Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 5: 1966

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register


Zu dieser Edition

Dieser fünfte Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahre 1966. Zu dieser Zeit (seit 1963) war ich Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Pädagogik an der Universität Kiel.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag  2000.Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit.  Aufgenommen wurden nur  bereits gedruckte Texte. Nicht aufgenommen wurden Bücher ( in diesem Jahr: Politische Bildung in der Jugendarbeit. München 1966)
Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags.  Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind  durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von  "1"  an numeriert, die  vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden

Inhalt von Band 5

44. Das Gymnasium im Bildungssystem der DDR (1966)
45. Ein gut organisiertes Chaos (1966).
46. Bestandsaufnahme der "DDR"-Pädagogik (1966)
47. Der Job ersetzt den Beruf (1966)
48. Entwurf einer Didaktik der Berufsfähigkeit (1966)
49. Kommunistische Pädagogik in westdeutscher Sicht (1966)
50. Denken statt Dienen? (1966)
51. Animositäten aus des Bürgers Mottenkiste (1966)
52. Lehrzeit oder Leerzeit? (1966)
53. Braucht die deutsche Jugend Nationalgefühl? (1966)

44. Das Gymnasium im Bildungssystem der DDR (1966)
 

(In: Theodor Wilhelm (Hrsg.): Die Herausforderung der Schule durch die Wissenschaften. Festgabe für Fritz Blättner zum 75. Geburtstag. Weinheim 1966, S. 69-78)
 
 

Das Schulwesen der DDR kann - vor allem seit der Schulreform von 1958 - durch viele Merkmale charakterisiert werden: durch die ihm zugrunde liegende politische Ideologie; durch den großangelegten Versuch, alle Erziehungseinflüsse innerhalb wie außerhalb der Schule noch einmal konzentriert auf ein einziges Erziehungsziel hin zu koordinieren; oder auch durch sein technologisches Menschenbild. Vielleicht aber trifft man seine Eigentümlichkeit am deutlichsten, wenn man sich klar macht, daß es ein Schulwesen ohne Gymnasium ist.

Die Liquidation des deutschen Gymnasiums als einer eigenständigen Schulform ist eigentlich keine Erfindung der SED. Sie findet sich vielmehr schon in den ersten größeren schulpolitischen Entwürfen der deutschen Marxisten vor dem Ersten Weltkrieg. Heinrich Schulz, der mit Clara Zetkin damals zu den schulpolitischen Chefideologen der Sozialdemokratie gehörte, entwarf eine "Einheitsschule", in der die Kinder bis zum 14. Jahr gemeinsam die "Unterschule", vom 15. bis 18. Jahre obligatorisch die "Mittelschule" -  gegliedert in eine theoretische und eine praktische Abteilung - , und vom 19. Lebensjahr an die Hochschule besuchen (1). In diesem Plan war für die Gymnasien kein Platz mehr. Der größte Teil ihres Lehrstoffes sollte der Universität vorbehalten bleiben, ein geringerer in die neue Mittelschule übernommen werden. In diesen Plänen wurde das Gymnasium nicht etwa aus Gegnerschaft gegen die klassische deutsche Bildungstheorie für überflüssig erklärt; im Gegenteil: deren Wirkung und Ansehen war auch unter den Sozialisten so groß, daß nach ihrem Wunsche alle Volksschichten durch die geplante Neuordnung daran partizipieren sollten. Das Gymnasium galt damals weniger als Repräsentant einer falschen Bildungsidee, sondern umgekehrt als Institution, die die Sozialisierung der richtigen Bildungsidee verhinderte. Der

69

Kampf gegen das Gymnasium galt dem Bürgertum, das es zu seiner Monopolschule erhoben hatte und damit auch seine Idee verraten habe. Vor allem unter dem Eindruck der Arbeiten von Franz Mehring breitete sich unter den Marxisten die Vorstellung aus, daß das Bürgertum durch seine Klasseninteressen daran gehindert werde, die Traditionen der deutschen pädagogischen Klassik weiter zu entwickeln; dazu sei von ihrer Interessenlage her nur die Arbeiterschaft imstande. Es gab also damals für die Vertreter des Gymnasiums wie für die Sozialdemokraten noch eine breite gemeinsame Basis: das Bekenntnis zur klassischen deutschen Bildungstradition. Die pädagogische Kritik am Gymnasium als einer Lern- und Buchschule ging ohnehin weit über die Sozialdemokraten hinaus und hatte die gesamte reformpädagogische Strömung erfaßt. Diese gemeinsame Basis ermöglichte eine rationale, durch Vernunft und Argumente kontrollierte Auseinandersetzung (2).

Aber unter dem Eindruck der Erfahrungen mit den ersten Jahren der Weimarer Republik änderte sich diese Haltung. Nun zeigte sich nämlich, daß sich in den Universitäten und in den höheren Schulen nicht nur die klassische deutsche Bildungsidee, sondern ebenso auch weitgehend die antirepublikanische und antidemokratische Front repräsentierte, und man begann zu vermuten, daß es zwischen beiden einen inneren Zusammenhang geben müsse. Die hundert Teilnehmer einer "Freien Reichskonferenz für sozialistisches Bildungswesen" verfaßten 1920 ein Manifest, in dem es heißt: "Da studiert es emsig an den hohen Schulen, ein ganzes Volk im Volke, und bringt doch nicht einmal Wohlstand für alle zustande, guckt in Sterne, glotzt in Mikroskope, schnüffelt in Altertümern, treibt Historie von Raubgesindel und seziert, was die Skribenten aller Zeiten von sich gegeben haben, Philosophen erzeugt es, deren Geschwätz die Ordnung der Herrschenden glorifizieren soll, Priester bildet es aus, die noch heute die Hölle predigen für unbotmäßige Proletarier, und ganze Scharen übler Rechtsverdreher leben nur davon, den Diebstahl am Volksgute, das private Eigentum, die Machenschaften des Kapitals zu verteidigen ... " (3). Diese Stellungnahme ist natürlich nur für Minderheiten repräsentativ, aber sie zeigt die Tendenz einer vor allem aus der politischen Enttäuschung erwachsenen Emotionalisierung an. Beides, die wenn auch fragmentarische Tradition einer eigenständigen marxistisch-sozialistischen Bildungsidee, wie auch die Erfahrung vom Zusammenhang bestimmter Bildungsideen mit der antidemokratischen Vorstellungswelt haben die Schulpolitik der DDR von Anfang an geprägt und ihr auch zunächst viele nicht-kommunistische Bundesgenossen verschafft.

Wir müssen hier den knappen historischen Rückblick auf sich beruhen lassen. Er sollte uns nur daran erinnern, daß die wesentlichen Prinzipien, auf

70

denen das gegenwärtige Schulwesen der DDR beruht, eine längere Tradition in Deutschland haben, als man gemeinhin annimmt. "Einheitlichkeit", "Weltlichkeit" und "Liebe zur Arbeit" finden sich schon zu Beginn unseres Jahrhunderts als Prinzipien in den marxistischen schulpolitischen Plänen. Neu in der gegenwärtigen DDR-Pädagogik ist eigentlich nur der stufenweise, und vor allem seit I958 immer intensiver betriebene Versuch, eine eigenständige und umfassende marxistische Bildungstheorie zu formulieren. Diesen Bemühungen nun ist das Gymnasium endgültig zum Opfer gefallen.

Bevor man diese Tatsache allein schon zum Anlaß nimmt, das Schulwesen in der DDR zu kritisieren, müssen sorgfältig die Gründe für diese Entwicklung überprüft werden. Es könnte ja sein, daß ein eigenständiges Gymnasium in der Tat überflüssig geworden ist.

Die Liquidation des Gymnasiums ist in der DDR bisher nirgends klar ausgesprochen worden. Im Gegenteil, sie wird eher totgeschwiegen. Auf der 4. Tagung des ZK der SED im Jahre I959 gab Kurt Hager zu, daß "über die Aufgabe der 12klassigen Oberschule in der Vergangenheit nicht genügend Klarheit herrschte"(4).  Daran hat sich bisher nichts geändert; wo in der pädagogischen Fachliteratur der DDR überhaupt von der "erweiterten Oberschule" die Rede ist - so heißen die Reste des Gymnasiums seit Einführung der "allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule" - , da handelt es sich fast nur um Probleme der Berufsausbildung der Abiturienten (5).
Zur Zeit gibt es also durchaus noch Oberschulen vom 9.-12. Schuljahr, die den westdeutschen noch einigermaßen vergleichbar sind. Aber man steht ihnen einigermaßen ratlos gegenüber, man weiß, daß man ihnen eine ganz neue Funktion geben muß, wenn sie nicht bloße Relikte aus längst vergangener Zeit sein sollen. Welche Strukturmerkmale des DDR-Bildungssystems sind nun verantwortlich für diese Entwicklung?

1. Das Prinzip der Einheitlichkeit der Bildung verlangt zwar eine Stufung des Leistungsanspruches, verträgt sich aber nicht mit der Annahme quali-

71

tativ verschiedener, nebeneinander bestehender Bildungseinrichtungen. Was immer "Allgemeinbildung" heißen mag, sie muß für jeden Jugendlichen desselben Alters im Prinzip auch dasselbe bedeuten. Die neue Vorstellung von Allgemeinbildung ist für alle Heranwachsenden obligatorisch in der "zehnjährigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule" institutionalisiert. Was darüber hinausgeht - wie die "erweiterte Oberschule" - kann folgerichtig im Hinblick auf seine Bildungskonzeption auch nur auf diese neue "Volksschule" bezogen werden: es muß eine Höherqualifizierung im Rahmen ein und derselben Bildungsidee sein. In unsere Sprache übersetzt: Gymnasiasten können nur höher qualifizierte Volksschüler sein.

2. Diesem Grundsatz der Einheitlichkeit widerspricht, daß eine Schulform  - die erweiterte Oberschule - zur Hochschulreife führt und die anderen mehr oder weniger vollständig bei den unteren oder mittleren Berufspositionen versanden. So ist heute das Abitur einer erweiterten Oberschule nicht mehr unbedingt identisch mit der Hochschulreife, sondern nur einer von mehreren möglichen Wegen zur Hochschule (6). Damit ist ein wesentliches Motiv für den Besuch der erweiterten Oberschule entfallen. Maturität ist kein Privileg des Gymnasiums mehr.

3. Dem Grundsatz der Einheitlichkeit widerspricht ferner, daß diejenigen Schüler, die eine erweiterte Oberschule besuchen, vor dem 10. Schuljahr die Zehnjahresschule verlassen (7). Andererseits wird immer klarer, daß trotz aller Anstrengungen, das Sitzenbleiberproblem auf der Zehnjahresschule zu lösen, der hohe unterrichtliche Anspruch dieser Schule nur gehalten werden kann, wenn man zwei Maßnahmen ins Auge faßt: die Zahl der Sonderschüler muß vergrößert werden, und die besonderen Begabungen müssen frühzeitig erkannt und entsprechend gefördert werden. Es hat lange gedauert, bis die DDR-Pädagogik begriff, daß man große Begabungen nicht produzieren kann wie hochwertigen Stahl, sondern daß man sie nehmen muß, wo man sie findet (8). Aus diesen Gründen gehen die Bemühungen dahin, die Oberstufe der Einheitsschule zu differenzieren, wozu auch die Bildung von "Spezialklassen" und "Spezialschulen" gehört. Die Spezialschulen sollen auf der Grundlage der gleichen Allgemeinbildung bestimmte Schwerpunktfächer verstärken - z. B. in den Naturwissenschaften - und mit besonders

72

wichtigen Industriebetrieben zusammenarbeiten. Diese Spezialschulen sollen möglichst bald in Tagesschulen umgewandelt werden (9). Eine Differenzierung der Oberstufe der Einheitsschule schon von der 7. Klasse an scheint nun dem Gymnasium wieder eine Funktion zu erteilen. Die Überlegungen gehen aber einstweilen in die entgegengesetzte Richtung: die noch bestehenden drei Zweige der erweiterten Oberschule in vor allem technische Spezialschulen aufzulösen (10).

4. Der schwerste Schlag gegen das traditionelle Gymnasium wird aber mit dem neuen Begriff der "Allgemeinbildung" geführt. Darunter versteht man gegenwärtig in der DDR - auf eine Formel gebracht - die Totalisierung der Berufsrolle. Die Kerschensteinersche Identifizierung von allgemeiner, Berufsbildung und staatsbürgerlicher Bildung - nun ihres Klassencharakters entkleidet und nicht nur für die Volks- und Berufsschule gültig - scheint eine unerwartete Neuauflage zu erleben (11). Daß in Zukunft jeder Abiturient eine Berufsausbildung oder wenigstens eine berufliche Grundausbildung erwerben soll, die Bestandteil des Abiturs ist, scheint eher pragmatischen Überlegungen zu entspringen (12). Wichtiger ist, daß Gerhart Neuner in einem grundlegenden Aufsatz die "konsequente Bezogenheit des Bildungsideals und des Inhalts der Allgemeinbildung auf die Entwicklung des materiellen Lebens der Menschen, insbesondere der gesellschaftlichen Produktion" als Grundlage weiterer Präzisierungen des Begriffs der Allgemeinbildung bezeichnet. Die "schroffe Trennung zwischen allgemeiner und spezieller bzw. beruflicher Ausbildung" und "die strenge zeitliche Aufeinanderfolge von Allgemeinbildung und spezieller Ausbildung" müsse überwunden werden. "Die allseitige Ausbildung des Menschen beruht nicht nur auf der Allgemeinbildung; sie erfordert auch eine spezielle Ausbildung auf einem oder mehreren Gebieten" (13).

Hier wird formal ein Problem beschrieben, das für uns ebenfalls gilt: Was kann heute noch überzeugend Allgemeinbildung heißen? Einstweilen

73

aber wird in der DDR diese Diskussion noch in einer charakteristischen - und gänzlich undialektischen - Verengung geführt: Allgemeinbildung wird auf technologische Bildung reduziert. In den "Grundsätzen" heißt es nämlich: "Im Vordergrund der Allgemeinbildung stehen feste und anwendungsbereite Grundkenntnisse in der Mathematik, den Naturwissenschaften, der Technik und der Ökonomie, die zur Beherrschung hochentwickelter Produktionsprozesse erforderlich sind" (14). Angesichts einer solchen Reduktion der Allgemeinbildung auf technologische Bildung und angesichts der undialektischen Funktionalisierung aller anderen Bildungsbereiche auf diesen einen Zweck muß das alte Gymnasium endgültig auf der Strecke bleiben. Offensichtlich hat sich in diesem Punkte auch eine breite Kritik ergeben; denn Alexander Abusch mußte sich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die Sprachausbildung und die musische Ausbildung seien in den "Grundsätzen" zu kurz gekommen. Abusch muß den Begriff der ästhetischen Erziehung sehr weit auslegen, um zu behaupten, sie trage "unmittelbar zur Erfüllung aller Ziele bei, die unseren Bildungseinrichtungen gegenwärtig gestellt sind" (15).

Hier nun scheint mir der entscheidende Punkt einer Kritik am Bildungssystem der DDR zu liegen. Gewiß ist es nicht mehr zu rechtfertigen, wenn eine gymnasiale Bildungstheorie nicht als höhere Qualität einer allgemeinen Volksbildungsidee, sondern als deren qualitativer Gegenpol verstanden wird; gewiß bedarf das Verhältnis von allgemeiner Bildung und Berufsbildung überall in der Welt einer sehr genauen Überprüfung; und gewiß müssen naturwissenschaftliche, ökonomische und technologische Fächer in starkem Maße Einzug in die Schule halten. Gewiß muß die Schule viel mehr als früher mit der Berufsausbildung verbunden werden, und hier scheint mir die eigentliche Leistung des DDR-Systems zu liegen. Wo aber die einzelnen kulturellen Bereiche nicht wenigstens eine relative Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Funktionalisierungen und Zwecken behalten, wo sie undialektisch - und damit übrigens auch unmarxistisch - aus jeweils aktuellen ökonomischen Verlegenheiten ganz einfach deduziert werden, wo jede menschliche Beziehung unter die species der ökonomischen subsumiert wird: dort stirbt nicht nur das alte Gymnasium, sondern ein wesentliches Moment der klassischen Bildungstradition überhaupt. Wo immer heute versucht wird, den Bildungshorizont unter eine einzige geschlossene Idee zu bringen, wo immer die Pluralität der Lebensmöglichkeiten, -ziele und -formen unter irgendeine undialektische Identität gebracht wird, da handelt es sich auch nicht um "Fortschritt", sondern um den verzweifelten Versuch, Bildungsprobleme des 20. Jahrhunderts mit den Mitteln des 18. und 19. zu lösen. Die Liquidation des alten Gymnasiums in der DDR steht vorläufig jedenfalls für eine Liquidation dessen, was heute noch mit Recht Allgemeinbildung heißen könnte.

74

Die alten Kontroversen über "allgemeine oder spezielle", "allgemeine oder berufliche" Bildung führen uns dabei nur auf eine falsche Fährte. Daß allgemeine Bildung nicht undialektisch vom Kern einer technologischen Bildung aus möglich ist, ergibt sich vielleicht am eindrucksvollsten aus der Anwendung eines Gedankenganges von Joachim Ritter: "Man kann ... mit einer gewissen Vereinfachung sagen, daß die Eigentümlichkeit und Einmaligkeit der modernen Gesellschaft in ihrer prinzipiellen und für sie konstitutiven Unabhängigkeit von den Voraussetzungen der geschichtlichen Herkunft gesehen werden kann. Sie wird und ist eine "geschichtslose" Gesellschaft, das ist vielleicht eines ihrer wichtigsten und folgereichsten Kennzeichen. Die politischen, sozialen, aber auch die ökonomischen Theorien, die im 18. Jahrhundert ihre Heraufkunft begleiten und ihr den Weg bahnen, sind daher nicht zufällig alle "Natur"-Theorien; sie greifen auf die Bedürfnisse des Menschen zurück, die sie als seine ursprüngliche, vorgeschichtliche und von allen Formen geschichtlicher Ungleichheit unabhängige und gleiche Natur verstehen, um in ihr das Prinzip zu gewinnen, das es erlaubt, Gesellschaft, Staat, Recht, Wirtschaft ohne jeden Rückgriff auf das geschichtlich Bestehende und Vorgegebene zu 'deduzieren' ... . Das bedeutet aber, daß das geschichtliche Verständnis der Gesellschaft und ihrer Revolution nicht möglich ist, wenn man von der geschichtslosen Gesellschaft ausgeht, es verlangt vielmehr, daß sie in der Kontinuität der Geschichte gesehen wird. Nur so wird verständlich, was sie geschichtlich ist und wie sich mit ihr und durch sie die Geschichte der Völker verändert" (16).  Angewandt auf das Problem des Verhältnisses von allgemeiner und technologischer Bildung ergibt das, daß sie sich nicht auseinander ableiten lassen, sondern daß mindestens zwei Elemente der "Allgemeinbildung" - historische und technologische Bildung - prinzipiell unabhängig voneinander konzipiert und auf den Bildungsprozeß angewandt werden müssen. Oder anders: die Argumente für eine historische Bildung -  an der ja auch in der DDR festgehalten wird! - können nicht aus den technologischen Problemen der Gegenwartsgesellschaft stammen.

Wir haben gesehen, daß es eine marxistische Gymnasialtheorie nicht gibt, weil es innerhalb der marxistischen Bildungstheorie keinen Ort für ein Gymnasium in unserem Sinne geben kann. Dennoch bleiben für die DDR-Pädagogik eine Reihe ähnlicher Probleme bestehen, die auch unsere Gymnasialdiskussion beherrschen. Vom Problem der Allgemeinbildung war eben schon die Rede. Hinzu kommt eine zweite Schwierigkeit. Auch wenn man nämlich das Bildungswesen wie in der DDR stuft und die jeweils höhere Stufe

75

lediglich als eine Höherqualifizierung der für alle gültigen Bildungsidee betrachtet, braucht man für jede Stufe eine eigene Theorie. Im Augenblick weicht man diesem Problem mit der Bevorzugung der technologischen Aspekte nur aus. Natürlich kann man die höheren Formen der Schulbildung so konzipieren, daß sie den wesentlichen beruflichen Qualifikationsstufen in einer modernen Wirtschaft entsprechen. Damit reimt sich aber nicht zusammen, daß man in der erweiterten Oberschule wie in der Hochschule auch die politisch-ideologischen Fächer beibehält. Muß der künftige Maschinenbau-Ingenieur mehr und anders über die "Geschichte der Arbeiterklasse" wissen als der künftige Lokomotivführer, Kellner oder Friseur? Läßt sich "sozialistisches Bewußtsein" steigern, und müssen einige Menschen "sozialistischer" sein als andere? Die Schulreform von 1958 ist nicht zuletzt mit dem Argument begründet worden, die Hochschulen seien überfüllt, während für viele wichtige berufliche Tätigkeiten die Facharbeiter fehlten. Kann man den einen "Liebe zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit" abverlangen und die anderen nicht nur beruflich höher qualifizieren, sondern auch "sozialistischer" machen? Die gegenwärtige Schulkonzeption der DDR wäre stimmig, wenn sie Allgemeinbildung nur für die Zehnjahresschule forderte und die Lehrpläne für die höheren Stufen konsequent aus den beruflichen Qualifikationen deduzierte.

Aber man scheint einzusehen, daß das nicht geht. Jede schulische Höherqualifizierung ist nämlich eine totale, die den Menschen eben im ganzen "reifer" und "gebildeter" macht, ihn gegenüber den anderen im ganzen privilegiert. Die DDR konnte mit dem alten Gymnasium nur einen Lösungsversuch, keineswegs ein Problem abschaffen. Was Helmut Schelsky für das moderne Schulwesen im allgemeinen formulierte, daß es nicht mehr wie früher auf der sozialen Schichtung aufbaut, sondern sie seinerseits vor allem herstellt, gilt auch für die DDR. Aber ein kommunistisches Staatswesen muß seine Verhältnisse und Maßnahmen rational begründen können. Die einzig mögliche rationale Begründung in diesem Zusammenhang wäre der Hinweis auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Menschen für eine Gesellschaft. Diese Begründung würde aber eine prästabilierte Harmonie zwischen dem objektiven Leistungsbedarf und den subjektiven Leistungsfähigkeiten und -interessen bis in die quantitative Verteilung hinein voraussetzen. An diesem Problem ist schon die klassische deutsche Berufsbildungstheorie der zwanziger Jahre gescheitert. So enthält also die gegenwärtige Kampagne, doch "die gesellschaftlich nützliche Arbeit zu lieben", ein irrationales Moment, das ein kommunistischer Staat auf die Dauer nicht verträgt.

Ferner begegnet der mit großem Pathos verkündete Versuch, das Abitur künftig mit einer Facharbeiterprüfung zu verbinden, erheblichen Schwierigkeiten. Es stellt sich auch hier heraus, daß die Logik der industriellen Pro-

76

duktion nicht die Logik des Lernens ist. Wenn man die Produktion zu einem Lernfach machen will, muß man sie "verschulen", also gerade ihrer wesentlichen Strukturelemente berauben. Außerdem wird die Schwierigkeit einer gründlichen, modernen Berufsausbildung unterschätzt. Sie ist nicht mehr neben dem Abitur zu erledigen, wenn man das Niveau von Abitur und Facharbeiterqualifikation nicht erheblich senken will (17). Man gewinnt damit allenfalls kurzfristig begrenzt einsetzbare Arbeitskräfte, denen gerade das Hauptmerkmal einer modernen Berufsausbildung, die Disponibilität, abgeht. Der "Abiturient mit Facharbeiterausbildung" wird sich als eine volkswirtschaftlich sinnlose Investition erweisen, weil sich die Gesetze der industriellen Arbeitsteilung nicht einfach durch guten Willen überlisten lassen. Mit anderen Worten: Es ist sinnlos, Menschen für eine höhere berufliche Qualifikationsstufe (Abitur) auszubilden und ihnen zugleich etwas beizubringen, was man nur für eine niedrigere braucht (Facharbeiterzeugnis). Selbst wenn es zutrifft, daß heute alle Menschen die Grundlagen der modernen Produktion begriffen haben müssen, dann geht es nicht um Berufsausbildung, sondern allenfalls um eine praktische Grundausbildung und im übrigen um systematischen technologischen Unterricht, was beides am rentabelsten in der Schule stattfindet und Teil der Allgemeinbildung wäre. Auch hier wird die DDR-Pädagogik gezwungen sein, ihr von der Leistung her gestuftes Bildungssystem zu Ende zu denken.

Schließlich stellt sich auch das Problem der Maturität in der DDR noch radikaler als bei uns. Gerade wenn Hochschulreife nicht mehr das Privileg einer bestimmten Schulart ist, muß man sie neu definieren, wenn man nicht in einigen Jahren gänzlich verschiedene Bildungsvoraussetzungen für den Hochschulbesuch vorfinden will, je nachdem, welchen Weg zur Maturität jemand durchlaufen hat. Die einfachste Möglichkeit wäre wohl, die Einheit der Maturität aufzugeben und die einzelnen Wege bestimmten Fakultäts-Maturitäten zuzuordnen. Das aber kann in einer Gesellschaft, deren berufliche Bedarfsstruktur sich ständig und in nur kurzfristig planbarem Maße wandelt, erhebliche Fehlinvestitionen zur Folge haben. Setzt man, wie jetzt geplant ist, die Differenzierung der Einheitsschule bei der 7. Klasse an und rechnet mit einer durchschnittlichen Studiendauer von 5 Jahren, so müßte man den beruflichen Bedarf etwa 12 Jahre im voraus einigermaßen zuverlässig berechnen können, wenn man solche Fehlinvestitionen vermeiden will. Bleibt man dagegen bei der Einheit der Maturität, so würde der Planungszeitraum auf 5 Jahre zurückgehen können - ein Zeitraum, der auch in westlichen Ländern für möglich gehalten wird.

77

Solche ökonomischen Erwägungen sind zugleich auch pädagogische. Die Folgen für das Selbst- und Weltverständnis desjenigen, der das Opfer einer solchen Fehlinvestition würde, wären sehr bedenklich. Gerade ökonomische Argumente sprechen dafür, an der Einheit der Maturität festzuhalten oder doch die verschiedenen Maturitäten so aufeinander zu beziehen, daß sie leicht austauschbar werden. In beiden Fällen aber muß man sich ein "Bild" von demjenigen machen, der "hochschulreif" ist. Dieses Bild kann nicht nur die Summe bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten enthalten, sondern muß so oder so darüber hinaus eine auf die ganze Person bezogene Vorstellung vom "Gebildeten" widerspiegeln. Was ist ein "hochschulreifer sozialistischer Mensch" im Unterschied zum "nichthochschulreifen sozialistischen Menschen"? Diese Frage wird unaufhaltsam auf die DDR-Pädagogik zukommen, und es wird sich herausstellen, daß dann alle wesentlichen Probleme wieder vor der Tür stehen, die durch die Abschaffung des alten Gymnasiums nicht etwa verschwunden, sondern nur radikalisiert sind.

Es gibt heute in allen fortgeschrittenen Industrieländern unabhängig von der Art ihrer politischen Verfassung eine Art Solidarität der pädagogischen Probleme. Sie sind so verwickelt und mit einander verschränkt, daß sie sich jeder Art von propagandistischem Pathos widersetzen. Die noch vorhandenen Lösungsmöglichkeiten sind gänzlich unromantisch und wesentlich eine Angelegenheit nüchterner gesellschaftspolitischer Generalstabsarbeit. Nachdem in Ost und West die ideologischen und weltanschaulichen Gegensätze fast unüberbrückbar geworden sind, kann die Solidarität der Probleme vielleicht eine neue Basis für eine produktive wissenschaftliche Auseinandersetzung werden. Zu Beginn dieses Jahrhunderts war die gemeinsame rationale Basis für die Diskussion des Gymnasiums, die Marxisten und Konservative trotz der Gegensätze gesprächsfähig erhielt, das gemeinsame Bekenntnis zur klassischen deutschen Bildungstradition. Diese Basis ist heute nicht nur im Osten, sondern auch im Westen aus verschiedenen Gründen entfallen. Die neue Basis könnte vielleicht sein, daß heute das Gymnasium hüben wie drüben für ein ganzes Bündel pädagogischer und bildungspolitischer Probleme steht, bei deren Lösung man nicht auf es verzichten kann, wie sehr es sich auch solchen Lösungen in traditioneller Beschränktheit widersetzen mag.

78
 

Anmerkungen:
(1) Heinrich Schulz: Die Schulreform der Sozialdemokratie. Dresden 1911, S. 50 ff. - Auf dem Mannheimer Parteitag von 1906 hat die SPD zum ersten Mal ausführlich zur Schulpolitik Stellung genommen, wenn auch einige grundsätzliche Schulforderungen der Partei schon im Punkt 7 des Erfurter Programms ausgesprochen waren. In Mannheim hielten Schulz und Clara Zetkin die beiden Grundsatzreferate und legten dem Parteitag ihre "Leitsätze zum Thema 'Volkserziehung und Sozialdemokratie'" vor. Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der SPD, abgehalten zu Mannheim vom 23.-29. September 1906, Berlin 1906. Vgl. neuerdings Theo Dietrich: Sozialistische Pädagogik - Ideologie ohne Wirklichkeit. Grundlagen, Erziehungs- und Schulkonzeptionen, Erkenntnisse. Bad Heilbrunn 1966.
(2) Vgl. meinen Aufsatz: Zur Schulpolitik der Sozialdemokraten in Preußen und im Reich 1918/19. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 2/1965, S. 162 - 177.
(3) Zit. nach:  Neue Erziehung, H. 3/4, 1920, S. 88.
(4) Kurt Hager: Die weitere Entwicklung der polytechnischen sozialistischen Schule in der DDR. Berlin (Ost) 1959, S. 14.
(5) In der Zeitschrift "Pädagogik" (DDR) beschäftigen sich in den letzten Jahren nur folgende Beiträge speziell mit Fragen der "erweiterten Oberschule": Horst Geist/Roman Mielczarek: Abitur und Berufsausbildung, H. 1/1960, S. 46f. - Abitur und Berufsausbildung, H. 6/1962, S. 564ff. - Fred Postler: Berufsausbildung an den erweiterten Oberschulen, H. 11/1962, S. 1030ff. - Helmut Voigt: Abitur und Facharbeiterzeugnis - ein reales Ziel, H. 11/1962, S. 1033ff. - Abitur - Eignungsprüfung - Studium, H. 2/1964, S. 162; weder der Artikel "Erweiterte Oberschule" in der "Kleinen pädagogischen Enzyklopädie" (Berlin-Ost 1960, S. 293ff.) noch die "Grundsätze für die Gestaltung des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems" vom 8. 5. 1963 sagen Näheres über die erweiterte Oberschule aus. In den "Grundsätzen" sind ihr ganze 15 Zeilen gewidmet. "Inhalt und Struktur der erweiterten Oberschule" seien, so heißt es, "neu zu bestimmen". "Die zur Zeit bestehende Differenzierung der erweiterten Oberschule in drei Zweige (mathematisch-naturwissenschaftlich; altsprachlich; neusprachlich) entspricht nicht mehr den neuen Anforderungen". (Zit. nach Sigfried Dübel: Dokumente zur Jugendpolitik der SED. München 1964, S. 93).
(6) Vgl. Dübel, S. 92ff.. "Für das Hochschulstudium werden durch Eignungsprüfungen die Bewerber ausgewählt, die sich durch sehr gute fachliche Leistungen und durch eine vorbildliche politisch-moralische Haltung auszeichnen". ("Grundsätze ... , zit. Dübel, S. 93). Zur Problematik dieser Eignungsprüfungen siehe "Abitur-Eignungsprüfung-Studium", in: Pädagogik, H. 2/1964, S. 162ff.
(7) In der Tat scheint es nötig, die "Oberstufe unserer Einheitsschule besser zu gliedern" (Gerhart Neuner: Aufgaben und Probleme bei der Weiterentwicklung des sozialistischen Bildungswesens, Pädagogik, H. 2/1963, S. 146).
(8) Zur revidierten Einstellung gegenüber dem Problem der Begabung siehe Gerhart Neuner a.a.O. S. 144, und Alexander Abusch: Sozialismus und Menschenbildung, Pädagogik, H. 12/1964, S. 1067.
(9) Vgl. Spezialoberschulen - Aufgaben und Probleme, in: Pädagogik, H. 4/1963, S. 361 ff. - Boris Thieke: Aufgaben, Struktur und Forschungsprobleme der Spezialoberschulen technischer Richtung, in: Pädagogik, H. 1/1964, S. 33 ff.
(10) "Wenn das Problem der gegenwärtigen erweiterten Oberschule konsequent zu Ende gedacht wird, so wird es sich in Zukunft zweifellos ergeben, daß die Mehrzahl der gegenwärtigen erweiterten Oberschulen zu Spezialschulen dieser oder jener Art entwickelt werden können" (Gerhart Neuner, a. a. O. S. 148).
(11) "Im Zentrum der staatsbürgerlichen Erziehung stehen die Erziehung zur Liebe zur Arbeit, zur Achtung jeder Arbeit und der arbeitenden Menschen, weil sich staatsbürgerliche Haltung vor allem in der nützlichen Arbeit für die Gesellschaft äußert" (Grundsätze ... zit. n. Dübel, S. 81).
(12) In welche organisatorischen, unterrichtlichen und pädagogischen Schwierigkeiten man damit geraten ist, zeigen wieder einige Beiträge der Zeitschrift "Pädagogik": Abitur und Berufsausbildung, H. 6/1962, S. 564 ff. - Fred Postler, a. a. O., Helmut Voigt, a. a. O.; Heinz Frankiewicz: Zum Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung, H. 11/1964, S. 979ff.
(13) Gerhart Neuner, a. a. O., S. 143/144
(14) Zit. n. Dübel, S. 57.
(15) Alexander Abusch, a. a. O., S. 1063.
(16) Joachim Ritter in einem Diskussionsbeitrag in: Werner Conze: Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Heft 66, Köln-Opladen 1957, S. 36/37. Dieser Gedankengang ist ausführlich begründet in: Joachim Ritter: Hegel und die französische Revolution. Frankfurt 1965 (edition suhrkamp 114).
(17) Vgl. dazu die aufschlußreiche Diskussion in der Sowjetunion, wiedergegeben in zwei Beiträgen der Zeitschrift "Ostprobleme" ("Arbeitsunterricht und Berufsausbildung" und "Soll man die Lehrplane ändern?" in Heft 6/1964). 

 

 

 45. Ein gut organisiertes Chaos (1966)

Probleme der Berufswahl heute
 

(In: Sonntagsblatt Nr. 17, 24.4.1966)

 Jahr für Jahr verlassen fast 500000 Jungen und Mädchen die Volksschule nach dem 8., in wenigen Bundesländern erst nach dem 9. Schuljahr, um einen Beruf zu ergreifen. Ihnen stehen ungefähr 18000 verschiedene berufliche Tätigkeiten offen. Wie finden sie den Beruf ? Und  welche Berufe haben Zukunft?

Die Antworten der Abgangsschüler auf die Frage, was sie werden möchten, kommen prompt: "Maschinenschlosser"; "Kfz-Mechaniker"; "Reparaturelektriker"; "Sekretärin"; "Verkäuferin". Die Entschiedenheit, mit der diese Antworten gegeben werden, erweckt den Eindruck, als ob diese Vierzehn- und Fünfzehnjährigen genau wüßten, was sie wollen, als seien die vielzitierten Schwierigkeiten der zu frühen Berufswahl eine pure Erfindung der Pädagogen.

Eine Lehrerin, darauf angesprochen, meint: "Was sie meinen, meinen sie immer sehr entschieden. Aber wenn Sie Ihre Frage in vier Wochen wiederholen, werden Sie wahrscheinlich ganz andere Antworten bekommen. Die Berufswünsche sind nicht fest verankert, sie sind durch neue Eindrücke immer wieder austauschbar. Im vorigen Jahr hatte ich eine Schülerin, die unbedingt Sekretärin werden wollte, weil ihre Mutter diesen Beruf ausübte. Sie betrieb regelrechte Werbung bei ihren Kameradinnen, die dann auch alle den Wunsch hatten, Sekretärin zu werden. Als dieses Mädchen dann wegen eines Wohnungswechsels unsere Schule verließ, brach dieser Berufswunsch der anderen buchstäblich zusammen." Und etwas nachdenklich fügt die Lehrerin hinzu: "Das Schlimme ist eigentlich, daß die jungen Leute Berufsentscheidungen treffen müssen, die fast unwiderruflich sind; sie müßten die Möglichkeit haben, einige Jahre mit verschiedenen Berufen zu experimentieren, bevor sie sich endgültig festlegen."

Solange die Arbeitswelt ständisch gegliedert war, war die Berufswahl kaum ein Problem: Man wurde im allgemeinen das, was der Vater auch schon war, und dessen Arbeit konnte man von Kind auf beobachten. Größere soziale Aufstiegsmöglichkeiten waren fast nie möglich und wurden deshalb auch kaum erwartet. Heute dagegen hat die Berufsentscheidung einen fast schicksalhaften Charakter: "Theoretisch" kann man fast jeden Beruf ergreifen und damit in fast jede soziale Schicht aufsteigen, "praktisch" aber wird diese Chance wieder erheblich herabgesetzt. Wer zum Beispiel den rechtzeitigen Absprung zur Oberschule verpaßt, kann diesen "Fehler" kaum wiedergutmachen. Ein amerikanischer Soziologe hat einmal gesagt, das letzte Abschlußzeugnis einer Schule entscheide heute über den künftigen beruflichen und sozialen Stand.

Vom Hobby zum Beruf?

Andererseits bringt die große Wahlfreiheit auch Unsicherheit mit sich. Die Eltern und Verwandten haben immer noch den größten Einfluß auf die Berufsentscheidung der Kinder; aber: einerseits sind sie nur unzureichend informiert über die Bedeutung dieser Entscheidung, und andererseits ahnen sie, daß sie damit wie nie zuvor über das künftige Leben ihrer Kinder zu entscheiden haben. Wo sichere Informationen fehlen, greift man leicht zu Vorurteilen. So suchen sich noch immer viele Eltern einen Vers auf die Berufseignung ihrer Kinder zu machen, indem sie deren Hobbys beobachten: Ist das Mädchen, das liebevoll kleinere Geschwister betreut, zur Kindergärtnerin geeignet? Muß der Junge, der mit Metallbaukästen spielt, unbedingt Ingenieur werden?

Wer allein von der Familie alles pädagogische Heil erwartet, muß eigentlich frohlocken; denn alle Untersuchungen beweisen, daß Familie und Verwandtschaft den nachhaltigsten Einfluß auf die Berufsentscheidung ausüben. Das gilt überraschenderweise sogar für die DDR, wo alle Versuche, die Berufswahl nach Gesichtspunkten der ökonomischen Zweckmäßigkeit staatlich zu lenken, am massiven Widerstand der Familien weitgehend gescheitert sind. Aber dieser Widerstand hat auch seine Kehrseite: er stützt sich keineswegs auf vernünftige Argumente.

Weil offensichtlich die Eltern und die Jugendlichen in dieser für jeden einzelnen wie für die ganze Gesellschaft so wichtigen Frage überfordert sind, müssen öffentliche Einrichtungen wie die Berufsberatung helfend eingreifen. Sie wird von etwa 83 Prozent der Schulabgänger aufgesucht, aber meistens so, daß es bei einem einmaligen Besuch kurz vor Ende der Schulzeit bleibt. Die Berufsberatung könnte wirksamer arbeiten, wenn sie möglichst früh und kontinuierlich in die Berufsvorbereitung der Volksschule einbezogen würde. Daß die Berufsberatung keine Behörde ist, die nur etwas von ihren Besuchern verlangt, sondern eine Dienstleistung wie Rundfunk und Fernsehen, die dem Staatsbürger zur Benutzung zur Verfügung steht - diese Einstellung ist noch keineswegs weit verbreitet und wird durch eine Untertanengesinnung gegenüber der Behörde überlagert. So trifft man immer noch auf ein erhebliches Mißtrauen, das sich zwar nicht statistisch ausweisen läßt, das einem aber entgegentritt, wenn man sich umhört. Dieses Mißtrauen ist sicher unangebracht gegenüber dem einzelnen Berufsberater, hat aber einen berechtigten Kern, wenn man an das System selbst denkt.

Der Test kann trügen

Die Berufsberatung ist bei uns ein Monopol des Staates und darf nicht gewerbsmäßig betrieben werden. Das garantiert ihr scheinbar eine große Objektivität Aber gerade deshalb muß sie gewissermaßen auf zwei Schultern tragen. Gerade wegen ihrer Objektivität darf sie keinen Wirtschaftszweig benachteiligen, sondern muß für jeden Beruf ohne Rücksicht auf seine wirklichen Chancen in gleicher Weise werben. So gerät sie oft in die Versuchung, die Interessen der Wirtschaft, die ihre Mangelberufe decken will, mit den Berufseignungen der Ratsuchenden gleichzusetzen. Außerdem sind die Beratungsmöglichkeiten sehr unterschiedlich. Eine Großstadt wie Hamburg kann sich einen Stab von 46 Berufsberatern und 7 Fachpsychologen leisten. In kleinen Städten und auf dem Lande müssen einige wenige Berufsberater über alle Berufe gleich gut informiert sein - was sicher eine Überforderung ist. Trotzdem spiegeln die Vorurteile gegen die Berufsberatung im Grunde nur den Mangel an Information und Aufklärung wider. Wir haben eben noch nicht gelernt, öffentliche Einrichtungen zielbewußt zu benutzen. Erwartet man von einem einzelnen Beratungsgespräch der Weisheit letzten Schluß, so muß man enttäuscht werden. Das gilt auch für psychologische Eignungstests. Aus der Art und Weise, wie ein Jugendlicher kleine Denk- , Konstrulitions- und Geschicklichkeitsaufgaben löst, kann man gewisse Rückschlüsse darauf ziehen, ob er für einen gewünschten Beruf auch geeignet ist. Ein Personalchef eines großen Industriebetriebes - selbst Psychologe - erklärte, warum solche einmaligen Tests wenig ergiebig sind: "Erstens kann ein Test Immer nur Aufschluß geben über das, was jemand bisher gelernt hat; was er aber bei richtiger Anleitung in Zukunft lernen und leisten kann - darüber vermag ein Test nur wenig zu sagen. Zweitens muß ein Test so tun. als ob man für sich allein arbeitet; tatsächlich aber arbeitet man immer mit anderen zusammen, und schon mancher, der eine schlechte Testnote gehabt hat, hat dann doch gute Leistungen erzielt, weil er sich in der Umgebung der Arbeitskollegen wohl gefühlt hat."

Alles in allem heißt das: Es gibt keine zuverlässige Möglichkeit, Berufseignungen und Begabungen eindeutig zu ermitteln. Erst wenn man junge Leute über längere Zeit verschiedenartigen Leistungen aussetzen würde und ihnen entsprechende Hilfen gäbe, könnte man etwas klarer sehen. Es geht also um das, was die eingangs zitierte Lehrerin forderte: Berufs- und Schulentscheidungen müßten im ganzen Jugendalter korrigierbar bleiben.

Genau dies meinen die Fachleute, wenn sie fordern, der einmalige Akt der Berufswahl müsse in einen Prozeß der Berufsfindung umgewandelt werden. der sich über Jahre erstreckt. Dieser Forderung aber widerspricht allenthalben die Wirklichkeit. Denn unsere traditionelle Vorstellung ist, daß man am Ende der Schulzeit einen Beruf wählt, der das ganze Leben lang ausreicht. Aber schon heute wechseln etwa 30 Prozent aller Berufstätigen mindestens einmal ihren Beruf, und in Zukunft werden es wegen des technischen Fortschritts eher noch mehr sein. Neue Berufe werden entstehen, alte werden durch den technischen Fortschritt überflüssig. Aber weder hat die Volksschule bisher diese Tatsache in ihr Bildungsprogramm aufgenommen, noch hat die Berufsausbildung daraus die Konsequenzen gezogen. Im Hinblick auf die Berufswahl bedeutet das: Der überall feststellbare Mangel an Informiertheit wird sozusagen immer wieder von außen hergestellt. Der ehemalige Kultusminister von Nordrhein-Westfalen, Professor Paul Luchtenberg, nannte unsere Berufsausbildung einmal "ein gut organisiertes Chaos". In der Tat ist es selbst den hauptberuflich Eingeweihten kaum noch möglich, sich präzise in dem Gestrüpp von Rechtsbestimmungen, Kompetenzen, Berufsbildern und Ausbildungswegen zu orientieren. Wie sollen das dann erst die Jugendlichen und ihre Eltern können? Es gibt heute etwa 600 Lehr- und Anlernberufe für Volksschüler, aber Fachleute schätzen, daß man sie auf etwa 20 reduzieren könnte, weil viele von ihnen gemeinsame Ausbildungselemente haben. Erst nach einer solchen Vereinfachung hätte die Berufsaufklärung der Jugendlichen und ihrer Eltern eine wirkliche Chance.

Neue Wege bei Krupp

Unter dem Begriff der "Stufenausbildung" werden Bemühungen verstanden, eine Vielzahl von Ausbildungsberufen in einer einheitlichen Ausbildung zusammenzufassen. Einige größere Firmen haben damit begonnen. Am bekanntesten ist die Reform der gewerblichen Lehrlingsausbildung der Firma Krupp in Essen geworden.

Alle gewerblichen Lehrlinge beginnen mit einer gemeinsamen Grundausbildung. Nach einem halben Jahr gehen die begabteren in die zweite Stufe über, nach einem weiteren halben Jahr die besonders qualifizierten in die dritte Stufe. Wer nach drei Jahren diese neue Ausbildung abschließt, hat nicht nur einen Beruf erlernt, sondern, etwas übertrieben gesagt, einige Dutzend bisherige Berufe wenigstens soweit kennengelernt, daß er sie später nach kurzer Einarbeitungszeit vollgültig ausüben kann. Wer entsprechende Leistungen vorweisen kann und an einer weiteren Ausbildung interessiert ist, kann nach einem halben Jahr Grundausbildung in die zweite Ausbildungsstufe einrücken, während die anderen in der ersten Stufe bleiben und nach einem weiteren halben Jahr ihre Lehre als sogenannte Betriebswerker abschließen.

Diese zweite Stufe führt nach insgesamt zwei Jahren zum normalen Facharbeiter (Dreher, Bohrer, Montageschlosser usw.). Weil der Facharbeiter selbständige Funktionen ausüben muß, sind außer den höheren praktischen Fähigkeiten auch größere theoretische Kenntnisse nötig. Hier wird sichtbar, wie rentabel die Ausbildung geworden ist, denn für diese Berufe gelten sonst noch mindestens dreijährige Lehrzeiten. Diejenigen Lehrlinge, die in die dritte Qualifikationsstufe eingerückt sind, sind nach einer insgesamt dreieinhalbjährigen Ausbildung z. B. Elektromechaniker oder Spanungsfachmann, das heißt gewissermaßen Dreher, Bohrer und Fräser zugleich.

Dieses neue Modell der Berufsausbildung ist eigentlich mit den alten Berufen nicht mehr zu beschreiben. Das Konzept geht von der Tatsache aus, daß die alten, meist aus dem Handwerk stammenden Berufe für die moderne Industrie nicht mehr verwendbar sind. Während die heute übliche Facharbeiterausbildung den falschen Eindruck erweckt, als ob in der Industrie nur ein einziges Ausbildungsniveau gebraucht würde - nämlich der sogenannte Facharbeiter - , ist der Bedarf tatsächlich so abgestuft, wie es in diesem Plan zum Ausdruck kommt. Häufig ist es so, daß ein im Handwerk ausgebildeter Schlosser für viele gutbezahlte Schlossertätigkeiten in der Industrie zu viel, für andere zu wenig gelernt hat. Es kommt also nicht nur darauf an, möglichst viel zu lernen sondern auch das Richtige, das heißt das. was in der Arbeitswelt von morgen auch wirklich gebraucht wird.

Hinführung zur Arbeit

 Dieses Beispiel zeigt besonders gut, wie sehr eine aufgeklärte Berufswahl davon abhängt, daß auch die Berufsausbildung selbst rationell und übersichtlich organisiert ist Mit anderen Worten: In einem "Chaos" kann sich niemand vernünftig orientieren - auch dann nicht, wenn man die Volksschule auf zehn Jahre erhöht. Die vielberufene Unvernünftigkeit der Berufswahl bei Jugendlichen und Eltern spiegelt also zunächst einmal nur die Unvernünftigkeit der Organisation der Berufsausbildung wider.

Die Fachleute sind sich darüber einig, daß eine bloße Verlängerung der Volksschule um das neunte und zehnte Schuljahr wenig nützen würde, wenn nicht zugleich die Schule mehr als bisher die Hinführung zur Arbeitswelt in ihr Programm aufnimmt. Dafür gibt es nun seit geraumer Zeit eine große Zahl von Schulversuchen, die aber leider nicht koordiniert sind und meist nebeneinander bestehen. Ein besonders interessantes Beispiel ist ein Hamburger Versuch, der ein neuntes und ein freiwilliges zehntes Schuljahr an einer Gewerbeschule umfaßt. Alle Schüler müssen nacheinander verschiedene Berufsbereiche durchlaufen: Der Bauhof ist die erste Stufe. Nicht jeder kräftige Bursche arbeitet gern in Wind und Wetter, in einer Gruppe, die er sich nicht aussuchen kann und so, daß es auf ein paar Millimeter nicht ankommt. In der nächsten Stufe - der Holzwerkstatt - kommt auch der Einzelgänger auf seine Kosten. Die Hand muß nun genauer und geschickter sein, und die Werkzeuge werden komplizierter. Wieder andere Erfahrungen machen die Schüler in der Metallwerkstatt. Im Vordergrund steht hier die Arbeit an Maschinen, die Toleranz für die Maßgenauigkeit geht auf Bruchteile von Millimetern zurück, und ein Mindestmaß an technologischem Wissen ist Voraussetzung dafür, daß man die Arbeitsabläufe kontrollieren kann.

Auch hier wird die üblicherweise einmalige Berufsentscheidung gleichsam in drei Stufen aufgelöst: Erst entscheidet man sich für ein bestimmtes Feld von Berufen, dann für einen einzelnen Beruf und schließlich für einen bestimmten Betrieb. Verbunden wird das Ganze mit einem systematischen berufs- und wirtschaftskundlichen Unterricht, der den eigenen Berufswunsch in das Gefüge der Wirtschaftswelt einzuordnen vermag.

Zu lange Lehrling

Sieht man von solchen und anderen begrüßenswerten Versuchen ab, so wird unseren Volksschulabgängern die Berufswahl keineswegs leicht gemacht. Untersuchungen haben gezeigt, daß die meisten Ausbildungsverhältnisse viel zu lange dauern und bei besserer Organisation zum Teil bis auf die Hälfte verkürzt werden könnten; wollte man eine aufgeklärte Berufswahl und -entscheidung planmäßig verhindern, so müßte man die Berufsausbildung so organisieren, wie sie heute organisiert ist; schließlich hat sich inzwischen auch herumgesprochen, daß viele Jugendliche für die falschen Berufe ausgebildet werden, das heißt für solche Berufe, die sie als Erwachsene aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht mehr ausüben können. Der Bäcker, der mit 19 Jahren am Hochofen arbeitet, ist dafür zwar ein extremes, aber keineswegs untypisches Beispiel. Es hängt eben alles mit allem zusammen, und es lohnt nicht, einen Faktor zu verbessern, wenn man nicht auch alle anderen zugleich ändert und korrigiert.

Die Neuordnung der Volksschuloberstufe, die übersichtliche Organisation der Berufsausbildung, eine Reform der Ausbildungsziele und gezielte wissenschaftliche Untersuchungen müßten synchronisiert werden. Dies aber ist der Sache nach eine Aufgabe der politischen Planung und wird wohl erst dann wirklich aufgegriffen werden, wenn unsere Parteien damit Wahlen gewinnen oder verlieren können. Einstweilen sind unsere Eltern am besten beraten, wenn sie ihre Söhne und Töchter solange wie möglich auf weiterführende Schulen schicken oder aber einen Ausbildungsbetrieb aussuchen, der für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit ausbildet.

Diesen Betrieb zu finden, ist gar nicht einfach; denn solange der Bundestag das seit Jahren geforderte Berufsausbildungsgesetz nicht verabschiedet hat, gibt es praktisch kaum eine Möglichkeit, die Ausbildungsfähigkeit der Betriebe zu kontrollieren: Einem Lehrherrn kann heute wohl wegen sittlicher Verfehlungen, aber kaum wegen der Ausbildungsunfähigkeit seines Betriebes die Erlaubnis zur Ausbildung entzogen werden. Nach Meinung der IG-Metall sind "Zehntausende von Betrieben" praktisch nicht mehr in der Lage, Lehrlinge auszubilden, obwohl sie es immer noch tun und dürfen. 

 

 46. Bestandsaufnahme der "DDR"-Pädagogik (1966)

(In: Europäische Begegnung, H. 7-8/1966, 386-388)
 

 Unsere Einstellung zur "DDR"-Pädagagik hat bereits eine Geschichte. In den ersten Jahren nach dem Kriege, im Zeichen der "demokratischen Schulreform", gab es manchen nicht-kommunistischen Pädagogen, der die kommunistische Initiative begrüßte, erschien sie ihm doch die Erfüllung von Forderungen, für die er mit seinesgleichen schon zur Zeit der Weimarer Republik vergeblich gekämpft hatte. Dann aber, im Zeichen der "antifaschistischen Säuberungen", änderte sich die Einstellung zusehends: die "DDR" hatte eine Schulrevolution in Szene gesetzt, wie es sie in Deutschland nie zuvor gegeben hatte. Massenhaft wurden Lehrer und Schulleiter entlassen, die als politisch unzuverlässig galten - viele wurden später wieder eingestellt, als sie keine Gefahr für das "sozialistische Bewußtsein'' mehr bilden konnten. Man ersetzte die entlassenen Fachleute durch eilig ausgebildete, oft völlig ungeeignete "Neulehrer", die aus anderen Berufen kamen. Anfang der fünfziger Jahre war das "DDR''-Schulwesen auf ein schier hoffnungsloses Niveau herabgesunken. Pure Verachtung gegenüber einer derartig dilettantischen Schulpolitik und Pädagogik schien die einzig angebrachte Einstellung von unserer Seite aus zu sein. Während der fünfziger Jahre blieb diese Einstellung bei uns vorherrschend - bis zur Schulreform von 1958. Seitdem setzt sich bei uns langsam, aber unaufhaltsam die Erkenntnis durch, daß sich in der "DDR" überraschend schnell ein im Weltmaßstab ernst zu nehmendes Schul- und Erziehungswesen etabliert hat, das um so mehr unsere Aufmerksamkeit verdient, als ja die Bedingungen der modernen hochindustrialisierten Gesellschaft für alle Länder ohne Rücksicht auf ihre politische Verfassung ähnliche pädagogische Probleme aufwerfen.

Versuchen wir also, in knapper Form eine "Bestandsaufnahme" vorzunehmen: Was ist der - positive wie negative - Ertrag der bisherigen Entwicklung? Beginnen wir mit dem, was bisher nicht gelungen ist.

1. Es ist bisher nicht gelungen, eine moderne Erziehungswissenschaft methodisch überzeugend zu begründen. Im Grunde gibt es so etwas wie eine eigene marxistische Pädagogik in Ansätzen erst seit etwa 1958. Bis dahin war "Pädagogik" eigentlich nur die direkte, unvermittelte Anwendung der politischen Theorie auf die Phänomene der Erziehung. Solange die marxistische politische Theorie in der Opposition stand und sich auf die Kritik der "bürgerlichen'' Schulverhältnisse beschränken konnte, war das weiter nicht gravierend. Das Defizit an pädagogischer Theorie wurde aber sofort spürbar, als man an der Macht war und selbst Schule und Erziehung veranstalten mußte. Vergessen wir nicht: Marx und Engels haben sich nie intensiv mit Pädagogik beschäftigt und auch nicht einen einzigen zusammenhängenden Text über pädagogische Fragen geschrieben. Sie haben nur allgemeine Randbedingungen angegeben, wo nach ihrer Meinung innerhalb der Revolutionstheorie pädagogische Theorien ausgeführt werden könnten. So hat die Suche nach einer der "sozialistischen Gesellschaft" entsprechenden pädagogischen Theorie die "DDR"-Pädagogik bis heute in Atem gehalten. In den ersten Jahren nach dem Kriege versuchte man, an die deutsche Reformpädagogik der zwanziger Jahre anzuknüpfen. Aber man mußte bald entdecken, daß diese bürgerlich-kleinbürgerliche Tradition in die falsche Richtung wies. Auch der fanatische Zorn, mit dem man sich Anfang der fünfziger Jahre dann gegen diese Tradition wandte, führte eher zu Chaos und Unsicherheit als zu neuen theoretischen Konzeptionen. Selbst die Flucht nach vorn, nämlich auf das sowjetische Vorbild zu, brachte nichts ein, denn auch die Sowjet-Pädagogik hatte sich noch nicht von der politischen Theorie emanzipiert; dies wurde erst in dem Augenblick möglich, wo Psychologie und Soziologie sich einigermaßen verselbständigten und unabhängig von allgemeinen politischen Doktrinen sich entfalten konnten.

Zwar gab es theoretische Vorbilder für die Sowjet-Pädagogik, z. B. Makarenko. Aber eine allgemeine Erziehungs- und Schultheorie ließ sich nicht einfach durch sinngemäße Übertragung von Makarenkos Erfahrungen gewinnen; schließlich hatte es Makarenko mit "Fürsorgezöglingen" in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation zu tun.

Der Blick nach "rückwärts'', in die deutsche Tradition sozialistischer Pädagogik, hatte auch nicht viel eingebracht: diese Tradition war fast durchgängig eine "revisionistische" und blieb oppositionelle Kritik, der die Möglichkeit praktischer Bewährung nicht vergönnt war.

Mit einem scheinbar genuin marxistischen Erziehungsleitbild - der Verbindung von Unterricht und Produktion - geriet man bald in neue Schwierigkeiten. Der mit Pathos verkündete "Unterrichtstag in der Produktion" erwies sich sehr bald als eine politische - fast könnte man sagen: sozialromantische - Forderung, die sich nicht bruchlos pädagogisch umsetzen ließ:

386

Die Logik des Lernens ist nicht die Logik der modernen Produktion. In der Sowjet-Union wird seit geraumer Zeit eine massive Kritik laut, die darauf hinausläuft, den "Unterrichtstag" wegen seiner Unrentabilität wieder abzuschaffen und statt dessen die Probleme des Lernens in den Schulen genauer zu erforschen. Formen wie "Verbindung von Schule und Leben'' sind weder neu noch speziell marxistisch und verraten mehr von kleinbürgerlicher Verachtung der Theorie als von ernsthaften theoretischen Grundlagen selbst. Ob es also gelingen wird, eine moderne marxistische Erziehungswissenschaft zu entwickeln, ist einstweilen noch offen.

2. Es ist ebenfalls nicht gelungen, eine moderne Bildungsvorstellung zu entwickeln. Das muß man selbst dann sagen, wenn man das politische Selbstverständnis der "DDR"-Pädagogik gebührend in Rechnung stellt. Einstweilen läuft alles noch auf eine Totalisierung der Berufsrolle und der technologischen Bildungsaspekte hinaus. Auch dies ist weder neu, noch speziell marxistisch, sondern im Grunde das Kerschensteinersche Bildungsmodell - seines Klassencharakters entkleidet und allgemeinverbindlich gemacht - das tiefe Spuren in der Ideologie unserer Volksbildung hinterlassen hat. Gewiß, es wird in den Schulen der "DDR" heute vieles gelernt, was mit dem Beruf nicht unmittelbar zu tun hat. Aber alles wird im Grunde von daher begründet. Die "produktive Tätigkeit" in der Arbeitswelt ist das ideologische - wir würden sagen: didaktische - Zentrum, von dem aus alle Lernleistungen begründet werden - auch diejenigen, die damit gar nichts zu tun haben. Daß immer mehr Menschen immer mehr freie Zeit haben, spielt für die Bildungskonzeption keine eigenständige Rolle. Wie man im Detail am Text des neuen Schulgesetzes studieren kann, wird die Fiktion, die "allseitig gebildete Existenz" sei logisch und didaktisch von der "Produktion" her zu entwickeln, mit waghalsigen anthropologischen Unterstellungen verteidigt, so als sei ein Fließbandarbeiter produktiver, wenn er auch etwas von Literatur versteht. Man kann dieses Defizit auch anders ausdrücken: es gibt bisher keine moderne marxistische Anthropologie. Es sind also weniger die theoretischen pädagogischen Grundlagen, die unseren Respekt verdienen, als vielmehr eine Reihe von praktischen Tatbeständen selbst. Auch sie sind noch in der Diskussion, noch nicht abgeschlossen, mit Fehlern behaftet und entwicklungsbedürftig, aber einige von ihnen verdienen ganz sicher unsere volle Aufmerksamkeit.

a) Dazu gehört in erster Linie die Ersetzung wenig gegliederter Landschulen durch voll gegliederte Schulen. Dieser Erfolg ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil bei uns die Entwicklung eher umgekehrt verlaufen ist, sondern auch deshalb, weil die Beseitigung dieses pädagogischen "Modernitätsrückstandes" auf dem Lande in der "DDR'' viel ungünstigere Voraussetzungen vorfand als bei uns. Für uns ist dieses Experiment noch besonders interessant, weil es die Konsequenzen einer vollen Beschulung des Landes zeigt: die zunehmende Landflucht, die im ganzen ja zur Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion beiträgt. Aus den Erfahrungen der "DDR"-Pädagogik könnten wir vielleicht folgern, daß ein großer Teil der Subventionen des "grünen Plans" das Subventionsziel eher erreichen würde, wenn er in den Ausbau des ländlichen Bildungswesens gesteckt würde.

b) Zu nennen ist ferner die klare, übersichtliche Ordnung und Organisation der Ausbildungswege von der Volksschule bis zur Universität, die im ganzen wohl auch soviel Differenzierungen enthält, wie sie das Schulsystem einer modernen Gesellschaft fordert. Es ist keine "Einheitsschule" im Sinne einer lehrplanmäßigen und didaktischen Uniformierung geworden. Eine solche übersichtliche Organisation dient nicht nur der "Schul-Aufklärung'' von Eltern und Kindern, sondern ermöglicht auch ebenso sehr vernünftige Bildungsplanung wie optimale Förderung der Begabungen. Daß diese Möglichkeiten aus kurzsichtigen ökonomischen Erwägungen nicht immer genutzt werden, steht auf einem anderen Blatt.

c) Die Schule im allgemeinen und die Volksschule ( = polytechnische Oberschule) im besonderen ist konsequent verwissenschaftlicht und auf ein hohes Niveau gebracht worden. Selbst wenn man bedenkt, daß die "Wissenschaftlichkeit" bei den geisteswissenschaftlichen Fächern in der "DDR" eine Sache für sich ist, kann kein Zweifel daran bestehen, daß heute schon die allgemeine Volksbildung in der "DDR" der unseren um etwa ein Jahrzehnt voraus ist. Ich bin geneigt, diesen Tatbestand der Verwissenschaftlichung als das bedeutsamste Ergebnis der Schulrevolution zu betrachten, das um so schwerer wiegt, je aussichtsloser es zu werden scheint, bei uns eine entsprechende Entwicklung in Gang zu setzen. Die Volksschule ist bei uns im wesentlichen eine Gefangene der "Kindertümelei'' geblieben. Daß man mit 10jährigen nicht nur "Raumlehre" und "Naturkunde", sondern auch Mathematik und Physik treiben kann, zeigen die Schulen in kommunistischen Ländern. Sie haben den empirischen Beweis dafür erbracht, daß über weite Strecken unsere Theorie der "Kindgemäßheit" weniger ein Problem der Kinder-Psyche, sondern eher ein Problem des Lehrer-Weltbildes ist.

d) Daß die Berufsausbildung in der "DDR" viel ergiebiger ist als bei uns, wissen wir seit Jahren, seitdem nämlich jugendliche Flüchtlinge zu uns kommen, die sich bitter über das Gefälle beklagen. Ob die Ausbildung durch die Einführung der "polytechnischen Erziehung" besser geworden ist, ist schwer zu entscheiden. Gerade auf diesem Gebiet sind Erfolge immer wieder durch ideologische Übertreibungen in Frage gestellt. So ist die Forderung, jeder Abiturient solle auch einen Facharbeiterberuf erlernt haben, eine politisch motivierte Forderung, die praktisch zu einem enormen organisatorischen Aufwand führt, der in keinem Verhältnis mehr zum Ertrag steht. Es ist einfach unrentabel, ein

387

und denselben Menschen zugleich für eine "höhere'' und "niedere" Arbeitsfunktion auszubilden. Dabei müssen beide Ausbildungsziele zu kurz kommen. Anders stände die Sache schon, wenn man davon ausginge, daß heute möglichst jeder Mensch eine allgemeine handwerkliche Grundausbildung benötige, damit er elementare Produktionsprobleme begreifen und im übrigen in seiner Freizeit über elementare Beschäftigungs-Techniken verfügen kann.

Es ist sehr interessant, daß gerade diejenigen Partien der "DDR"-Pädagogik, die tatsächlich ihre problematischsten sind - weil sie gesellschafts-romantische Züge tragen - bei uns zunehmend Anklang finden, während man den wirklich bedeutenden Leistungen (Verwissenschaftlichung der Volksschullehrpläne, differenzierte Einheitsschule usw.) aus dem Wege geht. Versucht man also das bisherige Fazit der "DDR''-Pädagogik auf eine abschließende Formel zu bringen, so kann man sagen: Im Hinblick auf eine moderne Erziehungstheorie ist man "drüben" auch nicht sehr viel weiter gekommen als bei uns; aber die Praxis des Erziehungs- und Bildungswesens ist entschieden "moderner'' geworden und hat zweifellos ein Niveau erreicht, woran gemessen die Bundesrepublik - im Hinblick auf die allgemeine Volksbildung - als Entwicklungsland zu klassifizieren ist. Und dieser Tatsache kann man nicht länger einfach mehr entgegenhalten, wir hätten eben ein anderes "Menschenbild". Die Verwissenschaftlichung der Volksschule, die differenzierte Einheitsschule und die vollklassige Landschule sind nicht einfach eine Frage des willkürlichen "Menschenbildes", sondern folgen durchaus aus objektiven Analysen. Sie erscheinen zwingend, wenn man die tatsächlichen gesellschaftlichen Anforderungen in "Lernaufgaben" umsetzt, d. h. wenn man sich fragt: Was muß man für diese Anforderungen lernen, wie kann das gelernt werden, und wie kann man dieses Lernen für alle Kinder und Jugendlichen optimal gesellschaftlich organisieren.

Für die Zukunft der "DDR"-Pädagogik wird entscheidend sein, in welchem Maße sie sich von traditionellen ideologischen Voreingenommenheiten befreien kann. Als russische Naturwissenschaftler die Atombombe bauten, sollen sie - nach einer Anekdote - gesagt haben, sie könnten entweder an den Diamat glauben oder die Bombe bauen; beides zugleich sei nicht möglich.

Angewandt auf die Probleme der Erziehung heißt das: In der modernen Gesellschaft sind Erziehungsprobleme so kompliziert geworden, daß sie kein falsches Pathos mehr vertragen, sondern auf nüchterne intellektuelle und organisatorische Generalstabsarbeit angewiesen sind. Nur wenn es der "DDR"-Pädagogik gelingt, sich ohne Polizeiaufsicht durch die Ideologie am internationalen wissenschaftlichen Standard zu orientieren, wird sie in Theorie und Praxis weiterkommen. Ihre bisherigen Erfolge verdankt sie einer Handvoll revolutionärer Forderungen und einem immensen organisatorischen Aufwand. Aber Revolution zu machen ist etwas anderes, als geordnete Planungen für die Zukunft einer Gesellschaft zu machen. Es ist im Augenblick völlig offen, ob dieser Sprung nach vorn gelingt; denn was die Erziehung angeht, so sind die theoretischen Grundlagen für diesen Sprung noch keineswegs gelegt.

388


 

 47. Der Job ersetzt den Beruf (1966)

Unsere Ausbildung ist veraltet

(In: Die Zeit Nr. 9/1966)

 Burkart Lutz/Leo Bauer/Jürgen von Kornatzki: Berufsaussichten und Berufsausbildung in der Bundesrepublik III, Verlag Gruner & Jahr, Hamburg, 293 Seiten, 25, - DM

Seitdem es die ersten zaghaften Ansätze einer bildungsökonomischen Forschung bei uns gibt, wird uns der Zusammenhang von wirtschaftlichem Fortschritt und langfristigen Bildungsinvestitionen immer geläufiger. Weniger geläufig dagegen ist uns, daß Reformen im Bildungswesen nicht nur eine Sache der Experten - der Nationalökonomen und Pädagogen - , sondern auch eine Angelegenheit der Bevölkerung sind. Wer sich über das weit verbreitete Desinteresse der "Leute" an Erziehungs- und Schulfragen wundert, sollte bedenken, daß diese Gleichgültigkeit über Jahrzehnte hinweg von Kulturpolitik und Pädagogik planmäßig produziert wurde. Aber erstens sind Bildungsfragen tatsächlich politische Fragen, insofern sie sich auf das Ganze der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung beziehen und insofern sie unmittelbar die Lebensinteressen der Menschen fördern oder hemmen. Und zweitens stellt sich immer mehr heraus, daß die nötigen Reformen nur dann verwirklicht werden können, wenn sie von einer qualifizierten Mehrheit der Bevölkerung getragen werden. Mit anderen Worten: Erst dann, wenn man mit diesen Fragen Wahlkämpfe gewinnen oder verlieren kann, wird sich auch etwas ändern.

Was allgemein für das Bildungswesen gilt, gilt erst recht für die Berufsausbildung, die ja den größten Teil der Bevölkerung betrifft und in ein kaum durchschaubares Dunkel von Kompetenzen und Regelungen gehüllt ist.

Es ist das Verdienst des "Sterns", die unter Fachleuten seit langem intern diskutierten Probleme einer Reform der Ausbildung politisiert zu haben, indem er sie mit den unmittelbaren Lebensinteressen der Bevölkerung verband. Er zeigte, daß Wohlstand und Sicherung des Arbeitsplatzes ohne die nötigen Reformen gefährdet sind. Die Berichte wurden seit drei Jahren um die Jahreswende veröffentlicht. Aber schon bei den Recherchen für den ersten mußte man entdecken, daß es bei uns keine Stelle gibt, die Informationen zu dem Zweck sammelt, die beruflichen Entwicklungen vorauszusagen. So entschloß sich die Redaktion, die nötigen wissenschaftlichen Unterlagen auf eigene Kosten in Auftrag zu geben. Die unter der Leitung von Burkart Lutz ausgeführten sozialwissenschaftlichen Erhebungen wurden - zusammen mit den Illustrierten-Berichten - in drei Dokumentationsbänden veröffentlicht, von denen der letzte jetzt vorliegt.

Für diesen Band wurden die herkömmlichen statistischen Methoden durch Fragebogenerhebungen in Industriebetrieben und durch gründliche Experten-Interviews in einigen Schlüsselbetrieben ergänzt. Sie sollten klären, was die Statistiken nur ungenau erfassen können, nämlich welche neuen Tätigkeiten entstanden sind und ob die klassische Berufsausbildung noch der Vorbereitung für die so veränderte Arbeitswelt wirklich dient.

Die Ergebnisse - in Unterschied zu den bisherigen Berufsstatistiken bewußt auf die absehbare künftige Entwicklung bezogen - sind alarmierend genug. Unsere Berufsausbildung - einst ein nationales Renommierstück - ist nicht nur unrentabel, sondern auch in der Struktur antiquiert. Sie will immer noch die Arbeitswelt durch ein System von "Berufen" ordnen, die in einer geschlossenen "Lehre" im Jugendalter ausreichend erlernbar sind. Lutz ordnet diese Struktur der "extensiven Industrialisierung" zu, in der sich die technische Struktur der Produktion nur langsam änderte und Produktivitätszuwachs sich im wesentlichen durch Wechsel der Arbeitskräfte an produktivere Arbeitsplätze vollzog (zum Beispiel Landflucht). Heute dagegen sind die Arbeitsreserven erschöpft, und Produktivitätsfortschritt kann nur noch durch technische und organisatorische Verbesserungen erzielt werden.

Dies verlangt eine grundsätzliche Neuorientierung der Ausbildung, in der theoretische Kenntnisse immer wichtiger werden. Nur noch bei 23 ,,Berufstypen" - fast ausschließlich Dienstleistungsberufe - kann man weiterhin in dem Sinne von "Beruf" sprechen, daß ein Wechsel in Zukunft nicht zwingend erscheint und daß sein Inhalt ein Leben ausfüllen kann. Aber für gut 20 000 bis 30 000 Tätigkeiten oder "Jobs" wird gelten, daß sie im Laufe eines Arbeitslebens gewechselt werden müssen, wenn sie durch die technische Entwicklung überflüssig oder modifiziert werden. Das wird selbst für einen so modernen Beruf wie den des Programmierers gelten, dessen Arbeit in Zukunft weitgehend durch akustische "Übersetzung" ersetzt werden wird.

Welche Folgerungen daraus für die Ausbildung entstehen, läßt sich einstweilen nur grob skizzieren, und Lutz ist hier mit Recht sehr vorsichtig. "Geschlossene" Ausbildungssysteme sind eben leichter zu konzipieren als "offene". Wegweisend für die Verfasser ist die "Stufenausbildung", wie sie einige Großbetriebe bereits verwirklicht haben.

Obwohl die Politisierung des Themas bei vielen Ärger hervorgerufen hat - während Gewerkschaft und die fortgeschrittene Industrie die Untersuchungen unterstützten -  wünscht man sich auch für andere Probleme, die der öffentlichen Aufklärung und Reform bedürfen, eine so fruchtbare Kooperation zwischen Wissenschaft und Journalistik.


 

 48. Entwurf einer Didaktik der Berufsfähigkeit (1966)

Theodor Wilhelm zum 60. Geburtstag

(In: Pädagogische Rundschau, H. 4/1966, S. 362-373)

 Unsere Berufsausbildung ist in den letzten Jahren immer stärker in die öffentliche Kritik geraten. Wenn man geneigt ist, ein Verdienst darin zu sehen, wenn für die Allgemeinheit wichtige Angelegenheiten in das Licht der Öffentlichkeit gebracht werden, so gebührt es in diesem Falle der Illustrierten "Stern". Sie hat seit 1964 jährliche Reports über Berufsausbildung und Berufsaussichten herausgebracht und dafür auf eigene Kosten unter Leitung des Soziologen Burkart Lutz wissenschaftliche Untersuchungen anstellen lassen, deren Ergebnisse unlängst zum drittenmal publiziert wurden (1). Die Firma Krupp hat - der jahrelangen ergebnislosen Diskussionen um eine Reform der innerbetrieblichen Berufsausbildung müde - im Frühjahr 1965 auf eigene Faust die Initiative ergriffen und eine "Stufenausbildung" realisiert (2), die weit über das hinausgeht, was bisher unter diesem Begriff diskutiert wurde(3). Wolfgang Lempert und Heinrich Ebel haben eine Untersuchung vorgelegt, aus der hervorgeht, daß unsere Lehrlingsausbildung durchweg unrentabel ist und erheblich verkürzt werden könnte (4).

Diese wenigen Beispiele aus der jüngsten Diskussion weisen darauf hin, daß die traditionelle Berufsbildungstheorie schon seit langem fragwürdig geworden ist, und daß eine didaktische Neubesinnung dringend erforderlich ist. Um dazu einen Reformvorschlag zu unterbreiten, müssen wir zunächst das traditionelle Bewußtsein an einigen wesentlichen Punkten einer Kritik unterziehen.

Unter dem Begriff der "traditionellen deutschen Berufsbildungstheorie" wollen wir dabei das herrschende allgemeine Bewußtsein in Sachen Berufsbildung verstehen, das wesentlich durch die "klassischen" Arbeiten von Spranger und Kerschensteiner sowie später durch die sogenannte "Wirtschaftspädagogik" geprägt wurde. Was sich heute an Vorstellungen in der institutionalisierten Praxis der Berufsschule, der Berufsberatung, der Kammern und der Betriebe findet, ist mit den Arbeiten dieser Autoren natürlich nur zum Teil identisch. Insofern wir diese Nuancen sowie die Differenzierungen zwischen den jeweiligen pädagogischen Autoren aus Platzgründen gänzlich unbeachtet lassen, verfahren wir vereinfachend nach dem Motto, daß die Mentalität der Leser auch etwas über ein Buch aussagt. Wir meinen im folgenden also das, was man in der Soziologie etwa "herrschende Ideologie" nennen würde.

1. Eduard Spranger hat selbst nach dem zweiten Weltkrieg in seinem Aufsatz "Umbildungen im Berufsleben und in der Berufserziehung" (5) die Kritik begonnen. Seine Vermutung war, daß vor allem zwei Prämissen der traditionellen Theorie nicht mehr gültig sein würden: daß die Menschen in der Regel noch Dauerberufe haben würden und daß sie diesen Beruf "frei" wählen könnten. Die freie Berufswahl war deshalb so wichtig, weil man davon ausging, daß zwischen den je einzelnen Interessen und Fähigkeiten und den objektiven Berufsangeboten eine Entsprechung wenigstens prinzipiell anzunehmen

362

sei (6). Diese Annahme spielt offenbar auch heute noch in der Berufsberatung eine Rolle. Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung hat vor Jahresfrist Material zur Berufskunde an die Schulen verteilt, in dem die Berufsanforderungen primär als Kombination von "Interessen", "Charaktereigenschaften", "körperlichen Anforderungen" und" Fähigkeiten" erscheinen (7).

Aber spätestens die durch den letzten Krieg erzwungenen Berufsumstellungen müssen uns gelehrt haben, daß die Kombination solcher Faktoren sehr viele verschiedenartige berufliche Tätigkeiten erschließt, die allenfalls nach oben durch eine bestimmte Grenze der vor allem intellektuellen Fähigkeiten begrenzt werden. Ob jemand Bäcker, Schuhmacher oder Maschinenschlosser wird, dürfte mit der individuellen Leistungsfähigkeit noch das geringste zu tun haben. Was hier als wissenschaftliche und pädagogische "Beratung" erscheint, ist in Wahrheit eine Weise der Manipulation, weil dabei der Bereich der jeweils möglichen Leistung und Qualifikation durch scheinbar meßbare Faktoren auf dem Hintergrund eines im Grunde statischen Begabungsbegriffes eingeengt wird. Was der also Beratene bei richtiger Anleitung in Zukunft leisten könnte, gerät gar nicht erst in den Blick.

2. Die traditionelle Theorie ging - woran ebenfalls Spranger erinnerte - davon aus, daß jeder Mensch in der Regel den einmal erwählten und erlernten Beruf sein Leben lang ausübt. Darin, daß man in einem solchen Horizont von Kenntnissen, Werten und sozialen Leistungen "zu Hause ist" und von da aus sei es paradigmatisch, sei es durch die "Interessenverzweigung" (Kerschensteiner) am Ganzen der Kultur verständnisvoll teilnehmen kann, wurde vor allem die "bildende Wirkung" des Berufes gesehen.

Aber schon heute wechseln etwa 30 Prozent der Berufstätigen ihren Beruf, in Zukunft werden es eher noch mehr sein. Wenn man auch heute auf lange Sicht nur ungenau abschätzen kann, welcher Bedarf für welche Berufe bestehen wird, so muß doch fast jeder prinzipiell damit rechnen, daß er wenigstens einmal in seinem Leben den Beruf wechseln muß, wenn das die Entwicklung der Industrie verlangt. Davon aber kann die Einstellung zum Beruf nicht unberührt bleiben: der Beruf selbst wird "äußerlich", jede allzu intensive Identifikation mit ihm kann zusätzliche Anpassungsprobleme zur Folge haben. Gerade die erzieherischen "Werte", die man früher in die berufliche Ganzheit hineinvermutet hat, wirken in der gegenwärtigen Realität des Berufslebens eher desorientierend, wenn sie überhaupt von den meisten noch als mehr denn als unverbindliches erbauliches Dekor verstanden werden.

3. Das Leitbild der Berufsausbildung war der Facharbeiter, für den ein "Berufsbild" entwickelt wurde, das wesentlich am vorindustriellen Leitbild des ganzheitlichen Handwerksdaseins orientiert war. Wo man von der "erzieherischen Bedeutung" des Berufslebens sprach und spricht, da meinte man nicht nur und auch nicht in erster Linie, eine berufliche Aufgabe sachlich und sozial optimal zu erfüllen, sondern jene, aus der spätbürgerlichen Kulturphilosophie deduzierte "Ganzheit" des in sich stimmigen Lebenshorizontes. "Angelernte" und "ungelernte" Tätigkeit aber galt demgegenüber immer als minderwertig und man versuchte das Problem dadurch zu lösen, daß man die Anlernberufe abschaffte und neue Facharbeiterberufe schuf. Aber damit allein ist nichts gelöst. Karl Otto Breustedt, unter dessen Leitung die schon genannte Reform der innerbetrieblichen Ausbildung der Firma Krupp stattfand, stellte unlängst fest (8), daß die Facharbeiterqualifikation für viele in der Industrie erforderlichen Tätigkeiten zu hochgestochen sei. Sie schaffe nicht nur dadurch Unglücksgefühle, daß die Durchfallquote außerordentlich hoch sei, sondern auch dadurch, daß viele nach ihrer Lehre entdecken müßten, daß sie über-ausgebildet seien. Das gegenwärtige System der Berufsausbildung

363

sei also nicht nur dadurch "unrentabel", daß die Ausbildung - gemessen an der dafür aufgewendeten Zeit - nicht intensiv genug betrieben würde, sondern auch dadurch, daß viele - gemessen an den tatsächlichen industriellen Anforderungen - zu gut ausgebildet würden. Dem immer noch allein gültigen Ausbildungsniveau des Facharbeiters entspreche nur zum Teil auch ein industrieller Bedarf. Der "Stufenplan" sehe dagegen vor, das bisher gültige Facharbeiterniveau in 3 systematisch aufeinander bezogene Ausbildungsstufen mit jeweils eigenem Abschluß aufzulösen. Während bisher die sogenannte "Stufenausbildung" nur als methodisches Mittel zur Systematisierung der alten Lehre eine Rolle spielte, werden nun auch didaktische Konsequenzen gezogen: Der alte Berufsbegriff ist aufgelöst worden. Statt dessen werden die "unteren" industriellen Tätigkeiten in 3 auf arbeitswissenschaftlichem Wege ermittelte Qualifikationsstufen aufgeteilt, deren positivistischer Charakter keine "Berufsmetaphysik" mehr zuläßt. Folgerichtig können diese Qualifikationsstufen auch nicht mehr mit den alten Berufsbegriffen bezeichnet werden. Sie sind selbst so abstrakt geworden, wie die Summe der in ihnen zusammengefaßten Tätigkeiten, die eben nicht mehr entfaltete "Urberufe" sind, wie Spranger noch glaubte (9), sondern nach den Gesetzen der industriellen Arbeitsteilung entstandene Additionen von Tätigkeiten und Fertigkeiten.

4. Die traditionelle Theorie war eine Art Waffenstillstand zwischen den Interessen der Wirtschaft und denen der Pädagogik. Das für Deutschland charakteristische "duale System" der Ausbildung war dafür historisch Ursache und Folge zugleich. Die allgemeinbildende Schule und die Berufsschule waren das Reservat der "Pädagogen", die innerbetriebliche Ausbildung wurde den "Technikern" und "erfahrenen Fachleuten" überlassen. Die deutsche Berufsbildungstheorie interessierte sich im Grunde überhaupt nur für die schulischen Aspekte des Berufes, also für die Berufsschule. Ihre Naivität gegenüber den ökonomischen und politischen Realitäten der Arbeitswelt mag damit zusammenhängen. Das führte nicht nur zu einer bis heute nicht überwundenen - teils durchaus ressentimentgeladenen - Spannung zwischen "Theoretikern" (= Lehrer) und "Praktikern" (= berufserfahrene Unterweiser), sondern auch dazu, daß eine pädagogische Aufklärung der innerbetrieblichen Ausbildung im Grunde nie wirklich in genügendem Maße stattgefunden hat. Anstatt die Probleme des Lernens hier zu erforschen und die Lehrenden über sich selbst aufzuklären, erwartete man alles vom "gemeinsamen Umgang der Meister und Lehrlinge mit der Sache" - eine didaktische Ideologie, die wohl nicht zufällig die alte Handwerksausbildung in die Nähe der Lehrpraxis der heutigen Universität rückt. Noch schwerwiegender war, daß auf diese Weise die Pädagogik jegliche kritische Energie im Hinblick auf die pädagogische Gestaltung der Betriebswirklichkeit einbüßte, daß sie diese Wirklichkeit nicht in Frage stellen konnte. Je hartnäckiger die Wirtschaft auf ihr Recht zur Ausbildung pochte und darauf, daß nur sie etwas davon verstünde, um so mehr wurde in den Schulen ein Begriff von "allgemeiner Menschenbildung" kultiviert, dem tatsächlich kein soziales Lebensfeld mehr entsprach, der weder dazu taugte, die jungen Menschen auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten, noch auch dazu, sie gegen den übermächtigen Eindruck der Wirtschaftswelt zu festigen und sie z. B. zur kulturellen und politischen Beteiligung zu erziehen.

Dieser Waffenstillstand zwischen Pädagogik und Wirtschaft wird aber immer fragwürdiger, je mehr die Probleme beide Instanzen miteinander verbinden. Auf der einen Seite versucht die Volksschuloberstufe, durch Betriebspraktika und andere Maßnahmen sich der Arbeitswelt anzunähern, auf der anderen Seite taucht immer dringender die Frage auf, was von der heute nötigen Berufsausbildung am rentabelsten in der Schule und nicht im Betrieb geschehen kann. In der hochentwickelten Großindustrie sind die Ausbildungs-

364

bezirke heute schon Gettos. Die Logik des Lernens ist nicht die Logik der modernen Produktion. Und je intensiver man die Lernvorgänge organisiert, um so mehr muß man sie - auch im Betrieb - vom "Ernstfeld" der Produktion isolieren und "verschulen", zumal wichtige Bereiche der modernen Industrie den Jugendlichen teils aus Gründen des Jugendarbeitsschutzes, teils auch weil die Anlagen sehr teuer und kompliziert sind, verschlossen bleiben (10). Die Frage des Verhältnisses von Schule und innerbetrieblicher Ausbildung muß also neu gestellt werden. Möglicherweise werden - wie heute schon in den Ostblockländern - in Zukunft bestimmte handwerkliche Grundausbildungen am rentabelsten in der allgemeinbildenden Schule und in den daran angeschlossenen Schulwerkstätten erfolgen können.

Dagegen ist für die gegenwärtige Diskussion über die Frage, welchen Beitrag die Volksschule zur "Einführung in die Arbeitswelt" leisten könne, charakteristisch, daß sie im Grunde auf dem Boden des "Waffenstillstandes" erfolgt, d. h. auf dem Boden des augenblicklichen Schul -und Ausbildungswesens. Trotz Klafkis (11) kritischer Rezension solcher schulischer Vorhaben dominiert eine Sucht nach außerschulischen "Erfahrungen", die in Wahrheit "Erlebnisse" sind, deren Interpretation zu Erfahrungen voraussetzte, was in den Diskussionen kaum eine Rolle spielt: systematischen, auf das Ganze zielenden Berufs- und wirtschaftskundlichen Unterricht. Es bliebe zu untersuchen, ob sich hier nicht ein Begriff von Erfahrung in den Vordergrund spielt, der mit der zunehmenden ökonomischen Selbstrechtfertigung der Volksschule zusammenhängt, ein Begriff, in dem die Tatsache noch keinen Eingang gefunden hat, daß auch die durch Denken geschulte Vorstellungskraft unbekannte Sozialsituationen zu antizipieren vermag.

5. Die traditionelle Theorie enthielt auch eine politische Prämisse. Kerschensteiners Identifizierung von Berufsbildung, Allgemeinbildung und staatsbürgerlicher Bildung hat zu einer unhaltbaren Gleichsetzung in Wahrheit widersprüchlicher und antinomischer Sozialhorizonte geführt (12). Die Vorstellung, der ordentliche und pflichtgetreue Arbeiter sei zugleich auch der optimale politische Bürger, hatte mit der Substanz demokratischer Normen und Realitäten so gut wie gar nichts zu tun. Sie übertrug die merkantilistische Tradition auf die moderne Gesellschaft, ohne sich wirklich mit der liberalistischen und sozialistischen Tradition eingelassen zu haben (13). Kerschensteiners Mystifizierung der bloßen Arbeitstätigkeit, in der die rationale Kontrolle des Sinnes und Zweckes der Produktion sowie der Entscheidungen derjenigen, die die Produktion beherrschen, keinen Ort haben, und Sprangers Suche nach den "geschlossenen Lebenskreisen" haben zusammen einen Vorstellungshorizont erzeugt, der antidemokratischen Bedürfnissen wie auf den Leib geschneidert war und ist. In diesen Vorstellungen fehlt die Tatsache, daß wir in der modernen Gesellschaft in widersprüchlichen Sozialhorizonten leben, deren Strukturen keineswegs identisch und deren Normen infolgedessen auch nicht einfach übertragbar sind. Der optimale Arbeiter ist nicht eo ipso schon der optimale Bürger, der optimale Ehemann, der optimale Vater, der optimale Freizeitkonsument, der optimale Nachbar oder Kollege. Schon Theodor Litt hatte die Berufsschule ermahnt, die Vorstellung vom Betrieb als eines Staates im Kleinen zu bekämpfen und nicht noch zu fördern (14).

Der Versuch, von der beruflichen Leistung und Erfahrung her auch andere kulturelle Bereiche zu erschließen, ist schlechterdings irreführend. Weder genetisch noch logisch lassen sich die Strukturen verschiedener kultureller Objektivationen aufeinander oder auf ein tertium comparationis zurückführen, der soziologische Begriff der "Ausgliederung" täuscht uns hier und der pauschale Begriff der Bildung hat hier viel Unheil angerichtet (15).

365

6. Die anthropologische Prämisse der traditionellen Theorie war, daß die Begabungsstruktur der unteren Volksschichten im Unterschied zu den "gebildeten Ständen" vor allem durch den "praktischen Umgang" mit der Welt - eben durch die Arbeit - geprägt sei (16). Damit bot sich die große Möglichkeit an, den riesigen Personalbedarf der Wirtschaft für die unteren Tätigkeiten pädagogisch zu rechtfertigen. Der prästabilisierten Harmonie zwischen individueller Fähigkeit und objektiver Bedarfsstruktur entsprach nun auch noch eine solche Harmonie zwischen den wirtschaftlichen Qualifikationsstufen und der sozialen Schichtung. Indem die Vorbereitung auf die unteren Berufe den Aspekt der für die Arbeiterschaft einzig möglichen Bildung erhielt, erhielt das dreigliedrige Schulwesen eine gleichsam absolute pädagogische Rechtfertigung, konnte alles, was nicht von der praktischen Tätigkeit aus zu begründen war, als "bildungsfremd" aus den Volks- und Berufsschulen verbannt werden. Die vielberufene, betont anti-aufklärerische "Eigenständigkeit der Volks- und Berufsschule" konnte überhaupt nur so begründet werden. Diese Vorstellung scheint auch heute noch weit verbreitet zu sein, wie könnte man sonst noch ungeniert von besonderen "Bildungsaufträgen" besonderer Schularten sprechen?

Schon diese fragmentarische Skizze begründet den dringenden Verdacht, daß die Praxis der Berufsausbildung heute eine theorielose Praxis ist, d. h. es fehlt ihr ein von den Schwierigkeiten der Gegenwart ausgehender, auf künftige Möglichkeiten hin orientierter, rational durchgeformter und kontrollierbarer Vorstellungshorizont über den Gesamtzusammenhang der hier zur Debatte stehenden Probleme. In der pädagogischen Vorstellung lebt die traditionelle Berufsbildungstheorie in zwar modifizierter, aber keineswegs kritisch genug überprüfter Weise weiter, wie nicht zuletzt das Gutachten des Deutschen Ausschusses zeigt (17). Da die traditionelle Theorie im Grunde nie mächtig genug war, begründete Forderungen an die Wirtschaft zu richten oder gar durchzusetzen, ist sie von Anfang an zur konservativ-romantischen Interessenideologie umgeschlagen, die sich insbesondere das Handwerk zunutze gemacht hat (18). Die industrielle Ausbildung dagegen, die jahrzehntelang gegenüber der Geschlossenheit der Handwerkslehre als pädagogisch minderwertig galt (Handwerk erzieht, Industrie bildet nur aus und ,,schult" (19), geht sie in ihren modernsten Formen - wie im Krupp-Rahmenplan - in Anlehnung an amerikanische Vorbilder so vor, daß sie auf arbeitswissenschaftlichem Wege abstrakte Qualifikationsstufen ermittelt, wie sie den gestuften Anforderungen in der industriellen Produktion entsprechen. Die Gefahr dieses Verfahrens ist, daß sich dabei die pädagogische Problematik auf die Ermittlung der rentabelsten Methoden der Aneignung reduziert. Das Auseinanderfallen von Theorie und Praxis verhindert gemeinsame Neuordnungen der Ausbildung in Kooperation zwischen den einzelnen Interessen und Institutionen. Die Anbetung des Marktmechanismus, dem man sich von Fall zu Fall anpassen müsse, unterdrückt die über die Perspektiven des einzelnen Betriebes und seiner beschränkten Kalkulation hinausreichenden Zukunftsaspekte.

Die Sache hat neben diesem ökonomischen aber noch einen allgemeinen schul- und bildungspolitischen Aspekt. Wenn die Ergebnisse der Untersuchung von Wolfgang Lempert und Heinrich Ebel zutreffen (20), daß man bei besserer Intensität die heutigen Lehrverhältnisse generell - zum Teil bis auf die Hälfte ihrer jetzigen Dauer - reduzieren könnte, dann taucht prinzipiell die Frage auf, wie und womit wir die wichtigen Jahre zwischen vierzehn und achtzehn pädagogisch belasten sollten. Dies zu entscheiden ist ja in einer demokratischen Gesellschaft primär Sache der Bürger, nicht der Kultusminister, der Lehrerverbände, der Wirtschaft oder auch der Lehrer. Mit anderen Worten: Die allgemeine Didaktik des Jugendalters als der Inbegriff dessen, was Jugendliche lernen sollen, muß neu konzipiert werden. Wenn sich etwa herausstellen sollte, daß für die Berufsaus-

366

bildung in diesen Jahren weniger Zeit nötig wäre, als heute noch allgemein für möglich gehalten wird, dann könnte unsere Gesellschaft zum Beispiel entscheiden, daß die frei werdende Zeit für die Aufgaben der politischen und kulturellen Bildung verwendet werden soll.

Damit ist bereits ausgesprochen, daß die Kritik der Berufsausbildung auch didaktische Probleme betrifft, insofern diese Kritik die Lerninhalte und Lernziele zum Inhalt hat. Unter "Didaktik" wollen wir im folgenden alle Reflexionen verstehen, die sich mit solchen Lehrgehalten befassen, die zur Bewältigung der Lebensaufgaben gelernt werden müssen. Weiter gehen wir von der Hypothese aus, daß sich aus diesem allgemeinen didaktischen Programm bestimmte Teilaufgaben sinnvoll isolieren lassen (21). "Didaktik der Berufsfähigkeit" hieße dann das Insgesamt derjenigen Überlegungen, die die Ermittlung solcher Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Gegenstand haben, die für die souveräne Erfüllung der Berufsrolle im allgemeinen und bestimmter beruflicher Tätigkeiten im besonderen gelernt werden müssen (objektiver Aspekt) und auch gelernt werden können (subjektiver Aspekt). Damit lösen wir den Begriff der Didaktik bewußt aus der traditionellen Bildungsdiskussion und aus der Beschränkung auf die Schule heraus und verstehen ihn als Chiffre für eine Planungstheorie.

Dieser Vorschlag, Didaktik als "Planungstheorie" zu verstehen, entspringt keiner Modetorheit. Didaktik ist ja bereits ein Instrument, das dem Lehrer sinnvolle und überprüfbare Unterrichtsplanungen gestatten soll. Es geht im Grunde nur um die Erweiterung eines längst vorliegenden Ansatzes, nämlich um die Einbeziehung gesellschaftspolitischer, lehrplantheoretischer, institutioneller und auch methodischer Dimensionen. Eine solche Erweiterung wird nicht nur aus bildungsinhaltlichen Gründen notwendig - weil die Probleme selbst einen derartigen Radius aufweisen -, sondern auch aus bildungspolitischen. Selbst unter Konservativen ist es nämlich heute kaum mehr eine prinzipielle Streitfrage, daß "Bildungsplanung" notwendig sei. Einstweilen geschieht die dafür notwendige Forschung noch fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Ertragsberechnungen. Bildungsplanung sowie ihr Korrelat, die Bildungsforschung, werden aber solange nutzlos sein, wie sie sich nicht auch auf die Lerninhalte und Lernziele erstrecken. Diese Inhalte und Ziele entziehen sich zwar nicht einer Ertragsberechnung - jeder Luxus kann schließlich so berechnet werden - , aber solche Berechnungen enthalten keine Entscheidungsmaßstäbe mehr, es sei denn, man hielte das Kriterium der Rentabilität für hinreichend. Für die Lernaufgabe der Berufsfähigkeit mag das angehen, aber politische Beteiligung z. B. ist natürlich ein ökonomischer Luxus - weshalb sie in unserer allgemeinen Volksbildung ja auch so gut wie keine Rolle spielt. Die sich schon jetzt abzeichnende Arbeitsteilung zwischen Ökonomen und Pädagogen - die einen berechnen rentable Bildungsorganisationen und die anderen bestimmen, was darin geschieht - , ist deshalb gefährlich, weil auf diese Weise Ertragsberechnungen zwangsläufig zum vorherrschenden Maßstab werden, solange unsere Didaktiken nicht eine solche theoretische Struktur aufweisen, daß das, was daran planbar und berechenbar ist, auch geplant und berechnet werden kann. Mit anderen Worten: Die bisherige didaktische "Mikro-Planung" (im Unterricht der Schule) muß durch eine "Makro-Planung" ergänzt werden. Über das, was hier im Prinzip "Planung" heißen könnte, hat Hartmut von Hentig inzwischen das Nötige gesagt (22). Zu ergänzen bliebe nur, daß es sich bei dem zu erwartenden "Bildungsansturm" von unten nur zum Teil um volkswirtschaftlich amortisierbare "Investitionen", zum größeren Teil aber eher um Luxus, also um "verlorene Zuschüsse" handeln wird. Es ist Dahrendorfs Verdienst, darauf wieder mit allem Nachdruck hingewiesen zu haben (23). Bildungspolitische und didaktische Planung wird nötig sein, wenn dieser Ansturm

367

nicht zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten und damit zu ökonomischen und politischen Krisen führen soll. Wo dann gespart werden kann und soll und wo nicht, das kann ohne eine didaktische Planungstheorie überhaupt nicht mehr vernünftig entschieden werden.

In diesem Rahmen müßte eine Didaktik der Berufsfähigkeit folgendes leisten:

1. Sie müßte ermitteln, was an Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und sozialen Verhaltensweisen heute gelernt werden muß, damit man morgen berufsfähig sein kann.

2. Sie muß das so Ermittelte aufgliedern in allgemeine, für jeden Beruf geltende Lernleistungen und in solche, die nur für bestimmte Berufsgruppen notwendig sind. Das eine wäre eine Sache der beruflichen Grundbildung, das andere eine Sache der beruflichen Spezialbildung.

3. Sie muß entscheiden helfen, welche Lernleistungen warum in die Pädagogik des Jugendalters gehören und welche einer späteren Fortbildung überlassen bleiben können.

4. Sie muß entscheiden helfen, welche der ermittelten Lernleistungen wo am zweckmäßigsten zu organisieren sind, d. h., sie darf nicht von vornherein von den jetzigen Schul- und Ausbildungsverhältnissen ausgehen. Stellt sich etwa heraus, daß die gegenwärtige Lernorganisation unzweckmäßig ist, so muß sie eben geändert werden. Möglicherweise gehört die berufliche Grundbildung und das, was Voraussetzung für spätere Berufsfortbildung ist, am sinnvollsten in die allgemeinbildende Schule.

5. Die Didaktik muß Vorschläge für die Verbesserungen machen und sie auch in der innergesellschaftlichen Diskussion politisch vertreten und fordern, und das heißt zunächst einmal den Bürgern verständlich vortragen.

6. Sie muß innerhalb ihrer kategorialen Struktur wie auch im institutionellen Sinne, d.h. in der Art und Weise ihrer Organisation, den Zusammenhang mit der "allgemeinen Didaktik" als der Integration aller Aufgaben- und Institutions-Didaktiken wahren. Ein solches didaktisches Programm ist überhaupt nur im Rahmen einer sorgfältig durchdachten wissenschaftlichen Kooperation möglich, an der auch die für die Berufs- und Arbeitswelt Verantwortlichen in organisierter Weise beteiligt werden. Ohne deren Informationen und Urteile sind solche didaktischen Forschungs- und Interpretationsaufgaben gar nicht zu leisten.

7. Die Didaktik muß eine "Berufslehre" für die in der Berufsausbildung Verantwortlichen entwickeln, deren kategoriale Struktur die selbständige Aneignung weiterer wissenschaftlicher Informationen erlaubt und ermöglicht.

8. Sie muß die gesetzlichen Grundlagen dafür fordern, daß die für solche Forschungen nötigen Informationen auch gesammelt werden können. Gegenwärtig sind weder die statistischen Ämter noch die Ausbildungsträger gezwungen, Informationen zu sammeln und zu veröffentlichen, die sie - aus naheliegenden Gründen - nicht sammeln oder veröffentlichen wollen.

Für eine solche didaktische Programmatik sind folgende Einsichten bestimmend, die sich aus der Kritik der traditionellen deutschen Berufsbildungstheorie ergeben:

1. Eine Didaktik der Berufsfähigkeit ist nicht mehr als "systematische" Theorie möglich, die das zu tun Notwendige aus kulturphilosophischen oder anthropologischen Prämissen einfach deduziert, sondern nur noch als "aporetische", die die komplizierten, mehrdeutigen und antinomischen Probleme in einen dynamischen, für alle neue Empirie offenen Strukturzusammenhang bringt, neuen Tatsachen und Erkenntnissen Rechnung trägt und sie gleichwohl immer schon in theoretische Zucht nimmt.

368

2. Eine solche Didaktik ist nicht mehr möglich im Rahmen traditioneller pädagogischer Problemisolierungen (Pädagogik = Schule = Bildung = allgemeine Menschenbildung). Die Probleme, die hier zu lösen sind, sind fächer- und instanzenübergreifend. Die Pädagogik hätte primär die Funktion der Federführung für die hier notwendigen Analysen, Kooperationen und Interpretationen. Es liegt auf der Hand, daß das Programm der Didaktik, wie wir sie verstehen, eines kaum vorstellbaren Umfangs an empirischen Untersuchungen bedarf.

3. Die verschiedenen Berufe sind heute weder normativ noch sachlich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es wird also notwendig, den Begriff des Berufes dementsprechend zu differenzieren. Für viele berufliche Tätigkeiten ist emotionale Distanz nötiger als Identifikation (24). Für viele darf man nicht mehr verlangen als Job-Gesinnung (25). Die pauschale Metaphysik des Berufes bedarf einer dringenden Revision, wenn die Pädagogik hier nicht unentwegt Unglücksgefühle oder gar Zynismus produzieren will. Vielleicht müßte man in Zukunft noch deutlicher unterscheiden zwischen Berufen, deren unmittelbares Objekt Menschen oder Sachen sind.

4. Es geht um die Einsicht, daß die Anforderungen der Arbeitswelt anerkannt und daß zugleich an der prinzipiellen Unübertragbarkeit der hier gültigen Normen und Strukturen festgehalten wird. Es hat überhaupt nichts mit mangelnder Menschenbildung zu tun, daß die industriellen Tätigkeiten nicht nach den Maßstäben menschlicher Erfüllung, sondern nach den Gesetzen der Arbeitsteilung gegliedert sind; daß die menschlichen Beziehungen hier human-technisch funktionalisiert und möglichst reibungslos sein sollen; daß es hier primär nicht um Gesinnung, um Umwandlung des Egoismus in Altruismus (Kerschensteiner), sondern um höchstmöglichen Verdienst geht usw.; solange diese partikularen, zunächst nur im Berufsleben gültigen Kategorien nicht totalisiert werden, sind sie auch nicht an sich schon in-human.

5. Indem sich die Didaktik hier auf den funktionalisierten Aspekt der beruflichen Tätigkeiten beschränkt und aufhört, die Arbeitswelt nach "Bildungswerten" abzusuchen, kann uns wieder deutlicher werden, daß Teilnahme am kulturellen Leben und politische Beteiligung weder von der Sache her aus der beruflichen Leistung abzuleiten sind, noch sich auch im sozialen Feld des Berufes unbedingt realisieren und reproduzieren lassen. Das meiste von dem, was in die Berufsausbildung als allgemeine Bildung hineingeheimnist wird, ist in Wahrheit eine Aufgabe der politischen Bildung, die gänzlich anderer Kategorien bedarf. Nicht, daß seit der merkantilistischen Arbeitspädagogik und neuerdings seit Kerschensteiner faktisch die funktionalisierte Tätigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung geriet - nur so ist offensichtlich Berufsausbildung realistisch zu konzipieren - ist der pädagogische Sündenfall, sondern daß man aus der Not der funktionalisierten Borniertheit der Massen unter Einsatz von schlechter (weil unwahrer) Metaphysik eine Tugend machte. Erst indem die jüngste pädagogische Tradition aus der - zeitweilig unausweichlichen - beruflichen Beschränktheit eine allgemeine Bildungsmaxime machte, bzw. - was vom selben Ergebnis war - ihren Protest in Form der "allgemeinen Menschenbildung" wirkungslos verinnerlichte, verriet sie, was sie einst als "Mündigkeit" auf ihre Fahne geschrieben hatte.

So ist die Forderung nach innerbetrieblicher Mitbestimmung ja eine von außen an die Wirtschaftswelt herangetragene Forderung, die sich keineswegs aus den Kategorien der Wirtschaft ableiten läßt. Die Forderung nach Demokratisierung und Kontrolle wirtschaftlicher Macht entsteht aus einem ganz anderen Horizont als aus dem der Wirtschaftswelt, weshalb denn auch die von Unternehmern dagegen vorgebrachten konkurrenzwirtschaft-

369

lichen Einwände den Kern dieser Forderung gar nicht treffen können. Vor allem sind berufliche Tugenden keine politischen und umgekehrt - das sollte uns spätestens der Nationalsozialismus gelehrt haben. Mit anderen Worten: Daß jeder Mensch - ohne Rücksicht auf seine berufliche Position und seine dafür erworbene Ausbildung - sich an der Produktion und Reproduktion politischer Macht beteiligen soll (politische Beteiligung), daß er an wenigstens einigen kulturellen Bereichen mit Verständnis und Sachkunde partizipieren soll (kulturelle Beteiligung) - dies sind allgemeine "Bürgerrechte auf Bildung" (Dahrendorf), die sich nicht aus wirtschaftlichen Begründungen ableiten lassen, sondern aus den geschichtlichen Forderungen der "Fundamentaldemokratisierung" erwachsen. Es wäre eine hochqualifizierte moderne Berufsausbildung denkbar - die kommunistischen Länder führen sie uns teilweise vor - , die auf Kosten der politischen und kulturellen Bildung geht, die also politische und kulturelle Beteiligung der Menschen eher unterdrückt als fördert.

Die Totalisierung der Berufsrolle und damit die Überbewertung dieser einen sozialen Leistung überhaupt hat ihren Ursprung nicht nur in der konservativ-romantischen Berufsideologie, wie sie Spranger und Kerschensteiner vertraten, sondern auch in der sozialen und ideologischen Überbewertung der Arbeit in der Geschichte der Arbeiterschaft selbst. So verständlich es einmal war, daß man gegen den literarisch-ästhetischen "Luxus" des Gymnasiums die "Arbeit" des unterprivilegierten Proletariats als Zentrum der Bildung setzte, so hinderlich ist diese Tradition heute geworden. Die Hoffnung, daß der kapitalistische Eigennutz den Arbeitern höhere Ausbildung gewähren müsse, und daß diese höhere Ausbildung gleichsam von selbst die anderen Fähigkeiten des Menschen (z. B. seine politischen) steigern werde, hat sich bis heute in Kreisen der organisierten Arbeiterschaft zu einer kaum zu erschütternden Ideologie verhärtet (26). Aber weder ist dieser Automatismus eingetreten (27), noch ist wirklich ausgemacht, daß eine allgemeine Erhöhung des industriellen Ausbildungsniveaus wirklich nötig ist (28).

6. Aus all dem folgt zusammenfassend, daß die Arbeitswelt keineswegs allein in eine Didaktik der Berufsfähigkeit gehört, sondern je nach ihrem Aspekt auch in andere didaktische Perspektiven. Die Frage, was jemand lernen müsse für eine bestimmte Tätigkeit und dafür, diese Tätigkeit gegebenenfalls durch von außen erzwungenen Berufswechsel oder durch freiwillige horizontale bzw. vertikale Mobilität zu wechseln, ist die Leitfrage einer Didaktik der Berufsfähigkeit. Die Didaktik der politischen Beteiligung dagegen müßte die Wirtschaftswelt unter ganz anderen Gesichtspunkten betrachten: unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle wirtschaftlicher Macht, der Sicherung des Arbeitsplatzes, der Garantie der beruflichen Mobilität, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Lohnauseinandersetzungen, der für die Arbeitswelt geschaffenen politischen Organisationen usw. Selbst wenn für viele Berufe eine berufliche Höherqualifizierung gar nicht nötig ist, verlangt schon die didaktische Aufgabe der politischen Beteiligung die zehnjährige Vollzeitschule; selbst wenn sich viele Inhalte der politischen Bildung an die berufliche Erfahrung didaktisch sinnvoll anhängen lassen, so können andere wie der Ost-West-Gegensatz, der Vietnam-Krieg, die politischen Wahlen, der 2. Weltkrieg, die Spiegel-Affäre usw. nur gegen die bornierte Berufserfahrung verständlich gemacht werden.

Wenn es durch solche Unterscheidungen gelingt, die Ausbildung für einen Komplex beruflicher Tätigkeiten von allen darüber hinausgehenden Erziehungs- und Bildungsansprüchen zu säubern, dann wäre es erst möglich, die tatsächlichen beruflichen Anforderungen realistisch zu ermitteln und die Lernvorgänge optimal zu organisieren. Hier scheint mir die große Bedeutung des Krupp-Rahmenplanes zu liegen: Die Wirtschaft be-

370

ginnt sich präzis zu beschränken auf das, was sie wirklich braucht. Auf dieser Grundlage wird es erst möglich sein, für die Volks- und Berufsschüler die anderen Lernaufgaben wie politische und kulturelle Beteiligung und Teilnahme am Freizeitsystem zu konzipieren, Lernaufgaben, die ihre eigenen Begründungen und Sachgesetzlichkeiten haben. Solange solche Unterscheidungen nicht getroffen werden, und solange demgemäß für die "unteren" und "höheren" Ausbildungswege qualitativ verschiedene didaktische Konzeptionen etwa von politischer Bildung gelten - solange bleibt unser Schulwesen nicht nur organisatorisch, sondern - was schwerer wiegt - auch didaktisch weitgehend durch die alte "Klassenschule" determiniert.

371

Anmerkungen:

(1) Redaktion des STERN (Hrsg.): Berufsaussichten und Berufsausbildung in der Bundesrepublik, Bde. I-III, Hamburg 1964-1966.
(2) Fried. Krupp, Krupp-Rahmenplan zur Stufenausbildung. Arbeitsunterlagen, 1. Teil: Gewerbliche Berufsausbildung, Essen (Eigenverlag) 1965.
(3) Vgl. DGB (Hrsg.): Stufenausbildung in der Diskussion. Düsseldorf (Eigenverlag) 1965.
(4) Wolfgang Lempert/Heinrich Ebel: Lehrzeitdauer, Ausbildungssystem und Ausbildungserfolg. Freiburg 1965.
(5) Eduard Spranger: Umbildungen im Berufsleben und in der Berufserziehung, in: Archiv für Berufserziehung 1951, S. 119 ff.; wieder abgedruckt in: Hermann Röhrs (Hrsg.): Die Bildungsfrage in der modernen Arbeitswelt. Frankfurt 1963, S. 181 ff.
(6) Theodor Wilhelm hat gezeigt, daß Kerschensteiner sich dieser Schwierigkeit durchaus bewußt war. Er wollte die modernen schematischen industriellen Tätigkeiten dadurch aufwerten, daß er ihre soziale Notwendigkeit einsichtig machte. Problematisch wurde dieser Ansatz erst, als er in die Wertphilosophie integriert wurde. "Als Kerschensteiner anfing, die konkrete Berufssituation am Maßstab der inneren 'Berufenheit' zu messen und dergestalt die Erziehungsbedeutung des Berufes von der Möglichkeit individueller Bildungsgestaltung abhängig zu machen, begann jenes verhängnisvolle Bestreben, in die Arbeitssituation 'Bildungselemente' hineinzumanövrieren, das die ganze Berufspädagogik der Folgezeit auf ein falsches Geleise schob". (Theodor Wilhelm: Die Pädagogik Kerschensteiners. Verhängnis und Vermächtnis. Stuttgart 1957, S. 47) - Auch Spranger hat darauf hingewiesen, daß der "innere Beruf" meist nicht mit dem "äußeren (soziologischen) Beruf" identisch sei. (Vgl. die subtile Interpretation bei Herwig Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus. Düsseldorf 1963, S. 108 ff. ) Aber gerade indem er die Spannung zwischen "innerem" und "äußeren" Beruf zur Bedingung der Möglichkeit von Bildung durch den Beruf hochstilisierte, wurde auf dem Umweg über die "Pflicht" die "prästabilisierte Harmonie" wieder hergestellt, nachdem das einfache Äquivalent von Bedarf und Begabung nicht mehr überzeugte.
(7) Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Zusammenarbeit mit dem Aufklärungsdienst für Jugendschutz (Hrsg.): Von der Schule zum Beruf. Nürnberg (o. J.) (1964) - Zu diesem Material gehört eine Broschüre für die Eltern, eine für die Kinder und "Informationen für den Lehrer", sowie einige Anschauungsplakate. In den "Informationen für den Lehrer" heißt es zum Beispiel: "Für den Einzelnen bedeutet Beruf (neben den technologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen, H. G. ) noch etwas anderes: Es ist ja schließlich 'sein' Beruf, den er wählte, zu ihm fühlt er sich 'berufen', für ihn 'geeignet' ... Sein Beruf ist ihm auch nicht bloß die melkende Kuh, die ihn mit Butter versorgt, sondern weit mehr: der (!) Ort und die (!) Gelegenheit seiner vollen Persönlichkeitsentfaltung, die Erfüllung eines großen Teils seiner Lebenserwartungen ... Daß der Beruf diese Erwartungen auch erfüllen kann, hängt sehr davon ab, ob es auch der 'rechte', der 'richtige' Beruf war, den der junge Mensch wählte, wo zwischen Mensch und Arbeit eine weitgehende Übereinstimmung und gegenseitige Entsprechung besteht" (S. 4). Die vielschichtige Dimension des Berufes wird eingangs zwar erwähnt, später aber wieder eliminiert, ja sogar kritisiert. So wird die "zeittypische Überbewertung der äußeren Arbeitsbedingungen gegenüber dem eigentlichen Berufsinhalt" moniert (S. 23). - Der scheinbare Vorzug der deutschen Berufsberatung, daß sie objektiv und frei von wirtschaftlichen Interessen berate, kettet sie in Wahrheit unausweichlich an den status quo: "Die Unüberschaubarkeit der immer weitläufigeren, verzweigteren Welt der Berufe" und "die Vielfalt und Differenziertheit der betrieblichen und schulischen Ausbildungswege" (S. 23) sowie die Aufteilung in männliche und weibliche Berufe (S. 7) erscheinen nicht gesellschaftlich reorganisierbar, sondern so natürlich wie der Wechsel von Tag und Nacht.
(8) Karl Otto Breustedt: Neue Tendenzen in der innerbetrieblichen Aus- und Fortbildung. Vortrag, geh. am 19. 5. 1965 im Industrie-Club Düsseldorf (verf. Manuskript).
(9) Eduard Spranger, a. a. O. in: Röhrs (Hrsg.), a. a. O. S. 187
(10) Vgl. Heinrich Ebel über "die Institutionalisierung des Berufswechsels" in: Die Konzentration der Berufe und ihre Bedeutung für die Berufspädagogik, Köln-Opladen 1962, S. 14 ff.
(11) Wolfgang Klafki: Die Einführung in die Arbeits- und Wirtschaftswelt und ihre gesellschaftlich-politische Bedeutung als Aufgabe der Volksschuloberstufe, in: Wolfgang Klafki/Gerhard Kiel/Johannes Schwerdtfeger: Die Arbeits- und Wirtschaftswelt im Unterricht der Volksschule und des Gymnasiums. Heidelberg 1964, S. 14 ff.
(12) Vgl. Theodor Wilhelm, a. a. O. S. 131 ff.
(13) So Johannes Schwerdtfeger: Zur Entwicklung des Verhältnisses von pädagogischem und gesellschaftlichem Arbeitsbegriff, in: Klafki/Kiel/Schwerdtfeger, a. a. O. S. 8.
(14) In: Bundeszentrale für Heimatdienst (Hrsg.): Politische Bildung und Erziehung im Bereich der Berufsschule. Bonn 1956, S. 17.
(15) Charakteristisch für die hier kritisierte Einstellung ist das Buch von Karl Abraham: Der Betrieb als Erziehungsfaktor. 2. Aufl. Freiburg 1957. Es erweckt den Eindruck, als ob alle wesentlichen sozialen Beziehungen und Strukturen im modernen Industriebetrieb wenigstens in nuce repräsentiert seien. Daß z. B. "die Geschlechterordnung der Gesellschaft" (S. 164 ff.) sich dadurch im Betrieb manifestiere, daß auf die Eigenart der Männer und Frauen bei der Arbeitsgestaltung Rücksicht genommen werde ( - in der Regel wohl vor allem durch schlechtere Bezahlung der Frauen für die gleiche Arbeit, H. G. - ), kann nur bei genügender Abstraktion von den tatsächlichen Verhältnissen angenommen werden. Tatsächlich sind doch wohl die Beziehungen zwischen Kollege und Kollegin, Geliebtem und Geliebter, Vater und Mutter inhaltlich wie normativ qualitativ verschiedener Art und können nur um den Preis der Stabilität einer jeden Beziehung auf den gleichen Nenner gebracht werden. Zu den beiden letztgenannten Beziehungen kann der Betrieb weder "funktional" noch "intentional" pädagogisch etwas beitragen, weil es Beziehungen sui generis sind. - Um derlei falschen Identifikationen zu entgehen, ist es vielleicht nützlich, sich an den Marx'schen Gedanken zu erinnern, daß soziale Ausgliederungsprozesse an "qualitative Sprünge" gekoppelt seien.
(16) Vgl. dazu wieder Theodor Wilhelm, a. a. O. S. 11 ff. - Zudem ist der dabei zugrunde liegende Arbeitsbegriff "fast ausschließlich an dem funktionalen Modell des formal-autonomen betrieblichen Arbeitsablaufes und der funktionalen Arbeitsorganisation orientiert". (Schwerdtfeger, a. a. O. S. 11).
(17) Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen: Gutachten über das berufliche Ausbildungs- und Schulwesen, in: Empfehlungen und Gutachten Folge 7/8, S. 51 ff. Stuttgart 1965. - Vgl. die Kritik bei Wolfgang Lempert: Berufsbildung und Demokratie, in: Neue Sammlung, H. 4/1965, S. 313 ff. und bei Adolf Schwarzlose: Das Gutachten über das berufliche Ausbildungs- und Schulwesen, in: Die deutsche Berufs- und Fachschule, H. 4/1965, S. 252 ff.
(18) Vgl. die Kritik der "ideologischen Elemente der handwerklichen Berufserziehungstheorie" bei Lempert/Ebel a. a. O., S. 54 ff.
(19) Diese These wird heute vor allem in den unter dem Titel "Berufserziehung im Handwerk" erscheinenden Arbeiten des von Friedrich Schlieper geleiteten Instituts für Berufserziehung im Handwerk an der Kölner Universität vertreten. Vgl. die Kritik bei Lempert/Ebel a. a. O. S. 28 ff.
(20) Vgl. Lempert/Ebel, a. a. O. S. 202 ff. - Die Verf. haben im wesentlichen nachgewiesen, daß ein großer Teil der Ausbildung mit ausbildungsfremden Tätigkeiten besetzt ist. Daraus kann allerdings nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß die Ausbildung in dem Maße rationalisiert werden könnte, wie jene Tätigkeiten entfallen. In welchem Maße man dann das Lerntempo steigern könnte, bedürfte eigener Untersuchungen und vermutlich auch praktischer Experimente.
(21) Für die Aufgabe der politischen Beteiligung habe ich das in meinem Buch "Didaktik der politischen Bildung", München 1965, zu demonstrieren versucht.
(22) Hartmut von Hentig: Planung entwickelt eine neue Mentalität, in: Neue Sammlung, H. 2/1965, S. 106 ff.
(23) Ralf Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht. Hamburg 1965
(24) Vgl. Hans Paul Bahrdt: Entmythologisierung der Arbeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, H. 1/1965, S. 35 ff. - Bahrdt entwickelt eindringlich am Beispiel der monotonen, der automatisierten und der geistigen Arbeit, wie in-human das überlieferte Arbeitsethos weithin geworden ist. Sein Fazit: "Der 'Mythos der Arbeit', der soviel zu den Leistungen unseres Zeitalters beigetragen hat, ist in einer bestimmten Hinsicht unzeitgemäß geworden. Indem et die Arbeit aufwertete und von allen Menschen verlangte, in ihr mehr als Mühsal zu sehen und gleichzeitig die Arbeit nach oben sozialisierte, überforderte er den Menschen. Er verwischte die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Pflichterfüllung: Er verlangte Identifikation mit der Arbeit, wo in Wahrheit nur gearbeitet werden kann, wenn man innerlich nicht bei der Arbeit ist. Er erzieht Menschen zu unermüdlichem Fleiß, die in Wahrheit die sprungbereite Faulheit eines Cowboys benötigen. Und er verdummt den Intellektuellen, den Politiker und den Manager, indem er ihnen eine hektische Hingabe an den Augenblick als sittlich wertvoll hinstellt - just in dem Moment, in dem sie die Chance und die Pflicht haben, die Zukunft der Welt zu planen". ( S. 46).
(25) Der STERN hat in seinem letzten Berufsreport den bedenkenswerten Vorschlag gemacht, nur noch bei insgesamt 23 Berufstypen von "Beruf" zu sprechen, weil hier ein Berufswechsel in Zukunft nicht zwingend erscheint - fast ausschließlich Dienstleistungsberufe. Alles andere wird als "Job" bezeichnet ( = mehrmals zu wechselnde Tätigkeit). Dokumentation III (1966), S. 175 ff.
(26) Da es Mode geworden ist, für diese Meinung auch Marx's Konzeption der "polytechnischen Erziehung" in Anspruch zu nehmen, sei darauf verwiesen, daß es sich hier um eine revisionistische Tradition handelt. (Vgl. neuerdings Theo Dietrich: Sozialistische Pädagogik. Ideologie ohne Wirklichkeit. Bad Heilbrunn 1966, vor allem S. 120 ff. - Dietrich unterliegt dann allerdings diesem Irrtum auch wieder, wenn er annimmt (S. 308 ff.), die sogenannte "technische Elementarbildung" habe auch nur das geringste mit Marx'schen Gedankengängen zu tun). Daß Marx nichts weniger im Sinn hatte als eine Totalisierung der Berufsrolle belegt Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Frankfurt 1962, vor allem S. 108 ff.
(27) Vgl. die Unterscheidung von "funktioneller" und "substantieller Rationalität" bei Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus. Darmstadt 1958, S. 68 f.
(28) Dies hängt z. B. davon ab, wieweit sich die Automation durchsetzen kann und wird. Einstweilen glaubt aber z. B. die Firma Krupp noch, daß etwa 25% ihrer gewerblichen Lehrlinge in einem Jahr hinreichend ausgebildet werden könnten.


 

 49. Kommunistische Pädagogik in westdeutscher Sicht (1966)

(In: Neue Politische Literatur, H. 3/1966, S. 266-275)

 Solange man noch hoffen konnte, daß das Regime der DDR in absehbarer Zeit zusammenbrechen würde, solange die Wiedervereinigung noch ein kurzfristig erreichbares Ziel schien, maß man bei uns der kommunistischen Pädagogik kaum große Bedeutung zu. Sie wurde vielmehr wie alle innenpolitischen Phänomene in kommunistischen Ländern betrachtet, die nicht "an sich" interessant waren, sondern als bloße Mittel der Machtdurchsetzung der kommunistischen Parteien galten. So schien es auch zu genügen, die Pädagogik der DDR mit jener Vereinfachung zu charakterisieren, wie sie politische Gegnerschaften immer heraufbeschwören: Von "Pädagogik" könne man hier gar nicht sprechen, es handele sich vielmehr um Agitation und Manipulation, und diese sei primär eine Angelegenheit der politischen und ideologischen Analyse. Zwar habe dies alles pädagogisch bedeutsame Folgen für die heranwachsende Generation, insofern sie in schwere Konflikte gestürzt werde, im Endeffekt aber werde es auch den kommunistischen Machthabern nicht gelingen, das "Unverfügbare" des Menschen ganz in die Gewalt zu bekommen.

Vor allem die technischen Erfolge der Sowjetunion haben die westliche Welt hellhörig gemacht. Aber erst vor gut 10 Jahren begann man bei uns überhaupt, sich in größerem Maße mit der kommunistischen Theorie und Praxis wissenschaftlich zu beschäftigen. Daß zu diesem Zeitpunkt auch schon die Pädagogik berücksichtigt wurde, ist ein Verdienst von Leonhard Froese (1), dessen Buch über "Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik" (zuerst 1956 erschienen) inzwischen in zweiter, stark erweiterter Auflage vorliegt. Froeses Überlegungen gelten der russischen pädagogischen Entwicklung, nicht der mitteldeutschen, die vielmehr nach seiner Meinung nur aus jener erklärt werden kann. Er wendet sich vor allem gegen das Vorurteil, die sowjetrussische Pädagogik könne allein aus den Lehrsätzen des Marxismus deduziert und verständlich werden. In Wahrheit aber gab es, als Lenin 1917 an die Macht kam, so etwas wie "marxistische Pädagogik" nur in zaghaften Ansätzen. Statt dessen beherrschten die internationale Reformpädagogik und eine breite russische Tradition auch das pädagogische Denken der Marxisten. Diese eigenständige russische Tradition verfolgt Froese geistesgeschichtlich seit Peter dem Großen und legt damit die bisher einzige westdeutsche Gesamtdarstellung der neuzeitlichen russischen Erziehungstradition überhaupt vor. Die vorrevolutionäre Pädagogik ist für den Verfasser am signifikantesten in Leo Tolstoj und in seiner Versuchsschule Jasnaja Poljana verkörpert. Die Wiederentdeckung Tolstojs für die Gegenwartspädagogik, der Nachweis, daß dieser wesentliche Einsichten der späteren Reformpädagogik vorweggenommen hat, ist vielleicht der überzeugendste Teil des Buches.

Die Tradition dieser "freiheitlich-individualen" Pädagogik war vor allem unter den russischen Lehrern verbreitet, als die Sowjets die Macht errangen. Erst in einer bis in

266

die Dreißiger Jahre reichenden Auseinandersetzung mit diesem Erbe konnte sich eine eigenständige marxistische Pädagogik formen, wie sie dann die "sozialistisch-revolutionäre" Pädagogik Makarenkos darstellte. Auch sie - so weist Froese nach - ist ohne diese Tradition selbst dort nicht verständlich, wo sie sich ausdrücklich von ihr absetzt.

Froeses Buch hat das unbestrittene Verdienst, eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der marxistischen Pädagogik überhaupt erst eröffnet zu haben. Aber es enthält auch nahezu alle methodologischen Probleme, die beim wissenschaftlichen Gespräch zwischen marxistischer und nicht-marxistischer Geisteswissenschaft unweigerlich auftreten. Zwar geht Froese ohne Zweifel objektiv an die ihm - offensichtlich persönlich sehr fernstehende - marxistische Pädagogik heran und versucht sie nicht von einem aktuellen Fremdverständnis her zu verstehen, sondern aus ihren eigenen geschichtlichen und systematischen Strukturen. Aber er tut dies von jenem erziehungswissenschaftlichen Selbstverständnis aus, das durch Diltheys Begriff der "Erziehungswirklichkeit" und durch das Grundaxiom geprägt ist, daß der Erzieher stellvertretend das Wohl des Kindes besorgen müsse. Aber gerade die Axiome der geisteswissenschaftlichen "bürgerlichen" Tradition theoretisch überzeugend angegriffen zu haben, ist vielleicht die schon heute erkennbare bleibende Leistung der marxistischen Pädagogik. Im Ergebnis eröffnet Froese so die Diskussion mit der marxistischen Pädagogik, indem er gerade die marxistischen Elemente schon durch seinen methodischen Ansatz eliminiert und lediglich die nicht-marxistischen Bestandteile in der sowjetischen Tradition wirklich würdigen kann. Das wird vor allem an drei impliziten Grundpositionen des Buches deutlich:

1. Die historische Sicht schrumpft auf die geisteswissenschaftliche Betrachtung zusammen. Die Geschichte der Pädagogik wird zu einer aus sich selbst heraus verständlichen Geschichte von Ideen: "Strömungen" und "Triebkräfte" "kommen zur Entfaltung" (S. 279). Was in den Köpfen der Menschen vorgeht, scheint hinreichend erklärbar ohne Beachtung ihrer konkreten Lebensbedingungen.

2. Diese Betrachtungsweise ist "personalistisch": Sie macht die Geschichte der Pädagogik mit Vorliebe zur Geschichte pädagogischer Denker. So ist auch hier die Gegenüberstellung von Tolstoj und Makarenko geradezu faszinierend gelungen. Aber im nachrevolutionären Rußland standen sich nicht Makarenko und Tolstoj gegenüber, sondern beispielsweise Scharen schlecht ausgebildeter und halbverhungerter Lehrer ohne Schulen und Parteifunktionäre, die keine Ahnung von Pädagogik hatten, aber Bildung für alle wollten. Froese berührt solche Realprobleme zwar (S. 157 ff.), aber sie sind für ihn nicht konstitutiv, und er wendet sie sogleich wieder "personalistisch": Plechanow, Lenin und Stalin "wollten" etwas Bestimmtes.

3. Für Froese stehen pädagogische und politische Dimensionen unvermittelt nebeneinander: "Die pädagogische Bedeutung eines Phänomens verliert in dem Maße, in welchem sie an parteiisch-ideologischem Rang gewinnt". (S. 278). So muß er Makarenko pädagogisch und politisch halbieren, um ihn pädagogisch würdigen zu können. Aber gerade das Axiom des Marxismus, daß alle Pädagogik immer auch Politik sei und nur in dieser Verschränkung vernünftig interpretiert werden könne, kann dabei natürlich nicht recht gewürdigt werden.

So bleibt Froeses Arbeit zwar beschränkt auf das, was sie von ihrem bewußten methodischen Ansatz aus erreichen kann, sie demonstriert aber auch zugleich, wie fruchtbar

267

dieser Ansatz für die Textinterpretation ist, wenn es sich um einen "entsprechenden" Autor wie etwa Tolstoj handelt. Aber die Interpretation marxistischer Autoren kann so nicht zu ihrem Recht kommen.

Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland

Ganz anders geht Oskar Anweiler (2) vor, neben Froese der zweite westdeutsche Pädagoge, der sich in der Ostpädagogik einen Namen gemacht hat. Anweiler "schreibt Geschichte", wie man es heute auch für andere historische Themen tun müßte: Ideen- und Realgeschichte, Individuation und Verallgemeinerung, Theorie und Praxis, politische, soziologische und pädagogische Betrachtung werden undogmatisch kombiniert zur Beschreibung dessen, was warum geschehen ist. Die Darstellung reicht - mit einer knappen Berücksichtigung des russischen Schulwesens vor 1917 - von 1917 bis 1931. Anweiler teilt die Entwicklung der sowjetischen Schule und Pädagogik in drei Phasen ein: "Revolution der Schule (1917 - 1920)", "Ernüchterung und erste Konsolidierung (1921 - 1927)", "Zwischen 'Absterben' und 'Stabilisierung' der Schule (1928 - 1931)". Gerade im Vergleich zu Froeses Darstellungsweise wird deutlich, daß die "liberalen" und "freiheitlichen" Ideen der Reformpädagogik, die nach der Revolution auch die marxistischen Pädagogen enthusiastisch begeisterten, nicht in erster Linie deshalb scheiterten, weil sie in den Griff der marxistischen Ideologen gerieten, sondern viel eher deshalb, weil sie unter den sozialen und ökonomischen Bedingungen des damaligen Rußland keine Realitätschancen hatten. Sie waren gewissermaßen 30 Jahre zu früh gedacht worden und wären auch ohne den Marxismus gescheitert. In einem Land von mehr als 2 Dritteln Analphabeten, in dem die Einführung der allgemeinen (vierjährigen) Schulpflicht bis Ende der Zwanziger Jahre schon mangels Geld nicht durchführbar war, das jahrelang durch Hungersnöte und Bürgerkrieg heimgesucht wurde, konnte eine Reformpädagogik "vom Kinde aus" keine Chance haben.

Anweilers nüchterne, materialreiche, gelegentlich in die Details geradezu verliebte Darstellung ist - von seinem Thema abgesehen - ein Musterbeispiel für moderne pädagogische Geschichtsschreibung. Pädagogische Taten und Ideen werden hier dargestellt wie andere sozialgeschichtliche Phänomene auch, und von Froeses Versuch einer "eigenständigen" erziehungswissenschaftlichen Betrachtungsweise ist kaum noch etwas zu spüren. Allerdings führt auch dieses Verfahren nicht zu einer klaren Herauskristallisierung dessen, was "marxistische Pädagogik" genannt werden könnte: pädagogische Ideen werden vor allem am Maß ihrer historischen Realisierung gemessen - und in dieser Hinsicht ist aus dem behandelten Zeitraum wenig Systematisches zu berichten. Gleichwohl kommt diese Darstellungsweise dem marxistischen Selbstverständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis sehr nahe. Es wäre sehr zu wünschen, daß der Verfasser seine Darstellung der sowjetischen pädagogischen Entwicklung bis in die Gegenwart fortsetzt.

268

Makarenkos Sowjetpädagogik

Die Vorliebe der deutschen Pädagogik für "Klassiker" hat sich in den letzten Jahren auch demjenigen sowjetischen Pädagogen zugewandt, der allein schon durch sein schriftstellerisches Werk aus der jüngsten sowjetischen Erziehungsgeschichte herausragt: Makarenko. Allerdings begegnet der Versuch, ihn "systematisch" zu interpretieren, erheblichen Schwierigkeiten. Er war schließlich ein Fürsorger, der den Auftrag bekam, verwahrloste Jugendliche wieder zu resozialisieren - ein Auftrag, für den es kaum eine pädagogische Theorie, wenig Erfahrungen und keine geeigneten Modelle gab. Makarenko mußte sich also gleichsam seine pädagogische Theorie erst im Verlaufe seiner pädagogischen Erfahrungen selbst machen. Eliminiert man diese konkreten Ausgangsbedingungen bei der Interpretation, so sind Überzeichnungen und Überforderungen die notwendige Folge. Methodologisch ausgedrückt: "Klassiker-Interpretationen" in der Pädagogik, die sich im wesentlichen auf die Analyse von Texten beschränken, ohne auf die konkreten Situationen zu achten, auf die diese Texte einmal Antworten waren, bringen auch ein wesentliches Moment dieser Texte selbst zum Verschwinden.

Dieser Gefahr ist schon Froese in seinem Makarenko-Kapitel ein wenig erlegen, wenn er die politischen Partien bei Makarenko von den pädagogischen zu trennen trachtete; denn schließlich konnte sich Makarenko die politischen Bedingungen seiner pädagogischen Arbeit nicht aussuchen! Aber die hier im ganzen noch zurückhaltenden Interpretationen werden vollends übersteigert in der Makarenko-Monographie von Wolfgang Nastainczyk (3), die neben allen bisher veröffentlichten Quellen auch die Sekundärliteratur vollständig heranzieht. "Kollektivation" ist der Nenner, auf den Makarenkos Pädagogik hier gebracht wird. Sie wird im Endergebnis vom Standpunkt der katholischen Theologie verurteilt: Die Kollektiverziehung laufe dem Naturrecht zuwider, sei deshalb also "im Wesen verfehlt" und dürfe daher gar nicht als "Pädagogik" bezeichnet werden. Theologisch wird dann Makarenkos "Offenbarungsfremdheit" als letzte Ursache der "Abwegigkeit" seiner Kollektivation genannt.

Nun wäre gegen diese theologische Position wenig zu sagen, wenn sie tatsächlich ihrem Gegenstand gerecht würde. Dies zu bezweifeln, fällt angesichts der imponierenden Gelehrsamkeit und der philologischen Akribie des Buches sehr schwer. Die Zweifel können also nur aus gleichsam naiven Rückfragen entstehen, z. B.: Gibt es nicht "Kollektivation" überall dort, wo es Sozialisation gibt, also auch in unseren Familien, Schulklassen, Industriebetrieben? Ist der Unterschied zwischen Makarenko und uns auf weite Strecken nicht ganz einfach der, daß er sich diese Tatsache bewußt gemacht und aufgeklärt hat, und daß er deshalb das Kollektiv planmäßig nutzen konnte, während bei uns die Kollektivation im wesentlichen unaufgeklärt, magisch und tabuiert vor sich geht? Ist faktisch der Unterschied wirklich noch so groß, wenn man weniger auf die pädagogische Programmatik und mehr auf die Tatsachen sieht? Und weiter: Ist es sinnvoll, so zu tun, als ob Makarenko nicht ein Tag für Tag von den praktischen Problemen seiner Fürsorgetätigkeit geplagter Mensch war, der aber trotzdem über das, was er tat, nachdenken wollte, sondern ein Universitätsprofessor, dessen Bücher "vollständig" sein müssen? Könnte nicht sein, daß Makarenko bestimmte Probleme über

269

den Sinn des menschlichen Lebens deshalb nicht weiter verfolgte - also eine unvollständige Anthropologie hinterließ, wie der Verfasser immer wieder überzeugend nachweist - , weil er ganz andere und im Augenblick wichtigere Sorgen hatte - was mit seinem "Sowjetmarxismus" also noch gar nichts zu tun haben muß? Darf man in der Erziehungswissenschaft, was man in anderen Disziplinen nicht darf, nämlich bei Vergleichen den verschiedenen historischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstand gänzlich ignorieren? Mit anderen Worten: darf man so tun, als ob es nie einen Historismus gegeben hätte?

"Makarenkos Praxis und Konzeption schalten das Kind zu früh in den Lebenskampf ein" (S. 251). Was wollte er denn wohl anderes tun, wenn nicht alle verhungern wollten? - "Tugenden, deren das gesellschaftliche Leben bedarf, werden nicht systematisch oder überhaupt nicht entwickelt: Dankbarkeit, Gastfreundschaft, Ritterlichkeit reifen jedenfalls nicht zum habitus aus" (S. 266). Vielleicht mußte die damalige Sowjetgesellschaft tatsächlich auf diese Tugenden verzichten - nicht weil sie eine sowjetische, sondern weil sie eine "vorbürgerliche" war? So ist man bei diesem Buch ständig hin und her gerissen zwischen der Bewunderung für die unbestreitbare begriffliche und systematische Klarheit der Gedankenführung und dem leisen Verdacht, daß dies alles vielleicht letztlich doch einem dafür untauglichen Objekt gilt.

Weniger gelehrt, aber dafür wesentlich realistischer gibt sich die Monographie von Isabella Rüttenauer (4), die mich am meisten von allen bisherigen Makarenko-Interpretationen überzeugt. Die Verfasserin verzichtet auf voreilige Systematik und begriffliche Subsumierung, geht vielmehr von dem pädagogischen Praktiker und seinen praxisgebundenen Reflexionen aus. Das "pädagogische Poem", "Flaggen auf den Türmen" und das "Buch für Eltern" stehen im Vordergrund der Betrachtung. Dem marxistischen Selbstverständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis entspricht es, wenn die Verfasserin immer wieder fragt: Gegen wen ist ein Gedanke formuliert? Wer war warum Makarenkos Gegner? Welche Erfahrungen liegen einem Gedanken zugrunde? Wieweit ist ein pädagogischer Gedanke gebunden an die Situation, auf die er eine Antwort war, inwieweit kann und darf er verallgemeinert werden? Dabei verzichtet I. Rüttenauer keineswegs auf Kritik, aber ihre Leitfragen sorgen dafür, daß die Kritik fast überall überzeugend wirkt.

Der dritte Teil des Buches, der "die Methodik des Erziehens in der Sowjetgesellschaft" zusammenzufassen und vorsichtig zu systematisieren trachtet, ist gerecht und entschieden zugleich. Was hier z. B. über "das Erziehungskollektiv" (S. 180 ff.) steht, differenziert sorgfältig, was Nastainczyk auf einen Nenner bringt. Die Frage etwa, ob im Erziehungskollektiv der Einzelne zu seinem Recht als Person gelangt, "ist nicht mit einem glatten Ja oder Nein zu beantworten" (S. 197). Das hänge von der allgemeinen Vorstellung über das Verhältnis von Kollektiv und Individuum ab, die sich im damaligen Rußland von westlichen Auffassungen unterschied. Und weiter: "Ein Zögling, der in voller Übereinstimmung die Ziele des Kollektivs zu seinen eigenen macht, erfährt im Kollektiv tatsächlich die ihm gemäße Förderung auch zur Entfaltung seiner Eigenart - die ja mit den Erfordernissen des Kollektivs übereinstimmt: ein Zögling hingegen, der sich einen noch so kleinen Bereich eines privaten, vom Kollektiv-Leben

270

unantastbaren Lebens bewahren möchte, muß die Eingliederung ins Kollektiv als eine Vergewaltigung seiner selbst erfahren" (S. 197). In einer Zeit, da es ums nackte Überleben geht, dürfte die Identifikation mit den Zielen des Kollektivs nicht schwerfallen. Unter den heutigen Bedingungen in der Sowjetunion hätte Makarenko vermutlich seine These des Kollektivs erheblich modifiziert.

Ähnlich abgewogen wie diese gut lesbare Arbeit ist die Einleitung zu einer kleinen Textsammlung Makarenkos, die Hans-Georg Herrlitz (5) für die Lehrerbildung herausgegeben hat. Wichtige Grundgedanken der Makarenko'schen Pädagogik ("Die Perspektive", "Die Explosion", "Das Ziel der Erziehung" und "Einige Schlußfolgerungen aus meiner pädagogischen Erfahrung") sind abgedruckt, die treffliche Einleitung informiert knapp über die Ergebnisse der bisherigen Makarenko-Forschung und plädiert überzeugend für offene Interpretationsmodelle.

Wie sehr Makarenko schon zur "Geschichte" der sowjetischen Pädagogik gehört, und wie sehr neue pädagogische Probleme sich in der Sowjetunion in den Vordergrund gespielt haben, zeigt ein Taschenbuch von Hartmut Vogt (6) über "Gegenwartsprobleme der Sowjetpädagogik". Vogt setzt sich nicht kritisch vom "westlichen Standpunkt aus" mit seinem Stoff auseinander, sondern informiert lediglich über die sowjetische Bildungsreform seit 1958, über Unterrichtsforschung und Kybernetik in der sowjetischen Pädagogik und schließlich über den Abend- und Schichtunterricht in der sowjetischen Schule. Er demonstriert, wie relativ undogmatisch man heute in der Sowjetunion Bildungsprobleme angeht, die den unseren sehr verwandt sind. "Infolge der Tatsache nämlich, daß sich die Industriestaaten im (politischen) Westen und Osten vielfach gleichen, oder zumindest ähnlichen Bildungsaufgaben gegenübergestellt sehen, auf die sie nur in bestimmter Weise bei sehr begrenzter Wahl der gegebenen Möglichkeiten (der sachlogisch bedingten Konsequenzen) reagieren können, werden die expliziten Unterschiede bzw. Gegensätze an manchen Stellen von parallelen Erscheinungen 'unterwandert', und zwar auf beiden Seiten" (S. 11).

Pädagogik in der DDR

Während im ganzen die pädagogische Forschung, soweit sie sich auf die Sowjetunion bezieht, gute Fortschritte gemacht hat, ist verständlicherweise die unvoreingenommene Beschäftigung mit der pädagogischen Entwicklung in der DDR sehr viel gehemmter. Bis in die Mitte der Fünfziger Jahre stammten unsere Informationen von Pädagogen, die aus der DDR flüchteten, weil sie dort den Gewissenskonflikt nicht mehr ertrugen. Sie versuchten die westdeutsche Öffentlichkeit auf die Entwicklungen in der DDR aufmerksam zu machen, fanden aber zunächst fast nur mit ihren kritischen Einwänden Gehör, weniger, wenn sie auf "fortschrittliche Tendenzen" hinwiesen. In den letzten Jahren hat sich die öffentliche Meinung weitgehend umgestellt, nun huldigt sie vielfach einer unkritischen Vorliebe vor allem für die "polytechnische Erziehung". Zu denjenigen, die die Umwandlung der mitteldeutschen Erziehungsverhältnisse noch erlebt

271

haben, gehörte Gerhard Möbus (7). Sein letztes Buch - kurz vor seinem Tode erschienen - unterstreicht noch einmal seine Kernthese, die wir schon aus seinen früheren Publikationen kennen: das mitteldeutsche Erziehungssystem sei primär ein politisches Instrument zur "Unterwerfung" der heranwachsenden Bevölkerung "durch Erziehung" unter die politische Macht der SED. Dies alles sei mit der bei uns üblichen pädagogischen Sprache überhaupt nicht zu verstehen. Besonders interessant an diesem Buch ist, daß es dokumentarisch verfährt: ausgiebige Quellenauszüge aus allen Ebenen der DDR-Erziehungswirklichkeit erlauben dem Leser, sich weitgehend am Originalmaterial zu orientieren. Für den hier dokumentierten Zeitraum (bis etwa 1956) scheint auch die Hauptthese des Verfassers überzeugend. Ob sie allerdings ohne Einschränkung auch auf spätere Phasen der Entwicklung übertragbar ist, scheint zweifelhaft.

Allgemein ist festzustellen, daß unsere Kenntnisse über die Entwicklung der Erziehungstheorie und des Erziehungswesens in der DDR ausgesprochen dürftig sind. Allgemeinpolitische Vermutungen ersetzen weithin präzise Kenntnisse. Wir wissen, daß die Pädagogik in der SBZ zunächst an reformpädagogische Ideen anknüpfte, daß aber schon 1949 die offiziell protegierte Auseinandersetzung mit ihnen begann, die dann mit ihrer nahezu völligen Verdammung endete. Dies ist zum "Trauma" fast aller westdeutschen Pädagogen geworden, hierin sehen die meisten den eigentlichen pädagogischen "Sündenfall" der DDR; denn die Reformpädagogik gehört im Prinzip - trotz aller Kritik im einzelnen - zum sicheren Kanon unserer pädagogischen Vorstellungswelt. Die Abtrünnigkeit von der Reformpädagogik wird dadurch erst recht verdächtig, daß mit ihr die "Sowjetisierung der deutschen Schule" begann - wie der Titel einer Schrift von Leonhard Froese (8) heißt. So bleiben, was die Anfänge der DDR-Pädagogik angeht, die wichtigsten Fragen im Dunkeln: War die erste Hinwendung zur Reformpädagogik nur ein politischer Trick, um möglichst viele "Bürgerliche" zur Mitarbeit zu gewinnen, und war die weitere Entwicklung klar geplant? Oder wußte man einfach nicht, was man pädagogisch machen sollte, weil es damals zwar eine schulpolitische, aber keine ausgeführte pädagogische Theorie marxistischer Provenienz gab? War die Hinwendung zum sowjetischen Vorbild nur ein perfider Plan zur Zerstörung der deutschen nationalen Bildungstradition, oder auch so etwas wie eine "Flucht nach vorn", weil die Reformpädagogik schon wegen ihres unpolitischen Selbstverständnisses für die Aufgaben einer modernen Erziehung und Bildung nicht ausreichte? Wie immer künftige Forschungen diese Fragen beantworten werden - sicher ist, daß es eine marxistische Erziehungs- und Bildungstheorie, die mehr ist als bloß deduzierte Anwendung der allgemeinen politischen Theorie, als eigenständige wissenschaftliche Leistung bis vor wenigen Jahren noch nicht gegeben hat. Auf diesem Hintergrund müssen alle bisherigen Arbeiten über die Entwicklung der DDR-Pädagogik gesehen werden.

Das gilt auch für die kleine Schrift von Froese, die aus einem gutachtlichen Auftrag des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen entstand. Froese teilt die Entwicklung in einen "einleitenden Abschnitt" (1945 - 1948), eine "überleitende Phase" (1949 - 1952), eine "stabilisierende Phase" (1953 - 1955), eine "experimentelle Phase" (1956 - 1958), an die sich die bisher letzte, durch das zweite Schul-

272

gesetz von 1959 markierte Phase anschließt. Diese Gliederung ist überzeugend, wenn man von den eben genannten grundsätzlichen Einschränkungen absieht. Knapp und übersichtlich werden Gesetzgebung und Organisation des Bildungswesens, Schulaufbau, ideologische Schulung, das Lehrplanwesen und aktuelle Entwicklungstendenzen analysiert. Die abschließenden 7 Thesen zur "pädagogischen Beurteilung" gehen von denselben Grundpositionen aus, wie wir sie bei Froese schon kennen, und haben darin auch ihre Grenze. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Die mitteldeutsche Schule "ist keine allgemein- und menschenbildende Schule mehr, sondern eine staatspolitische Zöglings- und berufszuleitende Lehrlingsanstalt" (S. 80). Wenn das für die sehr anspruchsvolle Zehnjahresschule zutrifft, so muß man sich nur gleichzeitig fragen, wie man unsere Volksschule qualifizieren müßte, wenn man auf ihre tatsächliche gesellschaftliche Wirkung und nicht auf ihre "autonome" pädagogische Programmatik sieht. Froese hat seine Beschäftigung mit dem Erziehungswesen der DDR und damit die Konkretisierung seiner Thesen durch eine gründliche Lehrplanstudie fortgesetzt, die sich vor allem mit der "Tauwetter-Periode" beschäftigt (9).

"Sozialistische Pädagogik"

Die weitverbreitete These von der "Sowjetisierung" der DDR-Schule läßt immer wieder aus dem Blick geraten, daß es auch in Deutschland eine wenn auch zaghafte - und massiv unterdrückte - marxistisch-pädagogische Tradition gegeben hat. Es war ein großer Fehler der bisherigen Diskussionen, daß man diesen Traditionen und der Frage, welche Wirkung sie auf die Entwicklung der DDR gehabt haben, nicht weiter nachgegangen ist. Diese Lücke füllt als erste westdeutsche Veröffentlichung ein Buch von Theo Dietrich (10).

Der Bogen ist weit gespannt. Er reicht von den ersten Marx'schen Ansätzen - die kurz mit den Vorläufern der Industriepädagogik und den utopischen Sozialisten verglichen werden - bis hin zu den deutschen sozialistischen Konzeptionen von Seidel, Schulz und Oestreich, die zutreffend als "revisionistische" Konzeptionen charakterisiert werden; von diesen "marxistischen" Positionen werden die russischen Versuche Blonskijs und Makarenkos als "leninistisch-stalinistische" Konzeptionen unterschieden. Das umfangreiche Material - auch die sowjetische Schulreform von 1958 wird einbezogen -  war nur zu bändigen, wenn man es unter einem Leitgedanken ordnete. Dies ist für Dietrich der anthropologische. Dabei verfällt der Verfasser aber keineswegs in den Fehler, die marxistische Anthropologie abstrakt lediglich aus den Texten zu eruieren. So berücksichtigt er bei Marx ausgiebig dessen sozialkritische Ansätze. Allerdings hätte man sich eine ähnliche Analyse bei den späteren sozialdemokratischen Schulkonzeptionen gewünscht: sie werden erst dann wirklich verständlich, wenn man ihren konkreten Gegner ausmacht: nicht nur die alte "Pauk-Schule", wie die Reformpädagogik die alte Schule sah, sondern vor allem die "politisch-klerikal-reaktionäre Klassen-

273

schule" war dieser Gegner. Wesentliche Momente der sozialdemokratischen Schulkonzeptionen sind ohne Kenntnis der damaligen realen Erziehungsverhältnisse gar nicht verständlich. Ihre erbitterte Kirchenfeindlichkeit z. B. müßte wie Verfolgungswahn erscheinen, solange man sich nicht klarmacht, was damals "geistliche Schulaufsicht" hieß.

Dietrich würdigt zum erstenmal in Westdeutschland ausdrücklich Karl Marx als einen in die Geschichte der Pädagogik gehörenden Autor. Die Interpretation ist subtil und zieht die allgemeinen Untersuchungen über Marx zu Rate. Dennoch muß man Zweifel anmelden, ob am Ende die Marx-Interpretationen wirklich überzeugen können. Der anthropologische Gesichtspunkt bringt die Gefahr mit sich, sich stärker an den utopischen Aussagen über die Endgesellschaft zu orientieren als daran, daß Marx ja vor allem die Wissenschaft als Instrument der Kritik zur organisierten Veränderung der Gesellschaft benutzen wollte. Was bei Marx dialektisch gesehen ist, erscheint bei Dietrich meist als alternative Dualität, z. B. das Problem des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit. So habe Marx "zweifellos richtig gesehen, daß es menschliches Sein außerhalb einer historischen Existenz und jenseits der Arbeit nicht gibt .... Aber heißt das, daß der Mensch nur einen Gesellschaftscharakter besitzt und - was damit identisch ist - Kollektivwesen ist, d. h. durch die Umwelt geformt wird? Diesen Marx'schen Folgerungen können wir nicht beipflichten! Trotz anerkannter Gebundenheit an die Gesellschaft hat der Mensch einen Raum der Freiheit, d. h. der eigenen sittlichen Entscheidung - zumindest als Möglichkeit" (S. 63).

Diese Argumentationsweise ist charakteristisch für Dietrich. Was er hier gegen Marx ins Feld führt, würde dieser gar nicht bestreiten. Marx'sche Dialektik wird gleichsam immer in ein logisch-alternatives Denkmodell übersetzt, wo man dann für die eine gegen die andere Seite streiten kann. Ein weiteres Mißverständnis liegt in der Reduktion des Marx'schen Arbeitsbegriffes. Marx habe - so meint Dietrich zusammenfassend - "die Grundlagen der Pädagogik unserer Zeit bereichert", weil wesentlich durch ihn "die Arbeit und damit das ökonomische Prinzip wieder Gültigkeit in der Schule erlangte, nachdem es über ein Jahrhundert lang durch die neuhumanistische Bildungsidee daraus verbannt war", und weil "der menschenbildende, humanisierende Wert der Arbeit ... wieder Anerkennung fand" (S. 307) - nämlich u. a. durch die sogenannte "technische Elementarbildung" in den westdeutschen Schulen. Nun kann wohl kein Zweifel daran bestehen, daß hier "Arbeit" assoziativ einfach mit "Arbeit" gleichgesetzt wird. Der Marx'sche Begriff der Arbeit war aber viel umfangreicher als der heute übliche, er enthielt u. a. konstitutive politische Elemente. Arbeit war für Marx nicht "an sich" "menschenbildend", sondern nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Form ihrer gesellschaftlichen ( = politischen) Organisation. Dietrich erkennt zwar den sozialkritischen Ausgangspunkt der pädagogischen Ideen von Marx an, aber dann übersieht er, daß jeder seiner Begriffe politisch "aufgeladen" ist, daß also eine "unpolitische", "eigenständige" und "autonome" Pädagogik diese Begriffe geradezu zwangsläufig mißverstehen muß.

Diese Probleme sind nicht neu, sie betreffen überhaupt große Teile der "bürgerlichen" Adaption des Marxismus. Wir führen sie vor allem deshalb an, um darauf hinzuweisen, daß die "Aufarbeitung" marxistischer Gedanken im Rahmen unserer Pädagogik noch aussteht. Im übrigen bleibt der Wert dieses Buches im ganzen davon unberührt, vor

274

allem was seine Partien über die deutschen Vorläufer einer marxistisch-sozialistischen Pädagogik angeht.

Ziehen wir am Schluß die Summe unseres Berichtes, so bleiben einige grundsätzliche Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit der Kommunistischen Pädagogik offen:

1. Je enger unser Begriff von Pädagogik sich an die jüngste geisteswissenschaftliche Tradition der "autonomen Pädagogik" anlehnt, um so unfähiger wird er, marxistische Konzeptionen zu verstehen, geschweige denn gerecht zu würdigen.

2. Je genauer sich unsere Pädagogik mit dem Marxismus beschäftigt, um so mehr muß sie mit der In-Frage-Stellung ihrer wichtigsten Axiome rechnen - auch solcher, die geradezu konstitutiv für ihr Wissenschaftsverständnis sind.

3. Das gilt vor allem, insofern ihr geschichtliches Bewußtsein anti-historistisch, ihr Selbstverständnis anti-politisch - und damit keineswegs unpolitisch - und ihre Anthropologie überwiegend irrationalistisch ist.

4. Die sowjetische pädagogische Entwicklung einschließlich ihrer Vorgeschichte ist uns inzwischen weitaus genauer bekannt als die deutsche sozialistische. Das scheint nicht zuletzt daran zu liegen, daß wir eine geschichtliche pädagogische Selbstdarstellung entworfen haben, in der sozialistische Traditionen als solche - also ohne Umwandlung in die Kategorien der "pädagogischen Autonomie" - keinen Ort haben können.

5. Brennpunkt der Diskussion scheint vor allem die Stellung zur Reformpädagogik zu sein. Demnach wäre es nötig, die pädagogischen und politischen Wirkungen dieser internationalen pädagogischen Epoche neu und exakt zu überprüfen.

6. Die bisherigen Diskussionen zwischen "westlicher" und kommunistischer Pädagogik verraten ebensoviel über die Probleme der einen wie der anderen Richtung.

7. Um diese im Grunde "festgefahrene" Diskussion wieder produktiv weiterzuführen, wäre es vielleicht sinnvoll, stärker als bisher von aporetischen Vergleichen auszugehen, z. B.: wie wird dasselbe Problem der Berufsausbildung in der DDR und bei uns gelöst? Wie erklären sich die Unterschiede? Wie wird hüben und drüben dasselbe Problem der allgemeinen Volksbildung, der politischen, historischen, literarischen Bildung usw. gesehen und gelöst? Auf diese Weise käme man vielleicht von den unbefriedigenden dogmatischen Vergleichen weg und hin zu einem theoretischen Wettbewerb angesichts derselben pädagogischen und schulpolitischen Verlegenheiten.

8. Zieht man die Summe, so kann man sagen, daß eine "Aufarbeitung" der marxistischen Tradition - im Unterschied etwa zu den Sozialwissenschaften - in der westdeutschen Pädagogik bislang nur in zaghaften Ansätzen geschehen ist.

275

Anmerkungen:

(1) Leonhard Froese: Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik. 2. stark erweiterte Auflage, = Vergleichende Erziehungswissenschaft und Pädagogik des Auslands, Bd. 2., 299 S., Verlag Quelle & Meyer, Heidelberg 1963.
(2) Oskar Anweiler: Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalinära, = Erziehungswissenschaftliche Veröffentlichungen des Osteuropa-lnstituts an der Freien Universität Berlin, Bd. 1, 482 S., Verlag Quelle & Meyer, Heidelberg 1964.
(3) Wolfgang Nastainczyk: Makarenkos Sowjetpädagogik. Kritische Analyse seiner Kollektivation, = Vergleichende Erziehungswissenschaft und Pädagogik des Auslands, Bd. 4, 313 S., Verlag Quelle & Meyer, Heidelberg 1963.
(4) Isabella Rüttenauer: A. S. Makarenko. Ein Erzieher und Schriftsteller in der Sowjetgesellschaft, 294 S., Verlag Herder, Freiburg 1965
(5) Anton Semjonowitsch Makarenko: Einige Schlußfolgerungen aus meiner pädagogischen Erfahrung, ausgewählt und eingeleitet v. Hans Georg Herrlitz, hrsg. vom Kultusministerium des Landes Schleswig-Holstein, = Wegweiser für die Lehrerfortbildung Nr. 46, 65 S., Verlag Ferdinand Hirt, Kiel 1965.
(6) Hartmut Vogt: Gegenwartsprobleme der Sowjetpädagogik. Bildungsreform - kybernetische Pädagogik - zweiter Bildungsweg, = Westermann-Taschenbuch, 266 S., Georg Westermann Verlag, Braunschweig 1964.
(7) Gerhard Möbus: Unterwerfung durch Erziehung. Zur politischen Pädagogik im sowjetisch besetzten Deutschland, 434 S., von Hase & Koehler Verlag GmbH., Mainz 1965.
(8) Leonhard Froese: Sowjetisierung der deutschen Schule. Entwicklung und Struktur des mitteldeutschen Bildungswesens, 84 S., Verlag Herder, Freiburg 1962.
(9) Leonhard Froese: Mitteldeutsche Lehrpläne. Die staatlichen und kirchlichen Lehrpläne in der "Tauwetter-Periode", = Schriften der Arbeitsgemeinschaft für Osteuropa-Forschung der Universität Münster, 126 S., Verlag Otto Harrassowitz, Wiesbaden 1964.
(10) Theo Dietrich: Sozialistische Pädagogik - Ideologie ohne Wirklichkeit. Grundlagen, Erziehungs- und Schulkonzeptionen, Erkenntnisse, 344 S., Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 1965.


 

 50. Denken statt Dienen? (1966)

Zum Jugendbericht der Bundesregierung
 

(In: deutsche jugend, H. 1/1966, S. 23-30)

 ( Der ursprüngliche Titel "Dienen statt Denken?" ist von der Redaktion irrtümlich in der gedruckten Form verändert worden; auch so ergäbe er Sinn, wenn das Fragezeichen entfiele.( H. G.)
 

Am 14. Juni vergangenen Jahres hat die Bundesregierung dem Bundestag ihren ersten Jugendbericht vorgelegt (Drucksache IV/3515). Dieser Bericht würdigt in seinem zweiten Teil (S. 48-158) die "Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe"', das heißt er beschreibt, was im einzelnen geschieht, wie, in welchem Maße und mit welchen Begründungen die einzelnen Maßnahmen finanziert werden und unter welchen Gesichtspunkten und Maßstäben die Bundesregierung ihre Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe fortzusetzen gedenkt. Besonders diese jugendpolitische Programmatik der Bundesregierung, die in dem Jugendbericht mittelbar oder unmittelbar zum Ausdruck kommt, verdient sorgfältige Prüfung. Unser Beitrag soll denjenigen Teil des Jugendberichtes überprüfen, der sich auf die politische Jugendbildung bezieht. In sieben Punkten soll die Kritik an diesem Teil des Jugendberichtes zusammengefaßt werden.

 1. Zunächst muß man klar sehen, daß die Tatsachenbehauptungen des Berichtes sich nicht auf kontrollierbare wissenschaftliche Untersuchungen gründen - die es für weite Teile der Jugendarbeit gar nicht gibt - , sondern auf Informationen und  Meinungen derer, die Jugendarbeit betreiben, also im wesentlichen auf die Angaben der Träger. Schon die Tatsachenbehauptungen des Jugendberichtes sind also  Interessentenbehauptungen. Das muß nicht heißen, daß sie schlechterdings wertlos sind, sondern nur, daß sie eben keine wissenschaftlich überprüften und geordneten  Informationen und Meinungen sind. Wenn es in Zukunft wissenschaftliche Untersuchungen über die Jugendarbeit geben wird, werden solche Informanten und  Informationen von ausschlaggebender Wichtigkeit sein, weil die Praxis der Jugendarbeit keine "literarische" ist, die schriftliche "Dokumente" produziert, sondern eine "verbale", deren Informationen und Erkenntnisse untergehen, wenn man sie nicht "herausfragt". Mit anderen Worten: Die "Quellen" für die wissenschaftliche

23

Erforschung der Jugendarbeit werden immer vornehmlich dieselben Personen sein, die auch jetzt für den Jugendbericht die wichtigsten Informationen geliefert haben. Aber man hat sich diesmal nicht die Mühe gemacht, diese Informationen methodisch zu kontrollieren und zu ordnen, so daß das Ministerium sie unbegrenzt in sein politisches Konzept hineinmanipulieren konnte. Nur das wird hier kritisiert. Was also im zweiten Teil des Jugendberichtes steht, kann man so formulieren: Es sind von Interessen nicht gereinigte Informationen und Meinungen der Träger, die das Familienministerium beliebig - das heißt nach seinen jugendpolitischen Zielen - montieren konnte.

2. Der Bericht scheint ein recht gebrochenes Verhältnis zur Rolle der Wissenschaft zu haben. Im Zusammenhang der politischen Bildung - wobei wir schon bei unserem Thema wären - ist davon die Rede, daß didaktische und methodische Probleme der politischen Bildung zwar erforscht werden müßten, aber das Ministerium meint: "Mit diesen Fragen und Problemen kann nicht ein Universitätsinstitut oder eine andere ,neutrale Stelle' befaßt werden, wenngleich solche Institutionen mit herangezogen werden sollten, denn die verschiedenen Standorte und Wertperspektiven müssen ernst genommen werden" (S. 71). Dieses Argument ist schlichter Unfug; denn seit es ideologiekritische und wissenssoziologische Methoden gibt, ist es durchaus möglich, partikulare Werteinstellungen von gesellschaftlichen Gruppen gebührend zu berücksichtigen.

Nur ein wissenschaftliches Verfahren kann erreichen, was man offenbar von ihm erwartet: eine rationale Grundlage für Vereinbarungen zwischen dem Staat und den freien Trägern über die gemeinsamen Aufgaben.

3. Der Jugendbericht wertet die kurzfristigen Maßnahmen der politischen Bildung zugunsten der langfristigen Maßnahmen ab: "Wirkungsvoller und wichtiger als die meisten Einzelveranstaltungen und auch als manche Vortrags- und Diskussionsreihen sind Seminare und Tagungen.... Hier ist eine wirklich ernsthafte Bildungsarbeit möglich, zumal in den Bildungsinstituten fachlich vorgebildete und erfahrene Dozenten zur Verfügung stehen" (S. 67). Daß in den meisten Tagungsstätten solche Mitarbeiter wirklich vorhanden sind, muß entschieden bezweifelt werden. Es ist sehr viel einfacher, für örtliche Vorhaben der politischen Bildung nebenamtliche qualifizierte Fachleute - zum Beispiel ortsansässige Lehrer - zu gewinnen, als hauptamtliche Kräfte für eine Bildungsstätte. Wenn man einmal wirklich untersuchte - und nicht nur postulierte! - , welcher Typ in der Regel angesichts der sonstigen Konjunktur von solchen Tagungsstätten als Mitarbeiter angezogen wird, dann sähe das Bild schon ganz anders aus. Aber auch das pädagogische Argument, nur in langfristigen Kursen sei "eine wirklich ernsthafte Bildungsarbeit möglich", würde nur dann zutreffen, wenn man darunter die Indoktrination von "Ideengut" und "Werten" verstünde. Die kurzfristigen örtlichen Maßnahmen haben nicht schlechtere, sondern nur andere Chancen der politischen Bildung, die aber sehr wohl zum Konzert der "permanenten Weiterbildung" dazugehören. Man muß sehen, welche Funktion die verschiedenen Maßnahmen im Bildungsgang des Jugendlichen haben können. Um nur ein Beispiel zu nennen:

24

Die ständige Begegnung und Auseinandersetzung mit Repräsentanten öffentlicher Macht und Verantwortung ist eine typische Chance lokaler Maßnahmen. Ganz generell könnten gut durchdachte lokale Einzelveranstaltungen bei jungen Menschen die Gewohnheit verankern, die regelmäßige Beschäftigung mit politischen Fragen sozusagen selbstverständlich in die alltägliche Lebensplanung aufzunehmen. Von solchen Ausgangspunkten aus müßte die didaktische Planung kurzfristiger lokaler Maßnahmen ausgehen. Auf lange Sicht nutzen noch so gute Tagungen nichts, wenn nicht am Wohnort die Beschäftigung mit Politik "selbstverständlich" wird.

Nun kann nicht übersehen werden, daß der unentwegte Hinweis des Jugendberichtes auf die notwendige "Bindung" der Jugendlichen an regelmäßige Maßnahmen der politischen Bildung eine gefährliche Schlagseite zur Indoktrination verrät: "Nur wo sie (die Maßnahmen) zum Beispiel in einem Wohnheim, in einer Heimschule, in einem Jugendverband oder in Verbindung mit einem planmäßigen praktischen Engagement integrierende und dauernde Bestandteile der Erziehung sind, dürfte der Anspruch, der in dem Begriff ,politische Bildung' liegt, tatsächlich hinreichend erfüllt sein" (S. 68). Das ist nun sehr perfektionistisch gedacht, so, als sei der junge Mensch ein politisch leerer Akku, der immer wieder von der politischen Jugendarbeit aufgeladen werden müßte. Seitdem es aber - tatsächlich wie normativ - eine pluralistische Gesellschaft gibt, seitdem wir in prinzipiell verschiedenen Sozialhorizonten leben müssen ("primäre" und "sekundäre" Welt), seitdem eine junge Generation nicht mehr in einem planbaren Schonraum heranwächst, sondern wie die Erwachsenen von allen gesellschaftlichen Einflüssen erreicht werden kann, seitdem ist die Frage nach einer einzigen optimalen Bildungsform a priori falsch. So kann es entscheidend darauf ankommen, dem jungen Menschen ein täglich erreichbares Forum anzubieten, in dem er ab und zu seinen durch Erlebnisse und diffuse Informationen durcheinander geratenen Vorstellungshorizont gemeinsam mit anderen "in Ordnung bringen" kann. Pointiert gesagt: Ob sich ein Jugendlicher in Sachen politische Bildung regelmäßig bindet oder nicht, ist allenfalls eine technische Frage, die für die Sache seiner Bildung selbst keinen grundsätzlichen Charakter mehr hat.

4. Der Jugendbericht tritt ferner dafür ein, die Breitenarbeit zugunsten der "aktiven Minderheiten in der Jugend" einzuschränken: "denn daß die ganze Jugend ein Verhältnis zu Dingen haben könnte, die über die eigene Person und den Beruf hinausführen, ist ein Irrtum" (S. 72). Dieser Satz ist so einleuchtend wie alle politischen Vorurteile, er ist sogar scheinbar empirisch gesichert. Es ist unbestreitbar, daß sehr viele Jugendliche politisch nicht interessiert sind. Aber anstatt den Gründen dafür nachzugehen und zu erkennen, daß dieses Desinteresse zu einem guten Teil von den gesellschaftlichen Verhältnissen herrührt, für die eben diese Regierung mitverantwortlich ist und deren Folgen sie einfach den Jugendlichen ankreidet, greift man zu gleichsam naturrechtlichen Behauptungen: es ist nicht nur so, sondern es kann auch gar nicht anders sein, als es ist.

Natürlich will man nicht so undemokratisch sein, die vielen überhaupt von der politischen Bildung auszuschließen. Man weiß, daß im Grunde politische Bildung etwas ist, was allen Staatsbürgern in gleichem Maß zukommen muß. Deshalb ver-

25

weist der Bericht einmal auf die Schule, deren Aufgabe die allgemeine politische Bildung sei, und zum anderen auf die langfristigen Kurse.

Dennoch steckt hierin eine Denunziation der vielen zugunsten jener "aktiven Minderheiten"; denn zu dieser Minderheit gehören offenbar keineswegs alle Jugendlichen, die sich aus irgendeinem Grunde für die Angebote der politischen Bildung interessieren, sondern nur solche, die das Wohlwollen des Ministeriums haben, weil sie sich "engagiert" und "gebunden" haben. Derjenige aber, der zwar bereit ist, politisch zu lernen, nicht aber, seine Zeit in Klein-klein-Aktivitäten zu vergeuden, der also schon sehr kritisch überprüfen kann, wo sich ein Einsatz subjektiv und objektiv lohnt und wo nicht, der steckt angeblich in der "Gefahr", daß er "über ein intellektuelles Interesse an der Gemeinschaft und an der Politik nicht hinauskommt; daß er sie zwar mit Verstand kritisieren, nicht aber mit verständiger Vernunft beurteilen kann" (S. 72). Solche Urteile über die zwei Gruppen von jungen Leuten sind schlechterdings leichtfertig. Könnte es nicht sein, daß viele von denen, die nicht zu den "aktiven Minderheiten" im Sinne des Ministeriums zählen, gerade wegen ihres hochentwickelten politischen Bewußtseins nicht dazu gehören, weil sie nämlich dort - realistischer als das Ministerium - zuviel hohle Betriebsamkeit, organisatorischen Leerlauf und intellektuelle Unterentwicklung feststellen? Könnte es nicht sein, daß jene "aktive Minderheit", die wir in Zukunft wirklich brauchen, gerade dort nicht zu finden ist, wo das Ministerium sie sucht?

Unsere Kritik will nicht ins andere Extrem verfallen, sie will nur festhalten: Wenn es wirklich zutrifft, daß die politische Bildung "aufs Ganze gesehen immer nur breiter streut und sich dadurch eher auf einem einfacheren Niveau einpendelt" (S.71), dann können daraus nur zwei legitime Folgerungen gezogen werden: erstens muß das untere Niveau der jungen Generation mit allen Mitteln angehoben werden (zum Beispiel Bildungsurlaub für Lehrlinge). Zweitens muß in der Jugendarbeit das Angebot so differenziert sein, daß es mit dem in der Tat erheblichen Niveaugefälle rechnet und jeder Stufe in optimaler Weise gerecht wird. Die erste Forderung ist eine bildungspolitische, die zweite eine didaktische.

5. Den tatsächlichen Animositäten des Jugendberichtes kommt man aber erst auf die Spur, wenn man sorgfältig auf die anti-intellektuellen Zungenschläge achtet. "Eine isolierte, nur die rationalen Kräfte ansprechende Lehre von der Politik ist, wie mehrere Untersuchungen in der Bundesrepublik erwiesen haben, ziemlich wirkungslos; sie geht nicht unter die Haut" (S. 69). Ich kenne keine Untersuchung, die das erwiesen hat. Bekannt ist allerdings aus der Lernforschung, daß niemand "nur rational" etwas lernt, wenn er weiter kein Motiv dabei hat, daß also der Wille, etwas rational zu durchdringen, selbst schon erhebliche emotionale Kraft hat. "Bloß rationale Bemühung bleibt leicht im rein Informativen stecken" (S. 69), meint der Bericht. Aber kein Mensch lernt eine Information, wenn sie ihm nicht irgend etwas "bedeutet".

Jedoch der Bericht will hier keineswegs nur eine didaktische Binsenweisheit verbreiten. Die folgenden Partien zeigen vielmehr, daß er die "Bedeutung" der "Information" gerne in eine bestimmte Richtung lenken möchte. Ihm ist offenbar die Gesinnung verdächtig, die er in der politischen Bildungsarbeit zu finden glaubt:

26

"Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob in der politischen Bildungsarbeit zu einer im einzelnen zwar kritischen, im ganzen aber doch solidarischen Haltung gegenüber der politischen Ordnung der Bundesrepublik erzogen wird oder ob ein solches Einverständnis von vornherein ausgeklammert bzw. sogar nicht geduldet wird" (S. 69). Ist die Jugendarbeit eine einzige revolutionäre Praxis? Wer argwöhnt, daß "die politische Ordnung der Bundesrepublik" etwa im Sinne der Regierungsfrömmigkeit gemeint sein könnte, wird im nächsten Satz sofort beruhigt: es geht um das "von und gegenüber der Verfassung gebotene grundsätzliche Ja". Wer treibt denn wohl - mit öffentlichen Mitteln - politische Bildungsarbeit ohne das grundsätzliche Ja zur Verfassung? Um es klar zu sagen: Die bestehenden Realitäten der Bundesrepublik, die gesellschaftliche Struktur, das Schulwesen, die Strafprozeßordnung, die Machtverteilung grundsätzlich anzuerkennen, kann von der politischen Bildung von Staats wegen nicht gefordert werden. Das grundsätzliche Ja zur Verfassung impliziert kein grundsätzliches Ja zu irgendeiner konkreten Ordnung, sondern nur, daß die politischen Verhältnisse an dem politisch-moralischen Potential der Verfassung immer wieder überprüft werden. Was die Verfassung vorschreibt, das sind nur einige wenige Prinzipien der staatlichen Ordnung. Die Unklarheit, wie nun "die Ordnung der Bundesrepublik" und "das grundsätzliche Ja zur Verfassung" zusammenpassen, scheint nicht nur stilistischer Art zu sein. Später heißt es nämlich, daß die Einsicht, die demokratische Ordnung bedürfe kritischer Wachsamkeit, zwar weitverbreitet sei. "Diese Erkenntnis scheint jedoch oft nicht gebunden zu sein an die andere, daß auch die Demokratie eine Herrschaftsform ist..., daß also gerade um der Freiheit des einzelnen und der Gruppe willen dem Staat gegeben werden muß, was er braucht, um die gesetzliche Ordnung zu erhalten und gegebenenfalls durchzusetzen" (S. 70 f.). Wir wollen nicht spitzfindig sein und fragen, ob nun die "gesetzliche Ordnung" wieder etwas anderes sei als "die Ordnung der Bundesrepublik" oder "das grundsätzliche Ja zur Verfassung", obwohl man an einen so offiziellen Text wohl so genaue begriffliche Anfragen stellen dürfte. Wichtiger ist etwas anderes: Entweder weiß die Regierung nicht, was in der politischen Jugendarbeit los ist, und läßt sich von einer Schimäre intellektuell-anarchistischer Praxis schrecken, während in Wahrheit doch auch dem nur einigermaßen Eingeweihten die kritiklose Bravheit der durchschnittlichen Jugendarbeit bekannt ist. Oder aber sie weiß das sehr wohl und hat ihre Gründe, solche Darlegungen trotzdem in Umlauf zu setzen. Beides wäre für einen solchen Bericht gleichermaßen fatal.

6. Spätestens hier ist der Leser hellhörig geworden. Die Gedankenkette Rationalität - Kritik - Ordnungsfeindlichkeit ist ihm nicht ungeläufig. Nun wird noch einmal das Argument bemüht, die jungen Menschen seien "für eine wirklich politische Mitarbeit und Mitverantwortung weder reif noch auch rechtlich mündig" (S. 71). Das ist richtig, sofern man an die Wahl und an parteipolitische Aktionen denkt. Aber die vornehmste Pflicht des aufgeklärten Staatsbürgers in einer Gesellschaft, deren Arbeitsteiligkeit auch die Politik betrifft, ist das Mitdenken, nicht das dilettantische Mittun um jeden Preis. Die Denunziation des Denkens als der normalen Form der politischen Beteiligung stammt aus der Mottenkiste der spätbürgerlichen Weltanschauung, also aus einem unzweifelhaft antidemokratischen

27

Potential. - Der Bericht will nur den "Juniorengruppen der politischen Parteien" die Möglichkeit des "politischen Engagements" einräumen, bei den anderen findet nach seiner Ansicht "das so viel behauptete politische Engagement - genau genommen - nicht statt" (S. 71).

Für diese anderen soll der so charakterisierte "strukturelle Mangel" dadurch ausgeglichen werden, daß man ihnen in Zukunft weniger politisches Denken als vielmehr soziale Dienste anbieten will. Es sei nötig, "alle jene Tätigkeiten bewußt zu fördern, mit denen das bisher bevorzugte Feld der Lehre und Diskussion - das damit nicht verkürzt werden soll - durch sinnvollen Einsatz der jugendlichen Kräfte erweitert wird.... Daß das überschaubare und erforschbare soziale Feld sich für solches Tun leichter anbietet als das eigentlich politische, ist kein Schaden: was an Erfahrungen und Tugenden dort erworben ist, übersetzt sich später leicht ins Politische" (S. 71).

Ich weiß nicht, ob diejenigen Träger, die sich seit Jahren den sozialen Diensten widmen, mit dieser Begründung ihrer Tätigkeit sehr glücklich sein können. Wenn die sozialen Dienste überhaupt einen politisch-pädagogischen Sinn haben, dann muß er sofort und nicht "später" ins Bewußtsein gehoben werden, dann muß angesichts bestimmter sozialer Mängel, deren man in den Diensten ansichtig wird, unter anderem gefragt werden, ob sie nicht ein Ergebnis mangelhafter Sozialpolitik sind! Die Auslassungen des Berichts über die sozialen Dienste (S. 80-85) zeigen aber eine ganz andere Tendenz: Das schlechte Gewissen der Erwachsenengesellschaft, deren hemmungsloser Marktmechanismus kaum noch Chancen umfassender sozialpolitischer Planung offenläßt, wird auf die Jugendgeneration negativ projiziert; wenigstens die junge Generation soll noch so tun können, als ob man in einer Gesellschaft lebe, die spontane Sozialität, unmittelbare Mitmenschlichkeit großen Stils noch realisieren kann, ohne immer sofort nach dem "Preis" fragen zu müssen. Merkt man denn nicht, daß man dann, wenn man die sozialen Dienste ohne strenge rational-politische Aufklärung über den gesellschaftlichen und sozialpolitischen Gesamtzusammenhang der Dinge betreibt, einer staatlich veranstalteten intellektuellen Verführung Minderjähriger das Wort redet, weil im buchstäblichen Sinne die ganze Situation unwahr wird? Soll die politische "Tugend", die man hier lernt, die sein, daß man sich "später" einbildet, man lebe gar nicht in einer hochkapitalistischen, marktorientierten, durchrationalisierten, durchbürokratisierten und arbeitsteilig spezialisierten Gesellschaft, sondern in einem naiven sozialen Miteinander? Ich weiß überhaupt nicht, welche in den sozialen Diensten erworbenen Tugenden sich "später leicht ins Politische übersetzen lassen". Ist eine Krankenschwester vielleicht von Berufs wegen der optimale politische Wähler? Der Gedanke des sozialen Dienstes ist nur dort ein demokratischer, wo er durchdrungen ist von dem anderen Gedanken der rationalen Kontrolle aller vorfindbaren wirklichen Verhältnisse und ihrer Begründungen; sonst fällt er notwendig in eine vordemokratische Vorstellungswelt zurück.

7. Die politische Ideologie des Jugendberichtes - so dürfen wir seine Auslassungen über die politische Bildung jetzt nennen - wird "abgerundet" durch einen in unserer politischen Bildung neuartigen Nationalismus und Patriotismus, dem nicht zufällig ein verhältnismäßig großer Raum gewidmet ist. "Jedermann wird als Bürger

28

einer geschichtlich gewordenen und räumlich überschaubaren Gesellschaft geboren, die ihre politische Form und eine bestimmte, für dieses Volk konstitutive Kultur hat ... . Die Bindungen und verbindlichen Pflichten anzunehmen, die sich daraus ergeben, daß er in dem ihm - jedenfalls zunächst - zubestimmten Teil der menschlichen Gesellschaft hineingeboren wird und auf ihn angewiesen ist, gehört zur personalen wie politischen Moral" (S. 70).

Wie alle Halbwahrheiten, so ist auch diese von einleuchtender Sinnfälligkeit Was fehlt, ist der Hinweis darauf, daß "unsere politische Form" eine demokratische ist und daß die demokratische Staatsform von ihrem ersten historischen Antrieb her eine übernationale und internationale Tendenz besaß, daß gerade die Befreiung der Menschen aus den zufälligen historischen Bindungen, Machtverhältnissen und Staatlichkeiten einer ihrer wichtigsten Programmpunkte war. Dies ist bis auf den heutigen Tag Grund genug, daß viele von denen, die ihre Position und ihre Privilegien solchen historischen Zufälligkeiten verdanken, die Demokratie leidenschaftlich bekämpfen. Verschwiegen wird zweitens, daß die Kultur, in die wir hineingeboren werden, als bürgerliche Kultur ebenfalls von Anfang an weltbürgerliche Kultur ist.

Nicht erst "die Entwicklung der Weltwirtschaft", "das Zusammenrücken der verschiedenen Kulturen und politischer und militärischer Gruppierungen" oder "die Revolution der Verkehrs- und der Waffentechnik" haben eine emotionale Größe wie "Vaterland" relativiert, sondern schon die demokratische und weltbürgerliche Tendenz der modernen Gesellschaft als solche. Nicht zuletzt im internationalen Charakter der politischen Grundrechte findet das seinen Ausdruck. Das einzig erlaubte und in die Zukunft weisende Objekt für politische Emotionen sind also die politisch-moralischen Gehalte der Grundrechte und ihre weltweite Realisierung, nicht primär emotionale Größen wie "Vaterland" und "Nation". Was davon übrigbleibt, ist die nüchterne Einsicht, daß jeder von uns in einer bestimmten Staatlichkeit lebt und seine Bürgerrechte und Bürgerpflichten zunächst einmal in diesem Rahmen wahrnehmen muß. Wie sehr die Grenzen moderner Staatlichkeit zufällig und wie wenig sie historisch sind, sollte gerade uns inzwischen klargeworden sein. Was für die Zukunft ansteht, ist nicht "Identifikation" mit Staat und Nation und auch nicht mit unserer Geschichte (sie ist Mittel der Aufklärung), sondern mit all den konkreten Menschen, die an ihren konkreten Verhältnissen "leiden" - vornehmlich mit solchen Menschen, die unser politischer und sozialer Aktionsradius auch erreichen kann. In einem solchen Zusammenhang - und nur in einem solchen! - hätten auch die sozialen Dienste einen wichtigen pädagogischen Ort.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie bitter nötig eine Theorie der außerschulischen Jugendarbeit ist, so hat ihn der Jugendbericht geliefert. Es dürfte kaum ein politisches Dokument von solcher Offizialität in unserem Lande geben, das Vermutungen, Vorurteile, politische Ziele, erwiesene Tatsachen, groteske Behauptungen so miteinander verschmolzen hat, daß man sie kaum noch auseinander dividieren kann. Dieses dürftige Ergebnis ist gänzlich unverständlich, wenn man weiß, mit welcher Sorgfalt, Akribie und sachlicher Zucht die zuständigen Beamten des Ministeriums an diesem Bericht gearbeitet haben.

29

So pointiert unsere Kritik wegen der möglichen Folgen des Jugendberichtes auch ist, so wenig soll sie den Eindruck erwecken, als könne man deswegen das Familienministerium allein einfach zum Sündenbock stempeln. Niemand kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen einen befriedigenden Jugendbericht liefern. Die Jugendarbeit ist im ganzen noch eine große Dunkelkammer, in die bisher kaum ein Lichtstrahl der gedanklichen Ordnung eingedrungen ist; sie hat jahrelang unter großzügigen Richtlinien vergebene öffentliche Gelder verbraucht, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, daß man diese Ausgaben eines Tages mit stichhaltigen politischen und pädagogischen Argumenten verteidigen muß, wenn es jemandem einfallen sollte, danach zu fragen. So gesehen ist der Jugendbericht eine unüberhörbare Aufforderung an die Träger der Jugendarbeit, sich bessere Begründungen für ihre Arbeit auszudenken, als sie bisher in den Verwendungsnachweisen gebraucht wurden. Es kommt jetzt nicht auf falsche und verhärtete Fronten an, sondern darauf, den politischen und pädagogischen Wert der Jugendarbeit sorgfältig und in strenger gedanklicher Zucht zwischen Staat und den Trägern neu zu konzipieren.
30 

 

 51. Animositäten aus des Bürgers Mottenkiste (1966)

Der Jugendbericht der Bundesregierung hält nicht, was er verspricht - Wo Fakten fehlen, ist gut schwatzen  
 (In: Sonntagsblatt Nr. 3/1966)

 Das Bundesjugendkuratorium wird Ende Januar über den zweiten Teil des 1. Jugendberichts der Bundesregierung beraten. Als Beitrag zur Aussprache bringen wir nachstehend kritische Gedanken von Dr. Hermann Giesecke, der seinerzeit im SONNTAGSBLATT (Nr. 19 — 25/1965) ausführlich über Teile des "Überblicks zur wissenschaftlichen Jugendkunde" berichtet hat. Die Problematik von Mitdenken und Mittun sollte weiter diskutiert werden. (Anmerkung der Redaktion, H. G.)

In den letzten Jahren ist in der Öffentlichkeit verschiedentlich harte Kritik an der außerschulischen Jugendarbeit laut geworden. Sie konzentrierte sich vor allem auf den Bundesjugendplan und seine Ausgabenpolitik. Haben die 80 Millionen heute noch einen Sinn, sind sie mehr als "Taschengeld von Vater Staat" für die Jugendverbände und andere Betreuungsorganisationen, die die Jugendlichen einladen, bei ihnen ihre Freizeit zu verbringen? Sollte man das Geld nicht lieber in die Entwicklung des Schulwesens stecken?

Diese Kontroversen waren deshalb unergiebig, weil niemand etwas Genaues wußte. Hier nun sollte der erste "Jugendbericht" der Bundesregierung Aufklärung schaffen, den das Parlament mit dem § 25 Abs. 2 des Jugendwohlfahrtsgesetzes alle vier Jahre zu erstatten gebietet. Der erste Bericht erschien im Juni 1965 - mit fast zweijähriger Verspätung, weil alle Beteiligten den Umfang dieser Aufgabe erheblich unterschätzt hatten.

Wer nun gehofft hatte, damit einen wirklichen "Report" im angelsächsischen Sinne in der Hand zu haben, muß enttäuscht sein. Der erste Teil bringt aus den 18 Büchern des "Überblicks zur wissenschaftlichen Jugendkunde" - vom Deutschen Jugendinstitut in München im Auftrag der Bundesregierung herausgebracht - recht wahllose Zusammenfassungen. Der zweite Teil, der darüber berichtet, was die Bundesregierung außerhalb der Schule für die Jugend tut und künftig zu tun gedenkt, bringt keineswegs die erhoffte Aufklärung, sondern eher ein Sammelsurium von Allgemeinplätzen. Vielleicht wollte man die Abgeordneten, für die der Bericht ja in erster Linie gedacht ist, nicht mit allzu vielen Fakten langweilen, sie vielmehr durch eine flüssige Sprache für das Thema interessieren. Aber es ist nun einmal der Sinn von Reports, daß sie in erster Linie alle erreichbaren Fakten zusammentragen. Oder sollte das Ganze von vornherein gar kein Report werden, sondern eine Art wissenschaftlich kaschierte Regierungserklärung über die Jugendpolitik des Bundes? Dann hätte man sich den ganzen personellen und finanziellen Aufwand sparen können.

Minister mit Konzept

Der zweite Teil des Berichtes ist von vornherein nicht mit wissenschaftlichen Ambitionen gemacht worden. Man hat einfach die Träger, also die Empfänger der staatlichen Zuschüsse, sowie einige außenstehende Experten zusammengerufen und ihre Meinungen zu Berichten zusammengestellt, die das Ministerium dann nach seinem Belieben "redigieren" konnte. Was dabei herauskam, ist keineswegs Auskunft darüber, was nun wirklich los ist, sondern allenfalls darüber, was das Ministerium wünscht. Dies zu sagen, ist sein gutes Recht, aber dafür hätten Schreibtischarbeiten der führenden Ministerialbeamten ausgereicht. Denn solange die jugendpolitischen Ziele der Bundesregierung nicht auf dem Hintergrund eines unbestreitbaren Tatsachengerüstes formuliert werden, müssen sie uns mißtrauisch machen, ja, lassen sie sich im Grunde gar nicht öffentlich diskutieren, sondern nur bejahen oder verneinen. Der Jugendbericht überzeugt nicht, weil er so tut, als seien die jugendpolitischen Ziele der Regierung durch Recherchen genügend fundiert.

Vor allem in den Teilen über die "politische Bildung" und die "sozialen Dienste" der Jugend gibt der Bericht offenbar weitgehend die persönliche Auffassung des Ministers wieder, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, daß er die rational orientierte politische Bildung für nicht jugendgemäß hält, sondern in den sozialen Diensten für hilfsbedürftige Menschen die dem Jugendalter angemessene Form des politischen Engagements sieht. Nun muß man dankbar sein, wenn ein Minister überhaupt ein Konzept hat, das er gegen Widerstände durchzusetzen trachtet, und zweifellos ist jede Hilfe für den Nächsten von hohem moralischen und pädagogischen Wert. Aber es heißt die ganze bisherige Diskussion über die politische Bildung einfach vom Tisch fegen, wenn der Bericht sagt: "Was an Erfahrungen und Tugenden dort erworben wird, übersetzt sich später leicht ins Politische." Das ist ganz einfach unrichtig, und es genügt, Memoiren ehemaliger Nazis zu lesen (wie Melitta Maschmanns Buch "Fazit"), um zu erkennen, daß unmittelbares soziales Engagement sich durchaus mit politischer Borniertheit verträgt.

Denken und Tun

"Daß die ganze Jugend ein Verhältnis zu Dingen haben könnte, die über die eigene Person und den Beruf hinausführen, ist ein Irrtum", meint der Bericht. Daß nur "aktive Minderheiten" dazu in der Lage seien, hält er für natürlich, wie daß auf den Winter der Frühling folgt. Es kommt ihm nicht in den Sinn, daß in einer demokratischen Gesellschaft, wo unpopuläre Entscheidungen wenigstens von der passiven Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit abhängen, alles daran liegt, ob einer solchen Mehrheit eine hochrationale Einstellung zum Politischen zugemutet werden kann. Statt einzusehen, daß die Arbeitsteilung auch die Politik betrifft und infolgedessen die Bürger nur noch an den wenigen wichtigen Weichenstellungen der Politik sich mit Verständnis beteiligen können, daß also Mit-Denken die wichtigste Form des Mit-Tuns geworden ist und daß man junge Leute gar nicht früh genug daran gewöhnen kann; statt dessen mobilisiert der Bericht die alten Animositäten aus der spätbürgerlichen weltanschaulichen Mottenkiste, um Denken und Tun gegeneinander auszuspielen: "Bloß rationale Bemühung bleibt leicht im rein Informativen stecken." Es gibt aber keine "rationale Bemühung", die nicht selbst schon eminent emotional engagiert wäre. Wenn sie dazu führt, daß man die Politik "zwar mit Verstand kritisieren, aber nicht mit verständlicher Vernunft beurteilen kann", dann ist die rationale Bemühung eben falsch gewesen.

So wirr wie hier bei der politischen Bildung geht es mehr oder weniger im ganzen zweiten Teil des Berichtes zu. Das Bundesjugendkuratorium - das neu gegründete Beratungsgremium der Bundesregierung für Jugendfragen - wird am 20. Januar diesen Teil des Berichtes diskutieren. Es sollte der Regierung vorschlagen, den nächsten Jugendbericht im Stile der angelsächsischen Reports zu machen.


 

 52. Lehrzeit oder Leerzeit? (1966)

Schulische und berufliche Ausbildung - Ein Beitrag zur Berufspädagogik

(In: Sonntagsblatt Nr. 7/1966)

 "Die deutsche Berufsausbildung ist eine der besten auf der Welt''. Diese Meinung kann man bei uns so oft hören, wie man will - allerdings kommt es sehr darauf an, wen man fragt. Die Unternehmer neigen meist zu dieser Antwort, die Gewerkschaften dagegen vermuten, daß dies nur für wenige Großunternehmen zutreffe, und daß der Lehrling in den meisten Fällen zu einer billigen Arbeitskraft geworden sei. Entsprechend verschieden sind die Folgerungen: Unternehmer fordern meist längere Lehrzeiten, die Gewerkschaften kürzere.

Neuerdings liegt zu dieser Streitfrage eine großangelegte Untersuchung vor, die - um es vorweg zu sagen - den Gewerkschaften in allen wesentlichen Punkten recht gibt. Und dies nicht etwa deshalb, weil der DGB sie in Auftrag gab. Die Verfasser haben es sich nicht leicht gemacht. Sie gehen der Frage, wie lange eine Facharbeiterausbildung heute dauern müßte, auf vier verschiedenen Wegen nach. Zunächst analysieren sie die heute üblichen berufspolitischen und berufspädagogischen Stellungnahmen zu dieser Frage. Hier zeigt sich schon, daß die meisten dieser Vorstellungen gar nicht auf die tatsächliche Arbeitswelt von heute, sondern auf die von gestern oder vorgestern bezogen sind.

Dafür nur ein Beispiel: Oft wird behauptet, die Ausbildung im Betrieb sei im Unterschied zur Schule "besonders lebensnah", weil dabei dieselben Ernst-Bedingungen gelten wie in der späteren Berufsarbeit. Aber je komplizierter die moderne Industriearbeit ist, um so mehr werden auch die Lehrwerkstätten im Betrieb zu Ghettos, die genauso gut in der Schule stehen könnten. "Ausschußarbeit kann in Betrieben und Schulen gleich geahndet werden, und Kreissägen in kommunalen Lehrwerkstätten 'bestrafen' leichtsinnige Lehrlinge kaum gelinder als private Kreissägen desselben Typs", meinen die Verfasser lakonisch.

Ein Vergleich mit der Lehrlingsausbildung in der Schweiz, Frankreich und in den USA zeigt dann eindeutig, daß es neben der deutschen Lösung der Berufsausbildung andere und im allgemeinen effektivere Wege gibt. "Das beste wäre, wenn unsere Lehrlingsausbildung nach schweizerischem Vorbild gesetzlich fundiert, nach französischem Muster systematisch vermittelt und nach dem Beispiel vor allem der Vereinigten Staaten in eine schulische Grundausbildung und in eine betriebliche Speziallehre aufgeteilt würde, deren Dauer von Beruf zu Beruf und nach der individuellen Leistung stark variiert".

Auf den dritten Weg zur Lösung der Frage nach der nötigen Lehrzeitdauer  - eine empirische Erhebung in westdeutschen Betrieben und Berufsfachschulen - folgt das letzte und vielleicht interessanteste Verfahren: Fast 4000 Lehrlinge in Hessen und Nordrhein-Westfalen protokollierten den voraufgegangenen Arbeitstag. Das Ergebnis: ein großer Teil der Lehrzeit wird nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht zur Ausbildung genutzt. So werden Verkäuferinnen im Tagesdurchschnitt mit 3,1 und Schlosser mit 1,2 Stunden ausbildungsfremd beschäftigt.

Oder anders herum ausgedrückt: wenn die berufliche Grundausbildung in die Schule genommen würde - die dann allerdings 10 Jahre dauern müßte - und wenn die betriebliche Ausbildung genügend intensiviert würde, dann müßte ein Kfz-Mechaniker nicht mehr 4 Jahre, sondern nur noch 2 Jahre, ein Schreiner nicht mehr 3,5, sondern nur noch 1,5 und die Verkäuferin statt 2 nur noch 1 Jahr in die Lehre gehen. Eine Verlängerung der Schulzeit führt also gar nicht notwendig zu einem späteren Berufseintritt und damit zum späteren Geldverdienen.

Unsere Berufsausbildung könnte also wieder "eine der besten auf der Welt" werden wenn: 1. die Volksschule auf 10 Jahre verlängert wird und die Hälfte der Zeit für die berufliche Grundausbildung genutzt wird; 2. die betriebliche Lehrzeit konsequent und systematisch für die Ausbildung genutzt wird; 3. der Staat durch Gesetze die Ausbildung streng kontrolliert (jetzt kann er Betriebe allenfalls aus kriminellen Gründen bestrafen), 4. die Ausbildung selbst aus dem starren Schema der 3- oder 3,5jährigen Ausbildungszeit befreit wird (für die meisten Berufe ist das zu viel) und dem Lerntempo des einzelnen angepaßt wird (wer "schneller schaltet", soll auch eher fertig sein dürfen).
Das Buch von Wolfgang Lempert und Heinrich Ebel ist vielleicht der bedeutendste Beitrag zur Berufspädagogik nach dem Kriege. Schade, daß es so teuer ist und deshalb wohl die Fachwelt, aber nicht die interessierten und betroffenen Laien (wie die Eltern) erreichen wird.

Wolfgang Lempert/Heinrich Ebel: Lehrzeitdauer, Ausbildungssystem und Ausbildungserfolg. Grundlagen für die Bemessung des Zeitraums der Ausbildung bis zum Facharbeiterniveau. Freiburger Studien zu Politik und Soziologie. Verlag Rombach Freiburg im Breisgau 1965, 414 S., 38,-DM.


 

 53. Braucht die deutsche Jugend Nationalgefühl? (1966)

Referat zu dem Hauptthema der 33. Vollversammlung des Deutschen Bundesjugendringes

(In: deutsche jugend, H. 12/1966, S. 541-552)

 Der Ruf nach der Wiedererweckung des Nationalen ist bei uns nie ganz verstummt. Bis vor kurzer Zeit blieb er rechtsradikalen Gruppierungen vorbehalten. Erst in den letzten Jahren, etwa seit dem Bau der Berliner Mauer, stimmen einige Politiker aller Parteien, einige Publizisten und Wissenschaftler in diesen Ruf mit ein. Kurt Sontheimer hat diese Stimmen in dem gerade erschienenen ausgezeichneten Buch "Sehnsucht nach der Nation?" (Juventa Verlag) kritisch zusammengetragen. Durch diese ,,Prominenten", denen man wohl schwerlich antidemokratische Absichten unterstellen kann, ist der Nationalismus bei uns wieder hoffähig geworden. Und der Jugendbericht der Bundesregierung zeigt, daß man dabei ist, diese politische Idee wieder für die politische Bildung verbindlich zu machen. Spätestens dies muß unsere kritische Aufmerksamkeit herausfordern.

Ich glaube, daß der Bundesjugendring mit der Formulierung unseres Themas einen guten Griff getan hat. Diese Art, nach dem neuen deutschen Nationalismus zu fragen, ist nämlich die einzige, auf die es rational begründete und damit vernünftige Antworten geben kann. Es ist eine Problemformulierung, die überhaupt erst die Diskussion des Themas unter Bürgern verschiedener politischer Interessen und Überzeugungen ermöglicht.

Das Moment der Diskussion ist dabei keineswegs selbstverständlich; denn politische Leitideen wie "Nation" wehren sich gegen eine allgemeine Diskussion, und dies mit einem gewissen Recht: Solche Leitideen leben nämlich davon, daß sie nicht diskutiert werden, daß sie innerhalb einer politischen Gemeinschaft selbstverständlich anerkannt werden. So ist es charakteristisch für die Vertreter eines neuen Nationalismus, daß sie große Worte wie "Vaterland", "Opfer" oder "Dienst"

541

gebrauchen, aber niemals präzise angeben, was sie damit eigentlich meinen, so, als sei das damit Gemeinte das Selbstverständlichste von der Welt. "Opfer" wofür, zu welchem Zweck, zu wessen Nutzen? "Dienst" für was, in wessen Auftrag und zu wessen Nutzen? Solche präzisen Nachfragen verwirren die Vertreter des neuen deutschen Nationalismus immer sehr, und dies zeigt, daß sie eine geschichtliche Leiche wieder gesundbeten wollen; denn früher, zum Beispiel im Jahre 1848, wären die Vertreter des deutschen Nationalismus - etwa die Mitglieder des Frankfurter Parlamentes - um eine Antwort gar nicht verlegen gewesen. Sie hätten zum Beispiel geantwortet: "Wir sind Nationalisten, weil wir die deutsche Kleinstaaterei beseitigen, eine parlamentarische Demokratie und eine nationale Einheitsschule errichten wollen". Derart präzise Auskünfte über das, was sie eigentlich wollen, erwartet man von unseren neuen Nationalisten vergebens.

Das antidemokratische Erbe des deutschen Nationalismus

Wenn ich eben sagte, sie wollten eine geschichtliche Leiche wieder gesundbeten, so meinte ich damit, daß alle politischen Leitideen irgendwann im Verlaufe ihrer Geschichte ihre Selbstverständlichkeit verlieren, dann nämlich, wenn der Gegner verschwunden ist, gegen den sie einmal formuliert wurden, und wenn das konkrete Interesse erloschen ist, das sie einmal realisieren sollten. Der Begriff der Nation war ursprünglich ein ideologischer Kampfbegriff des wirtschaftlich und kulturell mächtigen, aber politisch unterdrückten Bürgertums gegen die alten feudal-absolutistischen Mächte in Europa. Ursprünglich waren also - wenn auch in sehr verschiedenen Variationen - "Demokratie" und "Nation" Verbündete, und sie sind es trotz aller Anfechtungen für Frankreich, England und die skandinavischen Länder auch geblieben. In Deutschland aber war das anders; bei uns hat sich aus Gründen, die insbesondere mit der unglücklichen Geschichte des deutschen Bürgertums zusammenhängen, die Idee der Nation - trotz mancher zaghafter Ansätze -  nicht mit demokratischen Interessen verbunden. Die reale Geschichte des deutschen Nationalismus ist die Geschichte unserer antidemokratischen Vergangenheit. Und insofern ist die von manchen Konservativen erhobene Forderung, man solle zwischen "gutem" und "bösem" Nationalismus unterscheiden, eine geschichtslose Spielerei mit Worten: Es gibt keine "gute" das heißt demokratische Tradition des deutschen Nationalismus, die geschichtliche Wirklichkeit geworden wäre. Im Gegenteil: ihre zaghaften Ansätze nach den Befreiungskriegen, um das Jahr 1848 und nach 1918 - diesmal unter der erfolglosen Führung der deutschen Sozialdemokratie - sind unter eben diesem Anspruch des "deutschen Nationalismus" mehr oder weniger brutal unterdrückt worden, und Hitler erfüllte dabei schließlich weniger die Rolle des Mörders als die des Totengräbers.

Insofern es ein Motiv der neuen Nationalisten ist, sich der geschichtlichen Tradition unseres Staates wieder zu versichern, die Gegenwart gleichsam nach rückwärts zu verankern, ist dagegen nichts zu sagen. Allerdings wird diese Rückbesinnung sich wesentlich konzentrieren müssen auf das, was gegen die nationale Tradition in unserem Land mit demokratischem Anspruch geschehen ist. In einem solchen neuen

542

Geschichtsbild, von dem es heute kaum Ansätze gibt, werden die Arbeiterbewegung und bestimmte demokratische bürgerliche Minderheiten einen ganz anderen Platz beanspruchen müssen, als er ihnen heute gewährt wird, und das, was heute noch in unseren Schulbüchern dominiert, nämlich die Wortführer des militärischen, wirtschaftlichen, politischen und kolonialen deutschen Nationalismus - sie werden ihre bisher betonte Vorrangstellung einbüßen müssen. Mit einem Satz: Die geschichtliche Verankerung unseres gegenwärtigen demokratischen Staates wird nur gegen das möglich sein, was herkömmlich als nationale Tradition bezeichnet wird. Sie wird nur als eine Geschichte von demokratischen Mißerfolgen möglich sein. Die herkömmliche nationale Tradition, wie sie immer noch in unseren Geschichtsbüchern vorherrscht, wird nur noch das Material sein können, an dem unsere junge Generation studiert, mit welchen politischen und ideologischen Mitteln man Demokratisierung verhindern kann und auf welche Weise demokratische Ansätze scheitern können. In welche Schwierigkeiten man bei der Suche nach nationalen Traditionen gerät, zeigen die Bemühungen der Bundeswehr um nationale Vorbilder. Wer im soldatischen Sinne Vorbild sein könnte, der war mit größter Wahrscheinlichkeit Antisemit oder sonst ein politischer Wirrkopf oder hielt mindestens die moderne Demokratie für un-deutsch.

Die Geschichte des deutschen Nationalismus ist ein gutes Beispiel dafür, wie politische Ideen, wenn sie ihre ursprüngliche geschichtliche Aufgabe verlieren, unbegrenzt manipulierbar werden. Das Bündnis von Nation und Demokratie wurde unmöglich, als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bürgertum sich - gegen die Arbeiterschaft - mit den agrarisch-feudalen Privilegien die politische Herrschaft zu teilen begann, mit einem Partner also, dessen politische Privilegien zu brechen die nationale Idee doch ursprünglich angetreten war. Nun bekam der Nationalismus eine neue Funktion, nämlich die der Manipulation derjenigen, in deren Interesse dieses Bündnis von Bürgertum und Feudalismus nicht liegen konnte. Der deutsche Nationalismus wurde nun zu einer Art Giftschrank, jedermann offen und verfügbar und gegen jedermann einsetzbar. Und er wurde eingesetzt nämlich seit 1870 mehr oder weniger planmäßig gegen alle, von denen man zu Recht oder zu Unrecht annehmen konnte, sie würden sich für eine weitere Demokratisierung von Staat und Gesellschaft einsetzen: zuerst im Kulturkampf gegen die katholische Kirche, die man partout zu einer nationalen Kirche machen wollte; dann gegen die Arbeiterbewegung; dann schließlich gegen die erste demokratische Republik, die auf diese Weise denn auch erfolgreich sabotiert und schließlich zerstört wurde.

Die eben genannten Beispiele verweisen aber noch auf ein weiteres Problem, das nun nicht allein den deutschen Nationalismus betrifft.. Die Idee der Nation besagte ja, daß man Völker mit gemeinsamer sprachlicher und kultureller Tradition und mit gemeinsamem nationalen Bewußtsein in einen Staat zusammenfassen sollte, der in eine bürgerlich-demokratische Verfassung gebracht wird. Diese Idee führte von vornherein vor allem in denjenigen Gebieten zu schwerwiegenden Problemen, die eine völkische Gemengelage aufwiesen, also insbesondere in Ost- und Südeuropa. Mit einem Wort: Die Unterdrückung völkischer Minderheiten ist eine logische Folge des Nationalismus. Die Geburt des modernen Antisemitismus stammt ebenso aus diesem Schoß wie Bismarcks Zweifel an der nationalen Loyali-

543

tät der Katholiken. Und die deutsche Ostvertreibung - von der völkischen Politik Hitlers ganz zu schweigen - ist überhaupt nur auf dem Hintergrund der Nationalstaatsidee möglich gewesen: abgesehen vom zeitbedingten Haß wollte man eben in Polen endlich "gereinigte" völkische Verhältnisse. Es ist nebenbei gesagt merkwürdig, daß sich die wenigsten Befürworter eines neuen Nationalismus diesen Zusammenhang klarmachen. Insofern sie Vertriebene sind, merken sie offenbar gar nicht, daß sie ausgerechnet diejenige politische Idee wieder zum Leben erwecken wollen, der sie ihr Schicksal verdanken.

Diese Beispiele, die man mit einer unendlichen Liste aus den letzten 150 Jahren fortsetzen könnte - ein Beispiel dafür ist auch die törichte Nationalitätenpolitik Italiens in Südtirol - , sollen begründen, daß "Nation" von Anfang an eine problematische politische Idee war, problematisch im Hinblick auf ihre Fähigkeit, unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen auf politische Weise das Zusammenleben der Menschen friedlich und gerecht zu ordnen. Die politische Ordnungskraft des modernen Nationalismus ist von Anfang an umstritten geblieben.

Die Ehe von Nation und Demokratie ist nämlich nur historisch zufällig entstanden und konnte nicht lange ungetrübt bestehen. Für einen bestimmten geschichtlichen Zeitraum war die Nation das nach Lage der Dinge unaustauschbare Mittel, demokratische Ideen zu verwirklichen. Demokratie entstand ja nicht dadurch, daß auf unerklärliche Weise aus dem deutschen, französischen oder englischen "Volksgeist" eine neue politische Ordnungsvorstellung erblühte - obwohl gerade diese Behauptung in unserer völkisch-romantischen Tradition eine bedeutende Rolle spielte: westliche Demokratie ist was für Engländer, aber nichts für Deutsche! - , sie entstand vielmehr im Zusammenhang mit bestimmten Bedingungen der modernen gesellschaftlichen Entwicklung. In den weltbürgerlichen Vorstellungen der deutschen Klassiker war das schon geahnt; Marx lieferte dafür die ökonomische Theorie, aus der sich folgerichtig die internationale Solidarität des Proletariats ergab: Hunger wurde ja nicht dadurch erträglicher, daß es sich um einen deutschen Hunger handelte. Bei aller Verschiedenheit zwischen diesen Positionen hatten sie doch eins gemeinsam: nämlich die Einsicht, daß Demokratie als das politisch ideelle Pendant zur modernen industriellen Gesellschaft eine weltweite, weltbürgerliche und übernationale Idee sei, die sozusagen immer als Konterbande mit eingeschmuggelt wird, wo immer sich die moderne industrielle Gesellschaft etabliert. Daran gemessen mußten nationale Grenzen und nationale Traditionen immer bedeutungsloser werden. Und wenn manche der nationalen Kritiker heute darauf hinweisen, daß unsere Verfassung mit ihren Grundrechten unter dem Druck der Siegermächte zustande gekommen und keine ur-deutsche Eigenleistung sei, so ist das vielleicht kein unwichtiger psychologischer Hinweis, aber für die Sache selbst gänzlich bedeutungslos; denn die Prinzipien dieser Verfassung gelten nicht nur für Deutsche, sondern für alle hochindustrialisierten Länder, und selbst die Kommunistischen Länder bewegen sich langsam in dem Maße auf sie zu, wie auch sie zu hochindustrialisierten Ländern mit entsprechenden soziologischen Strukturen werden. Rein verbal stimmen sie heute schon mit diesen Prinzipien überein. Mit einem Wort: Die Prinzipien unserer Verfassung sind den nationalen Traditionen übergeordnet und nicht umgekehrt.

544

Wozu ein neuer Nationalismus

Aus dem bisher Gesagten läßt sich eine erste Antwort auf die Frage finden: "Braucht unsere Jugend ein Nationalgefühl?" Angenommen, man könnte es ihr wirklich mit pädagogischen oder sonstigen Mitteln verschaffen: wozu soll ihr eine Gefühlsbindung an eine politische Idee nütze sein, die so offensichtlich historisch überlebt ist und die mit dem Abtreten der jetzigen politischen Führungsgeneration hoffentlich ganz verschwinden wird?

Aber wir können diese Frage - um den Konservativen entgegenzukommen -  auch ganz konservativ fassen: Welche Probleme würden sich denn leichter lösen lassen, wenn unsere Jugend, also die politisch Verantwortlichen von morgen, mehr Nationalgefühl hätte? Würde die deutsche Wiedervereinigung dadurch leichter? Wohl kaum! Nationalismus wäre das beste Mittel, um uns in dieser Frage auch von unseren Verbündeten restlos zu isolieren! Brauchen wir mehr Nationalgefühl, um unseren Wohlstand gleichmäßiger auf die privatwirtschaftlich erzeugten Güter und die öffentlichen Dienstleistungen zu verteilen - um also nicht nur Autos, sondern auch Straßen zu produzieren, nicht nur Konzernhochhäuser, sondern auch Universitäten? Oder brauchen wir dafür nicht vielmehr volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, langfristige Finanz- und Investitionspläne sowie eine Bevölkerung, die diese Dinge begreift und unterstützt? Und darf man sich solche Einsichten von einem neuen Nationalgefühl erwarten, oder ist es nicht vielmehr notwendig, die Elemente der modernen Volkswirtschaft zu begreifen? Haben wir zuwenig Krankenhäuser und Krankenschwestern, weil es an opferbereitem nationalen Patriotismus fehlt, oder deshalb, weil sich beides nicht privatwirtschaftlich produzieren läßt? Was soll eigentlich, so frage ich, durch ein neues Nationalgefühl politisch besser werden, welch andere Aussichten eröffnet es außer der Tatsache, daß dann in Zukunft politische Versager Gehorsam statt Widerstand erwarten können? In einem Nachwort zu dem schon genannten Buch "Sehnsucht nach der Nation?" hat Martin Faltermaier zu Recht festgestellt: "Der Nationalismus hat für die Lösung der großen Zukunftsaufgaben kein Angebot zu machen. Was er anbietet, ist die Flucht vor diesen Aufgaben, die Flucht aus der verunsichernden, dynamischen offenen Gesellschaft zu den Penaten einer geschlossenen Gesellschaft, mit der Erwartung, in dieser angeblich heilen Welt Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Das ist vielleicht die gefährlichste der vielen Täuschungen, die er offeriert".

Aber das "Brauchen" in der Fragestellung des Referates ist nicht nur politisch, sondern auch psychologisch gemeint. Die Menschen - insbesondere die jungen -  hätten, so meint man, ein unabweisbares Bedürfnis, sich gefühlsmäßig mit Kollektiven wie Nation oder Vaterland zu verbinden; trage man diesem seelischen Bedürfnis nicht Rechnung, so suche es sich vielleicht politisch gefährliche Ersatzfelder. Dabei fehlt nie der Hinweis auf die angeblichen Erfolge der nazistischen und kommunistischen Jugendpolitik.

Wie steht es mit der Betrachtung dieses Argumentes, das in der letzten Zeit auch von einigen Wissenschaftlern vorgetragen wurde? Zunächst stimmt diese Argumentation für die hochentwickelten kommunistischen Länder gar nicht. Die SED zum

545

Beispiel versucht seit Jahren, unter ihrer Jugend stärkere emotionale Wirkungen zu erzielen, ohne dabei die gewünschten Erfolge zu haben.

Aber wie steht es grundsätzlich damit? Ich übergehe die extreme Form des nationalen Fanatismus, die, wie uns die Psychoanalyse lehrt, auf Identifikation, also auf dem Willen zur mehr oder weniger bedingungslosen Unterwerfung unter große Kollektive und große Führer beruht. Hier handelt es sich geradezu um seelische Krankheiten aus sozialen Ursachen, um Ich-Schwäche und um eine infantil gebliebene Persönlichkeitsstruktur, die man nicht durch politische Argumente, sondern nur durch die Beseitigung der sozialen Ursachen in Verbindung mit psychotherapeutischen Maßnahmen korrigieren kann. Sehr wahrscheinlich ist ein Teil des deutschen Rechtsradikalismus so zu diagnostizieren, und jene politischen Kommentatoren, die angesichts der Wahlerfolge der NPD meinten, es lohne nicht, mit dieser Partei politisch zu diskutieren, sondern man müsse die soziale Integration ihrer Wähler verbessern, haben sicherlich einen Kern des Problems getroffen.

Aber es wäre demagogisch und sachlich unzutreffend, wollte man den neuen Nationalismus der Prominenten einfach unter diesem Krankheitsaspekt abhandeln. Sie verlangen ja keine Identifikation in dem eben beschriebenen Sinne, sondern die Anerkennung der Tatsache, daß die sozialen Beziehungen der Menschen auch gefühlsmäßige Beziehungen seien und daß man dem Rechnung tragen müsse. Wie steht es damit?

Jedermann weiß auch ohne psychologische Spezialkenntnisse, daß es für bestimmte Sozialitäten diese Bedürfnisse tatsächlich gibt: Der Zusammenbruch einer Ehe oder einer Liebesbeziehung kann einem seelischen Zusammenbruch gleichkommen, und aus der Kinderforschung wissen wir, wie wichtig für das Kleinkind die emotionale Verbindung mit den Eltern ist; sie ist durch nichts anderes ersetzbar. Ohne Zweifel haben wir alle ein Bedürfnis nach sozialen Gefühlen, das unbedingt befriedigt werden muß.

Aber damit ist noch keineswegs gesagt, daß dieses Bedürfnis gleichermaßen auch im Hinblick auf große Kollektive unbedingt gelten muß, wie Staat, Vaterland oder Nation. Zweifelsfrei wissenschaftlich erwiesen ist dieses Bedürfnis bisher nur für intime Sozialitäten, nicht für große Kollektive. Im Gegenteil: Die moderne Familienforschung scheint zum Beispiel zu beweisen, daß gerade die moderne Familie sehr im Unterschied zu früher diese emotionalen Bedürfnisse absättigt, so daß die Menschen sich emotional unbelasteter den größeren politischen Kollektiven zuwenden können. Das Bedürfnis nach Befriedigung sozialer Gefühle nimmt ab, je weiter die einzelnen Sozialverbände von uns entfernt sind. Und dies entspricht durchaus der Tatsache, daß politische Entscheidungen in einer hochkomplizierten Gesellschaft verheerende Auswirkungen haben müssen, wenn sie mit einem zu hohen Maß an emotionalen Bedürfnissen massenhaft verknüpft werden. Der Anflug von Perversion, der dem Nationalsozialismus anhaftete, rührt ja nicht zuletzt daher, daß die meisten Nationalsozialisten unentwegt auf der Suche nach ihrer emotionalen Heimat waren und sie auf einem Gebiet zu finden suchten, wo sie mit Sicherheit nicht zu finden war: auf dem Gebiet der Politik. In der Tat hat es etwas Perverses an sich, das Odium einer Ersatzhandlung, wenn ich mit Begriffen

546

wie "Liebe", "Opfer", "Vertrauen", "Hingabe" so wie meiner eigenen Familie oder Gott auch meiner Gewerkschaft oder meinem Staat gegenübertreten soll. Die Beziehung der Liebe zum Beispiel ist definiert durch die Gegenseitigkeit; aber mein Volk, mein Staat, meine Partei können alles mögliche mit mir tun (zum Beispiel mir "helfen"), aber sie können mich nicht "wieder-lieben".

Es kann also keine Rede davon sein, daß eine starke gefühlsmäßige Beziehung zu großen Kollektiven ein dem Menschen angeborenes notwendiges Bedürfnis sei; wo es auftaucht, muß man es konkret erklären, aber es ist keine Erklärung, wenn man sagt, weil es manchmal so gewesen sei, handele es sich um ein prinzipielles Bedürfnis. Es wäre sehr schlimm, wenn es so wäre; denn wenn alle die irrationalen Antriebe und Bedürfnisse, die zweifellos zum Wesen des Menschen gehören, unbedingt ihren Weg in die Politik nehmen müßten, dann könnten wir alle Hoffnung auf sachgerechte menschliche und friedliche Ordnung unserer diesseitigen Angelegenheiten fahren lassen! Und wer da glaubt, solche Argumente mit "zersetzendem Linksintellektualismus" abtun zu können, der lese nach, was der katholische Sozialphilosoph Josef Pieper über den Unterschied von Gemeinschaft, Gesellschaft und Organisation geschrieben hat.

Neben diesem psychologischen zeigt sich schon sprachlich im neuen Nationalismus ein metaphysisches Bedürfnis. Man hat oft - und immer mit einem gewissen Recht - darauf hingewiesen, daß die politischen Ideen der Neuzeit den Charakter von Ersatzreligionen haben. Vielleicht ist es nur ein generationsbedingter Widerwille, der mich und viele von uns das sprachliche Pathos der Nationalisten als unangenehm empfinden läßt; vielleicht aber handelt es sich bei diesem Jargon wirklich um eine Art heruntergekommener Theologie, wiederum also um den Versuch, ein offenbar vorhandenes Bedürfnis an der falschen Stelle zu befriedigen. Ich bin davon überzeugt, daß das Bedürfnis nach Metaphysik (also auch das Bedürfnis nach einer religiösen Dimension unseres Lebens) ein konstitutives menschliches Bedürfnis ist. Aber auch dieses Bedürfnis hat - wie das emotional-soziale -  einen spezifischen Ort in unserem Leben, den man nicht willkürlich festsetzen kann, sondern der durch die "Sache" vorgegeben ist. Wo immer man diesen Ort ansetzen kann, sicher ist doch wohl, daß er heute nicht mehr im Bereich der Politik liegen und sich nicht in politischen Leitvorstellungen ausdrücken kann.

Kein neues Nationalgefühl, aber ein neues Staatsbewußtsein

Damit wäre die Frage des Referates eigentlich beantwortet: Weder im politischen noch im psychologischen oder metaphysisch-religiösen Sinne "braucht" unsere Jugend ein Nationalgefühl. Aber diese Antwort bleibt noch unbefriedigend; denn in den Erklärungen der neuen Nationalisten schwingt noch etwas anderes mit, nämlich die Frage nach unserem Staatsbewußtsein. Und diese Frage hat wiederum zwei Aspekte. Der eine betrifft die unbewältigte Vergangenheit: Muß man nicht endlich aufhören, die Gegenwart und Zukunft unseres Volkes an den Scheußlichkeiten des Hitlerreiches zu messen? Hat die Bundesrepublik nicht inzwischen einen Anspruch darauf, ohne Vorbehalte im Hinblick auf die Vergangenheit moralisch

547

gleichberechtigt unter den Völkern zu sein? Wäre sonst nicht das politische Selbstbewußtsein der heranwachsenden Generation aufs schwerste gefährdet, mit all den schlimmen Konsequenzen, die aus einem lädierten Selbstbewußtsein irgendwann erwachsen? Wir wissen doch: ein beschädigtes Selbstbewußtsein ist der beste Boden für Ressentiments und Vorurteile! Und der zweite Aspekt hängt damit zusammen: Kann politische Bildung sich in der Kritik unserer Vergangenheit und der gegenwärtigen politischen Verhältnisse erschöpfen, ohne zugleich Verstand und Gefühl an unsere neue politische Ordnung zu binden? In der Tat sind manche Aspekte des neuen Nationalismus auch Plädoyers für ein neues Staatsbewußtsein, und diese sind sehr ernst zu nehmen; denn so richtig es ist, daß die politische Bildung kritisch sein muß, indem sie die realen Verhältnisse immer wieder auf das "mehr" oder "weniger" an Demokratisierung prüft, so verhängnisvoll wäre es auf lange Sicht, wenn diese Kritik staatlich "freischwebend" bliebe und nicht streng auf die Kontinuität dieses unseres Staatswesens bezogen würde. Politische Kritik hat ihren Sinn nicht in sich selbst, sondern sie dient dazu, die konkreten politischen Verhältnisse in unserem Staat demokratisch weiter zu entwickeln. Zwar ist unser politischer Horizont weltweit geworden, und auf der ganzen Welt geschehen Dinge, die uns direkt betreffen - zum Beispiel Gefährdungen des Friedens - , aber die politischen Aktionseinheiten sind nach wie vor die Staaten, und auch unsere Verantwortung als Bürger findet an den Grenzen unseres Staates zunächst einmal ihre tatsächliche Grenze. Zu Entscheidungen, die jenseits der Grenzen liegen, können wir daher nur mittelbar beitragen, nämlich dadurch, daß wir unsere Regierung mit bestimmten Mandaten versehen. Diese nüchterne Einschätzung der Staatsbürgerrolle - deren höchster Ausdruck das Wahlrecht ist - ist vielleicht tatsächlich in unserer politischen Bildung ein wenig zu kurz gekommen. Aber woran lag das?

Jene konservative Mentalität, die bis heute bestimmend für unser politisches Selbstverständnis geblieben ist und die neuerdings mit ihrem Nationalismus die Flucht nach vorn antritt, hat doch das, was sie heute beklagt, selbst erst hergestellt! Sie hat das Dritte Reich zu einem moralischen Problem und nicht zu einem politischen Problem gemacht und dadurch die unfreie emotionale Fixierung an die "unbewältigte Vergangenheit" erst provoziert! Sie hat den Widerstand gegen Hitler zu einem moralischen, staats-theologischen Tabu gemacht, um ihre eigene Kontinuität zu der Zeit vor 1933 herzustellen. Sie war doch unmittelbar daran interessiert, das Hitlerreich als einen drastischen Unglücksfall unserer Geschichte zu betrachten, der die Kontinuität der konservativen Tradition nicht grundsätzlich belasten könnte, und dies ging nur so, daß man die längst fällige politische Kritik in eine moralische verwandelte. Sie hat die Frage nicht zugelassen, welche politischen Vorstellungen der bürgerliche Widerstand gegen Hitler gehabt hat und wie sie vor Gericht einer demokratischen Zukunft zu beurteilen sind. Sie ist mit der Vergangenheit genauso verfahren, wie sie mit dem gegenwärtigen Nationalismus verfährt: An die Stelle der rationalen politischen Analyse und Aufklärung, die allein von der Vergangenheit wirklich befreit hätten, hat sie das "Nie-sollst-Du-mich-befragen" gesetzt, um ihre eigene politische Legitimität nicht zu gefährden -  was in der Tat sonst geschehen wäre! Und diese selbe Mentalität war es auch, die diesen Staat, diese Bundesrepublik immer als ein Provisorium hingestellt hat, das

548

dem Ziel der nationalen Wiedervereinigung untergeordnet bleiben müsse. Und ausgerechnet sie wundert sich über ein zu geringes Staatsbewußtsein in unserem Lande? "Gesamtdeutschland" hieß die von allen Parteien verkündete Zielvorstellung unseres Gemeinwesens. Aber für "Gesamtdeutschland" gibt es kein Wahlrecht, keinen konkreten politischen Auftrag - zum Beispiel durch die Bewohner der DDR - , keine präzise politische Verantwortung, kein handlungsfähiges Staatsgebilde. Deshalb beginnt sich die demokratische Verantwortung der Politiker wie der Bürger in Wolkenkuckucksheime zu verflüchtigen. Sie lebt von einem ständig imaginärer werdenden "Als-ob". Dies ist ein guter Boden für die Irrationalisierung des politischen Bewußtseins, von dem der neue konservative Nationalismus nur eine Spielart ist; es gibt auch entsprechende Spielarten der "linken Kritik", einer Kritik, die ihre praktische Bedeutung und Wirksamkeit dadurch verliert, daß sie immer gleich aufs Ganze geht, unentwegt politische Sonnenfinsternisse beschwört, den Menschen ihren Wohlstand madig macht und das bißchen kleinbürgerliche Glück diffamiert, das die Menschen erstreben, wo doch mehr einstweilen wirklich nicht zu holen ist. Diese Art von "Kritik an sich", die sich so furchtbar fortschrittlich dünkt, ahnt gar nicht, wie sehr sie dem ähnelt, was wir am neuen Nationalismus kritisieren müssen.

Um auf die Frage des Referates zurückzukommen: Wir brauchen kein neues Nationalgefühl, aber wir brauchen dringend ein neues Staatsbewußtsein. Die politische Pädagogik muß in die Lage versetzt werden, politische Kritik, politische Phantasie, politisches Engagement und schließlich auch gewisse politische Gefühle auf dasjenige politische Gebilde hin konstruktiv zu disziplinieren, das uns als politischer Handlungsraum real zur Verfügung steht. Dies ist nun einmal die Bundesrepublik, nicht mehr und nicht weniger. Und wir haben uns in erster Linie darum zu bemühen, daß in diesem Staat die demokratischen Bilanzen stimmen! Und wir müssen begreifen, daß der Fortschritt an Demokratie für uns nicht irgendwo entschieden wird, sondern nur auf dem Boden derjenigen Institutionen und Instanzen, die zusammen unseren Staat und unsere Gesellschaft ausmachen.

Damit haben wir für die Frage des Referates einen neuen Ansatz gefunden: Wir wenden uns nicht deshalb gegen ein neues Nationalgefühl, weil wir politische Gefühle überhaupt für verdächtig halten, sondern weil "Nation" und "Vaterland" die falschen Objekte für politische Gefühle sind. Denn trotz der eben genannten psychologischen Einschränkungen bleibt es dabei, daß alles menschliche Handeln  - also auch das politische - immer Verstand und Gefühl herausfordert. Wer sich zum Beispiel für eine weitere Demokratisierung einsetzt, tut das nicht zuletzt deshalb, weil ihn Unfreiheit und Unterdrückung empören. Wer also glaubt, Gefühle aus der Politik ganz ausschalten zu können, macht sich gefährliche Illusionen. Worauf es ankommt, ist, zu unterscheiden, welche Gefühle in die Politik und welche in den Bereich anderer sozialer Beziehungen gehören, und die Ziele zu nennen, mit denen sich politische Gefühle heute und morgen sinnvoll verbinden können. Darüber ist in der politischen Bildung noch wenig nachgedacht worden. Gute politische Gefühle können primär immer nur wirklichen, lebendigen Menschen gelten und erst sekundär den Organisationen und Kollektiven, insofern diese nämlich dazu dienen, die Verhältnisse der Menschen im Sinne demokratischer Prinzipien weiter zu verbessern.

549

Solidarität und Selbstbewußtsein

In diesem Sinne dürfen wir ruhig das Gefühl der Solidarität mit unserem Staat entwickeln, wenn er in eine Krise gerät - wobei wir zwischen "Staat" und "Gesellschaft" in diesem Zusammenhang nicht weiter zu unterscheiden brauchen; wir brauchen uns nicht zu genieren, wenn wir stolz sind auf seinen - im Vergleich zu unserer bisherigen Geschichte - unerhörten Fortschritt an Demokratisierung; stolz auf seinen wirtschaftlichen Aufstieg, der uns materiell in den Stand setzt, Bürger auch ohne Rücksicht auf das Prinzip der wirtschaftlichen Rentabilität vor Existenzsorgen zu bewahren, und der uns Güter zur Verfügung stellt, mit denen wir mehr Freiheit verwirklichen können, wenn wir wollen; stolz darauf, daß immer mehr Bürger sich darüber aufregen, wenn einem einzelnen Unrecht geschieht - sogar wenn es sich um einen Kommunisten handelt; stolz darauf, daß es uns gelungen ist, Millionen Flüchtlinge ohne bleibende soziale Ressentiments bei uns heimisch zu machen; stolz darauf, daß es verhältnismäßig wenig politische Angst in unserem Lande gibt und daß unsere Sozialpolitik zu einem Großangriff auf die soziale Existenzangst angetreten ist; stolz darauf, daß eine wache Öffentlichkeit sich sofort meldet, wenn Minderheiten (zum Beispiel die Gammler oder Gastarbeiter) unterdrückt zu werden beginnen; stolz darauf, daß bisher alle wichtigen Angriffe auf die demokratischen Prinzipien unseres öffentlichen Lebens gescheitert sind. Die Liste dessen, worauf wir alle miteinander stolz sein können, ließe sich noch ergänzen. Und diese Liste darf denjenigen Generationen, die in der nationalsozialistischen Zeit keine Rolle mehr gespielt haben, durchaus das Selbstbewußtsein geben, daß sie sich im Kreise anderer demokratischer Staaten sehen lassen können; denn jede neue Generation hat das Recht, in gewissen Grenzen das Erbe ihrer Väter neu zu sortieren. Für die Jungen sind "Gegenwart" und "Zukunft" die beherrschenden Perspektiven, und die "Vergangenheit" kann ihnen nicht mehr sein als geschichtliches Material zum Zwecke der Aufklärung ihrer politischen Zukunft. So tragisch es klingen mag: Weder die "Schuld" der älteren Generationen noch auch ihre Bemühungen um "Sühne" werden in absehbarer Zeit die nachfolgenden Generationen noch sonderlich interessieren, weil sie weder auf das eine noch auf das andere ihr eigenes politisches Selbstbewußtsein gründen können. Und insofern der Zulauf der Jüngeren zur NPD etwas mit dem berechtigten Anspruch auf kollektives Selbstbewußtsein zu tun hat, sollte man dafür sorgen, daß es nicht länger bei den falschen Propheten beschafft werden muß.

Wir wissen aus der Pädagogik, daß die Menschen Erfolge brauchen, wenn ihr Lerninteresse aufrechterhalten bleiben soll. Ich glaube, diesen Zusammenhang kann man auch auf die Politik anwenden. Um sich an der Aufgabe der weiteren Demokratisierung zu beteiligen, braucht man das Bewußtsein, bereits Erfolge gehabt zu haben, und ich halte es für einen schweren Fehler, der jüngeren Generation immer wieder einzureden, sie müsse in Sachen Demokratie wieder am Nullpunkt anfangen; das muß ihr irgendwann die Lust nehmen. In der Kombination dessen, was als demokratischer Erfolg unseres Staates und unserer Gesellschaft bereits verbucht werden kann, mit dem, was als Aufgabe der weiteren Demokratisierung noch vor uns steht, kann sich erst politisches Selbstbewußtsein entfalten und eine Gelassenheit, die nicht bei jeder kleinen Krise gleich die Nerven verliert und glaubt, das Ende aller Sicherheit sei gekommen. Mit einem Wort: Wir "lieben"

550

nicht unser Vaterland oder unseren Staat, das ist eine sprachlich perverse Ausdrucksweise; wir sind auch nicht bedingungslos loyal zu diesem Staat, sondern nur unter demokratischem Vorbehalt: Sollte dieser Staat den Weg der kontinuierlichen Demokratisierung verlassen, so werden wir hoffentlich eher "staatsfeindlich" reagieren, als es seinerzeit einige unserer Väter und Großväter taten.

Aber wir sind solidarisch mit den Bürgern dieses Staates und mit ihren Sorgen und Problemen, und deshalb sind wir auch solidarisch mit denjenigen, die in unserem Auftrag diese Probleme auf politische Weise lösen sollen - auch dann, wenn sie dabei mit oder ohne Schuld in Schwierigkeiten geraten. Wir sind gemeinsam stolz auf das, was in diesem Sinne bereits gemeinsam erreicht ist. Aus eben dieser Solidarität erwächst auch die kritische Einstellung, insofern der Fortschritt an Demokratie eine gemeinsame Aufgabe aller Bürger ist, die immer wieder angesichts neuer konkreter politischer Probleme neu ermittelt werden muß. Demokratische Lösungen lassen sich nicht von vornherein am Schreibtisch ermitteln, sondern bedürfen immer wieder neu der Kommunikation der Bürger. Diese Solidarität verbindet uns auch mit anderen Völkern und Staaten, insofern sie bereits von demokratischen Prinzipien ausgehen; sie verbindet uns auch mit denjenigen, die noch unter anderen Prinzipien leben müssen und denen wir vielleicht auf ihrem Weg helfen können. Zu diesen gehört in erster Linie die Bevölkerung der DDR. Wir scheuen uns nicht, diese politische Solidarität als ein gutes politisches Gefühl zu betrachten, aber wir können uns die Welt, in der wir leben, nicht aussuchen; und in dieser Welt werden auch gute Gefühle zur Phrase, wenn wir unsere politischen Probleme nicht mit einem Höchstmaß an Intelligenz, an Sachverstand und Rationalität in die Hand nehmen.

Wenn die neuen prominenten Nationalisten das meinen, dann sollen sie es sagen, und wir können uns mit ihnen verständigen. Wenn sie aber meinen, was man leider für manche von ihnen vermuten muß, daß Sinn und Substanz unserer politischen Verfassung und ihrer Grundrechte als Leitvorstellungen unseres politischen Handelns nicht genügen, daß sie vielmehr einer Größe wie "Nation" oder "Vaterland" untergeordnet werden müßten: dann wäre dieser Nationalismus die gefährlichste Bedrohung unseres demokratischen Staatswesens seit seiner Geburt, gerade weil sie nicht in der Form der jedermann erkennbaren Rechtsradikalität auftritt. Dann aber ist meine Hoffnung, daß unsere Generation und die uns nachfolgende Generation diesen Nationalismus als eine Kriegserklärung an ihre eigene Zukunft empfindet; daß sie sich mit Entschiedenheit weigern wird, den vielleicht verständlichen Bewußtseinsrückstand ihrer Väter und Großväter zur eigenen politischen Maxime zu machen.

Braucht unsere Jugend Nationalgefühl? Nein, sie braucht es nicht. Aber offenbar brauchen es viele ihrer Väter und Großväter, sei es, daß sie mit bestimmten Problemen ihrer Biographie nicht fertig geworden sind, sei es, daß sie anders nicht mit der politischen Gegenwart fertig werden können. Wir wollen nicht ungerecht sein: Die demokratischen Erfolge, von denen eben die Rede war, verdanken wir schließlich auch denen, die wir jetzt kritisieren. Aber der neue Nationalismus der Prominenten zeigt eben auch, daß für sie Demokratie nach 1945 eine Forderung war, der sie zwar aus staatspolitischer Notwendigkeit - etwa wegen unseres Ansehens im Ausland - , nicht immer aber auch aus letzter Einsicht und Über-

551

zeugung gehorchten. Für viele von ihnen war Demokratie mit der Wiedereinführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes erfüllt, während in Wahrheit damit doch der Prozeß der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft erst beginnen konnte. Nur Hochmut könnte uns dazu verführen, die Umlernprozesse, die damit notwendigerweise verbunden sind, als ein selbstverständliches Ergebnis zu erwarten.

Wir tolerieren die persönlichen Probleme der neuen Nationalisten, die sich daraus ergeben, aber wir wehren uns entschieden dagegen, daß sie uns ihre durcheinandergeratene Weltvorstellung aufreden wollen: Wir wehren uns dagegen, unsere metaphysischen Bedürfnisse in die Politik zu tragen, als ob Gott nicht Fleisch, sondern ein Sammelsurium von Nationen geworden wäre; wir wehren uns dagegen, uns einen modernen Staat als die Fortsetzung der Familie auf größerem Territorium vorzustellen; wir wehren uns dagegen, der Offenheit einer pluralistischen, durch handfeste Interessen bestimmten politischen Welt mit Unsicherheit und Angst zu begegnen. Für uns ist materielles Wohlergehen, Lust, Glück und Freiheit durchaus ein hinreichendes Ziel für die diesseitigen Mittel der Politik.

Der Deutsche Bundesjugendring ist seinerzeit nicht zuletzt deshalb gegründet worden, weil die deutsche Jugend vor antidemokratischen Bestrebungen geschützt werden sollte. Man wollte von vornherein die junge Demokratie zu einer Sache der jungen Generation machen. Diese Tradition verpflichtet. Deshalb appelliere ich an Sie, an die Vertreter dieser Organisation: Wie unterschiedlich immer die politischen und weltanschaulichen Positionen Ihrer Mitgliedsorganisationen sein mögen, sagen Sie gemeinsam Ihren unmißverständlichen Kampf all denen an, die erneut die Gehirne der jungen Generation mit Phrasen vernebeln wollen, anstatt ihr die Wahrheit über diese Welt zu sagen, sie unpathetisch zur politischen Mitarbeit aufzufordern, ihr einen genügend großen Aktionsradius dafür zu lassen und sie alles das lernen zu lassen, was für eine solche politische Mitarbeit unerläßlich ist. Wir haben doch wenigstens dies aus der Vergangenheit gelernt: Regiert in der Politik erst einmal die Phrase, dann sind die Folgen für alle gleich furchtbar. Richten Sie deshalb an alle solche Phrasen, von denen die nationalistischen im Augenblick die gefährlichsten sind, die unerbittlichen Fragen: Wem nutzen sie? Was können sie bessern? Mein praktischer Vorschlag lautet: Empfehlen Sie Ihren Mitgliedsorganisationen, das Thema des neuen Nationalismus in ihr Jugendbildungsprogramm aufzunehmen, und stellen Sie dafür das geeignete Informationsmaterial zur Verfügung!

552

 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke5.htm

Inhaltsverzeichnis aller Bände