihren Räumen entsprechende Gegenerfahrungen
arrangiert, und sich nicht auf die bloße Fortschreibung des
außerschulischen Milieus der Schüler einlässt.
4. Das
Verhältnis von Werten und Normen
Wegen ihrer
sozialen Implikationen
kann man von
Werten nicht ohne Blick auf die jeweils in den sozialen Formationen
gültigen Normen sprechen. Deshalb heißt das Schulfach auch zu Recht
"Werte und Normen". Werte ohne die Begrenzung durch Normen wären
unrealistisch oder gar anarchisch. Normen sind soziale Regeln; sie
setzen dem Handeln ein Maß, das nicht überschritten werden darf, sonst
werden Sanktionen geltend gemacht - Strafen oder zumindest
Zurechtweisungen. Normen orientieren sich nicht an individuellen
Bedürfnissen und Zielen, sondern öffnen für deren Verwirklichung einen
Rahmen und begrenzen sie somit auch. Nur im Rahmen von Normen dürfen
Werte realisiert werden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Schule
die Normen, die in ihren Mauern für das Zusammenleben unentbehrlich
sind, auch nachdrücklich geltend macht, und auf diese Weise den
Schülern die Erfahrung vom notwendigen sozialen
Charakter der
von ihnen angestrebten Werte vermittelt. Aber auch Normen sind nicht
unbedingt verlässlich, sie können sich ändern - sogar in der
Rechtsprechung. 16
5.
Wertkonflikte In komplexen
Gesellschaften wie der
unseren sind auch Wertorientierungen komplex. Es kommt ständig zu Wertkonflikten,
zwischen denen im konkreten Fall entschieden bzw. eine Balance gefunden
werden muss. Zukunftsorientierte Werte können z.B. mit aktuellen
hedonistischen konfligieren - statt Schularbeiten dann doch lieber
Fernsehen. Die neueste Shell-Studie spricht von einem "Werte-Cocktail",
den Jugendliche sich zusammenbrauen, sie versuchen auf vielen Ebenen
die Vereinigung von Widersprüchen: Sicherheit und
Individualität, Selbstverwirklichung und
Einbindung in Familie und Freundeskreis. Diese Widersprüche in ein
Lebenskonzept zu integrieren ist nicht einfach. Die Schule muss also
erkennen und akzeptieren, dass es über weite Strecken nicht mehr um
"richtige" oder "falsche" Werte geht, sondern um vernünftige
Kombinationen und Balancen von an sich akzeptablen Werten.
6. Die
Pluralität der sozialen Orte
Schüler müssen –
wie andere Menschen
auch - ihr
Handeln und damit auch ihre Wertorientierung auf unterschiedliche
soziale Orte aufteilen. Der hoch im Kurs stehende Wert, "gute Freunde
haben, die einen anerkennen und akzeptieren", kann nicht überall
realisiert werden, selbst in der Schule nur mit relativ wenigen
Mitschülern. Die Schüler müssen im Rahmen ihrer pluralistischen
Sozialisation lernen, sich nach den jeweils geltenden Regeln zu
verhalten - anders in der Diskothek als in der Schule, anders im
Kaufhaus als in der Kirche, in der Familie anders als unter
Gleichaltrigen. Diese unterschiedlichen sozialen Orte unterliegen nicht
nur unterschiedlichen Regeln, also Normen, sie bieten vielmehr auch
unterschiedliche Realisierungschancen für wert- bezogenes Handeln. Eine
besondere Schwierigkeit des Wertbildungsprozesses besteht nun darin,
dass die Schüler diese widersprüchlichen Erwartungen und Erfahrungen
produktiv in ihre Persönlichkeit zu integrieren und für ihre
Lebensplanung zu nutzen lernen. Was richtig, gut oder angemessen ist,
ist nicht mehr in einer logisch klaren Allgemeinheit zu fassen, sondern
muss nach Ort und Situation differenziert werden. Umgekehrt folgt
daraus aber auch, dass der Wertbildungsprozess nicht an einem
Ort - auch nicht in der Schule – so umfassend erfolgen kann, dass er
von daher auf alle anderen sozialen Orte einfach übertragbar wäre.
Wichtige
Sozialsituationen sind z.B.
in der Schule
aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen gar nicht herstellbar.
In der Schule gibt es keine Diskothek - jedenfalls nicht unter
Realbedingungen - , kein Kaufhaus, keine Straßenclique, weder einen
Markt noch eine Fernsehberieselung. Es fehlen also wichtige
Bewährungssituationen und damit Orte des sozialen Handelns, die die
Schule nicht nachbilden kann. Anders gesagt: Die Schule muss einerseits
ihre Begrenztheit akzeptieren, andererseits aber auch ihre Besonderheit
offenkundig machen, die sie auch in Sachen Werteerziehung von anderen
sozialen Orten unterscheidet. Das soll heißen: Die Lehrer müssen den
Schülern klar machen, welche Werte und Normen gerade in der Schule von
besonderer Bedeutung sind, wobei es gleichgültig ist, ob sie an anderen
sozialen Orten der Schüler ebenfalls diese Bedeutung haben.
17
7.
Werte als Ergebnis von Verhandlungen
Die Werte und
Normen, die in den
einzelnen
sozialen Orten gelten, sind keineswegs eindeutig. Es gibt überall -
auch in der Schule - eine Art von nicht klar geregelten Grauzonen, die
durch Verhandlungen und Verständigung gefüllt werden müssen. Werte entstehen
geradezu teilweise erst in solchen Verständigungsprozessen und werden
als Normen verbindlich gemacht. Das muss in gewissem Umfange auch in
der Schule geschehen; davon wird noch die Rede sein.
Zu 3:
Die Chancen der Schule zur
Unterstützung des
Wertbildungsprozesses
Das sind nur einige
Skizzen, die
verdeutlichen
sollen, wie komplex die Wertbildung junger Menschen heute gesehen
werden muss. Es geht offensichtlich nicht darum - wie die
Öffentlichkeit oft meint - , für richtig gehaltene Werte zu propagieren
und zu versuchen, sie in die Köpfe und Herzen der Schüler hinein zu
transportieren. Die Aufgabe ist viel komplizierter, und sie zwingt die
Schule und ihre Lehrer zu einer realistischen, illusionslosen
Selbstbescheidung. Dafür folgende vier Vorschläge:
1. Lehrer sollten
davon ausgehen,
dass sie als
Pädagogen nicht für die Klärung der letzten Fragen des menschlichen
Lebens - also etwa für die Metaphysik - zuständig sind. Sie sind wegen
des weltanschaulichen Pluralismus beruflich ohnehin gehalten, auf einer
Ebene unterhalb der weltanschaulichen Grundentscheidungen zu operieren
- abgesehen natürlich vom Religionsunterricht. Was Werte eigentlich
sind und welche die richtigen sind, kann die Pädagogik nicht
entscheiden. Je höher die Reflexionsebene wird – etwa in
Grundsatzfragen der Ethik hinein – um so weniger gibt es Konsens selbst
in den dafür zuständigen Wissenschaften. Was aber in der Gesellschaft
strittig ist, kann die Schule zwar im Unterricht aufgreifen und
bearbeiten, aber nicht unstrittig machen.
2. Lehrer sollten
davon ausgehen,
dass die
Werteorientierung von Kindern und Jugendlichen sich aus vielen Quellen
speist, die sie nur zu einem eher geringen Teil beeinflussen können,
und dass manches davon auch einem modischen Verschleiß unterworfen ist.
Nach den Erkenntnissen der Shell-Studie ist die Wertevermittlung in der
Schule marginal; der Werte-Mix der Jugendlichen komme nicht durch die
Schule, sondern durch das soziale Umfeld und die Medien zustande.
Lehrer können also die Wertorientierung ihrer Schüler nicht herstellen,
sondern nur ergänzend und korrigierend in sie eingreifen.
3.
Lehrer sollten sich also an das
halten, was im
Rahmen ihres Handlungsspielraumes möglich ist. Es führt zu nichts
Gutem, ständig erzieherische Wünsche in die Welt zu setzen, die an
einem bestimmten sozialen Ort - etwa der Schule - gar nicht realisiert
werden können. 18
4. Weil Werte
sich im sozialen
Handeln
beziehungsweise Verhalten einerseits und in entsprechenden
Argumentationen andererseits konkretisieren, sollten Lehrer versuchen,
auf diesen beiden Ebenen im Sinne einer Hilfe zur
Wertbildung Einfluss zu nehmen. Das kann in der
Schule auf vier Ebenen
geschehen - auf
der Ebene des
- Unterrichts, - des Vorbilds der
Lehrer,
- der Normen der Institution - und des
Schullebens. 1.
Die Ebene des Unterrichts.
Die
Unterrichtsstoffe selbst berühren in jedem Schulfach unausweichlich
Werte und Normen, also Fragen des guten und richtigen Lebens. Sie
müssen dort aufgegriffen werden, wo sie entstehen, und dürfen nicht in
ein besonderes Fach abgeschoben werden. Werteerziehung in der Schule
heißt zu allererst, diese Aspekte der Sachverhalte wieder stärker in
den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken. Das ist eigentlich immer
schon gemeint, wenn vom bildenden Unterricht die
Rede ist.
Dabei geht es nicht um eine von außen herangetragene Moralisierung
der Stoffe, die in der Regel von Schülern zu Recht innerlich abgewehrt
wird, sondern um sachbezogene Reflexion
dessen, was sowieso im Unterricht behandelt wird. Das didaktische
Strukturmuster dafür ist die Konfrontation. Das heißt: Die bisherige
Wertbildung der Schüler - wodurch immer sie erfolgt ist - wird
konfrontiert mit solchen Werten und Normen, die im sachorientierten
Unterricht - etwa in einer Kurzgeschichte - zum Vorschein kommen. Diese
Differenz schafft die nötige Distanz, um in der Klasse eine diskursive
Auseinandersetzung über Wertfragen führen zu können, deren Ergebnis
vielleicht die kritische Revision des bisherigen eigenen Standpunktes
ist. Insofern
die Schüler sich im
Unterricht primär nicht
mit sich selbst bzw. mit ihrer aktuellen Befindlichkeit befassen,
sondern mit geistigen Ansprüchen, die die Stoffe und damit auch die
natürliche und kulturelle Wirklichkeit an sie stellen, werden sie auch
mit Werten konfrontiert, an denen sie sich abarbeiten können. Die
Schule lehrt keine Werte, sie übt deren Reflexion.
Genau darin liegt die wertbildende Bedeutung des
Unterrichts. 2.
Die Ebene des Vorbilds.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Vorbild
der Lehrerinnen und Lehrer: wie sie mit Schülern kommunizieren und sich
Konflikten stellen, wie sie sich fachlich und didaktisch präsentieren,
wie sie selbst mit dem geistigen Gehalt ihrer Stoffe umgehen, wie sie
zwischen persönlicher Meinung und sachlicher Information unterscheiden,
wie sie mit Stärken und Schwächen von Schülern umgehen usw. Nach wie
vor können von Lehrerinnen und Lehrern bedeutsame Vorbildwirkungen
ausgehen, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist. Es widerspricht
der grundsätzlich gebotenen weltanschaulichen Neutralität der Schule
auch nicht, dass der Lehrer als Person seine eigene Position in
moralischen Fragen in argumentativer Form - also nicht bloß als
Bekenntnis - offenbart - zumal dann, wenn er von
19
Schülern
ausdrücklich danach gefragt
wird. Das setzt
natürlich voraus, dass die Lehrer selbst ein reflexives Verhältnis zu
den Werten finden, für die sie persönlich einstehen, und dies auch im
Rahmen der Schule deutlich werden lassen. Wertbildung hat in einem
hohen Maße mit personalem Austausch zu tun.
3. Die
Ebene der
institutionellen Regeln. Die
beiden eben erwähnten Ebenen der Werteerziehung - der normative Gehalt
der Schulstoffe und das Vorbild der Lehrer - können den Schülern
allerdings im Sinne einer Einwirkung nur angeboten
werden, es
steht ihnen aber frei, sie zu akzeptieren oder auch nicht. Kein Schüler
kann gezwungen werden, einen bestimmten Lehrer als Vorbild zu
betrachten, oder einen bestimmten Stoff im Sinne des Lehrers für seine
eigene Wertbildung zu deuten. Verbindlich müssen
jedoch die institutionellen Regeln
der Schule sein; die können und müssen eingefordert und durchgesetzt
werden wie in jeder anderen öffentlichen Institution auch. Es sind in
der Schule diejenigen Regeln, die für eine erfolgreiche Unterrichtung
unentbehrlich sind: eine gewisse Grunddisziplin, gewaltloser und
höflicher Umgang miteinander, Toleranz in Verbindung mit Bereitschaft
zur argumentativen Auseinandersetzung; prinzipielle Bereitschaft zur
Mitwirkung an der gemeinsamen Aufgabe.
An diesem Punkt
gibt es zwei
Probleme: die Begründung dieser Regeln und die Gestaltung der erwähnten
Grauzonen. Dass
Regeln, denen man folgen soll,
durch Gründe
legitimiert sein müssen, ist eine der wesentlichen Errungenschaften des
erwähnten Wertewandels. Merkwürdigerweise geschieht das in der Schule
offenbar selten. Die Schule klärt die Schüler über vieles auf, aber
nicht über sich selbst. Vielleicht liegt das daran, dass jeder zu
wissen meint, wozu die Schule da ist. Ich habe da meine Zweifel, zumal
was die Schüler betrifft. Jedenfalls könnte man ihnen zumindest
folgende Gesichtspunkte zur Begründung notwendiger Regeln mitteilen:
- 1. Begründung:
In Gestalt der
Schule bietet die
Gesellschaft der nachwachsenden Generation einerseits eine Ausbildung
für ihre optimale Teilhabe an den beruflichen, kulturellen und
politischen Handlungsmöglichkeiten an. Andererseits braucht die
Gesellschaft diese Fähigkeiten zu ihrer eigenen Reproduktion und
Weiterentwicklung. Beide Seiten können nur zusammen gesehen werden, den
enormen Investitionen für das Bildungswesen muss eine angemessene
Bereitschaft zur Leistung und Anstrengung seitens der Schüler
entsprechen. Unsere Gesellschaft hat z.B. ein Recht darauf, sich kein
soziales Dynamit heranzuziehen, das aus massenhafter schlechter
Schulbildung resultiert. - 2. Begründung: Als
Institution
ist die Schule im Unterschied zur Familie Teil des öffentlichen
Lebens, und das Kind tritt mit dem Schulbeginn in dieses öffentliche
Leben ein. Daraus folgt unter anderem, dass der Schulunterricht nicht
einfach die Fortsetzung des familiären Milieus auf neuer Ebene sein
kann. Dieser Gesichtspunkt ist für die Werte-
20
erziehung
unmittelbar relevant. Im
privaten Rahmen
der Familie dürfen nämlich auch Vorurteile aller möglichen Art, etwa
rassistische oder sexistische, vertreten werden, jedenfalls kann das
niemand verhindern; die Schule dagegen ist universellen
Maßstäben wie Toleranz und Wahrheit verpflichtet, also solchen, die für
das Zusammenleben außerhalb der Familie, nämlich in der ganzen
Gesellschaft, verbindlich sind. Die wünschenswerte Zusammenarbeit
zwischen Elternhaus und Schule darf also nicht verkürzt interpretiert
werden. Es ist möglich und auch gerechtfertigt, dass der Schüler in der
Schule andere Werthaltungen kennen lernt, als sie in seiner Familie
üblich sind. Auch das ist mit dem Begriff "Konfrontation" gemeint.
- 3. Begründung:
Die Schule als
Institution muss
darauf achten, dass sie ihren von der Gesellschaft vorgegebenen und von
den Steuerzahlern ermöglichten Zweck auch verwirklichen kann. Dafür
muss die Schule ihre Macht zur Geltung bringen, die
sie als
Institution zur Verfügung hat. Der Begriff "Macht" in diesem
Zusammenhang ist dem pädagogischen Zeitgeist höchst verdächtig, als sei
das per se etwas Böses. Es gibt aber keine machtfreien
sozialen
Gebilde, die Frage ist immer nur, wessen Macht sich mit welcher
Legitimation Geltung verschafft. Die Schule als Institution hat z.B.
das Recht und die Pflicht, ihre Mitglieder zu schützen:
die
Schüler voreinander und vor ihren Lehrern, die Lehrer voreinander und
vor den Schülern und deren Eltern. Die Machtfrage darf also nicht
pädagogisch verschleiert werden, sie muss vielmehr ins Bewusstsein
genommen und mit der pädagogischen Aufgabe vermittelt werden.
Allerdings: Auf
dieser
institutionellen Ebene geht
es nicht um die Durchsetzung eines allgemeinen Tugendkatalogs oder gar
einer zu bekundenden Gesinnung, sondern um die Durchsetzung eines
bestimmten Verhaltens. Eine öffentliche Institution
- mit
Ausnahme des Gerichts, aber das ist ein Sonderfall - darf weder von uns
Erwachsenen, noch von Kindern eine bestimmte Gesinnung oder eine
bestimmte Charakterstruktur erwarten. Niemand muss irgendeinen anderen
Menschen mögen, aber verhalten
muss sich jeder ihm
gegenüber höflich und zivilisiert und erst recht im Rahmen der Gesetze.
Auf diesem Hintergrund sind übrigens solche Kopfnoten in den Zeugnissen
problematisch, die sich auf mehr als auf das offensichtlich erkennbare
Verhalten beziehen. Und nun zu den zu
gestaltenden
Grauzonen. Die
erwähnten Regeln der Institution sind einerseits zu grobschlächtig, als
dass sie das Leben in der Schule im Einzelnen regeln könnten,
andererseits aber auch nicht mehr hinreichend. Dieser offen bleibende
Raum muss aber gefüllt werden. Was soll zum Beispiel im Konfliktfalle
zwischen Schülern oder zwischen Schülern und Lehrern geschehen? Viele
Schulen haben inzwischen Schulordnungen verabschiedet, in denen solche
Alltagsfragen in autonomer Verantwortung geregelt sind. Dabei spielen
nicht mehr wie früher autoritäre Entscheidungen eine Rolle, sondern
Prozeduren mit dem Ziel der Verständigung. Was tun wir wie und mit
welchem Ziel, wenn etwas schief läuft? Da werden keine eindeutigen
sittlichen Urteile mehr wie 21
früher gefällt,
sondern eher
Kompromisse angestrebt.
Anders gesagt: In solchen Prozessen werden gemeinsame Werte erst einmal
produziert oder zumindest ins Bewusstsein gehoben, um dann durch
gemeinsam anerkannte Normen auch geschützt zu werden. Diese Dimension
der Werteerziehung ist für die Schulen historisch gesehen noch
weitgehend Neuland - übrigens auch für die unermüdlich Erlasse
produzierende Administration. 4. Die Ebene
des Schullebens.
Auf die eben
beschriebene Weise entsteht über die Aufgabe des Unterrichtens hinaus
eine neue Schulkultur, die für die Wertbildung der Schüler von
entscheidender Bedeutung sein kann. Es geht um die gemeinsame
Gestaltung des sozialen Miteinanders, um Stil und Ton des täglichen
Umgangs, um die Möglichkeiten der formellen Mitbestimmung der Schüler,
um ästhetische Gestaltung, aber auch um das, was man im engeren Sinne
"Schulleben" nennt, also z.B. künstlerische Aufführungen, Feste und
Feiern usw. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang übrigens
auch als positiv und vernünftig erlebte Gewohnheiten und Rituale.
In einem aus all
dem resultierenden
wohlwollenden
und wohltuenden, aber auch Geborgenheit und Orientierung stiftenden
"Klima" sind grundlegende Werteerfahrungen möglich, die weit über das
Leben in der Schule hinaus reichen können.
Fazit: Die
Schulen und ihre Lehrer
sollten in Sachen
Werteerziehung die pathetischen pädagogischen Deklamationen,
Versprechungen und Zauberworte beiseite lassen und das tun, was im
Rahmen ihres Handlungsspielraums wirklich möglich ist; das ist nicht
wenig, wenn auch vielleicht weniger, als die Öffentlichkeit zu Unrecht
oft erwartet. 22
In: Starke Eltern – Starke
Kinder ( = Deutscher Kinderschutzbund: Jahresheft 2003, S.101 - 103
(Leicht veränderter Nachdruck meiner
Funksendung:
Brauchen wir mehr Ganztagsschulen? In: Funkmanuskripte Bd. 8, F43)
Ein Zwischenruf
In: Neue Sammlung H.
2/2003,
S.
254-256 Als
die heute Alt-Achtundsechziger
noch jung waren –
also Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre – propagierten sie ihre
bildungspolitischen und schulpädagogischen Reformforderungen u.a. mit
dem "restringierten Code"(1) als
Faktum und Symbol
für die schulische
Benachteiligung der "unteren Klassen", als deren Avantgarde sie sich
fühlten. Alles, was die Schule damals strukturell wie konzeptionell
ausmachte, wurde unter diesem Gesichtspunkt einem ideologiekritischen
Verriss unter dem Maßstab des cui bono unterzogen. Seitdem wurde nahezu
das ganze Schulsystem darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren
Schüler als milieubedingt entschuldbar zu betrachten und mit Hilfe von
Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen, verlängerter
Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des
individualisierenden Unterrichts zu fördern. PISA hat nun gezeigt, dass
das alles offensichtlich vergeblich war; der Abstand ist nicht kleiner,
sondern größer geworden. Dieses Resultat wird im Allgemeinen der
Dreigliedrigkeit des Schulwesens und der frühen Selektion angerechnet.
Vielleicht wäre es aber auch angebracht, die alte Ideologiekritik
wieder aus der Schublade zu holen und auf den sich fortschrittlich
dünkenden pädagogischen Zeitgeist anzuwenden, der seine Geburt in jener
Zeit erlebte(2). Dann könnte sich
folgendes
herausstellen: 1.
Nahezu alles, was die moderne
Schulpädagogik für
fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem
Milieu. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag.
"Offener Unterricht", überhaupt die Demontage des klassischen,
lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit
die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der
Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von
Rechtschreibschwächen, Mitwirkung der Eltern (welcher wohl?) in
Schulkonferenzen – um nur einige Beispiele anzuführen - hindern die
Kinder mit von Hause aus geringem kulturellen Kapital daran, ihre
Mängel auszugleichen, während sie den anderen kaum schaden. Der von der
Familie her vorhandene Vorsprung an "kulturellem Kapitel"(3)
in den bürgerlichen Schichten
reicht aus, trotz konfusem
Schulunterricht den Abstand zu wahren. Wenn also Lehrer etwa bei der
Wahl der weiterführenden Schulform Kindern mit wenig kulturellem
Kapital trotz formal guter Schulleistungen relativ geringe
Weiterbildungschancen prognostizieren, dann ist das generell – nicht im
Einzelfall - offensichtlich eine realistische Einschätzung, solange
jedenfalls die Schule diesen Mangel nicht kompensiert – etwa durch das
254
Beibringen von
Manieren, von
geistiger Disziplin, von Verzicht auf unmittelbare Erfolge und auf Spaß
an allen Ecken und Enden. 2. Exemplarisch lässt
sich diese
Kritik an der
Grundschule festmachen. Die infantilisierende Unterforderung von
Grundschulkindern ist schon Ende der sechziger Jahre entdeckt und
heftig diskutiert worden, und der Bildungsrat hat seinerzeit ein
ausführliches, wissenschaftlich fundiertes Reformkonzept vorgeschlagen
- das aber ist schnell versandet. Weder die Schulbehörden noch die
Lehrer oder die Eltern wollten eine solche
Grundschule. Alles
sollte dort vielmehr weiterhin "spielerisch" sein, systematischer
Unterricht gilt bis heute als ebenso kinderfeindlich wie das Erteilen
von Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen. Klassische
Lerntechniken wie Einmaleins, Auswendiglernen von Gedichten, Vorlesen
von Texten und vor allem ständiges Üben des Gelernten sind weitgehend
verloren gegangen. Hausaufgaben könnten die familiär benachteiligten
Schüler diskriminieren. Tatsächlich jedoch trägt all das dazu bei, die
Kinder mit geringem kulturellen Kapital auf diesen Status zu fixieren;
nur in den ersten Schuljahren gäbe es vielleicht eine Chance zur
schulischen Gegenwirkung. Ideologiekritisch
gewendet ergibt
sich daraus eine
merkwürdige Pointe: Wenn wir das alte Bildungsprivileg hätten erhalten
wollen - was uns ja gelungen ist, wie PISA zeigt - dann hätten wir die
Grundschule genauso planen müssen, wie wir sie jetzt haben -
einschließlich ihrer personellen und materiellen Unterversorgung.
3. Der objektive
Sinn, zumindest das
Resultat des
pädagogischen Zeitgeistes ist: Er hat das Bildungsprivileg der
Mittelklasse nach unten hin verteidigt; er ebnete durch die Reduktion
der Leistungsansprüche bzw. durch deren Umdefinition auch dem weniger
leistungsfähigen Nachwuchs der Bürgerkinder den Weg zum Abitur und zum
Hochschulstudium und vergrößerte auf diese Weise den Rückstand der
anderen noch mehr. 4. Schule ist
unvermeidlich eine
Mittelklasseinstitution. Sie begünstigt deshalb notwendigerweise
diejenigen Kinder, die aus diesem Milieu kommen. Nicht nur sind sie mit
einem besseren sozialen und kulturellen Startkapital ausgestattet, ihre
Schulerfahrungen und Schulerfolge werden auch zu Hause
selbstverständlicher sozial akzeptiert und unterstützt.
"Subjektorientierung" etwa, wie sie durch die psychologisch fundierte
Schulreformpädagogik propagiert wird, ist ein Projekt der
Mittelschicht, in den unteren Schichten hat sie keinen rechten sozialen
Resonanzboden und gilt deshalb von Hause aus wenig.
"Lebensweltorientierung" des Unterrichts meint das bürgerliche, nicht
das depravierte Ambiente - davon versteht die Schule außer der
Vermutung von materieller oder kommunikativer Armut nichts. In diesem
Milieu ist man auch nicht "intrinsisch" motiviert - das kann man sich
gar nicht leisten. Andererseits ist diese Form der Motivation
Voraussetzung für allgemeinbildende, vor allem höhere Schulkarrieren.
5. Kinder aus
bildungsbenachteiligten Familien
müssen sich also mit Hilfe der Schule von ihrem Familienhintergrund und
von dem dazugehörenden kollektiven sozialen Milieu emanzipieren oder
zumindest eine innere Gegenwelt dazu 255
aufbauen, wenn
sie das schulische
Lernangebot
optimal nutzen wollen; das behindert die Gleichheit ihrer Chancen
enorm. Das einzige Kapital, das diese Kinder von sich aus
–
ohne Hilfe ihres Milieus - vermehren können, sind ihr Wissen und ihre
Manieren; dafür brauchen sie eine Schule, in der der Lehrer nicht nur
"Moderator" für "selbstbestimmte Lernprozesse" ist, sondern die Führung
übernimmt und die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das
sozial benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu
befreien, eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch
geduldigen und ermutigenden Unterrichts. Das gilt erst recht für solche
Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind; vielfach werden
sie jedoch einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so für die
Administration am bequemsten und vor allem am billigsten ist.
Die Hoffnung, man
könne solche tief
fundierten
Benachteiligungen mit ein paar zusätzlichen Förderstunden in den Griff
kriegen, verrät schiere Sozialromantik. Erfolgreicher könnten schon
Ganztagsschulen sein, aber nur dann, wenn sie möglichst früh,
nachhaltig und relativ dauerhaft ein Gegenmilieu bilden würden, das
diesen Kindern im Vergleich zu ihrer sonstigen Umgebung attraktiv
erscheint. Solche und andere nützliche Angebote speziell für
entsprechende Regionen bzw. Stadtteile einzurichten, verteufeln die
Sozialromantiker jedoch als Diskriminierung. Die objektiv
Benachteiligten sollen sich nicht als solche fühlen - ein klassischer
ideologischer Trick, von dem die Betroffenen nichts haben. Es ist
ähnlich wie in der Sozialpolitik: Wenn die benachteiligten sozialen
Schichten schon etwas bekommen sollen, wie das Kindergeld, dann sollen
es alle anderen auch haben. Unter den Bedingungen der Ungleichheit ist
aber Gleichbehandlung immer Ungleichbehandlung.
6. Der
entscheidende pädagogische
Denkfehler, der
schon in der Weimarer Zeit bei der pädagogischen Begründung der
gemeinsamen Grundschule zu Tage trat, liegt in der Definition des
Kindes "als solchem". Da damals die Kinder des Bürgertums gemeinsam mit
den anderen die Grundschule besuchen sollten, brauchte man eine
pädagogische Idee, die als über den sozialen Klassen stehend angesehen
werden konnte; dafür bot sich die reformpädagogische Vorstellung einer
gelungenen Gestaltung der Kindlichkeit des Kindes an. So wurde die
Grundschule zu einer Kinderschule, die der erzieherisch-pflegerischen
Förderung aller kindlichen Kräfte den Vorrang einräumte gegenüber einer
für einseitig und kinderfeindlich gehaltenen kognitiven Bildung. Dabei
ist es im Wesentlichen bis heute geblieben. Das Kind "als solches" ist
aber eine psychologische Fiktion. Sozial gesehen gibt es nur Kinder,
die in Blankenese oder in Kreuzberg, in Reichtum oder Armut, mit
gebildeten oder ungebildeten Eltern aufwachsen - um nur gröbste
Differenzen zu nennen. Ginge es um das
Schulschicksal von
Mittelschichtkindern, hätten wir längst eine entsprechende
Milieuforschung, die nach lernrelevanten milieuspezifischen
Prädispositionen und den Möglichkeiten ihrer Korrektur fahnden würde.
So aber begnügen wir uns mit meist irrelevanten Schuldzuweisungen und
vergießen Krokodilstränen. 226
Anmerkungen:
1
Basil Bernstein:
Soziokulturelle
Determinanten des Lernens, in: P. Heintz (Hg): Soziologie der Schule,
Köln - Opladen 1959, S. 52-79
2
Dazu
ausführlicher H. Giesecke: Wozu
ist die Schule da? Stuttgart 1996, vor
allem S. 121 ff.
3
Zu
diesem Begriff Pierre
Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern
kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hamburg 2001, vor allem S. 112
ff.
227. PISA
und der pädagogische Zeitgeist (2003) In: Toni Hansel
(Hrsg.): PISA – und die Folgen?
Die
Wirkung von
Leistungsvergleichsstudien in der Schule. Herbolzheim 2003, S. 106-125
Die
Ergebnisse der PISA-Studie, nach der die Leistungen der deutschen
Schüler im Lesen sowie in der mathematischen und
naturwissenschaftlichen Grundbildung weltweit unter 32 Ländern im
unteren Drittel rangieren, sorgen bis heute wie in keinem anderen an
der Untersuchung beteiligten Land für Aufregung in der Öffentlichkeit.
Die Vergleiche sind es nämlich, die das Selbstbewusstsein kränken; dumm
sein fällt nur auf, wenn andere als klüger gelten. Dabei kamen die
Ergebnisse keineswegs überraschend. Zu einem ähnlichen Urteil gelangen
seit Jahren Erhebungen der Wirtschaft über die Basisqualifikationen von
Schulabgängern, die eine Ausbildung beginnen wollen, oder der
Hochschulen über die Studierfähigkeit von Studenten. Schon die 1997
veröffentlichte TIMSS-Studie, bei der die Lesekompetenz allerdings noch
nicht abgefragt wurde, hatte im Hinblick auf Mathematik und
Naturwissenschaften ein ähnliches Resultat, aber damals dachten viele
noch: wer ist oder war schon gut in Mathematik! Erst die PISA-Studie
fand die gebührende Resonanz in der Öffentlichkeit, als habe die
allgemeine Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem nur auf einen
Auslöser gewartet, um sich artikulieren zu können. Nun wurde jedem
Zeitungsleser bekannt, dass fast 24 Prozent der deutschen Schüler nur
auf einem sehr niedrigen Niveau lesen können. Die Forscher betrachten
sie als eine "Risikogruppe" im Hinblick auf selbständiges Lesen und
damit auf die Fähigkeit zum Weiterlernen. Lesen gehört auch nicht mehr
zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen; der Anteil derjenigen, die
nicht zum Vergnügen lesen, beträgt 42 Prozent und wird von keinem
106
anderen
Land übertroffen.
In keinem anderen Land ist zudem der Abstand
zwischen den guten und schwachen Leistungen so groß wie in Deutschland.
Zu den Leistungsschwachen gehören insbesondere Ausländer, deren Eltern
nicht in Deutschland geboren wurden, sowie Aussiedler und Kinder aus
sozial schwachen und bildungsfernen Familien.
Nun
muss man, um die
Resultate dieser und anderer einschlägiger
Untersuchungen richtig zu würdigen, gewiss auch ihre Grenzen sehen.
1.
Die Bildungsforscher
haben nicht Lehrplanwissen abgefragt, also
etwas, was die Schüler eigentlich können müssen – das wäre wegen des
internationalen Vergleichs gar nicht möglich gewesen. Vielmehr wurden
Anwendungen getestet, die so nicht in den Lehrplänen stehen, für deren
Lösung aber ein hinreichendes Leseverständnis erforderlich ist. Nun ist
das mit den Anwendungen so eine Sache. Man muss nicht nur lesen können,
sondern auch verstehen, worauf die Tester hinauswollen. Wer geübt ist
im Beantworten von Testfragen, hat es leichter als jemand, der damit
keine Erfahrung hat. Getestet wird dabei so etwas wie ein allgemeines
geistiges Potential, das als solches nicht planmäßig trainierbar ist,
von dem man jedoch annimmt, dass es durch richtigen Unterricht
herauskommen kann – etwa im Sinne einer "Schlüsselqualifikation". Es
ist jedoch fraglich, wie weit diese Unterstellung trägt. Jedenfalls
waren die Aufgaben hochgradig standardisiert, um international
vergleichbar gemacht werden zu können, und sie waren typische
Testaufgaben in Laborsituationen, im wirklichen Leben erfolgen
Anwendungen meist in kommunikativen Zusammenhängen.
Diese
Einschränkung hat
die nachfolgende PISA-E-Studie teilweise
dadurch kompensiert, dass sie eine auf deutsche Verhältnisse bezogene
Zusatzuntersuchung vorgelegt hat, deren Ergebnisse jedoch nicht minder
niederschmetternd sind; von ihr ist in der öffentlichen Wahrnehmung im
Wesentlichen der innerdeutsche Ländervergleich übrig geblieben.
2.
Es handelt sich bei PISA um Durchschnittswerte, die noch nichts über
eine bestimmte Schule oder Schulklasse aussagen. Zwar werden den
Schulen auf Wunsch
107
ihre
eigenen Resultate
zur Verfügung gestellt, die ihnen einen
Vergleich mit anderen vergleichbaren Schulen gestatten, aber der
praktische Nutzen ist nicht besonders hoch. Man erfährt nämlich nicht,
worauf der eigene Leistungsstand zurückzuführen ist und wie man ihn
verbessern könnte. PISA hat nicht untersucht, was in den Schulen
wirklich geschieht, wenn dort "Unterricht" und "Erziehung" abläuft.
Jürgen Baumert hat sich zwar mehrfach kritisch über die Übertreibung
der so genannte fragend-entwickelnde Methode geäußert, aber wir wissen
nicht, wie weit sie in welchen Schulformen verbreitet ist und welche
anderen Varianten dort in welchem Umfang eine Rolle spielen. Diese
Unkenntnis schränkt den praktischen Nutzen dieser und anderer
einschlägiger Untersuchungen ein - was selten von denen gesehen wird,
die sich auf sie berufen. Was hat, so könnte man fragen, ein
Deutschlehrer oder Mathematiklehrer von der PISA-Studie – im Hinblick
auf seinen Handlungsraum in seinem Unterricht? Die Autoren von PISA
haben sich immer sehr zurückhaltend über handlungsrelevante
Konsequenzen ihrer Ergebnisse – etwa über guten und schlechten
Unterricht - geäußert. Das hat seinen guten Grund. Je genauer nämlich
die Techniken der Bildungsforschung, aber auch der Lernforschung
werden, um so komplexer werden die Ergebnisse und um so weniger lässt
sich deshalb aus ihnen für die pädagogische Praxis unmittelbar
ableiten. Die PISA-Studie sagt z.B. nicht, was sie eigentlich unter
Unterricht versteht. Vermutlich besteht zwischen dem, was in den
Schulen wirklich geschieht, und dem, was bildungspolitische und
schulpädagogische Veröffentlichungen darüber sagen, eine erhebliche
Differenz.
3.
Aus der Komplexität
dessen, was den Bildungsstand eines Schülers zum
Zeitpunkt des Tests ausmacht, wurde nur ein ganz kleiner Teil gemessen.
Es ging z.B. nicht um literarische Bildung, also etwa um die
Interpretation von Gedichten. Insofern wurde nur eine bestimmte Version
von "Leseverständnis" ermittelt.
Selbst
wenn man jedoch
solche Einschränkungen in Rechnung stellt,
beweist PISA, dass sich unser Bildungswesen im Hinblick auf seine
Wirksamkeit in einem schlechten Zustand befindet. Dem soll
selbstverständlich abgeholfen werden – da sind sich alle Beteiligten
einig.
108
Das
wäre verhältnismäßig
leicht möglich, wenn man einen Schuldigen
dafür eindeutig ausmachen könnte - etwa die Kultusminister, ihre
Bürokratie, die Lehrer oder die Eltern oder wen sonst immer. Leider ist
die Sache so einfach nicht, obwohl sich alle Interessenten immer wieder
geäußert haben und im Wesentlichen propagieren, dass man nun noch mehr
von dem verwirklichen müsse, was sie immer schon vorgeschlagen und
gewollt haben. Alle fühlen sich bestätigt. Die alten Zauberworte voll
von wohlklingender Inhaltslosigkeit geben sich weiterhin ein
Stelldichein: Schlüsselqualifikationen, das Lernen lernen,
Schulautonomie, eine Schule für alle, Teamgeist, neue
Unterrichtskultur, vernetztes Denken, Qualitätssicherung, um nur einige
zu nennen.
Ohne
Zweifel hat PISA
eine bildungspolitische und pädagogische
Diskussion in Deutschland losgetreten, wie sie lange nicht mehr
stattgefunden hat. Eigentlich hätte man deshalb erwarten dürfen, dass
dabei eine Bilanz gezogen worden wäre: Worin liegen die Ursachen, was
ist in der letzten Jahrzehnten warum falsch gelaufen, wer hat das zu
verantworten? Welche Annahmen und Theorien haben sich bestätigt, welche
nicht? Ein derartiger Diskurs hat sich aber nur in Ansätzen ergeben.
Die Bildungspolitiker gehen vorsichtig miteinander um, weil sie keine
alten Gräben aufreißen und den Blick zum gemeinsamen Handeln nach vorne
richten wollen. Das ist vielleicht klug, jedenfalls verständlich, aber
die sonstige Öffentlichkeit wäre an eine solche Klugheit nicht
gebunden, sondern könnte den Diskurs durchaus in Gang bringen. Weil das
nicht hinreichend geschehen, eine kritische Bilanz nicht gezogen ist,
droht die Gefahr, dass die nötigen Korrekturen ins Leere gehen.
Fetisch
"Modernisierung" Das
gemeinsame Schweigen scheint einen gemeinsamen Nenner zu haben,
nämlich "Modernisierung". Zu diesem Schlagwort können sich alle
bekennen, selbst diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten falsche
Entscheidungen getroffen haben, können sich mühelos unter sein Dach
begeben. Wer will schon gegen Modernität sein?
109
"Modernisierung"
legt die
Vorstellung nahe, dass alles, was bisher
gegolten hat, überholt, neuen Anforderungen nicht gewachsen sei.
Modernisierung erscheint als ein schicksalhafter Prozess, der ohnehin
abläuft, gegen den sich nichts ausrichten lässt, in den man sich aber
einklinken muss, wenn man den Anschluss nicht verpassen will. Dieser
Modernisierungszauber hat auch die Schulen erfasst und sich dort vor
allem als Computereuphorie und im schwungvollen Hantieren mit
ökonomischen Begriffen niedergeschlagen. Die Schule – wie auch die
Hochschule - müsse im Hinblick auf ihre Effizienz regelmäßig evaluiert
und zu einer lernenden Organisation werden, sie brauche wie ein
florierender Industriebetrieb Wettbewerb sowie ein gut funktionierendes
Management, müsse für Qualitätssicherung sorgen, die Lehrer müssten
nach Leistung bezahlt und deshalb von den Fesseln des Beamtenstatus
befreit werden. Als Motor des Unausweichlichen gelten die
Globalisierung der Märkte und der daraus resultierende weltweite
Wettbewerb, der den Standort Deutschland überrollen werde, wenn nicht
auch das Bildungswesen hier zu Lande diesem Trend angepasst werde.
Diese
Argumentation ist
auf eine eigentümliche Weise geschichtslos und
insofern wenig tauglich zur kritischen Reflexion. Das zeigt sich daran,
dass real existierende Verhältnisse und Strukturen nicht in ihrem
Entstehungszusammenhang analysiert und hinsichtlich ihrer künftigen
Tragfähigkeit überprüft werden, so dass man überzeugende Argumente
erhielte, was warum und wie zu verbessern sei. Vielmehr wird die nicht
aufgeklärte Wirklichkeit lediglich konfrontiert mit Postulaten, die in
diesem Sinne für "modern" gehalten werden. Diese geschichtslose
Argumentationsfigur hat zur Folge, dass der Modernisierungszauber
daherkommen kann mit der Aura des historisch Unausweichlichen, zu dem
es ernsthaft keine Alternative geben könne; es scheint so, als müsse
alles Wichtige neu erfunden werden.
Dieser
Zeitgeist trifft
das Bildungswesen, dessen Aufgabe gerade das
kritische Tradieren ist, im Kern seines Selbstverständnisses. Was dort
gelehrt und gelernt wird und seinen unmittelbaren Nutzen nicht
nachweisen kann, unterliegt dem Verdikt, altmodisch, überflüssig oder
zumindest veraltet zu sein. Statt dessen verengen sich
110
die
Überlegungen zum
Lehren und Lernen auf eine zum Fetisch gewordene
Praxisorientierung und damit auf unmittelbare Verwertbarkeiten, obwohl
diese morgen schon wieder in Frage stehen können. So wird der Weg frei
gemacht für eine schier unerschöpfliche Fülle von Einfällen, Plänen und
Vorschlägen, die auf die Bildungseinrichtungen niedergehen, sich an
nichts jedoch wirklich abarbeiten müssen. Das so verstandene "Moderne"
hat keine Geschichte, kennt folgerichtig auch keine Irrtümer, die
aufzuklären wären, und muss sich deshalb auch nicht revidieren; es wird
nur irgendwann durch etwas, das noch moderner ist, erneut abgelöst
.
Auf
dem Hintergrund
dieses Zeitgeistes erscheint jede kritische
Aufarbeitung als nutzlose intellektuelle Spielerei, die nur das
gemeinsame Handeln gefährdet. Was dabei jedoch unter den Teppich
gekehrt wird, sollen die folgenden Hinweise wenigstens andeuten.
Was
ist Unterricht? Entscheidend
ist die Qualität des Unterrichts - sagen die Forscher.
Wäre das nur ein technisches Problem, ließe es sich verhältnismäßig
leicht durch eine entsprechende Fortbildung lösen. Tatsächlich jedoch
gehen die Meinungen darüber, was unter Unterricht überhaupt zu
verstehen sei, inzwischen so weit auseinander, dass sie kaum noch auf
einen Nenner zu bringen sind. Es gibt keinen Konsens mehr über die
Ziele und Aufgaben der Schule, was die einen für das Idealbild einer
Schule halten, halten die anderen für das erklärte Gegenteil. Über
diese tiefe Kluft, die es nicht einmal auf dem Höhepunkt des Kampfes
für oder gegen die Gesamtschule gab, täuschen die schönen Zauberworte
hinweg. Die Lehrer müssten eben einen besseren Unterricht erteilen,
wird nun von allen Seiten gefordert. Was aber soll das heißen? Sie
erteilen doch den Unterricht, den man ihnen in der Referendarzeit
beigebracht hat: entweder konservativ aufgebaut nach einem formalen
Schema, das für kreative und von der Planung abweichende Fragen der
Schüler kaum Raum lässt; das vorher geplante Er-
111
gebnis
muss am Ende der
Stunde auch herauskommen, sonst ist die
Lehramtsprüfung gefährdet. Oder aber die sich für fortschrittlich
haltenden Ausbilder fordern den so genannten "offenen Unterricht", mit
viel action und Handlungsorientierung, wenig gedanklicher Systematik,
aber großer Beliebigkeit der Stoffe. Im ersten Falle tötet der
Schematismus die Eigeninitiative der Schüler, im anderen Falle lässt
allzu große Beliebigkeit keine zusammenhängenden Vorstellungen über die
Sachverhalte entstehen. Über das, was in den Ausbildungsseminaren, also
in der zweiten Phase der Lehrerausbildung, geschieht, wissen wir kaum
etwas, niemand scheint sich dafür zu interessieren, obwohl hier, nicht
in der so unermüdlich kritisierten Hochschulausbildung, die
entscheidenden Weichen gestellt werden. "Guter
Unterricht ist, wenn nicht mehr unterrichtet wird" - so lautet
eine oft zu hörende und zu lesende Parole, die den Anspruch der
Modernität zu erfüllen verspricht. Darin artikuliert sich eine
Gegenposition zur klassischen Vorstellung vom Unterricht. Die geht
nämlich vom Lehrer, von den Sachverhalten und vom Lehrplan aus. Der
Lehrer hat das Pensum der Grundbildung bereits hinter sich, das die
Schüler noch vor sich haben; er hat die Sachverhalte studiert, er kann
Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden und deshalb den Stoff
ordnen, er kennt die Methoden des Lernens. Die führende Rolle des
Lehrers bleibt auch dort erhalten, wo sie wie bei bestimmten
didaktisch-methodischen Arrangements zu verschwinden scheint.
Folgerichtig geht traditioneller Unterricht primär von den
Sachverhalten aus, erst sekundär auch von den so genannten Bedürfnissen
der Schüler. Der Unterricht soll zwar vorhandene Interessen und
Motivationen aufgreifen, aber mehr noch neue entstehen lassen. Das
schließt durchaus ein, die Didaktik und Methodik zu verbessern, den
Umgangsstil zu entkrampfen, aber nicht, die Sachverhalte, um die es
gehen muss, einer mehr oder weniger interessierten Schülernachfrage
anzupassen oder von einem begrenzten Leistungswillen der Schüler
diktieren zu lassen. Unter
dem Eindruck von PISA fordern alle Kultusminister nun einen
anspruchsvollen Unterricht schon in der Grundschule, aber sobald sie
daran gehen, dafür ein verbindliches Kerncurriculum – altmodisch
Lehrplan genannt – zu formulieren, pro-
112
vozieren
sie damit
erbitterte Debatten. Dabei gehört auch der Lehrplan
– ob nun vom Staat verordnet oder vom Lehrer entworfen – ebenfalls zu
den klassischen Prinzipien des Unterrichts: Ohne Lehrplan kann es keine
aufeinander aufbauenden Lehrgänge geben, schrumpft alles zum
Gelegenheitsunterricht – heute dies, morgen das.
Nun
kann man natürlich
politisch etwas anderes als diesen klassischen
Unterricht in den Schulen wollen - es gibt ja außerhalb der Schule
viele vernünftige pädagogische Angebote, die mit Schulunterricht nichts
zu tun haben – aber dann muss man das auch sagen, damit die
Öffentlichkeit sich ein zutreffendes Bild machen kann. Der
Öffentlichkeit wird jedoch vorgegaukelt, zur Wahl stünden
"altmodischer" oder "moderner" Unterricht.
Die
Abneigung gegen jede
Art von gedanklich geordnetem und
systematischem Unterricht – zusammengefasst unter dem Slogan der "Neuen
Lernkultur" – rechtfertigt sich nun mit Hinweis auf PISA: Im
klassischen lehrergeleiteten Unterricht lernten unsere Schüler etwas
Falsches, nämlich nur "theoretisches" Wissen, weshalb sie bei dessen
Anwendung, wie in der PISA-Studie gefordert, scheitern müssten. Aber in
der "neuen Lernkultur" erwerben sie gar kein geordnetes Wissen mehr,
deshalb können sie angesichts eines besonderen Problems auch nichts
davon anwenden. Die Anwendung auf einen besonderen Fall setzt immer ein
geistiges Repertoire voraus, das jenseits davon und unabhängig von ihm
zur Verfügung steht. Anwenden lernt man nicht nur durch Anwenden –
obwohl man es ständig üben muss. Voraussetzung dafür ist vielmehr, dass
vorher etwas systematisch begriffen worden ist. Eben dies ist die
Aufgabe eines vom Lehrer entsprechend geleiteten Unterrichts, darauf
können die Schüler nicht von sich aus kommen - mit einem Lehrer im
Hintergrund, der weitgehend lediglich als "Moderator" fungiert.
Auch
aktuelle Vorschläge
zum Kerncurriculum bewegen sich auf dieser
Ebene. Sie konzentrieren sich vornehm auf "Kompetenzen", nicht auf
Stoffpläne, und den Schulen soll überlassen bleiben, wie sie diese
Ziele erreichen, aber niemand weiß, wie das durch unterrichtliche
Operationalisierungen zuverlässig zu realisieren ist - erneut verdeckt
ein Zauberwort die sachlichen Schwierigkeiten und Widersprüche. Nachge-
113
rade
fragt man sich
verdutzt, wie eigentlich frühere Generationen -
z.B. die, die die Bundesrepublik aufgebaut haben - ohne das Eintrimmen
solcher "Kompetenzen" eine nützliche Schulbildung erlangen konnten.
Pädagogische
Gesinnungsorientierung Über
die Gründe, warum die deutschen Schüler so schlecht abgeschnitten
haben, wird viel spekuliert. Dabei wird leicht ein Aspekt übersehen,
der uns von anderen von PISA untersuchten Ländern unterscheidet: In
Deutschland sind über Jahrzehnte hinweg bildungspolitische und
schulpädagogische Fragen zu Gesinnungsfragen gemacht worden, deren
gegensätzliche Positionen sich institutionell in Lehrerverbänden und
Administrationen verfestigt haben. Das hängt zusammen mit der
nationalsozialistischen Vergangenheit und der Art und Weise ihrer
primär moralischen Aufarbeitung seit Mitte der sechziger Jahre. Andere
Länder haben sich dagegen von pragmatischen und wirtschaftlichen
Kriterien leiten lassen und sich unvoreingenommen die voraussichtlichen
Effekte verschiedener Planungsvarianten angesehen; deshalb konnten sie
unbefangen Wirkungsanalysen und Evaluationen durchspielen, was bei uns
weitgehend verfemt war. Die
weltanschauliche Besetzung pädagogischer Fragen hat auch dazu
beigetragen, dass das öffentliche Ansehen von Schule und Lehrerschaft
im Unterschied zu den erfolgreichen Ländern bei uns auf einem Tiefpunkt
angelangt ist. Wenn nämlich die öffentliche Meinung nicht weitgehend
geschlossen hinter den Schulen und ihren Lehrern steht und sie als für
das Gemeinwesen bedeutsame Einrichtungen und Personen anerkennt, wird
den Schülern eine wichtige Motivation genommen, die Ansprüche dieser
Institution ernstzunehmen. Hier zu Lande gibt es statt dessen ein
inzwischen selbstverständliches Bündnis der Eltern mit ihren Kindern
gegen die Lehrer - was in diesem Ausmaß nur auf dem Boden einer diese
Haltung unterstützenden öffentlichen Meinung möglich ist.
114
Diese
weltanschauliche
Prägung hat viele Facetten. Dazu gehört etwa ein
antistaatlicher Affekt, der aus der moralisierenden Verarbeitung des
Nationalsozialismus entstanden ist und sich gerade im Bildungswesen bis
in manche Administration hinein fest verankert hat. Demnach hat der
Staat keine Ansprüche zu erheben, sondern die Mittel für das
Wohlbefinden seiner Bürger bereit zu stellen. Eine Schule, die
Leistungsanforderungen an die Schüler geltend macht, gilt somit als
eine Zumutung an deren Persönlichkeit. Nur was der Schüler selbst
lernen will, darf auch von ihm gefordert werden – und ohne "Spaß" läuft
schon gar nichts. Die Schule habe sich nach den Bedürfnissen des Kindes
zu richten, nicht umgekehrt. Folgerichtig hat sich der pädagogische
Blick immer mehr auf die subjektive Befindlichkeit des Kindes, auf sein
Ich gerichtet und dabei die wünschenswerte Bildung des Subjekts in
Subjektivismus verkehrt. Vergessen wurde dabei der politische Charakter
der Schule als einer Einrichtung der Gesellschaft bzw. des Staates, die
- wenn auch pädagogisch modifiziert - Forderungen an die nachwachsende
Generation zu stellen hat. Auf einen wesentlichen Grund dafür weist die
PISA-Studie hin: Unsere Gesellschaft kann sich kein soziales Dynamit
leisten, das aus massenhafter schlechter Schulbildung resultiert. In
Gestalt der Schule bietet die Gesellschaft der nachwachsenden
Generation einerseits eine Ausbildung für die optimale Partizipation an
ihren Handlungsmöglichkeiten an, andererseits braucht sie diese
Fähigkeiten zu ihrer eigenen Reproduktion und Weiterentwicklung. Beide
Seiten können nur zusammen gesehen werden, den enormen Investitionen
für das Bildungswesen muss eine angemessene Bereitschaft zur Leistung
und Anstrengung seitens der Schüler – und ihrer Eltern! - entsprechen.
Leistungsfeindlichkeit ist demnach in dreifacher Hinsicht ein Ärgernis:
Sie dient nicht der persönlichen Entwicklung, ignoriert die
Vorleistungen der staatlichen Gemeinschaft und ist ökonomisch gesehen
parasitär. In
diesen Zusammenhang gehört auch das Konzept der "Individualisierung
des Lernens". Darin drückt sich in erster Linie die Abneigung gegen
eine für alle Schüler einer Klasse gemeinsam geltende
Leistungserwartung, also gegen den üblichen, vom Lehrer ausgehenden
Unterricht aus – "Frontalunterricht" gilt inzwischen als der Gip-
115
fel
schulpädagogischer
Ignoranz. Nun muss in der Tat der Unterricht
auch die notwendigen Individualisierungsprozesse von Schülern fördern
und ermutigen. Die werden allerdings nicht dadurch behindert, dass alle
zur gleichen Zeit denselben Stoff bewältigen und am selben Problem
arbeiten müssen, wie das im normalen Unterricht geschieht.
Individualisierung ist nicht ein im Inneren der Person ruhendes
Programm, sondern Ergebnis von Anstrengung, Mühe und Auseinandersetzung
mit Ansprüchen, die der Person von außen, etwa aus dem
gesellschaftlichen Leben oder auch von den Schulstoffen her aufgenötigt
werden. "Individuell" ist in diesem Zusammenhang gewiss das Lerntempo -
weshalb in Einzelfällen eine besondere Förderung nötig werden kann.
Individuell
ist jedoch
vor allem die Art und Weise der subjektiven
Aneignung, damit das Gelernte in der Vorstellungswelt des einzelnen
eine Bedeutung erhält. Das war früher gemeint, wenn man vom
"Bildungswert" eines Faches oder eines Stoffes sprach. Von sich aus ist
alles, was man lernt, sinnlos, bloße Information; damit daraus Wissen
werden kann, muss der Schüler ihm Sinn geben, indem er es in seine
bisherigen Erfahrungen und Vorstellungen einbaut und ihm somit eine
Bedeutung gibt. Dabei kann der Lehrer helfen, aber nicht
stellvertretend für den Schüler denken. Nun
propagiert aber der Zeitgeist von der Politik über die Wirtschaft
bis hin zu den pädagogischen und wissenschaftlichen Einrichtungen ein
instrumentelles Verhältnis zum Wissen und zum Lernen. Folgerichtig
berührt es also die Person nicht weiter, wird von ihr fern gehalten im
Sinne des "cool-bleiben", bleibt ihr insofern äußerlich und kann
deshalb auch nicht mit Sinn ausgestattet werden. In dieser Form bleibt
Wissen, wenn es denn überhaupt behalten wird, wie eine Häufung bloß
auswendig gelernter Informationen unverbunden nebeneinander stehen und
ist deshalb nur schwer auf neue Probleme anwendbar. Gegen diese
Grundeinstellung ist mit Motivationskünsten und methodischem
Einfallsreichtum durch den Lehrer kaum anzukommen. Die von der Schule
bis zur Universität und zur Lehrerbildung nicht abreißende Forderung
nach mehr "Praxisorientierung" des Wissens ist überhaupt nur auf diesem
Hintergrund verständlich. Sie beruht im Wesentlichen auf der inneren
Unfä-
116
higkeit
zum Studieren und
damit zur geistigen Auseinandersetzung. Genau
daran - nicht am Intelligenzquotienten - unterscheiden sich die
leistungsfähigen Schüler und Studenten von den weniger erfolgreichen.
Individualisierung
von
Lernprozessen scheitert heute also zunehmend
daran, dass die Bearbeitung des Ich durch die Herausforderungen der
Außenwelt – repräsentiert in den Schulstoffen – weitgehend verweigert
wird - nicht daran, dass wir nicht jeden lernen lassen, was er will und
wann er es will. Ob diese tief sitzende und weit verbreitete, wie
selbstverständlich verinnerlichte Bildungsfeindlichkeit durch eine
andere Unterrichtskultur kurzfristig korrigiert werden kann, ist mehr
als zweifelhaft. Die so genannte "Neue Lernkultur" hat sie jedenfalls
nicht abgeschafft, sondern durch die Duldung von Beliebigkeit eher
verstärkt. Es
ist schon jetzt abzusehen, dass unter dem vor Kritik schützenden
Dach der "Modernität" die gegensätzlichen Gesinnungspositionen weiter
ihre durch die Wirklichkeit nicht gedeckten Zauberworte und
"Hochglanzbroschüren" (Th. Ziehe) propagieren, in ihrem Sinne auf die
öffentliche Meinung Einfluss nehmen und dafür sorgen werden, dass sich
so schnell nichts Wesentliches ändert.
Wer
soll eine Reform tragen? Zu
den nach PISA allseits als "modern" propagierten Forderungen gehören
u.a.: bessere Förderung der Leistungsschwachen, vermehrte Fortbildung,
wirksamere didaktische Ausbildung der Lehrer, größere Aufmerksamkeit
für die Grundschule. Aber was soll daran neu sein?
Haben
wir nicht in den
letzten Jahrzehnten nahezu das ganze Schulsystem
darauf ausgerichtet, die leistungsschwächeren Schüler mit Hilfe von
Gesamtschulen, Orientierungsstufen, Förderstufen, verlängerter
Grundschulzeit, Leistungskursen und den Methoden des
individualisierenden Unterrichts zu fördern? Warum ist das
offensichtlich nicht nur erfolglos geblieben, sondern hat die Differenz
zwischen leistungsfähi-
117
gen
und weniger
leistungsfähigen Schülern nur noch vergrößert?
Vielleicht lag es daran, dass gar nicht klar war, was "Fördern"
eigentlich heißen soll, weil man z.B. zu sehr auf die Innerlichkeit des
Schülers setzte anstatt auf klare Anforderungen, auf die hin das
Fördern erfolgen soll. Die einzig halbwegs erfolgreiche Förderung
scheint der professionell betriebene Nachhilfeunterricht zu sein.
Jedenfalls kann es doch wohl nicht zu besseren Resultaten führen, wenn
man nur mehr von dem anbietet, was bisher erfolglos war, ohne den
Gründen dafür nachzuspüren. Für
die Fortbildung der Lehrer wurde noch nie zuvor so viel Geld
ausgegeben, eigene, fast monopolartige Institute mit teurem Personal
haben die Kultusminister sich dafür zugelegt - was wurde den Lehrern
dort eigentlich über all die Jahre beigebracht? Es gibt Berichte über
anrührende Kommunikationsspiele und andere Infantilisierungen sowie
über psychische Selbstschutzmaßnahmen gegen renitente Schüler. Wenn man
nicht einsieht, dass vielfach gerade die Einrichtungen der Fortbildung
als pädagogische Ideologieschmieden mitverantwortlich sind für die nun
unübersehbare Misere, wird auch vermehrte Fortbildung keine Besserung
erwarten lassen.
Didaktik
als
wissenschaftliche Disziplin gibt es seit mehr als 40
Jahren an den Hochschulen - warum hat sie den Ruin des schulischen
Unterrichts nicht verhindert oder wenigstens öffentlich wirksam
rechtzeitig kritisiert? Auch sie ist offensichtlich nicht die Lösung,
sondern ein Teil des Problems. So wie es aussieht, ist das Konzept
einer Didaktik als eigenständiger wissenschaftlicher Disziplin bisher
nicht eingelöst worden. Was bleibt dann übrig außer pädagogischen
Weltanschauungslehren - wie gehabt? Zwischen den an den Hochschulen
fabrizierten didaktischen Theorien und dem, was in den Schulen
praktiziert wird, scheint es kaum noch eine Vermittlung zu geben - was
nicht verwundert, wenn man die komplexe und komplizierte und stets auf
Vollständigkeit bedachte einschlägige Hochschulliteratur zur Kenntnis
nimmt. Jedenfalls wäre die Vermutung abwegig, der Unterricht würde
automatisch besser, wenn die Lehrer an den Hochschulen didaktisch
besser ausgebildet würden. Die
didaktischen Überlegungen haben zudem in den letzten Jahrzehnten
weniger auf die Lehrbarkeit von Wissen gesetzt – also auf Kanon,
Lehrplan und Lehrgang -
118
sondern
auf Lerntheorie.
Die Hoffnung, man könne auf diese Weise
allgemeine, möglichst sogar fachunspezifische Regeln oder gar Gesetze
des Lernens und damit eben auch entsprechende Strategien des
Lehrerhandelns finden, wurden jedoch bisher enttäuscht. Je genauer die
Lernforschung wird, um so mehr muss sie vor der Komplexität des
Problems kapitulieren und um so weniger gibt sie infolgedessen für die
Handlungsorientierung der Lehrer her. Die praktisch relevanten
Ergebnisse gehen kaum über das hinaus, was ein Lehrer nach einiger
Berufserfahrung ohnehin weiß. Auch
darüber, dass die Bildungsbemühungen im Vorschulbereich und in der
Grundschule verstärkt werden müssen, scheint Einigkeit zu herrschen.
Aber die infantilisierende Unterforderung von Grundschulkindern ist
schon Ende der sechziger Jahre entdeckt und heftig diskutiert worden,
und der Bildungsrat hat seinerzeit ein ausführliches, wissenschaftlich
fundiertes Reformkonzept vorgeschlagen - warum ist das so schnell
versandet? Gewiss gab es damals einige unrealistische szientistische
Übertreibungen, aber der wahre Grund war: Weder die Schulbehörden noch
die Lehrer oder die Eltern wollten eine solche Grundschule – warum
sollten sie sie jetzt wirklich wollen? Um Grundschulkindern z.B.
grundlegende naturwissenschaftliche Einsichten zu vermitteln, wie jetzt
wieder erwartet wird, müssen die Lehrer neben der didaktischen über
eine relativ hohe fachwissenschaftliche Kompetenz verfügen, sonst
können sie die notwendigen didaktischen Reduktionen nicht vornehmen und
flexibel anwenden; dafür werden sie aber nicht ausgebildet. Jeder
didaktischen Analyse muss erst einmal die Sachanalyse vorausgehen -
aber wie viele Lehrer können das noch? Schon
damals lag auf der Hand, dass Kinder in diesem Alter besonders
empfänglich fürs Lernen und deshalb früh an Leistung heranzuführen
sind, was besonders wichtig für diejenigen aus bildungsfernen Schichten
ist. Wenn Kinder in der Grundschule systematisch unterfordert werden,
schadet das den ohnehin benachteiligten, während Schüler aus dem
bildungsnahen Milieu das mit Hilfe des "kulturellen Kapitals" ihrer
Familie weitaus besser kompensieren können. Ideologiekritisch gewendet
ergibt sich daraus eine merkwürdige Pointe: Wenn wir das alte
Bildungsprivileg hät-
119
ten
erhalten wollen - was
uns ja gelungen ist, wie PISA zeigt - dann
hätten wir die Grundschule genauso planen müssen, wie wir sie jetzt
haben - einschließlich ihrer personellen und materiellen
Unterversorgung. Es ist die Tragik der sozialdemokratischen, auf
Chancengleichheit gerichteten Bildungspolitik, dass sie von
pädagogischen Illusionisten aus ihren eigenen Reihen torpediert wurde,
denen es gelungen ist, über Jahrzehnte einen mehr als problematischen
pädagogischen Zeitgeist zum ideellen Leitmotiv der öffentlichen Meinung
zu machen. Die Politik kann zwar "Chancengleichheit" als Ziel
formulieren, es jedoch nicht selbst in den Schulen realisieren; für die
Umsetzung braucht sie pädagogische Fachkompetenz - und das ist ihr zum
Verhängnis geworden.
Gerade
die Grundschule
ist - von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, weil
sie ihr ohnehin nicht interessant genug erschien - zum Versuchslabor
für alle möglichen, meist unausgereiften pädagogischen Ideen geworden;
immerhin stellt sie die einzig flächendeckende und konkurrenzlose
Gesamtschule dar. Alles soll dort "spielerisch" sein, systematischer
Unterricht gilt ebenso als kinderfeindlich wie das Erteilen von
Zensuren – vom Sitzenbleiben ganz zu schweigen. Alles zusammen deutet
darauf hin, dass Anstrengung und Leistung in der Grundschulkultur keine
zentralen Werte darstellen. Klassische Lerntechniken wie Einmaleins,
Auswendiglernen von Gedichten, Vorlesen von Texten und vor allem
ständiges Üben des Gelernten sind weitgehend verloren gegangen.
Hausaufgaben könnten die familiär benachteiligten Schüler
diskriminieren. Wie soll eine solche seit Jahren gefestigte und
unangefochtene pädagogische Grundeinstellung kurzfristig geändert
werden - mit demselben Personal, denselben Ausbildern und Fortbildnern?
Zudem
erfolgt der
Schuleintritt für immer mehr Kinder zu spät. Nach dem
Gesetz sind Kinder einzuschulen, wenn sie mindestens sechs Jahre alt
sind; Rückstellungen müssen begründet werden, wurden aber in den
vergangenen Jahren immer öfter zur Regel, so daß das durchschnittliche
Einschulungsalter auf fast sieben Jahre angestiegen ist. Das schlägt
sich auch in der PISA-Studie nieder, insofern in Deutschland die
15-jährigen Schüler auf die Klassen sieben bis zehn in einem Maße
verteilt sind wie
120
in
keinem anderen
untersuchten Land. Unter Eltern in der Mittelschicht
ist es üblich geworden, den möglichst späten Schuleintritt ihrer Kinder
untereinander als besondere Fürsorge auszugeben, und wenn die Kinder
endlich in der Schule sind, werden die Lehrer genervt, sobald die
Sprösslinge mit Unlustgefühlen nach Hause kommen.
Krokodilstränen
für die Benachteiligten Vielleicht
am meisten überrascht hat gerade reformpädagogisch
orientierten Kreise, dass die Leistungsschere zwischen den Kindern aus
unterschiedlichen soziokulturellen Milieus trotz aller gegenteiligen
Bemühungen nicht kleiner, sondern größer geworden ist und somit das
Wunschziel zunehmender Chancengleichheit weit verfehlt wurde. Dieses
Resultat wird im Allgemeinen der Dreigliedrigkeit des Schulwesens und
der frühen Selektion angerechnet. Abgesehen davon, dass die
Gesamtschulen hier auch nicht erfolgreicher waren, wird durchweg
übersehen, dass nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für
fortschrittlich hält, die Kinder aus bildungsfernem Milieu
benachteiligt. Sozial selektiert wird bereits mit dem ersten Schultag.
"Offener Unterricht", überhaupt die Demontage des klassischen,
lehrerbezogenen Unterrichts, die Wende vom Lehren zum Lernen und damit
die übertriebene Subjektorientierung, die Verunklarung der
Leistungsansprüche, Großzügigkeit bei der Beurteilung von
Rechtschreibschwächen bis hin zur Adaption von medizinischen
Erklärungen wie Legasthenie hindern die Kinder mit von Hause aus
geringem kulturellen Kapital daran, ihre Mängel auszugleichen, während
sie den anderen kaum schaden. Der pädagogische Zeitgeist hat das
Bildungsprivileg der Mittelklasse nach unten hin verteidigt; er ebnete
dabei ihrem weniger leistungsfähigen Nachwuchs den Weg zum Abitur und
zum Hochschulstudium, vergrößerte auf diese Weise jedoch den Rückstand
der anderen. Es ist ähnlich wie in der Sozialpolitik: Wenn die
benachteiligten sozialen Schichten schon etwas bekommen sollen, wie das
Kindergeld, dann sollen es alle
121
anderen
auch haben. Unter
den Bedingungen der Ungleichheit ist
Gleichbehandlung aber immer Ungleichbehandlung. Schule
ist unvermeidlich eine Mittelklasseinstitution. Sie begünstigt
deshalb notwendigerweise diejenigen Kinder, die aus diesem Milieu
kommen. Nicht nur sind sie mit einem besseren sozialen und kulturellen
Startkapital ausgestattet, ihre Schulerfahrungen und Schulerfolge
werden auch zu Hause selbstverständlicher sozial akzeptiert und
unterstützt. "Subjektorientierung" etwa, wie sie durch die
psychologisch fundierte Reformpädagogik propagiert wird, ist ein
Projekt der Mittelschicht, in den unteren Schichten gilt sie von Hause
aus wenig. "Lebensweltorientierung" des Unterrichts meint das eigene
bürgerliche, nicht das depravierte Ambiente - davon versteht die Schule
außer der Vermutung von materieller oder kommunikativer Armut nichts.
In diesem Milieu ist man auch nicht "intrinsisch" motiviert - das kann
man sich gar nicht leisten. Kinder
aus bildungsbenachteiligten Familien müssen sich also mit Hilfe
der Schule von ihrem Familienhintergrund teilweise emanzipieren oder
zumindest eine innere Gegenwelt dazu aufbauen, wenn sie das schulische
Lernangebot optimal nutzen wollen; das behindert die Gleichheit ihrer
Chancen enorm. Das einzige Kapital, das diese Kinder von sich aus
vermehren können, sind ihr Wissen und ihre Manieren; dafür brauchen sie
eine Schule, in der der Lehrer nicht nur "Moderator" für
"selbstbestimmte Lernprozesse" ist, sondern die Führung übernimmt und
die entsprechenden Orientierungen vorgibt. Gerade das sozial
benachteiligte Kind bedarf, um sich aus diesem Status zu befreien,
eines geradezu altmodischen, direkt angeleiteten, aber auch geduldigen
und ermutigenden Unterrichts. Die Schulreformpädagogik der letzten
Jahrzehnte hat entgegen ihren Beteuerungen für diese Kinder gar nichts
bewirkt, wie sich jetzt herausgestellt hat. Das gilt erst recht für
solche Kinder, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind; vielfach
werden sie jedoch einfach in die Grundschulen gesteckt, weil es so für
die Administration am bequemsten und vor allem am billigsten ist,
während andere, erfolgreichere Länder wie Schweden niemanden in die
Schule lassen, der nicht hinreichend die Landessprache beherrscht. Die
Hoffnung,
122
man
könne solche tief
fundierten Benachteiligungen mit ein paar
zusätzlichen Förderstunden in den Griff kriegen, ist schiere
Sozialromantik. Erfolgreicher könnten schon Ganztagsschulen sein, aber
nur dann, wenn sie möglichst früh, nachhaltig und relativ dauerhaft ein
Gegenmilieu bilden würden. Solche und andere nützliche Angebote
speziell für entsprechende Regionen bzw. Stadtteile einzurichten,
verteufeln die Sozialromantiker jedoch als Diskriminierung. Die
objektiv Benachteiligten sollen sich nicht als solche fühlen - ein
klassischer ideologischer Trick, von dem die Betroffenen nichts haben.
Der entscheidende pädagogische Denkfehler, der schon in der Weimarer
Zeit bei der pädagogischen Begründung der gemeinsamen Grundschule zu
Tage trat, liegt in der Definition des Kindes "als solchem". Da damals
nämlich auch Kinder des Bürgertums die Grundschule besuchen sollten,
brauchte man eine pädagogische Idee, die als über den sozialen Klassen
stehend angesehen werden konnte; dafür bot sich die reformpädagogische
Vorstellung einer gelungenen Gestaltung der Kindlichkeit des Kindes an.
So wurde die Grundschule zu einer Kinderschule, die der
erzieherisch-pflegerischen Förderung aller kindlichen Kräfte den
Vorrang einräumte gegenüber einer für einseitig und kinderfeindlich
gehaltenen kognitiven Bildung. Dabei ist es im Wesentlichen bis heute
geblieben. Sozial gesehen gibt es jedoch nur Kinder, die in Blankenese
oder in Kreuzberg, in Reichtum oder Armut, mit gebildeten oder weniger
gebildeten Eltern aufwachsen - um nur gröbste Kategorien zu nennen.
Was
ist zu tun?
Die
Kultusminister haben lange gezögert, sich an international
vergleichenden Untersuchungen überhaupt zu beteiligen und mussten von
den Forschern mühsam dazu überredet werden. Nun wollen sie den Blick
nach vorne richten, nicht in die Vergangenheit. Aber vorne wird sich
nichts zeigen, was der Mühe wert ist, wenn nicht eine Bilanz gezogen
wird, die die Entwicklung der letzten Jahrzehnte kritisch in
123
den
Blick nimmt. Dabei
gehören alle gegenwärtig gehandelten
pädagogischen Konzepte auf den Prüfstand, gerade auch diejenigen, die
als besonders fortschrittlich – nämlich als "modern" - gelten. Es gibt
keine Patentrezepte und auch keine schnellen Lösungen, weil sich – das
sollte unsere Problemskizze zeigen – kaum ein vom pädagogischen
Zeitgeist unbeschädigter Ansatzpunkt dafür finden lässt. Übrig bleibt
einstweilen nur, den gegenwärtigen Zustand weiterhin möglichst präzise
zu erforschen, ihn ungeschönt zu beschreiben, Fehlentwicklungen zu
erkennen, sie behutsam zu korrigieren, den wohlklingenden Zauberworten
zu misstrauen und nicht wie bisher den Novitäten aus den
Wissenschaften, der Wirtschaft oder der Organisationslehre auf den Leim
zu gehen, nur weil sie sich gerade marktschreierisch in Szene setzen.
Im
Mittelpunkt der
Überlegungen sollte eine einfache Leitfrage stehen:
Was von alledem, was den Schulen und ihren Lehrern heute und künftig
zugemutet werden soll, nützt wirklich den Schülern im Hinblick auf ihre
gegenwärtige und vor allem zukünftige gesellschaftliche Teilhabe? Wenn
man daraufhin einmal alles sortiert, was in den letzten Jahrzehnten an
angeblichem pädagogischem Fortschritt über die Schulen hereingebrochen
ist, macht man die erstaunliche Entdeckung, dass die Bedürfnisse der
Schüler wenn überhaupt, dann nur eine instrumentelle und legitimierende
Funktion gehabt haben. Am Beispiel der von Hause aus benachteiligten
Kinder lässt sich das besonders eindrucksvoll zeigen.
Helfen
bei einer
Neubesinnung werden auch Untersuchungen wie PISA nur
dann, wenn ihr praktischer Nutzen richtig eingeschätzt wird.
Unterrichten als soziales Handeln ist niemals nur die Anwendung von
irgendetwas - auch nicht von noch so bedeutsamen empirischen
Forschungsergebnissen - sondern stets ein Schritt ins Ungewisse mit
ungewissem Ausgang. Wissenschaftliche Forschungen können dieses Handeln
grundsätzlich nicht konstituieren, sondern nur mit vorbereiten und
aufklären. Deshalb sind Untersuchungen wie TIMSS und PISA für den
Handlungshorizont der Lehrer nur von begrenzter Bedeutung - im
Unterschied zu ihrer bildungspolitischen Relevanz. Das gilt übrigens
für andere empirische Forschungen wie die Lern-
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forschung
auch; sie
überschwemmen inzwischen die Schulen mit immer
wieder neuen Fachterminologien, deren Nutzen jedoch relativ begrenzt
bleibt, weil die Ergebnisse immer erst in den Standpunkt des Handelns
übersetzt werden müssen. Geschieht das nicht, brechen neue
Forschungsergebnisse nur wie einander ablösende Moden in das
Schulgeschehen ein, ohne es wirklich verbessern zu können. Die
grundlegende Handlungsstruktur des Unterrichtens ist der
wissenschaftlichen Aufklärung vorgegeben und nicht aus ihr deduzierbar.
Wird das übersehen, droht die Gefahr, dass Bildungsforschungen in der
Art von PISA zum Maßstab nicht nur für bildungspolitische, sondern auch
für didaktische Entscheidungen werden. Deshalb muss man fragen, was sie
eigentlich messen und was nicht, und inwieweit das Gemessene mit den
pädagogischen Zielen identisch ist oder sein soll - zumal ähnliche
Verfahren ja auch für die Evaluation vorgesehen sind.
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