Hermann Giesecke
Die Tagung als Stätte politischer JugendbildungEin Beitrag zur Didaktik der außerschulischen Politischen Bildung
Diss. Kiel 1964 (Phil. Fak.)
I. Teil: DIE PÄDAGOGISCHE SITUATION DER TAGUNG
© Hermann Giesecke
Zu dieser Edition:
Meine Dissertation mußte damals nicht gedruckt, sondern der Fakultät lediglich in einer Reihe von Kopien der maschinenschriftlichen Fassung übergeben werden. Aus dem Material entstanden zwei Publikationen: Didaktik der politischen Bildung (München 1965) und Politische Bildung in der Jugendarbeit (München 1966). Die Dissertation habe ich teilweise bereits während meiner Tätigkeit im Jugendhof Steinkimmen (1960 - 1963) verfasst, deshalb spiegelt sie die aus dieser Arbeit erwachsenen pädagogischen Erfahrungen und Urteile unmittelbarer wider als die beiden Publikationen, in die Ergebnisse weiterer Diskussionen und zusätzliche Reflexionen aus größerer zeitlicher Distanz eingegangen sind.
Offensichtliche Tippfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert. Im Original befinden sich die Fußnoten - nach Kapiteln gezählt - auf der jeweiligen Textseite; für diese Edition wurden sie an den Schluß des jeweiligen Kapitels gesetzt, die ursprüngliche Numerierung wurde beibehalten.
Die Edition ist vollständig, es fehlen lediglich das Deckblatt und der übliche Lebenslauf.
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Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen. (H. Giesecke, März 2003)1. Kap.: Allgemeine Voraussetzungen und Bedingungen der außerschulischen Jugendarbeit
Wenn man es, wie in unserem Falle der außerschulischen Jugendarbeit, kaum mit Konstanten, vielmehr überall mit Variablen zu tun hat, bietet sich als Methode, die Erziehungswirklichkeit zu erfassen, eine Faktorenanalyse an. Dabei wird die je konkrete Erziehungswirklichkeit als Produkt der Wechselwirkung verschiedener Faktoren verstanden. Mindestens vier solcher Faktoren bestimmen alle Tätigkeiten der Jugendarbeit in je verschiedener Weise.a) Die politischen, gesellschaftlichen und pädagogischen Intentionen des Trägers, sowie die kulturpolitischen Möglichkeiten, diese Intentionen durchzusetzen;
b) Die materiellen Mittel im allgemeinsten Sinne;
c) Die Vorstellungen der tätigen Pädagogen im allgemeinen Sinne sowie deren Ausbildung und persönliche Ausstrahlung;
d) Die Teilnehmer mit ihren Vorstellungen, Haltungen, Erwartungen und Motiven.1.) Der Träger
Träger einer Bildungseinrichtung ist eigentlich der "Unterhaltsträger", also derjenige, der den Haushalt der Einrichtung garantiert. Nach dieser Definition ist bei uns eigentlich nur noch der Staat Träger der außerschulischen Jugendarbeit. Er übernimmt nämlich heute den überwiegenden Teil der Kosten für ihre Einrichtungen und Maßnahmen.
Die Begriffe der "Defizitdeckung" und des "Zuschusses", die die Maßstäbe der öffentlichen Mittelver-
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gabe kennzeichnen, gehen hingegen von einer anderen Vorstellung aus, nämlich von der Erwartung, daß der "Träger" im Grundsatz auch finanziell selbständig ist und die wirtschaftliche Verantwortung für seine pädagogischen Unternehmungen selbst übernimmt, während der Staat lediglich einen "Zuschuß" gewährt bzw. "das Defizit deckt". Aus mehreren Gründen, von denen hier nur die Verteuerung im gesamten Dienstleistungssektor genannt sei, sind die freien, d.h. nichtstaatlichen Träger aber nicht mehr in der Lage, mehr als nur noch einen symbolischen Teil der Kosten für Neubauten und Maßnahmen selbst aufzubringen.
Damit aber fallen juristische und wirtschaftliche Trägerschaft auseinander und können sogar in Widerspruch zu einander geraten. Der "freie Träger" der Jugendarbeit gerät in wirtschaftliche Unsicherheit und in Abhängigkeit vom öffentlichen Geldgeber, - zumal in den meisten Fällen für die immer erneute staatliche Mitfinanzierung zwar eine Art "Gewohnheitsrecht", aber keineswegs ein gesetzlicher Anspruch vorliegt. Die staatlichen Exekutiven wiederum, die die Mittel verteilen, sind nicht nur für deren haushaltsrechtliche Verwendung, sondern auch für die Zwecke der Verwendung verantwortlich. "Verwendungszweck" aber sind unter anderem auch die pädagogischen Inhalte wie etwa "politische Bildung".
Damit gerät nun die Verantwortung für die Erziehungswirklichkeit der außerschulischen Jugendarbeit in einen Kompetenzstreit. Der Träger beansprucht sie von seiner juristischen und pädagogischen Zuständigkeit her, für den öffentlichen Geldgeber erwächst sie aus dem Verwendungszweck der Mittel.
Der Konflikt, der in diesem Widerspruch angelegt ist, bleibt vielfach verborgen. In der Praxis einigt man sich meist auf eine Art "mittlerer Linie", die aber oft auch zu einer Mittelmäßigkeit der pädagogischen Arbeit führt, die nur wegen ihrer Belanglo-
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sigkeit konfliktfrei bleibt. Erst der Konfliktfall macht diesen Widerspruch virulent. Ob er eintritt oder nicht, ist weitgehend in das Belieben der beteiligten Personen gestellt. Ein Personalwechsel auf einer der beiden Seiten kann den Träger in eine völlig neue Lage bringen. Oft haben die staatlichen Partner - in der Regel Beamte der Exekutive - , sehr bestimmte Meinungen darüber, was im Einzelfall pädagogisch zu geschehen habe. Dann kann sogar durch eine solche pädagogische Fachdiskussion die weitere Mittelvergabe gefährdet werden.
Es sind. Fälle bekannt geworden, wo Jugendverbänden die Mittel gesperrt wurden, weil einige ihrer Mitglieder sich gegen bestimmte politische "Tabus'' wandten, ohne damit "verfassungsfeindlich" zu werden. Am bekanntesten ist wohl der Fall des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, dem bis heute Bundesmittel verweigert werden, obwohl ihm Verfassungsfeindlichkeit nicht nachgewiesen werden konnte. Solche Auseinandersetzungen werden selten in die Öffentlichkeit getragen, weil beide Seiten sich davon keinen kulturpolitischen Erfolg versprechen.
Gerade Maßnahmen der politischen Jugendbildung sind durch diesen Widerspruch gefährdet. Hier greifen die kulturpolitischen Konflikte besonders sichtbar in die pädagogische Praxis ein. Greift ein Träger mutig politische Tabus an und auf, dann kann er zwar immer mit dem Interesse der Jugendlichen rechnen, oft aber auch mit Schwierigkeiten der Behörde, die über die Mittelvergabe entscheidet.
Vor Jahren hatte eine kleine Jugendbildungsstätte einen Referenten gewonnen, der mehrere Rußlandreisen gemacht hatte und nun versuchte, das damals noch recht stereotype Bild von der Sowjetunion zu korrigieren. Eines Tages wurde dem Träger seitens eines Ministeriums eröffnet, der Referent sei Mitglied einer verfassungsfeindlichen, kommunistisch gesteuerten Organisation und dürfe nicht mehr ein-
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gesetzt werden, sonst würden augenblicklich die Mittel gesperrt. Der Träger, der seinem Mitarbeiter gegenüber loyal bleiben wollte, stellte ihn deshalb zur Rede, erwirkte eine eidesstattliche Erklärung, daß der Vorwurf unberechtigt sei, und bat nun das Ministerium unter Hinweis auf diese Erklärung, seine Behauptung nachzuweisen. Das Ministerium verweigerte den Nachweis, blieb aber bei seiner Forderung.
Sie brachte den Träger in eine schwierige Lage. Ließ er den Mitarbeiter fallen, von dessen Unschuld er überzeugt war, brachte er sich um seine Glaubwürdigkeit im Hinblick auf seine eigene politische Bildungsarbeit mit den Jugendlichen. Leistete er Widerstand, stand unzweifelhaft die Existenz der Institution auf dem Spiel, zumal er kulturpolitisch zu schwach war, einen erfolgreichen Widerstand zu leisten. Er resignierte, ließ nicht nur den Mitarbeiter fallen, sondern auch auf längere Zeit seine aktuelle politische Bildungsarbeit und wandte sieh ungefährlicheren Gegenständen zu. In solchen Fällen kommt es oft zu einer Art "Sekundär-Motivation": Die Begründung für eine bestimmte, ursprünglich gar nicht gewollte Praxis wird nachgeliefert und nimmt den Charakter einer pädagogischen Ideologie an.
Wenn wir dieses Beispiel durchdenken, so stellen wir fest, daß die pädagogischen Intentionen eines Trägers offenbar auch davon abhängen, ob er sie kulturpolitisch durchsetzen kann. Auch die Umkehrung gilt: Es dürften sich in der außerschulischen Jugendarbeit kaum pädagogische Zielsetzungen finden lassen, die nicht auch im Ernstfall durchgesetzt werden können. Keineswegs ist es so, daß alles, was verfassungsmäßig zulässig ist, auch tatsächlich möglich ist.
Die kulturpolitische Entscheidung, die der Träger in unserem Beispiel fällen mußte, hatte auf minde-
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stens zwei weitere Faktoren unseres Modells unmittelbare Rückwirkungen: Er trennte sich von einem Mitarbeiter und veränderte damit den "Mitarbeiter-Faktor". Indem er zugleich auch sein Programm änderte, schloß er damit zwar nicht willentlich aber doch faktisch bestimmte Jugendliche, nämlich gerade die an der aktuellen Thematik interessierten, aus und gewann dafür solche, die an den "harmloseren" Gegenständen interessiert waren. Unser vierter Faktor, die lokalen, technischen und finanziellen Mittel der pädagogischen Arbeit selbst, ist davon insofern beeinflußt worden, als er durch diese kulturpolitische Entscheidung in seinem Bestand erhalten blieb.
Da der Träger kaum ein "Rechtsmittel" in der Hand hat, mit dem er sich gegen eine ihm unberechtigt erscheinende Einflußnahme des staatlichen Geldgebers zur Wehr setzen könnte, ist er zur Wahrung seiner Unabhängigkeit auf Stärkung seiner kulturpolitischen Position angewiesen. Deshalb haben sich viele Träger zu größeren Organisationen oder zu "'Trägergruppen" auf Bundesebene zusammengeschlossen. Eine solche Maßnahme kann dazu führen, daß die Organisation zu einem Schutz der Autonomie der Erziehungsarbeit wird. Sie kann aber auch zur Folge haben, daß die pädagogische Arbeit im Konfliktfall dem Prestige der Organisation geopfert wird. Je größer ein Verband ist, umso größer und zugleich verletzbarer wird sein öffentliches Ansehen. Von einer bestimmten Größenordnung an wird ein Verband zu einem politischen Faktor in der Gesellschaft und ruft damit notwendig auch politische Gegnerschaften auf den Plan, pädagogische Fehler - tatsächliche oder vermeintliche - werden dann leicht zur politischen Waffe in der Hand des politischen Gegners. Der Verband muß also darauf achten, daß das pädagogische Risiko seiner Maßnahmen in Grenzen bleibt.
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Außerdem verändert sich in einem größeren Verband das Verhältnis des pädagogischen Mitarbeiters zu seinem Träger grundlegend. Während er sich bei einem kleinen Träger der Übereinstimmung im Grundsätzlichen immer wieder versichern kann, greift bei einem großen die Notwendigkeit des politischen Taktierens in seinen eigenen Tätigkeitsbereich über. Die Willensbildung des Trägers speist sich aus mehreren Quellen. Der Mitarbeiter kann sich in jener Übereinstimmung nun grundsätzlich nicht mehr versichern, die Organisation tritt ihm nun ähnlich unvermittelt gegenüber wie überall sonst in der großorganisierten Gesellschaft auch. Will er nicht Gefahr laufen, plötzlich dem Prestige der Organisation geopfert zu werden, so muss er entweder ständig sich um berufliche Alternativen kümmern oder sich wenigstens einiger einflussreicher Quellen der Willensbildung des Trägers versichern. Auf diese Weise gerät er in Fraktionsbildung und somit ins Taktieren. Selbst wenn solche Befürchtungen des Mitarbeiters objektiv grundlos sind, muss er sie im Auge behalten. Denn schon ein zufälliger Personenwechsel kann ihnen Recht geben. In vielen Fällen gewannen die Träger einflußreiche Persönlichkeiten wie Minister oder hohe Beamte der Exekutive zur Mitarbeit in ihren Gremien. Auch diese Maßnahme kann den Träger stärken, zugleich aber seine pädagogische Arbeit nivellieren. Der Konfliktfall repräsentiert sich dann nämlich zusätzlich noch als Interessenkonflikt solcher Personen. Wenn z.B. ein Minister Vorstandsmitglied eines solchen Trägers ist und ex officio über die Mittelvergabe entscheidet, wird er in seiner politischen Stellung als Minister durch Entscheidungen des Trägers verwundbar. Er ist also seiner politischen Stellung schuldig, dass die Entscheidungen des Trägers ein bestimmtes Mittelmaß nicht überschreiten.
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Vom "Verwendungszweck" staatlicher Mittel war schon die Rede. Durch ihn kann der Staat, eben wegen der wirtschaftlichen Unselbständigkeit der Träger, bestimmte pädagogische Inhalte fördern, andere verhindern. So wurde etwa der Begriff der "politischen Bildung" in der freien Jugendarbeit deshalb sehr weit ausgelegt, weil es für eine solche Maßnahme höhere Mittel gab als etwa für "musische Bildung". Auch hieraus erwuchsen die widersprüchlichsten Folgerungen. Einmal wurde der Begriff der "politischen Bildung" vielfach völlig sinnentleert, weil unter ihm alles subsumiert wurde, was man finanziert haben wollte. Andererseits gelangen den Begründungen oft nicht nur "Sekundär-Motivierungen", sondern auch Einsichten über den Zusammenhang etwa von musischer und politischer Bildung.
Schließlich kann ein "Verwendungszweck" zur Gründung ganz neuer Trägerschaften führen. Entfällt dann der Zweck wieder - wie etwa im Falle der Betreuung der jugendlichen SBZ-Flüchtlinge - muß sich derselbe Träger ein neues Betätigungsfeld suchen. Nur in seltenen Fällen wird er sich mit dem Ende seines Zwecks auflösen. Die Sorge, daß bestimmte pädagogische Inhalte einmal nicht mehr staatlich finanziert werden könnten, bestimmen manche Träger dazu, ihr Angebot breit zu fächern. Die Abneigung gegen thematische Spezialisierung - sie könnte ja auch die Leistungsfähigkeit verbessern - entspringt also nicht nur pädagogischen Erwägungen von der Ganzheit der Erziehung, sondern auch sehr realen ökonomischen Überlegungen.
Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um zu zeigen, daß die Erziehungswirklichkeit der außerschulischen Jugendarbeit ohne jeweilige Kenntnis solcher Zusammenhänge gar nicht zu verstehen ist. Sie zeigen aber auch, daß es keine "Patentlösungen" für die Regelung des Konfliktes gibt. Alle Lösungen, die versucht wurden, sind insofern doppeldeutig,
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als sie bestimmte Probleme nur dadurch lösen, daß sie neue hervorrufen. Aus diesem Grunde bietet sich dem Auge des Betrachters die Trägerstruktur der außerschulischen Jugendarbeit in solcher Vielfalt dar.
In unserem Falle war Träger der Institution eine "bürgerliche Vereinigung" ein gemeinnütziger Zweckverband, dessen einzige Aufgabe der Unterhalt der Institution war. Ihm gehörten etwa 120 Mitglieder an, darunter viele Jugendliche und ehemalige Tagungsteilnehmer. Die Aktivität des Vorstandes beschränkte sich im wesentlichen auf die Besetzung der Leiterstelle, die Auswahl der übrigen Mitarbeiter wurde dem Leiter überlassen. Damit verstand der Vorstand seine Aufgabe bewußt restriktiv, d.h. er reservierte seine Zuständigkeit für die Fälle der Haushaltsüberschreitung, unangemessener Besoldung usw. Der geringe Organisationsumfang ließ eine gemeinsame Willensbildung zwischen Legislative (Vorstand) und Exekutive (Leiter) jederzeit zu. Obwohl die Finanzierung der Institution fast ganz zu Lasten der öffentlichen Hand ging, waren die Nachteile aller staatlichen Finanzierung, vor allem die Einpassung in ein langfristig geplantes und relativ unbewegliches Haushaltssystem, entfallen.
Diese Trägerstruktur hatte Folgen, die unmittelbar in die pädagogische Arbeit eingingen.
1) Der pädagogische Leiter und seine Mitarbeiter verfügten über eine maximale Entscheidungsfreiheit in allen pädagogischen, verwaltungsmäßigen und finanziellen Fragen. Hohe Anpassungsfähigkeit an veränderte Situationen und Teilnehmerkreise, Wandlungsfähigkeit der didaktischen und methodischen Anlage im einzelnen waren die Folge.
2) Während in größeren Organisationszusammenhängen eine Trennung von pädagogischer und Verwaltungsleitung unvermeidbar ist, lag hier auch die verwaltungsmäßige und finanzielle Leitung in der Hand des
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Pädagogen. Die technischen Erfordernisse bekamen im Rahmen der allgemeinen Haushaltsbestimmungen Mittelcharakter für das pädagogische Experiment.
3) Die für staatliche Unternehmungen charakteristische streng kameralistische Haushaltsführung entfiel. Nahezu alle Haushaltstitel waren gegenseitig deckungsfähig. Plötzlich notwendige und unvorhergesehene Ausgaben für Lehrmittel etwa, die im dafür zuständigen Titel nicht mehr enthalten waren, konnten aus anderen Titeln abgezweigt werden, ohne daß für diese Entscheidung auch nur der Vorstand angerufen werden mußte. Dieselbe Haushaltsfreiheit herrschte in der Einnahmepolitik. Der Tagessatz konnte nach oben oder unten verändert werden. Mit Hilfe finanzkräftiger Gastlehrgänge konnte etwa ein Defizit ausgeglichen werden, das vielleicht bei einem eigenen pädagogischen Experiment entstanden war. Die einzige, dafür aber auch starre Haushaltsbeschränkung, lag in der Festsetzung des Stellenplans und der Besoldung für hauptamtliche Mitarbeiter.
4) Die beschriebene Freiheit der Haushaltsführung machte die Institution zu einem halbkommerziellen Unternehmen. War auf der einen Seite die Haushalts-Politik in die Verfügung des Leiters gelegt, so auf der anderen Seite auch die Mittelbeschaffung. Zwar konnte er Jahr für Jahr mit einer festen Summe der öffentlichen Hand rechnen und war somit einer Anstrengung enthoben, die für sehr viele Unternehmungen dieser Art bestimmend ist - nämlich einen Haushalt aufzustellen, dessen Ausgleich erst im Laufe des Jahres durch "Geldbettelei" gesichert werden kann.
Andererseits war der größte Einnahmetitel für den Haushaltsausgleich die Eigenbeteiligung der Teilnehmer. Er hing einfach von der Zahl der jährlichen Teilnehmer ab, da ja auch die Höhe der Bundesmittel für politische Jugendbildung an die Zahl der Teilnehmertage gebunden ist.
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Bekanntlich durchzieht dieser Konflikt zwischen "pädagogischer Anstalt" und "Unternehmen" viele Einrichtungen der freien Jugendarbeit, und sie haben im einzelnen darauf sehr verschieden reagiert(1). Auf diese Weise gelangen äußer-pädagogische Gesichtspunkte wie solche der Werbung, der attraktiven Zubereitung der Angebote und der Konsummanipulation in die pädagogischen Zusammenhänge. Dabei besteht die Schwierigkeit gar nicht darin, die Institution für Jugendliche attraktiv zu machen; es genügt oft, sich gegen die Schule oder den Betrieb abzusetzen und die Jugendlichen das tun zu lassen, was sie in ihrer Freizeit am liebsten tun. Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, das eigene Bildungsangebot mit der Haltung der Gäste zu verbinden, sozusagen das Bedürfnis für das Bildungsangebot erst in ihnen zu wecken.
Allein solche Vokabeln verweisen schon darauf, daß sich damit die pädagogische Arbeit auf jener Ebene befindet, die für die industrielle Bedarfsweckung von Bedeutung ist. Der Begriff des pädagogischen Erfolges erhält auf diese Weise einen eigentümlichen Gehalt. Er meint nun nicht mehr allein das irrationale Geschehen, das sich im Begriff der "Bildung"
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ausdrückt, sondern er meint darüber hinaus auch die sehr reale Tatsache, daß jugendliche Teilnehmer selbst gerne wiederkommen oder durch Mundpropaganda andere zum Besuch der Angebote der Institution ermuntern sollen, also als "Werbeträger" fungieren.
Setzen wir einmal voraus, daß in dieser Konkurrenzsituation die pädagogische Zielsetzung dennoch darin besteht, die Angebote nicht auf die vorgefundene Mentalität der Teilnehmer, sondern umgekehrt diese Mentalität auf die Angebote hin zu verändern, so ergeben sich wiederum Folgen für die pädagogische Arbeit:
a) Es wird zu einer wichtigen Aufgabe, die Meinungen der Teilnehmer zum Angebot zu ermitteln. Sie können weder für die Institution noch für das, was in ihr unter "Bildung" verstanden wird, gleichgültig bleiben.
b) Zur ständigen Ermittlung dieser Meinung ist nicht nur Befragung der Teilnehmer erforderlich, sondern auch ein ständiger, auch ungeplanter Kontakt mit ihnen sowie vor allem eine von hohem theoretischen Niveau getragene analytische Einstellung gegenüber den pädagogischen Prozessen und den Reaktionen der Teilnehmer. Eine "falsche" Theorie führt auf lange Sicht zu wirtschaftlichen Verlusten.
c) Der Führungsstil gegenüber den Jugendlichen ist nicht mehr beliebig. Während die Existenz einer Schule nicht davon abhängt, ob sie autoritär oder kooperativ geleitet wird, kann hier nur eine kooperative Führung die wirtschaftliche Existenz sichern.
Wir wollen mit diesen Hinweisen zeigen, in welcher Weise die Trägerschaft in unserem konkreten Falle bereits didaktische Bedingungen schafft. Daß es sich dabei allerdings keineswegs um eine Determinierung des pädagogischen Geschehens im einzelnen handelt, wird noch zu zeigen sein.
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Es läge nahe, an dieser Stelle aus dem Zusammenhang zwischen der industriellen und pädagogischen "Bedarfsdeckung" weitere Spekulationen anzuschließen. So wäre denkbar, daß aus dieser Tatsache sich Weiterungen für das pädagogische Verständnis der Werbeindustrie ergäben. In jedem Falle aber wird die pädagogische Haltung gegenüber den modernen gesellschaftlichen Bedingungen sich in dem Maße ändern, wie ihre Verflochtenheit mit ihnen eingesehen wird. Daß aus einer solchen Bewußtheit bestimmte Einstellungen gerade auch zur politischen Gegenwart leichter fallen, liegt auf der Hand. Und diese "Weltoffenheit" soll die letzte Folgerung sein, die wir aus den gesellschaftlichen Bedingungen der Trägerschaft ableiten wollen.
2.) Die lokalen, technischen und finanziellen Mittel der pädagogischen Arbeit
Die technischen und lokalen Voraussetzungen gehen ebenfalls mittelbar oder unmittelbar in das pädagogische Geschehen ein. Ein Haus etwa inmitten einer Großstadt schafft andere Bedingungen als auf dem Lande oder gar in der Abgeschiedenheit. Für den Unterricht nacht es einen wesentlichen Unterschied, ob moderne Unterrichtsmittel wie Film, Tonband, Bücherei usw. zur Verfügung stehen oder nicht. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß das Unterrichtsergebnis einseitig vom materiellen Unterrichtsaufwand abhinge.
Entsprechend der Doppeldeutigkeit von "pädagogischer Anstalt" und "Unternehmen" können in der außerschulischen Jugendarbeit die "Unterrichtsmittel" nicht nur vom Gesichtspunkt des "Unterrichtszieles" abgeleitet werden. Sie stellen vielmehr darüber hinaus einen erheblichen Teil des "Werbeaufwandes" dar, den eine freie Bildungsinstitution heute treiben muß. Das technische Arsenal der Mittel macht oft erst eine Bildungseinrichtung für die Besucher attraktiv. Der Werbeeffekt kann sich gegenüber der pädagogischen
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Aufgabe verselbständigen. Dann werden z.B. kostspielige Bauten errichtet, die dem pädagogischen Zweck nicht dienlich sind, oder es wird ein teures Tonstudio eingerichtet, das zwar einem Rundfunkstudio gleicht, aber ebenso kompliziert zu bedienen ist und deshalb keine jugendlichen Amateure, sondern Experten voraussetzt. Auch hier ist schwer zu generalisieren. Es gibt Träger, die in der Tat das technische Optimum mit dem pädagogischen gleichsetzen. Es gibt andere, die umgekehrt den Einsatz bestimmter technischer Mittel für das Ende aller Jugendarbeit halten. Entscheidend ist wohl, welchen Einfluß die jeweiligen pädagogischen Mitarbeiter auf solche Entscheidungen haben, und dies hängt, wie wir sahen, u a. von der Organisationsstruktur des Trägers ab. Besonders schwer können es hier staatliche Träger haben, weil sie meist in das starre Schema der Kameralistik einbezogen sind. Auch die Meinung des Jugendlichen ist von Einfluß auf den Umfang der Mittel, Stellt sich heraus, daß die jugendlichen Besucher bestimmte Mittel vermissen, wird ein freier Träger sich der Aussicht, Teilnehmer zu verlieren, schwer entziehen können. In unserem Falle lag das Haus sehr verkehrsungünstig; der nächste Bahnhof war 17 km, die nächste Busstation 5 km und die nächste Kirche 12 km entfernt. Das Haus verfügte über 60 Betten und 7 einzelne Bungalow-Gebäude, die in einem Wald- und Heidegelände von 5,5 ha verteilt waren. Eine Bücherei mit 5000 Bänden, Filmraum mit Tonfilmgerät, eigene Tonfilme, kleines Tonstudio, vier Gruppenräume, eine Spielhalle, eine Festhalle, Sportplatz und Dunkelkammer waren vorhanden. Rechnet man die für die pädagogische Planung ausreichende finanzielle Dotierung für Lehrmittel hinzu, so kann nicht ohne Beschämung gegenüber einer normalen Schulausstattung von optimalen technischen Voraussetzungen gesprochen werden. Ohne dieses technische Arsenal
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wären allerdings eine Reihe von Projekten nicht realisierbar gewesen. Aus diesen Voraussetzungen ergaben sich folgende Bedingungen für die pädagogische Arbeit:
1) Die lokale Abgeschiedenheit zwang die Teilnehmer bei längeren Tagungen, ihre Bedürfnisse zu organisieren. Da für die Zeit des Aufenthaltes die übrigen Konsumangebote praktisch unerreichbar blieben, waren die Teilnehmer weitgehend auf sich selbst angewiesen. Dieser Tatbestand ist für das, was man das "Tagungsklima" nennen kann, konstitutiv gewesen.
2) Problematisch waren die Schlafunterkünfte. Obwohl eigenwillig modern von der Architektur her gestaltet, waren sie regelrechte "Massenquartiere". Die größeren Unterkünfte führten bei längeren Tagungen immer irgendwann zu nervlichen Belastungen, machten andererseits aber einen "Selbstschutz" der Jugendlichen erforderlich, d.h. eine organisierte Ordnung ihrer Interessen. Interessanterweise wurden diese von uns immer als mangelhaft empfundenen Unterkünfte seitens der Teilnehmer so gut wie nie bemängelt. Sie gehörten zum "Lehrgangserlebnis". Die Massenunterkünfte sowie die Tatsache, daß Jungen und Mädchen in weit voneinander entfernten Gebäuden schliefen, erleichterten uns die disziplinarische Aufsicht. Der "öffentliche" Charakter der Schlafräume verhinderte Versuchungen, zum anderen Geschlecht in intimere Beziehungen zu treten. Daß sich dieses Problem des Zusammenlebens sozusagen mechanisch löste, war uns nur zum Teil recht, wurde uns doch eine ganz wesentliche Möglichkeit der Auseinandersetzung mit den Teilnehmern dadurch genommen. Grundsätzlich war uns daran gelegen, Probleme des Zusammenlebens zwischen den Teilnehmern zum Ausbruch kommen zu lassen, oder sie mindestens nicht durch eine konstruierte Lösung zu verhindern.
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Schwerwiegender war, daß die Schlafräume wegen ihres Massencharakters keine individuelle Gestaltung seitens der Jugendlichen zuließen.
3) Dafür ließ wiederum die Innenarchitektur der übrigen Räume Platz. Vorgegeben war eine streng sachliche und nüchtern-zweckhafte Einrichtung: Kahle, einfarbige Wände, das Mobiliar auf Tisch und Stuhl reduziert. Sollte ein Raum in einen gemütlichen Festraum verwandelt werden, so ließ die Architektur grundsätzlich die Möglichkeit dazu, schränkte sie aber insofern gleich wieder sinnvoll ein, als sie eine Reihe allzu phantastischer Möglichkeiten der Raumgestaltung ausschloß. Die moderne Architektur hatte Formprinzipien vorgegeben, und eine Veränderung war ästhetisch nur möglich unter Wahrung dieser Prinzipien. Im Gegensatz zur oft üblichen Ausgestaltung architektonisch schlechter Jugendräume durch Verwendung einer Unmenge bunten Papiers - was letztlich wohnästhetische Vorstellungen eher zerstört als hervorruft - war hier die Veränderung der Räume von vornherein auf bewußte Reflexion über "schön" und "nicht-schön" angewiesen.
4) Auch der hauswirtschaftliche Bereich wurde zu einem pädagogischen Faktor. Er prägte einen wesentlichen Teil des Umgangsstiles mit. Infolge der wirtschaftlichen Größenordnung - bei Häusern mit mehr als 70 Betten wäre das schon technisch unmöglich - konnten die Mahlzeiten gelegentlich "privatisiert" werden. Dann waren die Teilnehmer in den Privaträumen der Mitarbeiter zu Gast und erhielten so durch das Beispiel der Mitarbeiter einige Hinweise für den "kultivierten Umgang". Oder eine Abendmahlzeit wurde in einen Festabend einbezogen.
Voraussetzung für eine solche Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit der Hauswirtschaft war allerdings, daß nur ein Kurs gleichzeitig im Hause war - was auch immer ohne Rücksicht auf die Rentabilität durchgesetzt wurde. Im Begriff der Rentabilität
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wird der Widerspruch von pädagogischer Intention und gesellschaftlichem Charakter der Institution immer wieder offenkundig. "Rentabel" planen hieß, möglichst hohe Telnehmerzahlen erreichen und die Kapazität von 60 Betten möglichst ausnutzen. Das hätte Parallelbelegung bedeutet und damit das Haus und seine Möglichkeiten in den Bereich der bloßen Mittel verwiesen. Hier wurde immer zugunsten der pädagogischen Intention entschieden, nicht unerhebliche finanzielle Verluste mußten in Kauf genommen werden.
3.) Die Mitarbeiter
Daß die geistige und soziale Gesamthaltung des Pädagogen als didaktischer Faktor in die pädagogische Arbeit eingeht, ist nicht mehr zu bestreiten. Weniger geklärt ist allerdings die Frage, in welch besonderer Weise diese Haltung jeweils bestimmend wird. Die soziologische und sozialpsychologische Forschung hat eine Reihe von Faktoren ermittelt, die geistige Einstellung und Verhalten bestimmter Lehrergruppen ohne Rücksicht auf die je individuelle Ausprägung so sehr vereinheitlichen, daß von einem "Typ" gesprochen werden kann(2). Mindestens soziale Herkunft, Art und Weise des Ausbildungsganges, sowie durch den sozialen Status motivierte Zielsetzungen wären als Faktoren zu nennen.
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In der außerschulischen Jugendarbeit gibt es keine einheitliche Regelung für die Vorbildung der Mitarbeiter. Deshalb ist das Bild ungemein bunt. Selbst die sogenannte "Sozialarbeiterausbildung" ist hinsichtlich des Lehrplans und der Leistungsanforderung in den einzelnen Ländern recht unterschiedlich. Zudem ist diese Ausbildung grundsätzlich umstritten. Sie ergibt kein klares "Berufsbild" und vermittelt deshalb auch kein rechtes berufliches Selbstbewußtsein. Mitarbeiter mit abgeschlossenem Universitätsstudium oder Abschluß der pädagogischen Hochschule finden sich selten. Nach dem Kriege strömten zahlreiche Männer und Frauen in diesen Beruf, die das Kriegserlebnis und das Erlebnis des faschistischen Schreckens zum Umgang mit der neuen Generation trieb. Sie bauten zum Teil unter großen persönlichen Opfern die Jugendarbeit nach dem Kriege auf, wurden dann aber von der jüngeren Generation, die Ausbildungsabschlüsse nachweisen konnte, bald überspielt und gerieten in ein einseitiges berufliches Abhängigkeitsverhältnis, weil sie wegen ihres Alters und dem fehlenden Ausbildungsnachweis sich keine berufliche Alternative mehr verschaffen konnten. Manche Bundesländer richteten Lehrgänge ein, wo ein solcher Ausbildungsabschluß nachgeholt werden konnte. Diese Gruppe fühlt sich leicht als beruflich "gescheitert", und dieses Gefühl geht oft in das berufliche Selbstverständnis ein. Aber auch bei den ausgebildeten Fachkräften ist das öffentliche Ansehen des Berufes so gering, daß sie ihren Trägern und den öffentlichen Verwaltungen gegenüber selten sich durchsetzen können. Das Bewußtsein solch einseitiger Abhängigkeit wird leicht durch eine Ideologie der "pädagogischen Eigentlichkeit" kompensiert, die sich nicht zufällig von der Antinomie von Pädagogik und Verwaltung nährt. Soziales Ansehen, das nach außen hin nicht zu haben ist, wird verinnerlicht und mit ganz be-
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stimmten Erziehungsvorstellungen ausgestattet, die das "Außen" als die auch für den. Zögling feindliche Welt abwerten.
Charakteristisch für diese Mitarbeitergruppen ist die gesellschaftliche Isolierung. Sie haben im allgemeinen weder Kontakt mit der Universität, noch mit der pädagogischen Hochschule oder mit den Schulen. Deshalb kommen auch Fortschritte der erziehungswissenschaftlichen Diskussion entweder gar nicht oder nur auf langen Umwegen an sie heran. Wo Kontakte mit anderen erziehungs- und wissenschaftlichen Institutionen bestehen, sind sie auf einige wenige vermittelnde Personen beschränkt und durchaus die Ausnahme.
Eine wichtige Rolle spielen die ehren- und nebenamtlichen Mitarbeiter. Auch sie haben maßgeblich zum Aufbau der Jugendarbeit nach dem Kriege beigetragen. Sie haben aber vielfach auch außer ihrem guten Willen und der persönlichen Opferbereitschaft wenig Sachverständnis in die pädagogische Arbeit einzubringen.
Auch hier sollen die wenigen allgemeinen Hinweise genügen, um zu zeigen, daß keine einzige Erziehungswirklichkeit der außerschulischen Jugendarbeit ohne jeweils genaue Analyse der Mitarbeitersituation geschehen kann.
Für die Arbeit in Steinkimmen standen nur zwei hauptamtliche pädagogische Kräfte zur Verfügung, der Leiter und ein Dozent für politische Bildung. Beide hatten ein abgeschlossenes Universitätsstudium. Solche Personalbesetzung war für die Durchführung der staatsbürgerlichen Jugendtagungen unzureichend, - abgesehen davon, daß die hier geschilderte Tagungsarbeit nur einen Teil der pädagogischen Aufgaben der Institution darstellte. Um diesen Mangel auszugleichen, wurden Universitätsstudenten zur Mitarbeit herangezogen. Der Einsatz von Studenten in der außerschulisehen
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Jugendarbeit war aus ähnlichen Überlegungen schon an anderen Stellen üblich geworden(3). In all diesen Fällen blieb es offensichtlich nicht bei isolierten Mitarbeiter-Verhältnissen, vielmehr ergab sich überall sehr bald eine ausgeprägte Gruppenstruktur der studentischen Mitarbeiter. Da solche Gruppierungen auch immer Gruppenmeinungen, d.h. einen gewissen Consensus des Selbstverständnisses entwickeln, sei dieser Gruppenprozeß für unseren Fall näher beschrieben. Hingewiesen sei ferner darauf, daß eine solche Gruppenbildung, wenn sie einmal erfolgt ist, auch immer die Wahl neuer Mitarbeiter mitbestimmt. In einem bestimmten Stadium des Prozesses werden nur noch Personen mit ganz bestimmten Einstellungen zum gemeinsamen Ziel aufgenommen. Bestimmte pädagogische Möglichkeiten scheiden aus zu Gunsten der in einer solchen Gruppe entwickelten Konzeption. Und von diesem Zeitpunkt an fühlen sich eine Reihe von potentiellen Mitarbeitern ausgeschlossen, ohne daß eine Absicht darin zum Ausdruck kommen müßte. Im Prozeß der Gruppenbildung eines solchen Mitarbeiterkreises vollzieht sich also immer auch eine Entscheidung für und gegen bestimmte Zielsetzungen der Aufgabenstellung. Damit unterscheiden sich solche Mitarbeitergruppen prinzipiell von anderen, wie sie etwa in manchen Bereichen der Erwachsenenbildung bekannt sind.
Der wichtigste Grund für die Gruppenbildung liegt nicht etwa in einer irgendwie gearteten "studentischen Mentalität" begründet, sondern in der Tatsache, daß die studentische Mitwirkung sich immer auf einen längeren Zeitraum erstreckte. Ein Referent, um das Gegenbild zu zeichnen, der vielleicht nur zu einem Referat mit anschließender Diskussion erscheint, wird kaum mit anderen Dozenten in eine Gruppensituation geraten.
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Auch. in unserem Falls wirkten die Studenten ganzzeitig mit, also je nach Länge der Tagungen 5-14 Tage. Auf diese Weise fand sich für jede Tagung ein studentisches Mitarbeiterteam von 3-5 Studenten. Die Kombination der Teams wechselte von Tagung zu Tagung. Dennoch waren die Zeiträume groß genug, daß sich jene schon angedeutete Gruppenmeinung entwickeln konnte.
Die Gruppe entstand in den Jahren 1955/56 durch die Initiative einiger Studenten auf Tagungen der Erwachsenenbildung. Ursache des Entstehens war zunächst gar nicht eine pädagogische Zielsetzung, sondern die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen des Marxismus und Kommunismus. In jenen Jahren wurde diese Frage deshalb akut, weil damals die Regierung der DDR noch ausgesprochen "begegnungsfreudig" war und sich von Begegnungen mit westdeutschen Jugendlichen eine politische Einflußnahme versprach. An den westdeutschen Universitäten war damals eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kommunismus so gut wie unbekannt, und es gab nur wenige Hochschullehrer, die sich damit beschäftigt hatten.
Die studentische Gruppe, die sich zunächst "Studienkreis für West-0st-Fragen" nannte, organisierte wissenschaftlich orientierte Tagungen für Studenten, zu denen die besten wissenschaftlichen Kenner des Marxismus als Referenten geladen wurden. Eigene Arbeiten wurden angefertigt und auf diesen Tagungen zur Diskussion gestellt. Sehr bald galt diese Gruppe als in Marxismusfragen gut informiert, und ihre Mitglieder wurden von den verschiedensten Organisationen als Lehrkräfte der politischen Bildung gebeten. Zum anderen suchte die Gruppe planmäßig den Kontakt mit kommunistischen Studenten der DDR, um die neuen Erkenntnisse über den Kommunismus "auszuprobieren". In den Auseinandersetzungen mit den jugendlichen Kommunisten formte sich sehr bald das
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politische Engagement der Gruppe. Als im Jahre 1957 das Schulkollegium in Münster für Oberstufenschüler höherer Schulen außerschulische Tagungen in Vlotho einrichtete, konzentrierte sich die pädagogische Tätigkeit der Gruppe auf dieses neue Projekt. Zur gleichen Zeit wurden seitens der DDR die Begegnungen mit westdeutschen Jugendlichen als erfolglos eingestellt. Die nun notwendig werdende Neuorientierung in der Gruppe führte zur ersten großen Gruppenselektion. Sie wurde nämlich nur von etwa 2/3 der damals etwa 50 Mitglieder mit vollzogen. Die anderen schieden danach aus. Bald danach änderte die Gruppe ihren Namen in "Studienkreis für politische Bildung" um. Sie wurde dann zu einem Mitarbeiterkreis für die staatsbürgerlichen Jugend-Tagungen in VIotho und Steinkimmen. Für die Leitung der Tagungen hatte das Schulkollegium in Münster einen Studienassessor beurlaubt. War in der damaligen Schulpraxis die Didaktik und Methodik der politischen Bildung noch ein völlig offenes Feld, so erst recht in der außerschulischen Bildungsarbeit. Es gab keine didaktischen und methodischen Vorlagen, an denen sich die Arbeit orientieren konnte. Die Modelle mußten erst durch die ständige Kritik der eigenen Praxis geschaffen werden. Ohne die schon beschriebene Gruppenbildung der studentischen Mitarbeiter wäre eine solche Konzeptbildung gar nicht möglich gewesen. Andererseits wurde sie von Anfang an geprägt durch die Spannung zwischen den einem wissenschaftlichen Verständnis der politischen Gehalte verpflichteten Studenten und dem didaktisch versierten Schulmann. In dieser Ausgangslage war schon das kollegiale Team-Verhältnis zwischen Lehrer und Studenten vorgegeben. Dem Lehrer wurde als dem Verantwortlichen die letzte Entscheidung zugestanden, aber erwartet, daß er sie gegenüber den studentischen Mitarbeitern rückhaltlos zur Diskussion stellte.
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In einem gewaltigen Aufwand an "Binnen-Kontakt" - die theoriebildenden Konferenzen mussten nachts stattfinden - wurde schließlich über Jahre eine pädagogische Konzeption erarbeitet. Je mehr sich diese Konzeption formulierte, um so stärker bildete sich wiederum eine Gruppenmeinung heraus. Dieser Prozess führte schließlich dazu, dass in 6 Jahren nur insgesamt 50 Studenten sich an der pädagogischen Arbeit beteiligten, obwohl der Kreis inzwischen nach dem Studienabschluss der Gründergruppe seine "zweite Generation" hat.
Auch bei der Nachwuchsgewinnung wirkte sich die Bewußtseinsstruktur der Gruppe aus. Sie kam durch persönliche Werbung an den Universitäten zustande sowie durch die Gewinnung ehemaliger Oberschüler, die früher an den Tagungen teilgenommen hatten und sich später im Studium wieder meldeten. Dass dieses Gruppenbewusstsein doch nicht doktrinär wurde, sondern neuen Problemen gegenüber offen blieb, lag wesentlich daran, dass die Studenten nach einer Tagung wieder an ihre Universität zurückkehrten, deren wissenschaftliche Maßstäbe die pädagogische Konzeption immer wieder neu in Frage stellten.
Als der Verfasser diesen Mitarbeiterkreis seit 1960 auch in seinem Tätigkeitsbereich einsetzte, hatte sich in der jahrelangen pädagogischen Arbeit mit Oberstufenschülern höherer Schulen bereits eine feste Gruppenvorstellung darüber gebildet, was politische Bildung sei. Sie wurde allerdings erheblich in Frage gestellt, als es dann galt, auch mit Lehrlingen des 1.-3. Lehrjahres politisch-bildende Tagungen durchzuführen. Es spricht für die geistige Beweglichkeit des Kreises, dass er an dieser Aufgabe trotz vieler Fehlschläge letztlich nicht scheiterte.
Es wäre noch auf die Binnenstruktur dieser studentischen Gruppe hinzuweisen. Sie kannte keine feste Mitgliedschaft. Geleitet wurde sie durch ein Gre-
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mium von 7 Studenten, das sich bei Ausscheiden durch Kooptation ergänzte. Dieses Gremium plante die Mitarbeitertagungen und musste sich dort der Kritik der Gruppe stellen. Die beiden Leiter der Institutionen waren ex officio stimmberechtigte Mitglieder dieses Gremiums. Diese scheinbar undemokratische, aber in Wirklichkeit der informellen Gruppe angemessene Regelung hatte erhebliche Vorteile. Sie entlastete die Studenten von einer technischen und organisatorischen Verantwortung, die sie nicht interessierte. Außerdem gab sie der Gruppe jenes Mindestmaß an Stabilität, das bei ständigem Wechsel der Personen unerläßlich war. Da der Arbeitsausschuss über keine Finanzen verfügte, erwies sich schließlich eine genauere Kontrolle seiner Tätigkeit als sinnlos.
Mindestens einmal im Jahre wurde eine Mitarbeitertagung durchgeführt, die ausschließlich wissenschaftlich orientiert war. Während in den ersten Jahren Themen der Marxismuskunde im Mittelpunkt standen, lag später der Akzent stärker auf außen- und innenpolitischen Fragestellungen. Die Programme dieser Tagungen unterschieden sich vom normalen Universitätsstudium dadurch, dass sie interfakultätiv ausgerichtet waren. Vertreter mehrerer Einzelwissenschaften referierten zum Tagungsthema. Außerdem hielten immer zwei bis drei Mitglieder Referate.
Die Motive der Studenten für den Tagungsbesuch waren zum Teil denen ähnlich, die auch die Jugendlichen zum Besuch veranlasste. Vor allem suchten auch die Studenten in der Tagung eine Gelegenheit, wissenschaftliche Meinungen in der Diskussion mit den anderen auszuprobieren. Die beliebteste Form dafür war das Thesenreferat. Im Gegensatz zum Seminar an der Universität konnte man hier noch nicht zu Ende Gedachtes zur Diskussion stellen in der Erwartung, dass die anderen schon für die notwendigen Korrekturen sorgen würden. Auch die zu einem Referat gebetenen Hochschullehrer sollten in die Informali-
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tät der Tagung einbezogen und veranlaßt werden, nicht nur ihre wissenschaftlichen Kenntnisse, sondern auch ihr Engagement und ihre Meinung zur Diskussion zu stellen.
Voraussetzung dafür war allerdings, daß die Tagung selbst vor dem Druck der Öffentlichkeit geschützt wurde. So wurden die Tagungen nicht öffentlich ausgeschrieben und auch mit der Veröffentlichung von Protokollen war man sehr zurückhaltend. Aus all dem geht hervor, dass sich diese Mitarbeitertagungen nicht als Repräsentativ-Veranstaltungen gegenüber der Öffentlichkeit verstanden. Jeder, auch der als Gast geladene Hochschullehrer, konnte sicher sein, daß sein Beitrag "nichtöffentlich" blieb. Interessanterweise empfanden auch viele Hochschullehrer die Möglichkeit, Gedanken und Meinungen ohne soziales Risiko auszuprobieren, als wohltuend und stellten sich deshalb der Gruppe wiederholt zur Verfügung. Diese Eigenerfahrung der Gruppe war maßgebend für das pädagogische Konzept der Tagung mit Jugendlichen, das später darzustellen sein wird.
Die sich aus den Besonderheiten dieses Mitarbeiterkreises ergebenden Konsequenzen für das Erziehungsgeschehen lassen sich wie folgt zusammenfassen.
1) In den studentischen Mitarbeitern erweiterte sich die Freiwilligkeit der Teilnahme von den Teilnehmern auf die Lehrenden. Weder berufliche Erwartungen - die Mitarbeit war eher eine Behinderung des Studienabschlusses - noch finanzielle Interessen waren bestimmende Motive für die Mitwirkung. Die Studenten traten also den Teilnehmer ohne klaren gesellschaftlichen Status und Auftrag entgegen. Dies gab ihnen gegenüber den Jugendlichen gerade im Zusammenhang der politischen Bildung einen erheblichen Vertrauensvorschuß und erleichterte den Lehrkontakt. Die Gefahr war, daß auf diese Weise auch die mit dem Ausfüllen einer institutio-
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nellen Rolle verbundene spezifische Verantwortlichkeit entfiel. Die Mitarbeiter der Institution, also die Hauptamtlichen,. mußten hier ausgleichend wirken. In einem sehr subtilen Sinne waren die Studenten ''verantwortungslos": sie hatten nur ihren Sachverstand und ihre Haltung in das Unterrichtsgeschehen einzubringen.
Die Teilnehmer sahen die studentischen Mitarbeiter anders als die Hauptamtlichen. Den Hauptamtlichen begegneten sie in relativ großer Distanz. Die Studenten standen ihnen näher, und in der Regel öffneten sich die Jugendlichen ihnen gegenüber vorbehaltlos. Die Hauptamtlichen dagegen waren für sie zunächst offenbar die Repräsentanten gesellschaftlicher Ansprüche, deren Wissen und Erfahrung sie sich gerne mitteilen ließen, denen sie aber meist nicht ihre persönlichen Sorgen anvertrauten.
2) Für die Studenten war die pädagogische Tätigkeit nur eine Rolle unter vielen. Dominierend blieb das Studium. Von der Universität brachten sie ständig neue Fachkenntnisse sowie eine umfangreiche Materialkenntnis mit, wie sie keinem hauptamtlichen Pädagogen mehr zur Verfügung stehen kann. So verhinderten sie immer wieder eine Dogmatisierung der Konzeption. Andererseits waren sie an der Konzeption immer nur partiell beteiligt. Die Last, neue pädagogische Erfahrungen in die alten zu integrieren, und damit den Fortschritt der pädagogischen Arbeit zu sichern, verblieb letztlich bei den Hauptamtlichen, die bei jeder Tagung das neue Team erst einmal über den bisherigen Stand informieren mussten. Damit wird deutlich, daß in dieser Mitarbeiterkonstruktion eine grundsätzliche Grenze liegt, die nicht überschritten werden kann. In diesem Punkte wird auch zum ersten Mal die Grenze der Übertragbarkeit unseres Modells sichtbar(3). Die Studenten waren überdurchschnittlich begabt und fachwissenschaftlich engagiert. Sie vertraten ihre "Sache" und ließen sich immer nur mit Wider-
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streben auf pädagogische Argumentationen ein. Das hatte zwei Vorteile. Einmal war dadurch von Anfang an die pädagogische Praxis nicht mit einer theoretischen Belastung verbunden, wie sie insbesondere die Diskussion der politischen Pädagogik in den Schulen behinderte. Zweitens widersetzten sie sich einer pädagogisch motivierten unerlaubten Simplifizierung der Sachverhalte. Ihr konsequentes Eintreten für den rationalen Aspekt politischer Bildung ist aus der pädagogischen Konzeption nicht wegzudenken und zwang die Pädagogen immer wieder zur Präzisierung ihrer spezifischen Gesichtspunkte. Diese fruchtbare pädagogische Naivität wurde aber in dem Außenblick zum Problem, wo der dynamische Umgang mit den Teilnehmern und der Sache nachließ, weil das Studium mehr Zeit in Anspruch nahm oder auch, weil man "zu lange dabei war". Dann griff Routine um sich. Routine, das unausweichliche Schicksal aller hauptberuflichen Pädagogik, war aber wegen der mangelnden didaktisch-methodischen Ausbildung nicht zu verantworten. Zum Glück regelte sich dieses Problem meistens dadurch von selbst, daß solche Studenten aus Studien- bzw. Berufsgründen ohnehin aus der Arbeit ausscheiden mußten. Aus diesem Grunde ist die Fluktuation der Mitarbeiter unbedingt notwendig.
4) Die Studenten kamen aus allen einzelwissenschaftlichen Disziplinen. Dadurch ergab sich für die pädagogische Theoriebildung von vornherein der "interfakultative" Aspekt. Eine vorschnelle Gleichsetzung von politischer Bildung und einer bestimmten Einzelwissenschaft wurde dadurch verhindert. Diese Zusammensetzung hat vor allem die Vorstellungen über die Inhalte der politischen Bildung entscheidend geprägt.
5) Die Studenten fühlten sich selbst noch als Lernende im weitesten Sinne. Sie sahen deutlich, daß sie auf den Tagungen nicht nur die Gebenden, sondern
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auch die Nehmenden waren. Die neue Sozialerfahrung der Tagung wirkte nicht nur auf die Intensität, sondern vor allem auch auf die Fragerichtung ihres Studiums zurück und gab ihm oft gerade erst seinen subjektiven Sinn. Das Bewußtsein davon war für die Studenten entscheidendes Motiv ihrer Mitarbeit.
4.) Die Teilnehmer
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob in der außerschulichen Jugendarbeit die Teilnehmer - nämlich "Jugendliche" - vorweg bekannt seien und keiner eigenen Untersuchung bedürften. Die neuere Jugendforschung zeigt aber, daß "Jugendlich-Sein" ein viel zu allgemeines Merkmal ist, als daß es für eine pädagogische Analyse ausreichen könnte. Merkmale der Erwachsenen-Welt, z.B. sozialer Status und Bildungsstand, können wichtiger sein als bloßes Jung-Sein.
Wir wissen, daß die Jugendbewegung überwiegend eine Angelegenheit der "bürgerlichen" Jugend gewesen ist. Auch heute werden Maßnahmen der außerschulischen Jugendarbeit keineswegs von einem repräsentativen Querschnitt der Jugendlichen besucht. Die Beobachtung zeigt, daß bestimmte Inhalte, wie etwa "musische Bildung", immer noch überwiegend Oberschüler und überwiegend Mädchen ansprechen. Auch die Form der Jugendarbeit wählt bestimmte Jugendliche aus. Die einen neigen zu einer festen Mitgliedschaft in einer Jugendgruppe, andere ziehen "informelle" Formen vor, wieder andere lehnen die Jugendarbeit pauschal ab. Da, wie wir sahen, die freien Träger der Jugendarbeit auf einen gewissen zahlenmäßigen Erfolg angewiesen sind, beeinflussen also die teilnehmenden Jugendlichen nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage die Inhalte und Formen der pädagogischen Arbeit. Aber auch die Umkehrung gilt: Bestimmte Inhalte und Formen auf der "Angebotsseite" werben ganz bestimmte Jugendliche auf der "'Nachfrageseite". Für die Deutung einer bestimmten Erziehungswirklichkeit
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ist aber darüber hinaus ebenso wichtig zu wissen, welche Jugendlichen aus welchen Gründen nicht an ihr teilnehmen. Weder die Gründe der Teilnahme oder deren Nicht-Teilnahme, noch auch der Rückwirkung auf die übrigen Faktoren unseres Modells sind generell zu benennen.
Drei Gruppen von Jugendlichen, die sich sowohl hinsichtlich der allgemeinen Erwartungen gegenüber der Tagung sowie vor allem hinsichtlich ihrer Grundeinstellung zur Thematik zum Teil erheblich voneinander unterschieden, waren Partner unserer Tagungen. Gemeinsam für alle drei Gruppen gilt eigentlich nur die Tatsache, daß es sich um Jugendliche zwischen 15 und 21 Jahren handelte. Über diese Feststellung hinaus müssen wir, um den "Teilnehmerfaktor" als didaktische Größe zu beschreiben, jede Gruppe gesondert untersuchen(4).
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a) Oberschüler
Die Oberstufenschüler höherer Schulen kamen einzeln oder in kleinen Gruppen aus einzelnen Schulen während der Schulzeit. Sie wurden geworben durch eine ausführliche Tagungseinladung, aus der die Themen der Referate und Arbeitsgruppen deutlich zu entnehmen waren. In der Regel setzte sich die zehntägige Tagung aus etwa 40 Oberschülern aus etwa 15-20 Oberschulen zusammen. Die Einladungen gingen an die Schulleitung und die Beurlaubung erfolgte entweder durch die Schulleitung oder durch die Einschaltung des Schulsprechers. Für die Zeit ihres Aufenthaltes wurden diese Teilnehmer durch das Institut gegen Unfall, Krankheit und Haftpflicht versichert. In der Regel betrug der Anteil der Mädchen ein Drittel, so daß der gesellige Umgang auf der Tagung von der Spannung der Geschlechter ausgehen konnte.
Diese Teilnehmergruppe war nicht fest strukturiert. Nur wenige, meistens die aus derselben Schule, kannten sich, und das Interesse an der Kommunikation mit denen, die man noch nicht kannte, war erheblich. Der Erfahrungsaustausch über schulische Probleme gab den ersten Gesprächsstoff ab. Diese beiden Bedingungen, ausgewogenes Verhältnis von Jungen und Mädchen und das Fehlen einer festgelegten Gruppenstruktur, boten optimale soziale Voraussetzungen für die Tagung. Folgende Hauptmotive
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für den Besuch der Tagungen konnten wir bei den Oberschülern beobachten.
Manche kamen unzweifelhaft vor allem deshalb, weil sie gern einmal aus der Schule verschwinden wollten. Angesichts der zunehmenden Leistungsanforderungen in den Schulen nahm diese Gruppe aber zusehends ab. Das Risiko, in der Schule durch Fehlen zurückzufallen, wurde klar gesehen und überwog den Wunsch, sich ihrem Leistungsdruck einmal für kurze Zeit entziehen zu können. Die meisten waren entweder an einem bestimmten Thema, das den Einladungen entnommen war, oder allgemein an der politischen Thematik interessiert. Oft betraf das Interesse ein spezielles Thema, über das man in der Schule zu arbeiten hatte. Mit diesen Motiven vermischten sich in den meisten Fällen die Mundpropaganda von Schülern, die bereits auf einer Tagung gewesen waren und denen es so gut gefallen hatte, daß sie ihre Mitschüler darauf aufmerksam machten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Motive für den Besuch der Tagung, wie immer sie im einzelnen zusammengesetzt sein mochten, den Absichten der politischen Bildung im allgemeinen entgegenkamen.
Interessanter als der Hinweis auf die Motive ist die Berücksichtigung der Tatsache, daß sich offensichtlich kein repräsentativer Querschnitt der Oberschüler auf den Tagungen einfand. Es dominierten bestimmte Typen. Zunächst handelte es sich um besonders intelligente Schüler, deren schulisches Weiterkommen nicht problematisch war. Für diese Auswahl sorgten schon die Schulleitungen bei der Beurlaubung, da ja die Beurlaubung schwacher Schüler während der Schulzeit nicht zu vertreten gewesen wäre. Sehr häufig fanden sich Schüler ein, die in ihrer Klasse als "überspannt" galten. Ihr hohes intellektuelles Niveau konnte in der Schule nicht befriedigt werden und hatte sich teilweise deshalb mit Ressentiments besetzt. Dazu kamen "Spezialisten"
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auf irgendeinem Sondergebiet der politischen Bildung. Sie brachten die Mitarbeiter durch ihre vielfältigen Tatsachenkenntnisse, die aber meistens nicht zur Urteilsbildung führten, gelegentlich in Verwirrung. Auch sie kamen mit ihrem "Hobby" in der Schule meist nicht zum Zuge. Außerdem fanden sich recht zahlreich Mitarbeiter der SMV ein, die auf der Tagung neue Einsichten und praktische Hilfen für ihre Tätigkeit gewinnen wollten. Zwischen ihnen und den intellektuellen Individualisten kam es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen. Schließlich schickten einige befreundete Schulen gelegentlich intelligente, aber kontaktschwache und mit persönlichen Schwierigkeiten belastete Einzelschüler in der Hoffnung, daß die sozialisierenden Wirkungen der Tagung ihnen helfen könnten.
Aus diesen wenigen Hinweisen läßt sich bereits vermuten, daß diese Teilnehmer der Institution mit hohen Ansprüchen gegenübertraten. Dabei handelte es sich tatsächlich jedoch um eine Wechselwirkung: Der Anspruch dieses Tagungstyps hatte sich sehr bald in den Schulen herumgesprochen und wählte nun weitgehend jene Schüler aus, die unserem Angebot ein entsprechendes Bedürfnis entgegenbrachten. Kamen die Beweggründe das Tagungsbesuches im allgemeinen den Absichten der politischen Bildung entgegen, so erwiesen sich bestimmte Einstellungen der Oberschüler zum Politischen als recht hinderlich. Daß diese Einstellungen keineswegs aus allgemeinen jugendpsychologischen Determinanten zu erklären sind, sondern wohl eher aus den spezifischen Bedingungen des Bildungsganges, verrät der Vergleich zu den gleichaltrigen Lehrlingen.
a) Die wertende moralische Einstellung der Oberschüler gegenüber der Politik war vorwiegend abstrakt-moralisch. Sie stellten der Politik abstrakte Wertungen wie "Gerechtigkeit" und "Gemeinwohl" gegenüber. Entsprach die politische Wirklichkeit nicht diesem rigoristischen Anspruch. - was sie ihrer Natur nach
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nicht kann, - galt es fast als intellektuell unanständig, sich noch dafür zu interessieren. Im konkreten Feld politischer Entscheidungen zwischen "besser" und "schlechter" abzuwägen, war ihrem Bewußtsein zu aufwendig, das sich lieber dem abstrakten "gut" oder "böse'' zuwandte.
b) Die analytische Einstellung war logisch-kausal und damit alternativ. Aus der Erklärung etwa, dass alle modernen Großgesellschaften notwendig auf Propaganda zur Erzielung politischer Willensbildung angewiesen seien, schlossen sie "logisch", dass dann eben Bundesrepublik und DDR unter den gleichen Begriffen zu subsumieren seien. Daß politische Einsicht es wesentlich mit den Differenzierungen zu tun habe, hätte ein anderes Denkmodell vorausgesetzt, nämlich das der Interdependenz. Soweit wir das beurteilen können, ist diese Haltung insbesondere durch ein undifferenziertes "Totalitarismus-Modell" bestärkt worden, das völlig verschiedene politische Wirklichkeiten auf einen gleichen Nenner bringt, von dem dann nur noch der bloße Begriff ins politische Denken eingeht. Auch alle didaktisehen "Demokratie-Diktatur-Konstruktionen" haben diese Einstellung gefördert. Dazu gehört auch die Neigung zu einsinnigen historischen Ableitungen. Die heutige Sowjetunion etwa wird unter den Gesichtspunkten interpretiert, die für die russische Revolution zweifellos noch von besonderer Wichtigkeit waren.
c) Um die ideierte Geschlossenheit ihres politischen Weltbildes zu erhalten, unterschieden sie immer zwischen "konstruktiver" und "destruktiver" Kritik. Erwies sich in der Diskussion, daß eine bestimmte Werteinstellung dem Politischen gegenüber nicht zu halten war, waren sie mit geradezu beängstigender Schnelligkeit bereit, ihn durch einen "besseren" zu ersetzen, sofern damit die Geschlossenheit der Weltvorstellung unangetastet blieb. Für sie war
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gewissermaßen die Welt mit einem Markt von Werten ausgestattet, deren sich das autonome Individuum willkürlich bediente. "Konstruktive Kritik" wäre z.B. auch gewesen, wenn man Gott als Begründer des Seins durch die marxistische "Materie" ausgetauscht hätte. "Destruktiv" hingegen empfanden sie zunächst immer das, was wir taten: Politische Ganzheitsvorstellungen überhaupt zu vermeiden und statt dessen die kritische Reflexion am Detail zu üben.
d) Ihrem Denken lag das anthropologische Vorurteil einer grundsätzlich von historischen und gesellschaftlichen Bedingungen unabhängigen "Persönlichkeit" zu Grunde. Sie verstanden sich selbst nicht gesellschaftlich bedingt, sondern als Kraft ihres Geistes über der Gesellschaft stehend und die kulturellen Angebote aus ihr auswählend. Dieses "Menschenbild" erhielt gelegentlich eine biologistische Ausprägung, als sei die Konstitution des Menschen letztlich statisch-naturhaft. Diese Einstellung führte u.a. su einem verdeckten Antisemitismus, der sich ganz selten affektiv äußerte, dafür aber um so stärker in Meinungen über die naturhafte Determination jüdischer Menschen ("Händler"). Die Tatsache großer jüdischer Geister, die in dieses Modell nur scheinbar nicht hineinpaßte, nahmen sie mit der Interpretation hin, daß in diesen Fällen eben der Aufschwung des Geistes über die triebhafte Natur gelungen sei.
e) Die Verbindung zwischen den abstrakten politischen Normen und Begriffen und damit einen gewissen Bezug zur politischen Wirklichkeit lieferten kulturkritische, vor allem massenpsychologische Klischees. Gegenüberstellungen wie "Bildung" und "Massenkultur", "Kultur" und "Zivilisation", "Individuum" und "Staat" beherrschten die Wirklichkeitsvorstellungen.
Alle diese Einstellungen (5) waren einer politischen
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Unterrichtung hinderlich, die sich an den tatsächlichen politischen Konflikten zu disziplinieren suchte. Sie hatten außerdem zur Folge, daß wir in unseren eigenen didaktischen Überlegungen den politischen Aktualitäten und der Kategorie der "Situation" so große Bedeutung beimaßen. (6)
b) Lehrlinge.
Im Gegensatz zu den Oberschülern kamen die Lehrlinge nicht einzeln auf Grund einer besonderen Einladung, sondern als geschlossenes Lehrjahr einer Firma. Die zuständigen Ausbilder kamen mit, hatten hier aber keine Aufsichtsfunktion. Die Größe einer solchen Gruppe schwankte zwischen 20 und 40 Teilnehmern, die Tagungsdauer betrug 14 Tage. Das Institut hatte mit einigen größeren norddeutschen Firmen Absprachen getroffen, nach denen jedes Lehrjahr an einer solchen Tagung teilnimmt. Als sich diese Regel eingespielt hatte, kamen also die Lehrlinge während ihrer dreijährigen Ausbildung dreimal für 14 Tage ins Haus. Daraus ergaben sich zwei Bedingungen für die Tagungsarbeit: Einmal handelte es sich hier um geschlossene Gruppen mit einer weitgehend festliegenden Rollenverteilung. Ein besonders intensives Interesse an der Kommunikation mit den anderen konnte also nicht von vornherein bestehen. Im Gegenteil, die Reaktionsweisen des Einzelnen waren durch die Gruppenstruktur weitgehend festgelegt, vom tonangebenden Wortführer bis zum "Spaßmacher". Hier mußten also Maßnahmen getroffen werden, um die Gruppenstruktur zu sprengen und Möglichkeiten neuer Kommunikationen zu schaffen. Das Mittel dazu war die Einrichtung neuer Gruppen. Zum anderen brachten diese Gruppen keine oder nur einige wenige Mädchen mit. Es mußte also geklärt werden, wodurch der gesellige Umgang in der Tagung geprägt werden sollte und konnte. Das Interesse der Betriebe an dieser Arbeit war ein doppeltes. Einmal war die Einsicht bestimmend, daß
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neben die betriebliche Ausbildung eine Allgemeinbildung treten müsse, die der Betrieb selbst nicht übernehmen könne und dürfe. Zum anderen betrachtete der Betrieb die Beurlaubung der Lehrlinge ohne weiteren Anspruch auf die Tagungsgestaltung als einen Bestandteil seiner innerbetrieblichen Personalpolitik, um die besten Lehrlinge nach der Ausbildung im Betrieb zu behalten. Folgende Motive für den Besuch unserer Tagungen ließen sich bei den Lehrlingen feststellen:
1) Für die Lehrlinge waren die Tagungen eine Form des Sonderurlaubs von ihrer Beanspruchung in der Ausbildung. Im Gegensatz zu den Oberschülern, die überwiegend deshalb kamen, weil ihre Bildungsinteressen in der Schule nicht genügend befriedigt werden konnten, kamen die Lehrlinge vor allem deshalb, weil sie den Anspannungen ihrer Berufsausbildung auf diese Weise für eine gewisse Zeit entkommen wollten.
2) Darüber hinaus waren die Motive nicht eindeutig. Von den anderen Lehrlingen, die schon einmal eine Tagung besucht hatten, waren sie über die Möglichkeiten im Hause einigermaßen informiert, und außerdem gab es für sie nur die Alternative, im Betrieb zu bleiben oder unsere Tagung zu besuchen. So konnte die Entscheidung nicht schwer fallen.
3) Nur einige wenige suchten von vornherein auf der Tagung Möglichkeiten der allgemeinen kulturellen Bildung wahrzunehmen. Anders verhielt es sich allerdings bei den Gruppen, die zum zweiten oder dritten Mal kamen und dann meistens doch recht dezidierte Vorstellungen über die inhaltliche Ausgestaltung mitbrachten. Aber auch dann war das Interesse an politischer Bildung nicht sonderlich intensiv, es überwogen vielmehr allgemeine kulturelle Bedürfnisse.
Während also die Oberschüler sich angesichts der angebotenen Thematik zur Teilnahme entschlossen, handelte es sich hier darum, für einen in seinen Inter-
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essen und intellektuellen Möglichkeiten sehr unterschiedlichen Teilnehmerkreis sozusagen nachträglich ein Programm zu machen.
Im Gegensatz zu den Oberschülern waren immer wieder folgende unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen festzustellen:
1) Die Lehrlinge besaßen ein pragmatisches, durch Vorurteile meist nicht verstelltes Verhältnis zum Politischen. Sie sahen politische Kontroversen vorweg unter dem Gesichtspunkt konkurrierender Interessen.
2) Mit Ausnahme der wenigen Mittelschüler und "abgebrochenen Oberschüler" waren sie formal, vor allem sprachlich für politische Gespräche völlig unzureichend ausgebildet. Dagegen war ihre Informiertheit erstaunlich und wuchs von Jahr zu Jahr, was wohl nur auf die Wirkung der Massenkommunikationsmittel, insbesondere des Fernsehens, zurückgeführt werden kann.
3) Hinter ihrem Interesse an politischen Gesprächen stand vielfach das Bedürfnis nach sozialem Prestigegewinn. Sie wollten im Betrieb und Kameradenkreis besser informiert sein und erfolgreicher mitreden können als die anderen.
4) Ihr Verhältnis zum Betrieb und zu den anderen gesellschaftlichen Mächten war vielfach fatalistisch: Man könne dagegen doch nichts machen.
5) Sie waren emotional viel zurückhaltender als die Oberschüler, ihre persönlichen Probleme waren konkreter und von den unmittelbaren Schwierigkeiten ihres Alltags bestimmt. Allerdings ist diese Beschreibung cum grano salis zu verstehen. Sie abstrahiert von der Fülle der individuellen Einstellungen, deckt sich allerdings weitgehend mit den Ergebnissen von Erwachsenendiskussionen sozial verschiedener Gruppen, über die Mangold berichtet(7).
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Ein besonderes Problem stellten die Mittelschüler und "abgebrochenen Oberschüler" dar. Ihnen bereitete die Integration mit der Mehrheit, die "nur" Volksschulabschluß hatte, fast immer erhebliche Schwierigkeiten. Sie nahmen gern die Tagung zum Anlaß, endlich einmal ihren angeblichen intellektuellen Vorsprung vor den anderen zu dokumentieren. Dabei war zu beobachten, wie sich erstaunlich oft die übrigen dem angeblich besseren Wissen dieser Teilnehmer unterwarfen. Es hatte den Anschein, als ob in der Gruppe des Lehrjahres eine Arbeitsteilung stattgefunden habe: Die Volksschüler hielten sich in allen praktischen Lebensfragen für überlegen, während die anderen gewissermaßen "für die Kultur" zuständig waren. Dabei zeigten die Volksschüler keineswegs von vornherein das Verlangen, an dieser "Kultur" durch die Kommunikation mit den Mittel- und Oberschülern zu partizipieren. Zum anderen hatten sich in den Mittel- und Oberschülern längst Ressentiments gebildet. Während die Volksschüler in der Regel recht offen, wenn auch zurückhaltend, auf neue kulturelle Erfahrungen in der Tagung reagierten, antworteten jene vor allem dann affektiv, wenn ihre "kulturelle Vorrangstellung" in Frage gestellt wurde. Gelang es dann den Mitarbeitern, solche affektgeladenen Vorurteile zu entlarven, so verlegten sich diese Jugendlichen oft auf den disziplinarischen Ungehorsam und versuchten als Rädelsführer Anhänger für Gegenaktionen gegen die Tagungsplanung zu gewinnen. Es gab auch Ausnahmen. Aber dabei handelte es sich fast immer um solche Jugendliche, die von sich aus die höhere Schulbildung abgebrochen hatten. Diejenigen aber, die eine Oberschulbildung gegen ihren Willen hatten abbrechen müssen, sahen sich im Kreis der Lehrlinge als "soziale Absteiger" an und neigten dazu, dieses Gefühl auf die beschriebene Weise zu kompensieren. Ähnlich erging es den Mittelschülern, die nicht einsehen konnten, daß sie gegenüber den Volksschülern keinen beruflichen
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Vorsprung hatten. Charakteristisch dafür, wie diese Jugendlichen reagierten, ist folgende häufige Erfahrung: Für die sogenannten freien Gesprächsgruppen, die in der Freizeit stattfanden, schlugen sie die meisten Themen in möglichst hochgestochener Formulierung vor. Wurden diese Themen dann von der Tagungsleitung aufgegriffen, fehlten aber gerade die, die sie vorgeschlagen hatten; sie zogen es vor, ihre Freizeit privat zu nutzen, was an sich durchaus den Spielregeln entsprach. Ihre Rolle bestand gewissermaßen darin, für die anderen "kulturelle Belange" zu vertreten. Die persönliche Verbindlichkeit ihrer Vorschläge stand hingegen auf einem anderen Blatt.
Um ihnen selbst und der Gruppe zu helfen, mußten drei Maßnahmen gleichzeitig ergriffen werden:
1) Ihre Vorurteile mußten öffentlich entlarvt werden.
2) Gleichzeitig mußte immer wieder versucht werden, ihnen ebenso in aller Öffentlichkeit Aufgaben zu übertragen, die angemessene intellektuelle Anforderungen an sie stellten. Ihr falsches soziales Selbstbewußtsein sollte ja nicht nur erschüttert, sondern durch ein vernünftiges ausgetauscht werden. Dazu war notwendig, ihren tatsächlich vorhandenen intellektuellen Vorsprung ernst zu nehmen und ihn entsprechend mit Aufgaben für die anderen zu belasten. Keineswegs konnte es darum gehen, ihre intellektuelle Widerspenstigkeit auf das geistige Maß des Durchschnitts zurückzuschrauben.
3) Schließlich mußte ihnen in langen persönlichen Gesprächen der Konflikt und seine Gründe ins Bewußtsein gehoben werden. Allein die Tatsache, daß ein Mitarbeiter sich, von den übrigen Teilnehmern wohlbemerkt, längere Zeit mit ihnen privat beschäftigte, trug zum Wiederaufbau ihres Selbstbewußtseins in der Gruppe bei. Da solch ein persönlicher Konflikt ja weitgehend durch gesellschaftliche Widersprüche bedingt ist, enthielten diese Einzelgesprä-
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che schon ein gut Teil politischen Unterrichts. Überhaupt wird an diesem Beispiel deutlich, daß ein politischer Unterricht, der solche subjektiven Befindlichkeiten nicht von vornherein mit in den Blick nimmt, zum Scheitern verurteilt ist. Man kann mit Recht vermuten, daß sich solche Befindlichkeiten nur in einer Situation enthärten lassen, die wie die Tagung mit einem Minimum an sozialem Prestige-Druck belastet ist. Dennoch läßt sich über die Dauerhaftigkeit des Erfolges wenig sagen. Für die Zeit der Tagung selbst ließen sich diese Probleme immer auf die beschriebene Weise lösen.
c) Schulklassen
Tagungen mit Schulklassen unter Anwesenheit der Lehrer schufen eine wesentlich andere Situation als bei den bisher beschriebenen Teilnehmerkreisen. In den Augen dieser Schüler war - und zwar bei allen Schularten - die Tagung in diesem Falle eine Schulveranstaltung, also eine Situation mit einem erheblichen Öffentlichkeitsgrad und Konformitätsdruck für die Schüler. Zunächst hatten sie im Gegensatz zu den anderen beiden Fällen keine Möglichkeit, ihre Teilnahme freiwillig zu entscheiden. Dies hatte, wie später noch zu zeigen sein wird, Folgerungen für ihre Einstellung zu den Mitarbeitern wie auch zu den Inhalten. Zum anderen war auch hier die feste Gruppenstruktur der Klassen hinderlich. Beide Schwierigkeiten aber wären nicht derart ins Gericht gefallen, wenn nicht eine Reihe anderer subjektiver und objektiver Hemmnisse sich als sehr belastend erwiesen hätten.
Die subjektiven Hemmnisse lagen in den Anpassungsschwierigkeiten der begleitenden Lehrkräfte gegenüber der Tagungssituation begründet. Denn die Tagungen waren nicht nur Experimentiersituationen für die Jugendlichen, sondern auch für die begleitenden Lehrer. Es blieb immer fraglich, ob die Lehrer beweglich genug waren, sich der neuartigen Lernsituation
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zu öffnen und deren spezifische Chancen wahrzunehmen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gelang ihnen
das nicht.(8) Die hier gemeinten Hemmnisse lassen sich in folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen:
1) Im allgemeinen verlangten die Lehrer zuviel Stoffbewältigung. Oft hatte man das Gefühl, eine fünftägige Tagung sollte nachholen, was der bisherige politische Schulunterricht versäumt hatte.
2) Sie verlangten, was die Denkfähigkeit ihrer Schüler angeht, zu wenig. Insbesondere Volks- und Berufsschullehrer zeigten die Neigung, politische Überlegungen mit einer allgemeinen moralischen Phraseologie abzuschließen, obwohl die rationalen Fähigkeiten und Bedürfnisse ihrer Schüler noch keineswegs erschöpft waren.
3) Die meisten waren nicht in der Lage, die besonderen didaktischen und methodischen Gegebenheiten der Tagung anzunehmen. Dies hätte unter anderem eine Relativierung ihres schulischen didaktischen und methodischen Verständnisses bedeutet. Die Unterrichtsform des Gespräches, bei dem niemand wußte, was "herauskam", erschien ihnen oft geradezu unheimlich. In ihrem Verständnis war Gespräch bloße Methode, um Wissen herauszufragen oder beizubringen, in unserem Verständnis abgesehen vom Methodischen selbst schon ein Inhalt.(9) Dieser Gegensatz ging bis in Meinungs-
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Verschiedenheiten über die Fragetechnik. Wenn das Gespräch wesentlich auch als Inhalt verstanden wird, hat die Berechtigung der sogenannten "W-Fragen" ihre Grenze. Es gibt dann Gesprächssituationen, wo die leise Wiederholung eines Wortes aus einem Teilnehmerbeitrag eine präzisere Frage darstellt, als es die Umwandlung in eine "W-Frage" wäre, deren Formulierung möglicherweise den Gedankengang zerstört hätte.
4) Sehr hinderlich war das völlige Unverständnis fast aller unserer Lehrer für die Freizeitinteressen ihrer Jugendlichen auf der Tagung. In ihrem Verständnis war auch die Freizeit leistungsorientiert. Sie musste pädagogisch gestaltet werden nach den Gesichtspunkten des "rhythmischen Ausgleichs". Es gab Lehrer, die nicht ruhten, bis sie das letzte Kofferradio und die letzte Schallplatte konfisziert hatten. Wie noch zu zeigen sein wird, sind auf einer Tagung nicht die geplanten, sondern viel eher die ungeplanten Situationen die eigentlich "fruchtbaren Momente". Sie gingen bei den Klassentagungen auf diese Weise vielfach verloren.
Zur Korrektur dieses Bildes muss allerdings angemerkt werden, dass zwar die meisten Lehrer mit solchen Einstellungen auf die Tagung kamen, sich dann aber gern an den Überlegungen der Teams beteiligten und diesen selbst wertvolle Hinweise aus ihrer reichen Lehrerfahrung gaben. Problematisch blieb dann nur, daß der Aufwand für die Integration des Lehrers in das Team auf Kosten der Schüler ging. Nur eine verschwindend kleine Minderheit unserer Lehrer blieb neuen Erfahrungen gegenüber unduldsam verschlossen. Unterlagen die subjektiven Hemmnisse letztlich dem guten Willen der beteiligten Personen, so gab es darüber hinaus Schwierigkeiten, die in der Verschiedenartigkeit der Rollen unserer Mitarbeiter und der Lehrer angelegt waren. Sie erwuchsen allesamt aus den Bedingungen der schulischen Aufsichtspflicht, denen der Lehrer auch auf der Tagung unterlag. Die
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angesichts der bekannten Rechtsprechung berechtigte Furcht vor Unannehmlichkeiten aus Anlaß der banalsten Geschehnisse bestimmte das Verhalten der Lehrer zu ihren Schülern weitgehend. Dies war oft auch der Grund für die übertriebene Freizeitkontrolle, die dem erzieherischen Umgang nur schaden konnte. Da war die Situation unserer Mitarbeiter weitaus günstiger. In den beiden anderen Tagungstypen versicherten wir die Teilnehmer gegen Unfall, Krankheit und Haftpflicht. Unsere Aufsichtspflicht beschränkte sich im wesentlichen auf die allgemeinen Grundsätze des Jugendschutzes. Im Gegensatz zu den Lehrern konnten wir es uns also leisten, ein höheres Risiko in Kauf zu nehmen. Wer aber die Aufsichtspflicht hat, muss auch das Recht zur Entscheidung behalten. Auf diese Weise fielen in den Klassentagungen erzieherische und inhaltliche Leitung auseinander. Damit geriet nun der Lehrer erst recht in die undankbare Rolle des "Polizisten", während unsere Mitarbeiter in die Rolle des interessanten Dozenten zurückfielen, der sich im übrigen nicht mit den Teilnehmern "anlegen" mußte. Dieser Widerspruch war grundsätzlich nicht zu lösen, wenngleich seine Auswirkungen im Einzelfall durch ständigen Kontakt mit den Lehrern gemildert werden konnten.
Anmerkungen zu Kap. 1
1) Auf den widersprüchlichen Charakter von "pädagogischer Anstalt" und "Unternehmen" hat Schepp am Beispiel der Jugendhöfe hingewiesen (Offene Jugendarbeit ... S. 155 f.). "Im Gegensatz etwa zu den Einrichtungen des allgemeinbildenden Schulwesens müssen also die Jugendhöfe ihr 'Stehvermögen' - analog einem Produktionsbetrieb - unter den Bedingungen des freien 'bürgerlichen' Wettbewerbs und eines aus diesem heraus entwickelten Leistungsbegriffs erweisen. ... Die Gesamtarbeit wird geradezu nach technischen Prinzipien, geplant. ... Diese an technischen Denkmodellen orientierte Arbeitsplanung kann zu einer gut rationalisierten Arbeitsteilung führen und für den organisatorischen Lehrgangsverlauf sogar unerläßlich sein. Sie kann aber auch dazu führen, daß das 'technische Optimum' mit dem 'pädagogischen Optimum' gleichgesetzt wird.
2) Vgl. etwa Peter Heintz (Hg.), Soziologie der Schule, Sonderheft 4 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Köln-Opladen 1959. - H. Scheleky (Anpassung oder Widerstand? Soziologische Bedenken zur Schulreform, Heidelberg 1961) versucht, bestimmte pädagogische Theorien, etwa die dem "Rahmenplan" immanenten, auf den sozialen Status und das historische Selbstverständnis einer bestimmten Lehrergruppe (in diesem Fall der Volksschullehrer) zurückzuführen. So überspitzt manche Thesen dieser Streitschrift sein mögen, so wenig kann der Zusammenhang von historischer Erfahrung, sozialer Selbsteinschätzung und pädagogischer Theorie grundsätzlich zweifelhaft sein.
3) Vgl. H. Kentler, Jugendarbeit ... ; Dieter Danckwortt, Jugend in Gemeinschaftsdiensten ...; Gebhard/Nahrstedt, Studentische Jugendarbeit ... .
4) Wiederholt wurde erörtert, ob nicht auch gemeinsame Tagungen für Oberschüler und Lehrlinge durchgeführt werden sollten. Auch Schepp (a.a.O. S. 177) ist dieser Frage nachgegangen: "Die Besuchergruppen sollen nach ihrer Vorbildung so homogen wie nötig und nach ihren übrigen demographischen Merkmalen so mannigfaltig wie möglich sein". Diese Forderung ist in der Praxis deshalb schwer zu verwirklichen, weil die wichtigsten demographischen Merkmale entweder direkt vom Bildungsstand abhängen, oder mit ihm korrelieren. Da im folgenden noch häufig von den unterschieden zwischen Oberschul- und Lehrlingsarbeit die Rede sein wird, sei hier nur auf ein grundsätzliches Moment verwiesen: Gemeinsame Tagungen sind nach unseren Erfahrungen nur dann für beide Gruppen gewinnreich, wenn es sich um Inhalte handelt, bei denen rationale Fähigkeiten nicht die erste Rolle spielen (z.B. Musische Bildung, Jugendrotkreuz, Soziale Dienste u.s.w.). In allen anderen Fällen geraten die Oberschüler in eine "Führerrolle", die ihr Verhältnis zu den Lehrlingen wie zu sich selbst problematisch machen muß. Zahlreiche Gespräche mit unseren Lehrlingen legen die Hypothese nahe, daß ihre täglichen Kommunikationspartner in der Regel selbst dann aus der eigenen Bildungsschicht stammen, wenn Geschwister die Höhere Schule besuchen. Es ist eine schwierige Frage, ob man die gesellschaftliche Tatsache der sozialen Separierung nun auch noch in pädagogischen Veranstaltungen wiederholen soll oder nicht. In unserer Entscheidung überwog die Furcht, pädagogisch eine "'Volksgemeinschaft" vorzutäuschen, die im wirklichen Leben der Gesellschaft keine Realität hat und vielleicht nicht einmal haben muß. Außerdem käme die pädagogische Aufgabe, Kommunikationsgelegenheiten zwischen den jugendlichen Bildungsschichten zu schaffen, eher den Freizeitstätten in der alltäglichen Umgebung der Jugendlichen zu, als etwa der Tagungsstätte, die die Jugendlichen ja gerade aus der lokalen Umgebung ihres Alltags herauslöst.
5) Die von uns bei den Oberschülern vorgefundenen Einstellungen zum Politischen decken sich mit dem, was Friedrich Oetinger (Partnerschaft ... S. 20 ff.) am überlieferten Zusammenhang von Bildung und Politik kritisiert hat.
6) Vgl. Kapitel 11 dieser Untersuchung
7) Vgl. Werner Mangold, a.a.O. S. 70 ff.
8) Der Korrektheit halber sei angemerkt, daß unsere Beobachtungen in keiner Weise repräsentativ für "die" Lehrer sein können. Unsere Erfahrung von 26 Klassentagungen reicht dazu nicht aus. Überdies ist zu vermuten, daß ein ganz bestimmter "Typ" durch das Image der Einrichtung angezogen wurde. Viele gestanden uns nämlich, daß sie mit dem Begriff "Jugendhof" ganz andere, nämlich in die Richtung der "Jugendbewegung" weisende Erwartungen verbunden hätten, die dann nicht eingelöst wurden.
9) Hier offenbart sich u.a. die Kluft zwischen Erziehungswissenschaft und Praxis; denn selbstverständlich sind die Formen des Gesprächs und ihre jeweils verschiedene Beziehung zum Inhaltlichen längst differenziert worden. An Stelle zahlreicher Publikationen sei hier nur auf die Zusammenfassung von H. M. Stimpel in: "Pädagogisches Lexikon", Artikel "Gespräch", verwiesen.
2. Kap.: Die besonderen Bedingungen der Tagung
Bisher haben wir die vier allgemeinen Hauptfaktoren erörtert, die grundsätzlich jede Veranstaltung der außerschulischen Jugendarbeit mitbestimmen. Die damit für unseren Bericht gewonnenen Ergebnisse waren noch sehr unbestimmt. Um sie zu präzisieren, untersuchen wir nun einige wesentliche Bedingungen, die in der Veranstaltungsform der Tagung selbst beschlossen liegen.1. Tagung als Freizeitinstitution
Tagung ist also eine besondere Maßnahme in der außerschulischen Jugendbildungsarbeit. Die didaktischen Bedingungen, die hier gelten, gelten nicht unbedingt
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auch für andere Veranstaltungsformen wie "Fahrt" oder "Heimabend". Eine eindeutige Abgrenzung der für die Tagung üblichen verschiedenen Bezeichnungen bereitet große Schwierigkeiten. "Tagung", "Rüstzeit", "Werkwoche", "Konferenz", "Lehrgang". "Kursus", "Treffen", "Arbeitswoche" und "Freizeit" werden weitgehend synonym gebraucht. Da es sich hier ausnahmslos um Formen dynamischer menschlicher Gesellungen handelt, dürfte eine genaue begriffliche Abgrenzung ohne Vergewaltigung der Wirklichkeit unmöglich sein. Die meisten Bezeichnungen verraten zudem weniger von der Wirklichkeit, die sie beschreiben sollen, als vielmehr von den emotionalen Werten, die diesen Wirklichkeiten beigemessen werden. Wir wissen nicht, wann das Wort "Tagung" zum ersten Mal auftaucht. Es ist aber zu vermuten, daß das damit Gemeinte bestimmten Bedürfnissen der komplizierten industriellen Gesellschaft entspricht. Seitdem Angehörige bestimmter beruflicher und gesellschaftlicher Gruppen nicht mehr nur auf regionaler, sondern auch auf überregionaler Ebene zu einer gemeinsamen Willensbildung zusammenkommen müssen, bedarf es dafür einer besonderen Kommunikationsform. Entstehung des modernen Verbandswesens und Entstehung der Tagung dürften eng miteinander zusammenhängen. Parteitage, wissenschaftliche Kongresse, Tagungen der kommunistischen Internationale und "Hoher Meißner" lassen sich so auf dieselben soziologischen Bedingungen zurückführen. Hinzu kommt das politische Moment der "Öffentlichkeit". Partikulare politische Forderungen müssen in geeigneter Weise der Öffentlichkeit unterbreitet werden, die an einem Ort zusammengefaßte Anhängerschaft ist unentbehrlich für den dabei notwendigen Nachdruck. In der modernen Freizeitgesellschaft bleiben diese beruflichen und gesellschaftspolitischen Aspekte der Tagung erhalten; werden aber durch neue ergänzt. Wie andere frühere Privilegien,
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so wird auch das Privileg, an einer Tagung teilnehmen zu dürfen, sozialisiert. Tagungsbesuch wird zunehmend zu einer Form der Freizeitbeschäftigung. Karl Korn hat darauf nicht ohne scharfe Kritik am "Tagungsrummel" hingewiesen(1). Tagung, so können wir Korn folgen, ist heute ein Teil der Freizeitindustrie. Die Möglichkeit, "Tagungen für alle" zu veranstalten, ist an einige Voraussetzungen gebunden, die kurz genannt werden müssen:
1) Eine relativ hohe ökonomische Produktivität muß zu Arbeitszeitverkürzung und steigendem Lohnniveau führen, damit die Kosten seitens der Teilnehmer und seitens der Veranstalter aufgebracht werden können.
2) Bestimmte überlieferte Kontrollen für die Benutzung der freien Zeit müssen entfallen sein, damit die neue ökonomische Möglichkeit auch tatsächlich genutzt wird. Daß heute Jugendliche unbeaufsichtigt weite Fahrten zu einer Tagung unternehmen können, war noch vor wenigen Jahren keineswegs selbstverständlich.
3) Die Menschen müssen auch willens sein, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Da sie es offenbar nicht spontan tun, muß die Freizeitindustrie - auch ihr pädagogischer Teil - werbend zur Benutzung ermuntern.
2) Die Erwartungshaltung der Teilnehmer
Die Teilnehmer besuchen eine Tagung mit Erwartungen, die der Struktur der üblichen Freizeitwünsche weitgehend entsprechen. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob die Jugendlichen in ihrer wirk-
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lichen "freien Zeit" kommen, oder ob sie, wie in unserem Falle, von der Schule oder vom Betrieb beurlaubt werden. Drei Komplexe ragen aus der Vielzahl der Einstellungen heraus.
a) Der "außergewöhnliche" emotionale Anspruch
Eine Tagung muß etwas "Außergewöhnliches" sein, etwas "Nicht-alltägliches", etwas, was man sonst nicht hat oder bekommt.(2) Diese Erwartung ist zunächst völlig ungerichtet. Man weiß gar nicht genau, was man eigentlich erwartet. Deshalb ist dieser unausdrückbare Wunsch auch verhältnismäßig leicht vom Pädagogen zu lenken. Ein "tolles" Tanzfest, wo man sich austoben kann, wo für ganz kurze Zeit einmal alle zu einer "harmonischen Gemeinschaft" werden, wo sogar die Mitarbeiter als "Gleiche unter Gleichen" mitmachen und sich am allgemeinen Flirt beteiligen - ein solches "Erlebnis" kann, wie Briefe zeigen, noch wochenlang nachwirken. Oder es ist eines jener "Zufallsgespräche" in der Teestube, wo sich das ereignet, was Bollnow die "Begegnung" genannt hat. Aus der üblichen Konversation ergibt sich plötzlich eine "existentielle" Frage. Der Plattenspieler wird abgestellt. Bald ist auch der Pädagoge am Ende seines Wissens und begibt sich in das Wagnis eines Gespräches, dessen Ausgang für ihn selbst ebenso offen ist wie für die Teilnehmer. Daß solche Gespräche stattfinden, ist für die Teilnehmer fast wichtiger als ihr Ausgang. Bis spät in die Nacht wird diskutiert, und in den Zimmern setzen sich die Gespräche bis zum Einschlafen fort. Auch das gehört zum "Erlebnis": sich wegen des Nachdenkens über sich selbst um den Schlaf gebracht zu haben.
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Oder es ist das Fußball-Spiel der Mitarbeiter gegen eine Auswahl der Teilnehmer. Dutzendmal kann es routinemäßig ablaufen. Plötzlich ist nicht mehr unwichtig, wer gewinnt. Die Mädchen haben Sprechchöre gebildet. Sie erfinden Stabreime auf die einzelnen Spieler, vor allem die "Pädagogen". Ein 10-Pfennig-Toto wird in wenigen Minuten organisiert. Nun ist auch das "kommerzielle" Interesse am Ausgang des Spieles erwacht. Anschließend wird eine Siegerehrung improvisiert mit "Filmstar-Kuß", "blödsinniger" Festansprache und allem, was dazu gehört. Der Taumel ist nicht aufzuhalten. Die vorgesehene Diskussion über die Todesstrafe muß verschoben werden. Dafür setzt sich der Tagungsleiter in den Wagen und besorgt Rotwein; denn der Totogewinner hat seinen Gewinn in eine "Spende" umgewandelt, die schnell wächst. Wenig später ist ein Festball arrangiert.
Dieser Tag war nur scheinbar der politischen Bildung verloren. Die Lernbereitschaft aber wuchs, ja sie wurde durch solche "Erlebnisse" geradezu erst konstituiert. Merkwürdigerweise erwuchsen aus solch einem "Taumel" nie disziplinarische Schwierigkeiten. Disziplinschwierigkeiten traten vielmehr dann auf, wenn eine solche Emotionalisierung nicht stattfand. Wir hatten gelernt, einer "ruhigen" Gruppe gegenüber sehr aufmerksam zu sein. Meist suchte sich das "emotionale Defizit" dann "stillere" Objekte: das andere Geschlecht oder - vor allem bei Lehrlingen - die Schnapsflasche im Zimmer. Derartige Ausbrüche entzogen sich jeder pädagogischen Planung. Sie kamen herauf wie ein unabwendbares und unberechenbares Ereignis. Fehlten sie, so taten sich alle Unterrichtsbemühungen schwer.
b) Der "außergewöhnliche" sachliche Anspruch
In sachlicher Hinsicht äußerte sich das Bedürfnis nach dem "Außergewöhnlichen" verschieden. Viele Oberschüler, deren intellektuelle Bedürfnisse in der Schule nicht befriedigt wurden, verlangten
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wissenschaftliche Kollegs, Quellenstudium und die Möglichkeit zu eigener Arbeit. Kamen sie aus Kleinstädten oder vom Land, so stürzten sie sich auf die Bibliothek und verschlangen neue Bücher, vor allem moderne Literatur, an die sie sonst nicht herankamen. Einige warteten darauf, daß sie mit den Mitarbeitern über persönliche Probleme sprechen konnten, wozu sie sonst keine Gelegenheit hatten: Ein Mädchen war aus der SBZ geflohen, in eine streng konfessionelle Schule geraten und hatte sich mit seinen keineswegs kommunistischen politischen Ansichten hoffnungslos isoliert. Ein Lehrling, ein begabter Junge, wollte das Abitur nachholen und hatte sich deshalb mit seinem Vater überworfen. Ein anderer "kam mit seinem Meister nicht klar". Den Hauptanteil hatten Fragen der allgemeinen Lebensführung, vor allem sexuelle Probleme. Solche "Anfragen" belasteten die Mitarbeiter am meisten, fühlten sie sich doch zunächst immer als Lehrende, die politisches Wissen vermitteln sollten, - aber sie konnten sich ihnen nicht entziehen.
Man war dabei vor Überraschungen nicht sicher. 15-jahrige Lehrlinge, für die wir angesichts des Alters ein "spielerisches" Programm überlegt hatten, forderten nach einigen Tagen "ernsthafte" Arbeit. Spielen könnten sie auch zu Hause, dafür seien sie nicht hergekommen. Die nächste Gruppe, auf die wir diese Erfahrung anwenden wollten, beschwerte sich umgekehrt: Sie müßten sich erholen, ihre Lehrzeit sei anstrengend genug. Wieder andere erwarteten als das Besondere die Pflege individueller Hobbys wie Fotografieren, Arbeit in der Dunkelkammer, Werken, Emaillieren und Lesen.
c) Der Anspruch auf Freizügigkeit
Noch eine dritte Erwartenshaltung ist zu erwähnen. Die Jugendlichen waren nicht bereit, auf die Freizügigkeit, mit der sie sonst ihre Freizeit verbringen konnten, zu verzichten. Strenge Reglementierung, moralisierende Disziplin, sachliche Inanspruch-
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nahme ohne ihre ausdrückliche Zustimmung war ihnen zuwider. Als einzige Form der "Gängelung" ließen sie das pragmatische Argument gelten.
3) Die Freiwilligkeit der Teilnahme
Der Freizeitcharakter der Tagung äußerte sich weiterhin in der Freiwilligkeit der Teilnahme. Die Jugendlichen hatten das Gefühl, jederzeit wieder gehen zu können, wenn es ihnen nicht paßte. Es spielte dabei keine Rolle, daß die Jugendlichen in Wirklichkeit für den Besuch der Tagung beurlaubt waren, ihr vorzeitiges Zurückgehen an den Arbeitsplatz oder an die Schule nicht ohne persönliche Schwierigkeiten möglich gewesen wäre. Dennoch versuchte die pädagogische Leitung, die Behinderungen der Freiwilligkeit so weit wie möglich zu beseitigen. So wurde für die Oberschultagungen mit der Schulverwaltung ausgehandelt, daß die Schüler für die Zeit des Aufenthaltes aus der Schulversicherung ausschieden und durch das Institut versichert wurden. Die z.T. beschämenden Folgen der Aufsichtspflicht entfielen damit weitgehend. Je mehr die Mitarbeiter mit den Schulen Kontakt aufnahmen, um so mehr gelang es, "Delegationen" durch die Schulleitung zu vermeiden und die Beurlaubung durch die SMV zu initiieren.
Die Firmen wünschten immer nieder Gutachten über ihre Lehrlinge, durchaus in der richtigen Vermutung, daß mancher sich unter den Bedingungen der Tagung aufgeschlossener zeigte als im Betrieb. So gerne die Mitarbeiter in solchen Fällen das Verständnis für einen Jugendlichen im Betrieb verbessert hätten, so problematisch war dieses Ansinnen grundsätzlich. Zunächst einigten wir uns mit den Firmen, nur positive Mitteilungen über die Lehrlinge zu machen. Aber darauf reagierten die Lehrlinge, denen wir diese Vereinbarung mitgeteilt hatten, prompt: Sie waren in unseren Tagungen brav und gehorsam und taten kritiklos alles, worum wir sie baten. Zuviel schien ihnen davon abzuhängen. Es half auch wenig, als wir
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ihnen vorschlugen, jede schriftliche Äußerung über sie ihnen vorher zu zeigen. Das Mißtrauen, daß "die da oben" irgendetwas Unkontrollierbares gegen sie unternähmen, war stärker. Schließlich ließen wir die ganze Sache fallen und beschränkten uns darauf, in Einzelfällen uns für einen Lehrling bei der jeweiligen Firma einzusetzen, falls er uns darum gebeten hatte, - was gelegentlich vorkam. Merkwürdigerweise empfanden die Lehrlinge die begleitenden Ausbilder nicht als Aufsicht der Firma. Es waren Personen, mit denen sie täglich Umgang hatten, deren aus den Sachzwängen hervorgehende pragmatische Autorität sie anerkannten. Angst hatten sie vor dem, mit dem ihnen der Umgang verwehrt blieb, dem Personalbüro etwa oder der Leitung des Betriebes insgesamt. Mit den Lehrgesellen fühlten sie sich gegen den Betrieb solidarisch, und soweit wir das beurteilen konnten, dachten und handelten die Lehrgesellen genau so. Ihre Autorität beruhte nicht zuletzt darauf, daß sie Konflikte direkt mit den Lehrlingen abmachten und auch in ernsten Fällen nur sehr ungern eine Meldung an den Betrieb machten.
Das Moment der Freiwilligkeit, dem wir so große Bedeutung beimessen, entfiel leider völlig bei den Klassentagungen in Begleitung der Lehrer. Alle Versuche, auch die Klassentagungen aus der rechtlichen und versicherungstechnischen Zuständigkeit der Schule herauszulösen, scheiterten. Gerade die Klassentagungen gaben uns Gelegenheit, die entscheidende Bedeutung der Freiwilligkeit für die gesamte Arbeit zu entdecken.
4) Die fehlende Leistungsbenotung
Dem Freizeitcharakter der Tagung entspricht nicht nur die Freiwilligkeit der Teilnahme, sondern auch die gesellschaftliche Zweckfreiheit. Das profilierteste Mittel der Gesellschaft, zu bestimmten Leistungen anzuregen, die dem Erhalt ihrer je konkreten Funktionen dienen soll, ist die Ausstellung von
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Leistungszeugnissen. Mit solchen Leistungszeugnissen werden nicht nur bestimmte Leistungen gegenüber anderen privilegiert, vielmehr wird darüber hinaus solchen privilegierten Leistungen ein Zweck, eine Moralität und eine Ideologie unterlegt. (3) Wenn nun in einer Bildungsveranstaltung wie der Tagung solche Leistungsnoten nicht erteilt werden, auch nicht in der abgewandelten Form persönlicher Beurteilungen, so muß das von Einfluß sowohl auf die Art und Weise der Zuwendung zu den Gegenständen wie zu den Personen sein. Das, was sich als "Bildung" auf einer Tagung ereignet, ist weitgehend in das Belieben der beteiligten Personen gestellt.
5) Die begrenzte Dauer
Tagungen sind grundsätzlich von begrenzter Dauer. Auch diese Besonderheit erwächst aus dem Freizeit-Charakter. Außerhalb der Ferien und außerhalb des verlängerten Wochenendes können heute Tagungen nur durch Beurlaubungen besucht werden. Deshalb erstreckt sich auch die überwiegende Zahl der Tagungen auf das verlängerte Wochenende. Beurlaubungen für 10-14 Tage wie in unserem Falle dürften selten und weitgehend auf Jugendliche beschränkt sein. Die Zeiträume, von denen hier die Rede ist (5-14 Tage), sind für einen reinen Lehrgang zu lang. Es ist psychologisch unmöglich, in dieser Zeit nur Unterricht, gleich in welcher Form, zu veranstalten. Ein Rhythmus von Spannung und Entspannung wird notwendig, d.h. ganz allgemein, daß die pädagogische Planung auch die Zeiten außerhalb des politischen Unterrichts mit zu bedenken hat. Da die Möglichkeit einer Weiterarbeit mit den Teilnehmern in der Regel ausgeschlossen ist, die Mitarbeiter auch so gut wie
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nichts zur Vorbereitung der Teilnehmer für eine Tagung unternehmen können, fallen die pädagogischen Ergebnisse einer Tagung auf sich selbst zurück. Eine Zeit lang wurde versucht, durch Außenarbeit mit ehemaligen Teilnehmern die begonnene Arbeit fortzusetzen. Diese Versuche scheiterten aus mehreren Gründen.
Es war ein technisch und personell unlösbares Problem, die eigenen Mitarbeiter immer nieder nach außen zu schicken. Seitens der Jugendlichen wurden diese Versuche mit ausgesprochener Zurückhaltung aufgenommen. Dies um so mehr, als wir diese Weiterarbeit zu organisieren begannen, um der technischen Probleme Herr zu werden, und den Jugendlichen Mitarbeiter schickten, die sie gar nicht gewünscht hatten. Denn wenn sie überhaupt die Weiterarbeit wünschten, dann verlangten sie bestimmte Personen, die sie in der Tagung kennengelernt hatten. Dieser Wunsch aber war prinzipiell nicht in Einklang zu bringen mit den organisatorischen Konsequenzen, die für eine Erfüllung aller Wünsche notwendig gewesen wären.(4)
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Beim Nachdenken über diesen Mißerfolg stießen wir auf folgende Erklärung: Der Gedanke der Weiterarbeit, der für alle Tagungsvorhaben der politischen Bildung eine so wichtige Rolle spielt und bis in die Aufgabenstellung des Jugendsekretärs im Sinne des Bundesjugendplans reicht, erwies sich als eine unzulässige Übertragung des schulischen Lehrgangsmodells auf die Tagungsarbeit.(5) Weiterarbeit setzt die Systematisierung des Stoffes voraus, von dem in einer bestimmten Zeit ein Teil behandelt wird, während ein weiterer Teil eben der Nacharbeit vorbehalten bleibt, etwa in der Weise der Schichtung des Stoffes von Klasse zu Klasse.
6) Spezifische Lernbedürfnisse
Wenn wir vom Verhalten der Jugendlichen auf der Tagung auf besondere Bedürfnisse zurückschließen, die die Tagung ihnen erfüllte, dann heben sich vor allem drei Komplexe heraus. Daß diese Bedürfnisse sich äußern konnten, hängt vor allem mit den bisher erörterten besonderen Bedingungen der Tagungssituation zusammen.
Die Jugendlichen waren allerdings nicht in der Lage, diese Bedürfnisse sprachlich zu äußern. Sie traten immer erst in der Situation der Tagung selbst offen zu Tage. Wenn wir vor einer Tagung die Betriebe aufsuchten, um die Lehrlinge nach ihren Wünschen für
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die Tagungsgestaltung zu fragen, so waren diejenigen, die noch nicht an einer Tagung teilgenommen hatten, buchstäblich "über-fragt". Diejenigen Gruppen aber, die zum zweiten oder dritten Mal kommen sollten, äußerten nicht nur deutliche Wünsche für die inhaltliche Gestaltung, sie artikulierten vielmehr auch indirekt folgende drei Bedürfniskomplexe:
a) Das Bedürfnis nach Begegnung mit fremden Menschen
Vor allem die Lehrlinge durchbrechen auch heute noch selten die Mauern ihres Milieus. Daß Studenten 14 Tage mit ihnen verlebten, war ihnen wichtiger als das, was die Studenten inhaltlich anboten. Die Begegnung mit den Studenten erhöhte nicht nur ihr soziales Selbstbewußtsein, die Studenten galten ihnen auch als Vorbild für das Lernen des "gesellschaftlichen Umgangs". Obwohl sie die attraktivsten Partner für sie blieben, traten die Lehrlinge sowohl unseren erwachsenen Gästen, die wir zu Abendgesprächen einluden, wie auch den Lehrlingen anderer Betriebe mit der gleichen Offenheit gegenüber. Ihre Toleranz ging sehr weit. Sogar sehr schrullige Eigenarten bei einigen Studenten duldeten sie. Während ihre Meinungen darüber, wie die moderne Frau sich zu verhalten habe, in den Diskussionen recht spießig und kleinbürgerlich klangen, machte es ihnen nichts aus, mit unseren Studentinnen umzugehen, die in dieses Bild nun gar nicht hineinpaßten. Dabei war ihnen diese Andersartigkeit nicht etwa gleichgültig, sie wollten sie vielmehr verstehen.(6) Fast66
immer waren jugendliche Ausländer über einige Monate Gast des Hauses. Sie wurden in den Lehrlingstagungen wichtige Mitarbeiter, weil ihre privaten Erzählungen und Berichte über ihre Heimat die Lehrlinge fast immer dazu brachte, nun auch von uns einmal systematische Informationen im Unterricht zu fordern.
b) Das Bedürfnis nach "folgenlosem" Meinen und Verhalten
Im täglichen Leben der Teilnehmer haben Meinungen Folgen. Entweder beeinflussen sie - wenigstens in der Sicht der Jugendlichen - die Zeugnisse in Schule oder Betrieb, oder die Erwachsenen, etwa die Eltern, richten ihr Verhalten danach ein. Eine politische Meinung des Lehrlings im Betrieb gilt als "vorlaut", wenn sie von der Gruppenmeinung der erwachsenen Kollegen abweicht.
In der Tagung konnte und wollte man mit Meinungen und Urteilen "experimentieren". Nichts zwang dazu, sie anzunehmen oder abzulehnen. Man konnte sie anhören, mit der eigenen Meinung in Verbindung bringen oder sie zurückweisen. Vor allem konnte man selbst folgenlos sprechen, ausprobieren, wie weit die eigene Ansicht richtig war, ohne daß daraus für den Betreffenden Folgerungen abgeleitet wurden. Auch die Mitarbeiter beteiligten sich an diesem "Spiel des Meinens" - dort nämlich, wo auch für sie eine Problemstellung "offen" und trotz Bereitstellung allen erreichbaren Wissens nicht einsinnig zu lösen war. In den Tagungen konnten die Jugendlichen nicht nur mit ihren Meinungen, sondern auch mit ihren Verhaltensweisen experimentieren. Dafür ein Beispiel: In den heißen Sommermonaten bildete sich oft die Gewohnheit heraus, nach einem freien Nachmittag, der zum Sonnenbaden benutzt worden war, in Turnhose und Shorts zur Abendmahlzeit zu erscheinen. Zunächst versuchten es einige mutige Mädchen und Jungen. Als von unserer Seite kein Widerspruch kam, war bald die Mehrheit für dieses Verfahren gewonnen. Eine Minder-
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heit von "Wohlerzogenen" widerstand der Versuchung der Bequemlichkeit und zog sich damit nur den gutmütigen Spott der Mehrheit zu. Die Lösung des Problems kam meist auf dieselbe Weise zustande: Die Tendenz begann sich etwa dadurch zu überdrehen, daß plötzlich einige Jungen nur mit Turnhose bekleidet und noch von Spuren des Fußballspieles gezeichnet zum Abendessen Platz nahmen. Das war selbst den Gemäßigten zuviel. Während der Mahlzeit entspann sich schon eine heftige Diskussion und am Ende genügten dann einige gezielte Bemerkungen eines Mitarbeiters über den Sinn konventioneller Umgangformen, um alle kommenden Mahlzeiten wieder zu kultivieren. Die Erfahrung der Gruppe aber, wie Stück für Stück sich der Umgang entzivilisiert, wenn bestimmte Konventionen gebrochen werden, wäre durch keine noch so vernünftige Ansprache zu Beginn des Experiments zu ersetzen gewesen. In einem Falle kam die Wendung übrigens dadurch zustande, daß zwei Mädchen, die bis dahin immer wohl angezogen erschienen waren, plötzlich im zweiteiligen Badeanzug ohne weiteren Kommentar sich an den Tisch setzten. In diesem Falle war die "Verfremdung" so heilsam, daß beim nächsten Mal alle wieder zivilisiert erschienen, ohne daß ein Mitarbeiter weiter hätte eingreifen müssen.
c) Das Bedürfnis nach Aussprache
Dieses Bedürfnis haben wir im Zusammenhang mit der Erwartung des "Außergewöhnlichen" schon angedeutet. Es läßt sich wohl am besten als die Frage nach dem "Wer bin ich?" konkretisieren. Gerade in den ungeplanten Teilen der Tagung, den "Zufallsgesprächen" in einer kleinen Gruppe, den "a-propos-Gesprächen" während eines Tischtennisspieles oder beim "Klönen" während eines Tanzabends brach es immer wieder durch. Solche Gespräche über den Sinn des Lebens im allgemeinen, den des eigenen im besonderen, über die menschlichen Grundlagen von Liebe, Freundschaft, Ehe und Familie ließen sich nicht "veranstalten".
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Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass nach unseren Beobachtungen die Jugendlichen in ihrem Alltag mit diesen Fragen allein gelassen werden. Dabei erwarten sie keineswegs Bestätigung ihrer Ansichten, sie erwarten vielmehr, daß der erwachsene Partner sich hart und entschieden mit ihnen auseinandersetzt. Sie haben ein untrügliches Gefühl dafür, daß die Wahrheit hier nur um den Preis der "Anstrengung des Begriffs" zu haben ist.Oberschüler und Lehrlinge gehen dabei von ganz verschiedenen Ausgangspunkten aus. Oberschülern wollen gleichsam das geistige Prinzip finden, mit dem sie sich die Welt und sich selbst ''ein für allemal" erklären können. Kann man, seit es den Kommunismus gibt, noch Christ sein? Haben die modernen Naturwissenschaften nicht Gott zur Erklärung des Daseins überflüssig gemacht? Besteht zwischen Politik und Literatur nicht ein unaufhebbarer Widerspruch? Kann ein Mensch sich so ändern, daß man den heutigen Repräsentanten der Demokratie trauen dürfte, obwohl sie zum großen Teil in den Nationalsozialismus verstrickt waren? Wenn schon die Kirchen damals nicht dem Nationalsozialismus entgegentraten, darf man dann heute noch Nationalsozialisten verurteilen? Ist die "Freiheit" bei uns nicht ebenso gefährdet wie in den kommunistischen Ländern? Was haben wir dem Kommunismus außer dem höheren Lebensstandard entgegenzusetzen? Was wird sein, wenn der Lebensstandard einmal gleich ist? Wieso macht man bei der Beurteilung des Tötens einen Unterschied zwischen Krieg und Frieden? Warum sollen wir noch an der Einehe festhalten, wenn die sozialen Notwendigkeiten dafür entfallen sind? Wenn ich weiß, daß einige Tausend Frauen in Deutschland zu mir passen würden, wieso kann ich dann mit einer glücklich verheiratet sein? Was spricht eigentlich gegen die "freie Liebe", wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind?
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Das sind nur wenige Fragen, die wir unseren Notizen entnehmen. Wir haben sie absichtlich nicht geordnet und versagen uns auch, nach ihrem Ursprung zu fragen, obwohl manche ganz sicher einer Art ''Oberschul-Ideologie" entstammen. Diese Fragen sind unzweifelhaft ernst gemeint und deshalb mußten sie beantwortet, nicht nur sozialpsychologisch oder soziologisch eingeordnet werden. Der politische Erzieher wird immer Hemmungen haben, den politischen Unterricht mit einer solchen Last an allgemeiner Daseinsphilosophie zu befrachten, wie sie zum Teil in den Fragen der Schüler enthalten ist. Aber ihr radikaler Rigorismus hätte sich nicht mit einer "nur" politischen Interpretation begnügt, sie wollten den "irrationalen Rest", der bleibt; wenn man etwa die Einstellung der Kirchen zum Nationalsozialismus 1933 historisch und politisch erklärt hat, nicht einfach unberücksichtigt lassen. Wir halfen uns, indem wir den politischen und "philosophischen" Teil solcher Fragen auch zeitlich trennten. Das eine verwiesen wir in den politischen Unterricht, das andere in eigens anberaumte "freie Gesprächsgruppen" oder in Privatgespräche.
Die Hauptschwierigkeit lag aber darin, daß die meisten Fragen eben nur sinnvoll geklärt werden konnten, wenn man von der in ihnen implizierten monistischen Denkhaltung abging, wenn man also die in ihnen beschlossenen Widersprüche ernstnahm und dazu ermunterte, diese Widersprüche immer wieder neu zu einer Synthese zusammenzufassen. Wenn wir den Schülern klar zu machen versuchten, daß man etwa die Frage nach der "freien Liebe" einfach nicht so stellen könne, wie sie gestellt wurde, hatten sie leicht den Verdacht; man wolle der Frage selbst ausweichen. Oft war man deshalb gezwungen, die gestellte Frage so lange logisch weiter zu entwickeln, bis ihre Absurdität offenkundig war. Falsche Fragen überzeugend in richtige zu verwandeln; ist immer schwieriger, als auf richtige Fragen eine Antwort zu suchen.
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Die Fragen der Lehrlinge warfen selten solche Probleme auf. Ihnen ging es fast immer um die Klärung aktueller Konflikte ihres Alltags. Hat es Sinn, sich beruflich weiter zu bilden? Was kann ich mit Religion in meinem Leben anfangen? Soll man sich mit einem Mädchen befreunden, das schon mit anderen Männern befreundet war? Ist es vernünftig, eine Frau zu heiraten, die schon ein Kind mit in die Ehe bringt? Soll die Frau noch mitarbeiten oder gehört sie ins Haus? Warum soll man Vorarbeiter oder Meister werden, wenn das doch bloß Ärger mit den Kollegen einbringt? Ist Geschlechtsverkehr vor der Ehe wirklich schädlich für den Mann oder das Mädchen? Wieso ist "freie Liebe" nicht erlaubt, wenn andererseits Reklame und Film ständig dazu auffordern? Wieso ist Theater besser als Fernsehen? Warum fordert man uns immer auf, eine eigene Meinung zu haben, wenn wir im Betrieb immer den Mund halten müssen? Was ist eigentlich Glück und warum redet man heute so viel davon?
Für die meisten Fragen waren die Mitarbeiter sachlich gar nicht zuständig, und es dauerte einige Zeit bis wir begriffen, daß die Jugendlichen mehr verlangten, als nur einen möglichst guten politischen Unterricht. Sie setzten voraus, daß sich ihre Fragen auch uns irgendwann gestellt haben mußten und daß wir für uns darauf auch eine Antwort gefunden hatten. Die wollten sie hören; wobei sie sich vorbehielten, sie zu übernehmen oder nicht. Warum aber stellten sie diese Fragen in der Tagung? In ihrem Alltag sind sie bekanntlich sehr viel zurückhaltender damit. Es mußte die besondere Situation sein, die sie dazu ermunterte. An den Personen konnte es deshalb nicht liegen, weil die Zeit viel zu kurz war, als daß die Jugendlichen genügend abschätzen konnten, ob wir nun vertrauenswürdig waren oder nicht.
Wir glauben, daß die Tatsache eine erhebliche Rolle spielte. daß wir im Alltag der Jugendlichen keine
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Macht über sie ausübten, daß sie sicher sein konnten, daß "alles unter uns blieb". Auch vom Trampen her kennt man die Erfahrung, daß fremde Menschen sich plötzlich ihre Sorgen und Probleme berichten und auf Antwort hoffen, weil sie sicher sind, den anderen entweder gar nicht oder jedenfalls nicht in der eigenen alltäglichen Umgebung wiederzusehen. War dieses Bedürfnis der Grund dafür, daß unsere Jugendlichen auf unsere Bemühungen der Weiterarbeit nicht eingingen?
In den Klassentagungen kamen diese Bedürfnisse selten zur Wirkung - am ehesten noch das nach Begegnung mit fremden Menschen. Weder Meinungen noch Verhaltensweisen wurden hier experimentiert. In den Klassentagungen waren die Jugendlichen brav bis zur Langweiligkeit, ihre Furcht, einen falschen Gesprächsbeitrag zu liefern, machte die Diskussion mühsam und schleppend. In den Gesprächen, in denen es um "Lebensfragen" ging, diskutierten sie mit angelernten Argumenten, denen man die Unverbindlichkeit anmerkte.
Wir konnten nun die Bedingungen der Experimentier - Situation insofern ändern, als wir den Lehrer baten, sich einmal vom Tagungsgeschehen zurückzuziehen. Die Verwandlung der Jugendlichen war dann immer wieder verblüffend. Dies war auch dann der Fall, wenn der Lehrer ein geradezu vorbildliches Verhältnis zu seiner Klasse hatte, allerdings mit einer Einschränkung: Jüngere Klassen, etwa solche des 9. Schuljahres, ließen sich durch die Anwesenheit des Lehrers dann nie stören, wenn er ihr Vertrauen hatte. Für die Bereitschaft, auch mit dem eigenen Verhalten zu experimentieren, entfiel allerdings auch diese Einschränkung wieder, vermutlich deshalb, weil der einzelne Lehrer zwar ein Klima schaffen kann in seiner Klasse, in dem sozial folgenlos gesprochen werden kann, während er kaum in der Lage ist, angesichts der rechtlichen Bestimmungen - wie vor allem des
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Drucks der bürgerlichen Umgebung seiner Schule - einen allzu breiten Verhaltensspielraum seiner Schüler zu dulden.
Noch ein weiterer Vergleich war uns erlaubt, um die Richtigkeit unserer Hypothese zu erhärten. Viele Schüler, die zunächst auf einer Klassentagung zu uns kamen, meldeten sich später zu einer anderen Tagung an. In den meisten Fällen verhielten sie sich dann ganz anders als vorher. Daraufhin befragt gaben sie Antworten, die unsere Vermutung bestätigten.
Anmerkungen zu Kap. 2
(1) Karl Korn, Sprache in der verwalteten Welt, München 1962, dtv Bd 79, S. 70 f. - Der kulturkritische Zorn hat sich dieser neuen Massenerscheinung "Tagung" in den letzten Jahren zugewendet. Korn spricht vom "Geist aus dem Bauchladen" (S. 70); Kentler, a.a. O., S. 112, verwendet Charakterisierungen wie "Problem-Märkte", "Personenbörsen", "gutorganisiertes gegenseitiges Unverständnis", "Begegnungsindustrie". - Trotz solcher Belastungen wollen wir dem Begriff "Tagung" den Vorzug vor den übrigen Synonyma geben.
(2) Ebenso Schepp. a.a.O., S. 209. Kentler beschreibt diese Erwartungshaltung am extremen Beispiel des jugendlichen Urlaubsverhaltens als ''Auszug aus dem Alltag". H.Kentler, Urlaub als Auszug aus dem Alltag, in: deutsche jugend, H 3, 1963, S. 118-124.
(3)Vgl. Charlotte Lütkens, Die Schule als Mittellassen-Institution, in: Peter Heintz, Soziologie der Schule ... S. 22-39, sowie Basil Bernstein, Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens. Mit besonderer Berücksichtigung der Rolle der Sprache, ebenda S. 52-79.
(4) Zwischen den Mitarbeitern und einer Reihe jugendlicher Teilnehmer entspann sich oft ein Briefwechsel, der lange andauern konnte. Das Interesse der Jugendlichen daran war erheblich, weil er den "privaten" Charakter der Tagung beibehielt. Aber auch dies war schon deshalb keine generelle Lösung, weil der Umfang eines wirklich privaten Briefkontaktes sehr begrenzt ist und seine Erweiterung Mittels eines Büros unehrlich gewesen wäre. Wir glauben, daß ein regelmäßiger Kontakt mit relativ vielen, räumlich von einander getrennten Menschen nur auf eine Weise möglich ist, in der sie auch sonst in der Großgesellschaft geschieht: Auf dem Wege publizistischer Maßnahmen, für die dann aber notwendigerweise publizistische und nicht pädagogische Maßstäbe gelten würden. Dennoch wäre der Versuch, eine regelmäßige "Korrespondenz" für ehemalige jugendliche Tagungsteilnehmer zu entwickeln, ein zwar aufwendiges, aber sicher sehr aufschlußreiches Experiment.
(5) Kentler, a.a.0., S.141, hält erst dann eine Tagung für "fruchtbar" und "sinnvoll", wenn ihr eine intensive Nacharbeit folgt. Er versteht darunter allerdings auch nur die Aufrechterhaltung persönlicher Kontakte (S.142), während er den organisatorischen Konsequenzen einer Systematisierung solcher Kontakte nicht weiter nachgeht. Schepp, a.a.O. S.209, teilt mit, daß "Nachbereitung" von 89% seiner Befragten gewünscht wird, von denen allerdings 76% neue Lehrgänge meinen, - was mit unserem Ergebnis übereinstimmt. Zudem richtete sich Schepps Befragung auf einen anderen Teilnehmerkreis, von dem die meisten Erwachsene waren, die in bestimmten pädagogischen Berufen standen. Für sie handelte es sich also um berufliche Fortbildung.
(6) Kentler, a.a.O., S. 80, hat von der Seite der Studenten her diesen Sachverhalt treffend beschrieben: "Jeder Mitarbeiter mußte echt und ganz der sein, der er war - je ausgeprägter die Persönlichkeit, je origineller der Charakter, umso besser. Ob unsere studentischen Mitarbeiter "Erfahrungen" in der Jugendarbeit hatten, war nicht so nichtig ..., aber wichtig war, daß sie kein Brotstudium betrieben, sondern mit Leib und Seele an ihrem Fach hingen, daß sie ein 'Steckenpferd ritten', daß irgendein Punkt ihres Lebens außergewöhnlich war... ."
3. Kap.: Tagungsgestaltung als Antwort auf die Bedingungen und Voraussetzungen
Die bisherigen Überlegungen hatten den Sinn, den Bereich der pädagogischen Möglichkeiten so weit wie möglich von den Bedingungen her einzuschränken. Es kommt jetzt darauf an, die pädagogischen Antworten im einzelnen zu beschreiben und zu begründen, die in unserem Falle darauf versucht wurden. Denn "Tagungsgestaltung"' kann nach dem bisher Gesagten nur heißen, die vorgefundenen Bedingungen und Erwartungen so zu ordnen, daß sie für das Erziehungsgeschehen produktiv werden können. Mit den nun folgenden pädagogischen Antworten wurde also versucht, eine optimale Lehr- und Lernsituation zu schaffen.1) Planung und Improvisation
Eine der schwierigsten Aufgaben, die für jede Tagung neu zu lösen war, war, ein ausgewogenes Verhältnis von Planung und Improvisation herzustellen. Etwa ein Drittel der Tagungszeit wurde inhaltlich mit Arbeitsgemeinschaften, Referaten und Diskussionen vorgeplant. Darauf bereiteten sich die Mitarbeiter vor. Die ersten Tage waren stärker verplant als die übrigen. Das Ausmaß der Planung hing auch von den Teilnehmern ab. Bei den Oberschultagungen konnte man mit einem erhöhten Interesse an politischen Fragen rechnen. Deshalb wurden hier etwa 2/3 der Gesamtzeit verplant. Schwieriger war das
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Problem bei den Lehrlingen zu lösen. Grundsätzlich mußte es sich angesichts der oben genannten Freizeitbedingungen als unzweckmäßig erweisen, allzu viel vorzuplanen. Sicher hätten die Jugendlichen auch dabei mitgemacht. Aber dadurch wären bessere und kräftigere Lernmotive verschüttet worden.
Das Moment der Improvisation spielte nicht nur in den ungeplanten Zeiten eine Rolle, sondern auch für die thematisch geplanten selbst. Vor allem die Lehrlinge waren hinsichtlich ihrer politischen Interessen stark von der Aktualität abhängig. Die Mitarbeiter, die sich auf eine Arbeitsgemeinschaft mit einem bestimmten Thema vorbereitet hatten, mußten sich unter Umständen kurzfristig umorientieren, wenn die politische Auseinandersetzung ein anderes Thema in den Vordergrund gespielt hatte. Die "Spiegel-Affäre" war dafür ein gutes Beispiel. In den Monaten der öffentlichen Auseinandersetzung darüber gab es für die Lehrlinge nur dieses eine politische Thema. Die politischen Erzieher konnten nun nicht einfach an dem Thema festhalten, für das sie sich vorbereitet hatten, vielmehr mußten sie sich umstellen, sollten sie nicht den Motor des erweckten politischen Interesses "ohne Benzin" lassen. Eine solche Anpassung hätte normalerweise zu einem hoffnungslosen unterrichtlichen Dilettantismus geführt, wenn nicht zwei Momente diese Gefahr weitgehend wieder aufgehoben hätten.
Einmal waren die Mitarbeiter, vor allem die Studenten, immer sehr gut informiert, zum anderen wurden allzu einseitige Lehrpositionen durch den Team-Charakter der Tagungsleitung weitgehend vermieden. Es war üblich, solche aktuellen Themen zunächst ein bis zwei Stunden im Team zu diskutieren, bevor man sie mit den Jugendlichen erörterte. Außerdem wurden in solchen Fällen nach Möglichkeit zwei Mitarbeiter mit der Leitung einer Gruppe betraut - möglichst solche, die verschiedene Meinungen zu dem Thema hatten.
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Die Notwendigkeit zur Improvisation beschwor nun eine weitere Gefahr herauf. Wie konnte vermieden werden, daß das Lernen nun wieder durch die Disparatheit der Inhalte verhindert würde? Viele einzelne Gespräche, mögen sie noch so gut geführt sein, ergeben von sich aus weder einen objektiven Sachzusammenhang, noch ein subjektives Sinnverständnis. Es war eine permanente Aufgabe des Leiter-Teams, für diesen Zusammenhang zu sorgen. Im Bezug zum geplanten Unterricht waren die improvisierten Veranstaltungsformen aber keineswegs nur ein Mangel. Dadurch, daß wir dem geplanten Unterricht nur einen Teil der Zeit einräumten, gaben wir den Jugendlichen Gelegenheit, in Diskussionen untereinander das Gelernte zu verarbeiten, es weiter zu denken und dasjenige an den Unterrichtsgehalten, was sie dann besonders interessierte, als Thema für die improvisierten Gespräche in der freien Zeit zu artikulieren. Mit einer gewissen Vereinfachung darf man sogar sagen, daß jene Augenblicke, wo die persönliche Bedeutsamkeit des Gelernten auf einmal auf- und einleuchtete, selten im Unterricht selbst zu finden waren als vielmehr in den Zeiten der Improvisation - der freien Gesprächsgruppen oder der persönlichen Gespräche. Der Unterricht bereitete sie eigentlich nur vor. Unter dem Gesichtspunkt des Lernens also war der scheinbare Widerspruch von Planung und Improvisation in Wahrheit ein fruchtbarer und notwendiger Zusammenhang.
2) Die Institutionen der Tagung
Definiert man die Tagung vorläufig als eine Gesellungsform, so kann man sich nicht damit begnügen, nur die Menschen an einen Ort zusammenzuführen und die Inhalte und Formen der Kommunikation einer blinden Spontaneität zu überlassen. War die eben beschriebene Improvisation nicht denkbar ohne ein Minimum an Planung, an der allein sie sich entzündete, so bedurfte auch die Kommunikation eines Min-
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destmaßes an organisatorischer Vorentscheidung, einer organisatorischen Plattform, auf der sie sich realisieren konnte. Die allgemeine soziologische Erkenntnis, daß Verhalten an das Vorhandensein von Institutionen gebunden sei, an denen es sich orientieren kann, gilt auch für die Tagung. In unserem Falle wurden drei solcher Institutionen entwickelt: das Mitarbeiter-Team, das Sprecher-Team und die Arbeitsgruppe.
a) Das Mitarbeiter-Team
Eine Tagung wurde immer von einen Team(1) von 3-5 Personen geleitet. Im einzelnen bestand das Team aus einem Mitarbeiter des Hauses, der Pädagoge war, und Studenten verschiedener Fakultäten. In der Regel war der hauptamtliche Mitarbeiter auch zugleich Tagungsleiter. Ihm als dem letztlich Verantwortlichen kam in allen Fragen die Entscheidung zu, die von den übrigen loyal mitvollzogen wurde, auch wenn sie anderer Meinung waren. Auf diese Weise bekam jede Tagung eine klare Führung. Diese Regel galt auch, wenn einer der Studenten die Tagungsleitung hatte. In diesem Falle stand auch der Leiter des Hauses in der Rolle des einfachen Mitarbeiters. Seine Autori-
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tät als Leiter des Hauses und damit als "Arbeitgeber" der Studenten blieb in diesem Falle unberücksichtigt.
Die Leitung des Tages dagegen wechselte von Tag zu Tag. Jedes Mitglied des Teams wurde so an der Leitung der Tagung beteiligt. Diese Regel wurde nicht nur als geeignetes Mittel der Arbeitsteilung eingeführt, sie hatte auch andere Gründe. Der Student sollte sich den Jugendlichen in mehreren Rollen präsentieren und dabei seine Schwierigkeiten und Grenzen erfahren. Blieb er nur Gruppenleiter, der mit einer kleinen Gruppe an einem Thema arbeitete, das er gut beherrschte, so geriet er leicht in eine Identifizierung mit der Gruppe. Es bildete sich unmerklich ein Gefolgschaftsverhältnis der Gruppe zu ihm heraus. Trat er aber außerdem wenigstens einen Tag in der Rolle des Leiters auf, so mußte er nicht nur die Gesamtheit der Teilnehmer im Blick haben, sondern auch allgemeine organisatorische und disziplinarische Probleme lösen. Solche Tätigkeiten fielen aber oft gerade denen am schwersten, die in der kleinen Gruppe die besten Erfolge hatten. Im Leiterteam schaffte sich die Tagung ihr Bewußtsein. In seinen täglichen Sitzungen wurde der Stand der Arbeit bedacht, der Ablauf der nächsten Tage festgelegt und das Verhalten der Mitarbeiter kritisiert.
Es reiste einen Tag vor Tagungsbeginn an, um sich vorzubereiten. Die einzelnen Mitarbeiter stellten die Vorhaben vor, auf die sie sich vorbereitet hatten. Sie berichteten darüber nach folgendem groben Schema:
1) Wie soll das Unterrichtsergebnis des Vorhabens aussehen?
2) Welcher Einstieg wird gewählt?
3) Welches Material soll verwandt werden?
4) Wie ist der Weg vom Einstieg zum Unterrichtsergebnis geplant?
Jeder Bericht wurde ausführlich fachlich und pädago-
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gisch diskutiert, das Vorhaben entsprechend korrigiert und verändert. Auf diese Weise erfuhr jeder Mitarbeiter die Problemstellungen der anderen und konnte sich entsprechende Verweise in seinem Manuskript notieren.
Anschließend wurde überlegt, welche alle Vorhaben übergreifende Problemstellungen noch einmal besonders vor dem Plenum erörtert werden sollten. Dann wurden einzelne Mitarbeiter gebeten, sich dafür nach Rücksprache mit den anderen ein kurzes "Einstiegsreferat" zu überlegen. Wenn dafür noch Zeit blieb, wurden gleich schon Gesichtspunkte für ein solches Referat zusammengetragen. Diese Vorbereitung nahm einen ganzen Arbeitstag, also mindestens 8 Stunden, in Anspruch.
b) Das Sprecher-Team
Dem Leiter-Team zugeordnet war das Sprecherteam, dessen Mitglieder von den einzelnen Arbeitsgruppen am zweiten Tagungstag gewählt wurden - mit Ausnahme der Klassentagungen, wo die Klassensprecher in ihrem Amt blieben.
Das Ansinnen, Sprecher zu bestimmen, stieß zunächst immer auf Ablehnung oder Widerstand und wurde von den Jugendlichen selten von vornherein als Zeichen demokratischer Gepflogenheiten gewertet. Bei einer solch kleinen Gruppe sei das "Spielerei", jeder könne seine Wünsche und Interessen doch direkt bei der Tagungsleitung anbringen und brauche dafür keine "Vermittlung". - Solche Argumente waren zunächst einleuchtend und zutreffend und beruhten meist durchaus auf eigenen Erfahrungen im Betrieb und in der Schule. Mit der Zeit lernten wir die wenigen Schulen kennen, in denen das Sprecheramt als pädagogische Möglichkeit ernst genommen wurde. Die Schüler solcher Schulen waren sehr selbstbewußt, entschiedene, aber auch höfliche Verhandler gegenüber den Mitarbeitern. Sie wurden von den anderen fast immer zu Sprechern gewählt. Der Gruppe gegenüber traten sie ebenso entschieden auf wie
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gegenüber der Leitung. Sie formten dann die Tagung entscheidend mit, hatten aber oft erhebliche Schwierigkeiten mit solchen Teilnehmern, in deren autoritär geleiteten Schulen die Mitverwaltung nur auf dem Papier stand. Diese waren weder gewohnt, ihre Interessen zu organisieren noch auch, nach einer Sprecherwahl ein Mindestmaß an Führungsanspruch seitens der Gewählten anzuerkennen. In ihren Augen waren die Sprecher diejenigen, die "die Arbeit machten". Die Mitarbeiter unterstützten die Maßnahmen der Sprecher auch dann nachhaltig, wenn sie sie nicht für ganz richtig hielten. Die Sprecher genossen außerdem bestimmte "Privilegien": Die täglichen Sitzungen mit ihnen fanden meist in den Privaträumen der Mitarbeiter statt, außerdem brauchten die Sprecher sich nicht unbedingt an täglichen Ordnungsarbeiten zu beteiligen. Schließlich wurden sie immer wieder davon abgehalten, der Bequemlichkeit halber alle notwendigen Tätigkeiten selbst zu verrichten. Sie sollten innerhalb des zuständigen Rahmens Arbeiten verteilen und Anordnungen geben. Gelegentlich wurden die Sitzungen mit den Sprechern öffentlich abgehalten; dann konnten die übrigen Teilnehmer die Verhandlungen und damit die Argumente ihrer Sprecher verfolgen.
Die Lehrlinge hatten mit der Mitverwaltung noch mehr Schwierigkeiten als die Oberschüler. Wo es in ihren Betrieben "Lehrjahr-Sprecher" gab, handelte es sich meist um eine reine Formalität. In der Struktur des Betriebes hatte im Grunde der Lehrgeselle die Funktion eines solchen Sprechers mit übernommen - durchaus nicht zum Schaden der Lehrlinge.
Die Mitarbeiter sahen die Einrichtung des Sprecher-Teams zunächst mit einigem Mißtrauen. War es nicht bedenkliches "Demokratie-Spiel''? Handelte man mit solchen Instanzen nicht unnötigen Leerlauf ein, wie die Jugendlichen selbst immer vermuteten? Gelang es, den Teilnehmern den Sinn einer solchen
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Einrichtung im Verlauf einer Tagung klarzumachen? Gab es denn überhaupt eine einsichtige Aufgabe für sie?
Die letzte Frage war entscheidend. Nach oben war die Aufgabe der Sprecher durch die rechtliche und allgemein gesellschaftliche Verantwortung der Leiter begrenzt. Es wäre also unrealistisch und somit auch unpädagogisch gewesen, in Disziplinfragen die Sprecher an Entscheidungen zu beteiligen. Aber in den wenigen Fällen, wo die Mitarbeiter aus disziplinarischen Gründen die Abreise eines Teilnehmers erörtern mußten, wurden die Sprecher um ihren Rat gebeten. Solche Sitzungen waren natürlich nicht öffentlich und die Sprecher wurden ebenso zum Stillschweigen verpflichtet wie die Mitarbeiter auch. In allen Fällen erwiesen sich die Sprecher als kluge und gerechte Anwälte der Betroffenen. Ohne sie wäre das Urteil der Mitarbeiter einseitig gewesen. Der Ernst, mit dem die Mitarbeiter den jeweiligen Fall zu lösen versuchten, strahlte auf die Jugendlichen aus und hatte - so hofften wir - Folgen für ihre Menschenbeurteilung. In diesen wenigen, den Stil einer Tagung aber oft entscheidenden Fällen war also die Beteiligung der Sprecher unentbehrlich.
Eine weitere Einschränkung der Sprecher-Kompetenz war durch die sachliche Zuständigkeit der Mitarbeiter gegeben. Aber auch hier war die beratende und kritisierende Beteiligung der Sprecher unentbehrlich. Zwar waren die Pädagogen für die Gegenstände, die sie vertraten, zuständig, aber konnten sie selbst genügend abschätzen, ob ihre Gesprächsführung einseitig, langweilig und uninteressant war, ob sie zu sehr ihre politische Meinung ins Spiel brachten, ob sie einen Teilnehmer ungerecht behandelten?
Die jugendlichen Teilnehmer, wie auch die Sprecher selbst, fühlten sich in der Rolle der Kritiker nicht wohl und hielten unser Angebot zu kritisieren zu-
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nächst immer für die übliche Phrase, doch "frei ihre Meinung zu äußern". Daß die Mitarbeiter eine solche Kritik ernsthaft für die Verbesserung ihrer Arbeit wünschten und nutzten - wenngleich sie sich vorbehielten, ihre Richtigkeit anzuerkennen oder nicht - erschien den Jugendlichen unglaubhaft. Außerdem hatten sie immer persönliche Hemmungen, Kritik an Mitarbeitern zu formulieren, die sie im ganzen eigentlich gern mochten. Aber gerade dabei lernten sie den Wert der Institution des Sprechers schätzen. Sie stellte dem Sprecher frei, ob er sich mit einer Kritik persönlich identifizieren sollte oder ob er sie nur als Meinung anderer weitergab. Im letzteren Falle forderten wir ihn nie auf, auch seine persönliche Meinung zu sagen, wenn er es nicht von selbst tat: Die Institution gewährte ihm Schutz und er sollte ihn in Anspruch nehmen dürfen. Dennoch war die Aufforderung zu kritisieren so ungewohnt, daß der Anstoß dafür meist von den Mitarbeitern selbst kommen mußte.
Die Tatsache, daß den Jugendlichen eine Kritik "Aug in Auge" mit den Mitarbeitern so schwer fiel, machte uns frühzeitig auf ein Problem aufmerksam, das die Tagung insgesamt betraf. War es erzieherisch vertretbar, die Jugendlichen so konsequent in eine Partnerrolle zu den Erwachsenen zu bringen, wenn eine solche Rolle in ihrem Alltag offensichtlich so gut wie nirgends einzuhalten war? Produzierte man damit nicht bloße Unzufriedenheit, die nicht in Veränderung umschlagen konnte, weil die Gestaltung des Alltags in Schule, Beruf und Familie nicht Sache der Jugendlichen, sondern immer noch eindeutig Sache der Erwachsenen ist? Diese Frage war um so ernster zu nehmen, als sich an ihrer Lösung letztlich entscheiden mußte, ob die Tagung wirklich kritische Reserven mobilisierte oder ob sie nur ein vom Alltag wohltuend unterschiedenes Ghetto blieb. Dieses Problem ist schwer zu lösen, da man letztlich die Wirkungen auf die Teilnehmer nicht hinreichend ab-
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schätzen kann. Ein Korrektiv war das jeweilige Abschlußgespräch, das u.a. alle Besonderheiten der Tagung ins Bewußtsein bringen sollte.
Neben der beratenden und kritischen Funktion erhielten die Sprecher und damit die Teilnehmer weitgehende Vollmachten für die Gestaltung der nichtgeplanten Tagungszeiten sowie die allgemeinen Probleme des Zusammenlebens, soweit sie nicht unmittelbar disziplinarische Qualität annahmen. Alle Probleme, die die Koordination der Freizeitinteressen, die gegenseitige Hilfe, Rücksichtnahme und Höflichkeit betrafen, wurden dadurch zu Aufgaben der Selbstverwaltung, daß die Mitarbeiter sich weigerten, sie wahrzunehmen. Das hatte im einzelnen weitreichende Konsequenzen und führte oft zu den schon beschriebenen Verhaltens-Experimenten.
Die Mitarbeiter griffen z.B. auf Bitten der Teilnehmer nicht ein, wenn einige die Nachtruhe aller in den Schlafräumen störten. Das geschah eigentlich zu Anfang einer jeden Tagung. Sie argumentierten dann, sie hätten zwar die Pflicht, die Ordnung des Zusammenlebens soweit zu garantieren, daß in unserer Gesellschaft übliche Grundsätze nicht verletzt würden, aber darüber hinaus fühlten sie sich weder als Kindermädchen noch als Freizeitmanager; für ihr persönliches Wohlergehen müßten die Teilnehmer schon selbst sorgen, dazu seien sie alt genug. Oft spitzten sich solche Entwicklungen dramatisch zu. Am dritten oder vierten Tag waren die Jugendlichen infolge der durchwachten Nächte unausgeschlafen und überreizt. Sie wurden aggressiv gegeneinander und spürten, daß die Tagung, von der sie sich so viel versprochen hatten, darunter zu leiden begann. Manchmal traten auf dem Höhepunkt der Krise auch noch die Sprecher mit der Begründung zurück, ihren Ordnungsvorschlägen würde ständig der Gehorsam verweigert. Erst in dieser Situation, wo die Jugendlichen die Folgen ihres Verhaltens zu erleben begannen, traten die Mitarbeiter mit Vorschlägen, nicht
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mit Anweisungen auf den Plan: Vielleicht sei es sinnvoll, sich erst einmal richtig auszuschlafen und dafür ausnahmsweise auch einmal die lange Mittagspause zu benutzen. Nachher könne man sicher vernünftiger über alles reden. War auf diese Weise die Krise behoben, dann bekamen die alten oder neuen Sprecher Autorität gegenüber den Teilnehmern und alle Maßnahmen über die Ordnung des Zusammenlebens wurden als pragmatisch-notwendig empfunden. Die Jugendlichen hatten ihre Unfähigkeit, die einfachsten Probleme des Zusammenlebens selbst zu lösen, ebenso erlebt wie die Möglichkeiten der Abänderung. Solche Erfahrungen waren den Mitarbeitern wichtiger als ein unproblematisches Zusammenleben wie bei den Klassentagungen, wo man genau wußte, daß hier die Disziplin nur durch äußeren Druck erhalten blieb. In den Lehrlingstagungen wurden Kritik, Organisation und Formulierung des eigenen Interesses gelegentlich auf folgende Weise provoziert. Meist stellte sich nach einigen Tagen heraus, daß die Teilnehmer mit dem angebotenen Programm unzufrieden waren. Die weitgehend auf Improvisation angelegte Tagungsplanung hätte mühelos entsprechend den beobachteten Wünschen das Programm korrigieren können. Die Mitarbeiter taten aber so, als ob sie die Unzufriedenheit nicht bemerkten, und fuhren fort, die Lehrlinge mit ihrem Programm zu langweilen. Spätestens nach anderthalb Tagen entschied sich die Krise. Die Lehrlinge kamen unpünktlich zu den Veranstaltungen, einige blieben ganz weg und amüsierten sich in der Umgebung. Nun trieben die Mitarbeiter die Entwicklung wieder auf die Spitze. Sie teilten den Sprechern mit, sie seien in ihren Privaträumen zu erreichen, und wenn alle wieder beisammen seien, könnten sie ihnen Bescheid sagen. Vorher seien sie zu einer Weiterarbeit nicht bereit, sie könnten ihre Zeit auch anders verbringen. Dieses Verfahren war nicht ohne Risiko, denn in jedem
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neuen Falle war gar nicht sicher, daß die Sprecher die Teilnehmer zusammensuchten und sich dabei die ersten Auseinandersetzungen in der Gruppe anbahnten - wie wir hofften.
In der darauf folgenden Zusammenkunft teilten die Mitarbeiter kühl und sachlich mit, sie hätten zu Beginn der Tagung um Vorschläge und Kritik gebeten. Beides sei bis jetzt nicht erfolgt. Daraus leiteten sie das Recht ab, so weiter zu machen, wie sie sich das vorgenommen hätten. Allerdings hätten sie seit anderthalb Tagen von der Unzufriedenheit gewußt, aber es sei ja wohl nicht ihre Sache, die Interessen der Teilnehmer zu vertreten, das müßten sie in ihrem Alltag ja wohl auch selber tun. Im Grunde hätten sie, die Mitarbeiter, die Lehrlinge seit anderthalb Tagen mit Unterstützung ihrer Amtsautorität "verschaukelt", wie das immer geschähe, wenn jemand seine eigenen Interessen nicht wahrnähme. Da nun aber nicht jeder einzelne eine Tagung für sich machen könne, müßten die Teilnehmer schon ihre verschiedenen Interessen selbst erst einmal zu einem Programm zusammendiskutieren, das dann der Leitung als geschlossener Vorschlag vorgelegt würde. Sonst könnten die Mitarbeiter den einen Wunsch gegen den anderen ausspielen und dabei doch letztlich ihre eigenen Absichten durchsetzen, ohne daß die Teilnehmer das merken müßten. Damit war der Bann gebrochen. Die Mitteilung der Mitarbeiter, sie hätten die Gruppe planmäßig manipuliert, hinterließ immer einen nachhaltigen Eindruck. Ohne Zweifel haben die Lehrlinge diese Erfahrung von Solidarität und Kompromiß in Verbindung mit ihren Interessen zur Kenntnis genommen und mit ihrem Alltagsverhalten verglichen. Aus der Darstellung dieser beiden Maßnahmen, die exemplarisch für andere mit gleicher Tendenz stehen, mag abgeleitet werden, daß für die Schaffung und Ausnutzung bestimmter erzieherischer Situatio-
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nen relativ viel Zeit aufgewendet wurde, die natürlich auf Kosten des Unterrichts im engeren Sinne ging. Der Unterricht war nur ein Faktor der Erziehungssituation "Tagung" und unter Umständen nicht einmal der dominante. Was aber durch die zeitliche Verringerung des Unterrichts verloren ging, wurde mehr als wettgemacht durch die Erhöhung der Lernbereitschaft, die aus der Berücksichtigung der übrigen Faktoren resultierte.
c) Die Arbeitsgruppe
Die Arbeitsgruppe war neben dem Leiter-Team und dem Sprecherteam die dritte Institution der Tagung. In allen Tagungen wurden die Teilnehmer in Arbeitsgruppen von 10-15 Mitgliedern aufgeteilt, denen ein Student als ständiger Leiter zugeteilt war. Bei den Oberschultagungen konstituierten sich die Gruppen nach dem Thema, bei den Lehrlingstagungen in der Regel durch Abzählen. Die Gruppen wählten je nach Größe der Gesamtteilnehmerzahl 1-2 Sprecher. In ihnen war jeder Teilnehmer erfaßt und wurde zur Mitarbeit herangezogen. Dadurch war im unterrichtlichen Sinne eine optimale Intensität gewährleistet. Die kleine Gruppe integrierte den Einzelnen sehr schnell und erleichterte ihm somit bei den Oberschultagungen den Kontakt mit ihm fremden Jugendlichen.
In den Lehrlings- und Klassentagungen war die Arbeitsgruppe ein notwendiges Mittel, die festgefahrene Gruppenstruktur der Klasse bzw. des Lehrjahres zu sprengen. In einer solchen permanenten Gruppe sind die Beziehungen der Mitglieder untereinander auf wenige Rollen reduziert. Der eine ist der "Spaßmacher", einige andere geben den Ton an, die Mehrzahl applaudiert, der gilt als "Frauenheld", jener als "Sozialdemokrat". Indem wir die Klasse oder das Lehrjahr in zwei oder drei Gruppen aufteilten, setzten wir für die einzelnen neue Beziehungsmöglichkeiten frei. Die Jugendlichen äußerten nun Ansichten und entwickelten Fertigkei-
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ten, die sie bis dahin voneinander nicht erwartet hatten. Dies war auch die Voraussetzung dafür, daß sie sich dem Kontakt mit den Mitarbeitern öffneten.
Zunächst übernahmen diese Gruppen auch im täglichen Wechsel die Mitwirkung im Haus wie Abwaschen und sonstige Hilfsdienste. Es erschien logisch, die Beziehungen der jeweiligen Gruppe zum Haus auch in dieser Weise zum Ausdruck zu bringen. Diese Regel wurde aber bald abgeändert, weil sich technische Schwierigkeiten einstellten (die Gruppen waren z.B. nie gleich groß) und vor allem, weil auf diese Weise der "Hilfe im Haus" eine unangemessene ideologische Qualität zukam. Später wurde diese Angelegenheit als rein technische angesehen, bei der es darauf ankam, mit möglichst geringem Einsatz einen möglichst hohen Effekt zu erzielen: Die Sprecher verlasen von Fall zu Fall die Namen derjenigen, die um Mitarbeit gebeten wurden. Die Arbeitsgruppe, die durch die häufigen Zusammenkünfte und dadurch, daß sie das Zentrum der geistigen Arbeit wurde, verhältnismäßig intim zusammenwuchs und gelegentlich ein ausgesprochenes Gruppenbewußtsein entwickelte, rief nun immer selbst wieder die Beschränkung herauf, von der oben die Rede war. Das Ziel, gerade ein Erlebnis der Variabilität menschlicher Kommunikationen zu vermitteln, mußte nun auch gegen die eigene Arbeitsgruppe ermöglicht werden. Zwei Tatsachen korrigierten die Gruppenintimität weitgehend: einmal die Errichtung von Neigungsgruppen in den freien Zeiten und zum anderen die Tatsache, daß in der freien Zeit grundsätzlich keine verbindlichen Veranstaltungen angesetzt wurden. So hatten die Jugendlichen genug Möglichkeiten, mit Partnern ihrer eigenen Wahl wie auch mit anderen Mitarbeitern als dem eigenen Gruppenleiter zusammen zu kommen. Daß das Bedürfnis, möglichst vielen fremden Menschen zu begegnen, nicht ideologisch angesonnen, sondern tatsächlich
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vorhanden war, erwies die Praxis. Ließ sich ein Mitarbeiter in der freien Zeit sehen, fanden sich immer Teilnehmer, die sich "zufällig" seinem Spaziergang anschlossen oder sich mit ihm in die Sonne legten. Dabei war in der Regel die "Sache" des Unterrichts tabu, wenn nicht gerade eine besonders heftige Auseinandersetzung zur Fortsetzung des Gespräches zwang. Die Unterhaltungen bewegten sich dann auf der Ebene einer mittleren Konversation. "Tiefe" des Gespräches wurde dabei von keiner Seite angestrebt, auch von den Mitarbeitern nicht, die genau so wenig wie die Jugendlichen die geistige Auseinandersetzung für den Normalfall menschlicher Kommunikation hielten. Hier war nur interessant, was man über dieses oder jenes so dachte. Und trotzdem waren diese Plaudereien nicht unwichtig für das Klima, in dem dann die gezielten Gespräche stattfanden.
Die kleine Gruppe war nur sinnvoll, wenn es möglich war, aus ihr zeitweilig wieder auszutreten. Deshalb war die Gesamtzahl der Teilnehmer von großer Wichtigkeit. Tagungen mit weniger als 30 Teilnehmern blieben immer unbefriedigend, weil die Zahl für eine Variabilität der Kommunikation zu klein war. Zwischen 40 und 50 lag das Optimum. Hier konnten die Teilnehmer die zwei Rollen, die sie auf der Tagung einnahmen, wirklich ausspielen. In der Arbeitsgruppe wurden sie engagiert und "erfaßt"; sie mußten Meinungen entwickeln und mitarbeiten. In der großen Gruppe, der "Masse", konnten sie untertauchen und weitgehend ihren individuellen Interessen nachgehen.
3) Das "Lehrer-Schüler-Verhältnis" als "Rollen-Ensemble"
Die allgemeine gesellschaftliche Situation des freien Trägers und die Mitarbeit von Studenten als sozial noch nicht festgelegten Erwachsenen hatten, wie wir sahen, schon bestimmte Bedingungen für das Lehrer-Schüler-Verhältnis geschaffen. Wir wollen nun
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die konkrete pädagogische Bestimmung vornehmen.
Auf der Tagung traten die Mitarbeiter den Jugendlichen nicht in einer verengten Rolle (als Lehrer, Referent; Leiter einer Institution usw.), sondern "allseitig", d.h. in einem Ensemble verschiedener Rollen gegenüber. Mindestens 6 verschiedene Rollen kann man unterscheiden, die der Mitarbeiter bewußt entwickelte und auf die hin der Jugendliche sich zu verhalten versuchte.
a) Der Mitarbeiter war Erwachsener. Als solcher repräsentierte er in der Tagung die gesellschaftlichen Ansprüche, ihre Normen, Gesetze und Erwartungen. Gegenüber den Jugendlichen stellte er im Bewußtsein seines Erwachsenseins Forderungen. In dieser Rolle wußte er sich als Teil der gesellschaftlichen Ansprüche an den Jugendlichen, die aus ihm ein funktionstüchtiges Mitglied der Gesellschaft machen sollen. Die Jugendlichen waren ihm gegenüber nur zum Teil gleichberechtigt. Er hielt auch rein äußerlich Distanz zu ihnen, er siezte sie und ließ sich siezen. Der Jugendliche wird auf der Ebene dieser Rolle als ein potentiell Erwachsener behandelt.
b) Der Mitarbeiter war Mann oder Frau. In dieser Rolle trat er dem anderen Geschlecht anders gegenüber als dem eigenen. Man war sich auch der erotischen Spannungen zum anderen Geschlecht bewußt und nutzte sie für die erzieherischen Kommunikationen. Die Rolle forderte seitens der Jugendlichen Männlichkeit und Weiblichkeit heraus. Charme wurde von den Mitarbeitern gegenüber dem anderen Geschlecht angewandt und honoriert. Auf dieser Ebene waren die Mitarbeiter nicht "Pädagogen", sondern Männer, die ihren Gefallen an den Mädchen nicht verheimlichten und Frauen, die ein Kompliment der männlichen Jugendlichen freundlich aufnahmen. Diese selbstverständliche Haltung führte zu einem ebenso direkt-saloppen wie höflichen Um-
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gangston der Teilnehmer untereinander. Zoten und andere Äußerungen verdrängter erotischer Gefühle blieben vermutlich wohl deshalb auch bei den Lehrlingen selten, die sonst in ihrem Sprachgebrauch nicht sehr wählerisch sind. Kam das Gespräch auf sexuelle Fragen, so beteiligten sich die Mitarbeiter ohne Scheu, aber auch ohne aufdringliches Interesse daran.
c) Der Mitarbeiter war Sachkenner für das, was er als Lehrinhalt anbot. Hierauf konnte er einen Führungsanspruch gründen, weil er hier jedem einzelnen Teilnehmer überlegen war.
d) Der Mitarbeiter war interessierter Laie. Hier blieb grundsätzlich unentschieden, ob er oder einzelne Teilnehmer sachkundiger waren. In allen sportlichen Disziplinen waren die Teilnehmer hoch überlegen, oft auch in den Künsten - mit Ausnahme der Literatur. Die Lehrlinge aus der Flugzeugindustrie verfügten über sehr subtile technische Kenntnisse, von denen die meisten Studenten nur profitieren konnten.
e) Der Mitarbeiter war ein Fragender in allen wichtigen persönlichen Lebensfragen. In dieser "Offenheit" seiner eigenen Problemstellungen hatte er trotz seiner sachlichen Zuständigkeit prinzipiell keinen Vorsprung mehr vor den Teilnehmern. Hier waren sie gleichberechtigt weil in gleicher Lage.
f) Der Mitarbeiter war gesellschaftlicher Partner der Jugendlichen in der freien Zeit, beim Tanz, Spiel, Sport, Spaziergang usw. Auch in dieser Rolle war er "nur" gleichberechtigt.
g) Schließlich war er vielleicht hier und dort noch persönlicher Berater. Dazu mußte der Anstoß allerdings immer von den Teilnehmern selbst kommen. Auch in dieser Rolle verfügte er zwar über die größere Reife, aber keineswegs über einen Autoritätsvorsprung wie ihn etwa die Eltern in einem solchen Falle hätten.
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Denkt man diese Rollen zusammen, so ergibt sich je nach der Situation ein sehr differenziertes Lehrer-Schüler-Verhältnis. Führungsansprüche können dabei die Mitarbeiter nur in zwei dieser Rollen erheben, als Erwachsene und als spezifische Sachkenner. Halten wir uns vor Augen, daß in unserer Gesellschaft die Einflußmöglichkeiten der Erwachsenen für die Freizeitbetätigung der Jugendlichen weitgehend geschwunden sind, so erkennen wir in diesem Modell zwar nicht die Vielfalt einander widersprechender Erwachsenenrollen, aber doch ihre wesentlichen Dimensionen wieder. Von hier aus können wir auch zurückschließen, daß die Institution der Lehrgangssprecher keineswegs "Spielerei", sondern als Konsequenz in der Struktur der Beziehungen von Mitarbeitern und Jugendlichen angelegt war. In der schematischen Darstellung sieht sich dieser Zusammenhang sehr unkompliziert an, in der Praxis aber hieß das, sowohl das Ensemble dieser Rollen zu einer in sich stimmigen Haltung zu integrieren, wie auch umgekehrt in jedem konkreten Einzelfall auf die Partikularität einer bestimmten Rolle sich zu beschränken. Die Beziehungen der Mitarbeiter zu den Jugendlichen waren also "partnerschaftlich" nicht im Sinne eines pauschalen Gewogenseins oder einer pauschalen Gleichberechtigung, sondern in der eben beschriebenen differenzierten Weise.(2)
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4) Die "Spielregeln" der Tagungsordnung
Die von der Leitung den Jugendlichen gegenüber festgelegten Regeln der Hausordnung gingen von folgenden Gesichtspunkten aus.
In ihrer Rolle als "Erwachsene" hatten die Mitarbeiter die Grundsätze des Jugendschutzes nicht nur im rechtlichen, sondern auch im substantiellen Sinne zu garantieren. Das lief unter den Bedingungen der Tagung auf folgende Regelungen hinaus.
a) Für das Verhalten der Geschlechter zueinander galten die in der Erwachsenenwelt gültigen "guten Sitten".
b) Alkohol durfte nicht von außen in die Tagung importiert werden.
c) Ab 22 Uhr mußten alle Jugendlichen im Gelände des Instituts sein.
Diese Grundsätze - und ihre Begründungen - wurden den Jugendlichen mitgeteilt, und sie wurden aufmerksam kontrolliert. Im Hause wurden Alkoholika verkauft, bei der Befriedigung von Sonderwünschen (z.B. Glühwein) waren die Mitarbeiter behilflich. In der Regel waren die Jugendlichen an alkoholischen Getränken kaum interessiert. Ihnen genügte offenbar die Erlaubnis. Von der Regel c) konnte abgewichen werden, wenn ein Mitarbeiter dabei war. Es kam oft vor, daß eine Gruppe mit einem Mitarbeiter noch einen Abendspaziergang unternahm oder die Dorfgaststätte aufsuchte.
Zu diesen Grundsätzen traten zwei pragmatische Gesichtspunkte: Schutz des Hauses und seiner Einrichtungen und die Garantie der Nachtruhe für die Mitarbeiter. Zum Schutz des Hauses gehörte u.a. Rauchverbot in den Schlafräumen (Bedingung der Feuerversicherung wegen der leichten Bauweise). Sonst war Rauchen überall gestattet, ein Zigarettenautomat vorhanden. Bei mutwilligen oder grob fahrlässigen Beschädigungen wurden die Teilnehmer im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanziell herangezogen oder konnten in ihrer freien Zeit einen vergleichbaren
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Arbeitswert abarbeiten. In der Regel wurde zum Schutz der Mitarbeiter, vor allem der nichtpädagogischen, um 23 Uhr Nachtruhe angesetzt. Für den Schutz der Teilnehmer voreinander fühlte sich, wie schon beschrieben, die Leitung nicht unbedingt zuständig. Innerhalb dieses nur negativ eingegrenzten Rahmens hatten die Sprecher das Wort. Sie konnten die Nachtruhe-Bestimmungen aus besonderen Gründen auf die Mittagszeit anwenden oder im Einzelfall Rauchverbot erlassen, weil ein Raum zu überfüllt war oder die Nichtraucher darum gebeten hatten. Solchen Anordnungen der Sprecher hatten sich auch die Mitarbeiter zu fügen. Von wenigen Fällen abgesehen machten disziplinarische Fragen nie besondere Schwierigkeiten. Die pragmatische Begründung aller Maßnahmen wurde von den Jugendlichen anerkannt. Offensichtlich fühlten sie sich in ihrer Freizügigkeit dadurch nicht eingeschränkt.
Eine besondere Schwierigkeit lag darin, daß wir eigentlich keine "Strafen" verhängen konnten. Verstöße gegen die Regeln mit besonderen Leistungen für die Gemeinschaft zu bestrafen, war nur dann pädagogisch vertretbar, wenn es sich um die Wiedergutmachung eines Schadens handelte, - etwa im Falle der mutwilligen Beschädigung. Es schien uns aber nicht gerechtfertigt, Übeltäter dadurch zu bestrafen, daß sie etwa zusätzliche Verpflichtungen bei der Hilfe im Haus übernahmen. Dies war gewissermaßen die Kehrseite der sozialen Folgenlosigkeit des Aufenthaltes auf der Tagung. Die härteste Strafe bestand darin, einen Teilnehmer oder auch eine ganze Gruppe des Hauses zu verweisen. Sie mußte auch einige Male angewandt werden. Ihre pädagogische Problematik läßt sich gut an folgendem Fall verdeutlichen.
Trotz unserer ausdrücklichen Warnung hatte ein Lehrjahr einige Schnapsflaschen mitgebracht. Die Lehrlinge waren schlau genug, einige Tage - oder besser:
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Nächte - zu warten, um unsere Kontrollgewohnheiten erst zu ermitteln. Eines Nachts fanden wir einige Lehrlinge, vom Alkohol übel zugerichtet, im Gelände. Eine sofortige Kontrolle ergab, daß alle angetrunken waren, aber die älteren waren "erfahren" genug, rechtzeitig Schluß zu machen. Die jüngeren hingegen - 15 bis 16Jährige - wollten sich offenbar durch besondere "Trinkfestigkeit" in der Gruppe emanzipieren. Daß die Älteren sich nun an der Unerfahrenheit der Jüngeren erfreuten, anstatt gegen sie einzuschreiten, empörte uns besonders. Wir teilten der Gruppe mit, daß wir sie wohl am nächsten Tag aus dem Hause weisen müßten. Am nächsten Morgen wollten sich alle einzeln bei uns entschuldigen(3). Wir nahmen diese Entschuldigung nicht an: Wir seien nicht persönlich beleidigt und wenn sie sich entschuldigen wollten, dann sollten sie es bei den Jüngeren tun, die sie durch ihr Verhalten in die Volltrunkenheit getrieben hätten.
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In einer gemeinsamen Sitzung des Mitarbeiter- und des Sprecher-Teams erklärten sich die Mitarbeiter nacheinander für Auflösung der Tagung. Die Sprecher baten darum, die Tagung fortzusetzen, und brachten ein wichtiges Argument dafür vor: Wenn die ganze Gruppe abreisen müßte, dann hätte das im Betrieb weitreichende Folgen. Da man nicht das ganze Lehrjahr bestrafen könne, würde man Schuldige suchen und mit Sicherheit denen die Schuld geben, die man ohnehin für die Sündenböcke des Lehrjahrs hielt. Nach der Entlassung der Sprecher beriet das Team die Entscheidung. Der pädagogische Sinn der Strafe schien uns verfehlt, wenn die Folgen nicht klar überschaubar blieben. Selbst wenn die Jugendlichen aus verständlichen Gründen die vermutliche Reaktion im Betrieb übertrieben dargestellt hatten, mußten wir mit dieser Möglichkeit rechnen. Dies bewog uns dann doch, die Tagung fortzusetzen. Der Beschluß wurde dem Lehrjahr mit ausführlicher Darstellung der einzelnen Argumente bekannt gegeben. Statt der Entlassung verhängten wir eine "Ehrenstrafe" für die ganze Gruppe. Bestimmte Freiheiten wurden für zwei Tage aufgehoben. Der Bierverkauf im Hause wurde eingestellt, die Nachtruhe auf 22 Uhr vorverlegt und außerdem kontrollierten die Mitarbeiter zwei Abende lang in jedem Zimmer die Einhaltung der Nachtruhe - was sonst grundsätzlich nicht geschah.
Das Beispiel zeigt, daß auch der Verweis aus dem Haus in keinem Fall pädagogisch unproblematisch war. Die "Ehrenstrafe" hingegen, die wir nach der Erfahrung mit dieser Gruppe häufiger anwandten, hatte ihren guten Sinn. Aber auch hier kam es vor allem auf die Begründung an, wenn die Jugendlichen dabei etwas lernen sollten. Sie lautete etwa: Unsere großzügigen Spielregeln setzen einen Partner voraus, dessen Reife mit diesen Regeln übereinstimmt. Stellt sich heraus, daß die Jugendlichen zwar die Rechte
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einer solchen Regelung übernehmen wollen, nicht aber auch die entsprechenden Pflichten, so müssen eben von uns aus die Rechte auf das Niveau zurückgeschraubt werden, das den Pflichten entspricht, die man zu übernehmen bereit ist.
5) Programm und "freie Zeit".
Auf die grundsätzliche Notwendigkeit der Improvisation wurde schon hingewiesen, ebenso auf die Tatsache, daß der Unterricht im engeren Sinne nur einen Teil der verfügbaren Zeit einnehmen konnte.
Grundsätzlich wurde zwischen Programm und "freier Zeit" deutlich unterschieden. Die Jugendlichen sollten sich auf diese Weise besser in denen ihnen angesonnenen Rollen zurechtfinden. Das von der Leitung veranstaltete Programm war für alle verbindlich. Auch die Sprecher konnten eine Veranstaltung verbindlich machen. In der freien Zeit behielten die Teilnehmer die Entscheidung, ob sie an einem Angebot der Mitarbeiter teilnehmen wollten oder nicht. Es wurde sorgsam vermieden, freie Zeit mehr oder weniger trickreich zu verplanen. Die sachlichen oder unterhaltsamen Angebote mußten für sich werben. Fielen sie durch, so war das vielleicht bedauerlich, aber nicht zu ändern.
Zu einer Art Freizeitzentrum wurde die "Teeküche", ein kleines Häuschen mit offenem Kamin, groben Holztischen und Schaumgummi-Bänken. Hier konnten die Teilnehmer während des ganzen Tages Tee und Kaffee kochen. Abends war Schlagermusik oder Jazz zu hören. Solche Geräuschkulisse sicherte dem zu kleinen Raum eine gewisse Anonymität. Gespräche waren so über den Kreis der Beteiligten hinaus nicht zu verstehen. Wenn die Mitarbeiter - auch die Nichtpädagogen - abends Zeit hatten, setzten sie sich dazu, tranken eine Tasse Tee und beteiligten sich an der Unterhaltung.
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6) Differenzierung der Gesellungsformen durch Differenzierung der Veranstaltungsformen
Der Absicht, den Umgang zwischen Erwachsenen und Jugendlichen unter Ausnutzung der verschiedenen Rollen zu differenzieren, dienten auch eine Reihe von Veranstaltungstypen, die noch kurz skizziert werden müssen.
a ) Die Tagungseinführung
Sie fand am Abend des Anreisetages statt und diente dazu, die Teilnehmer mit den Absichten der Tagung, den "Spielregeln" und technischen Möglichkeiten bekannt zu machen. Gelang es an diesem Abend nicht, sich den Jugendlichen verständlich zu machen, waren zwei bis drei Tage für die Arbeit verloren, in denen die Verständigung angesichts einzelner Fälle nachgeholt werden mußte. Daher wurde die Einführung ebenso sorgsam vorbereitet wie das Programm selbst. Hier kam der Tagungsleiter ohne einen Merkzettel nicht aus. Er stellte die Mitarbeiter vor, informierte über die Institution und ihre Arbeit und skizzierte das Programm. Die Jugendlichen, die das Haus noch nicht kannten, reagierten zunächst immer interessiert, aber abwartend. Ein einziger falscher Zungenschlag bei der Erläuterung der "Spielregeln", ein Wort, das bei ihnen negative Assoziationen auslöste, konnte die Zurückhaltung in Mißtrauen verwandeln. "Demokratie", "Gemeinschaft", "Verantwortung" und ähnliche Bezeichnungen waren in diesem Zusammenhang unbedingt zu vermeiden. In fast geschäftsmäßigem Ton wurden statt dessen Probleme beschrieben, die vermutlich auftauchen würden, und für deren Lösung man dies und jenes unternehmen müsse. Die abwartende Haltung der Jugendlichen wurde mit Distanz beantwortet. Sie wurden mit "Meine Damen und Herren" begrüßt, eine Anrede, die sich zwar im Verlauf der Tagung durch die Tonart änderte, aber nicht im Wortlaut.
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Bei der Anrede wurde bewußt unterschiedlich verfahren. Vor dem Gesamtkreis, also in einer relativ offiziellen Situation, wurde die förmliche Anrede beibehalten. Bei der Anrede des Einzelnen oder in der kleinen Gruppe wurde beim Vornamen gesiezt; in ganz wenigen Fällen, wo es etwa zu einem vertraulichen Gespräch gekommen war, geduzt. Die Mitarbeiter hingegen ließen sich nie duzen und die Jugendlichen erwarteten das auch niemals. Interessant ist auch hier wieder der Vergleich zu Klassentagungen. Oft baten uns solche Klassen über ihre Sprecher, sie zu duzen. Uns schien auch dies ein Beweis dafür, daß sie sich in ihrer Doppelexistenz als Schulklasse und in der Freizeit unsicher fühlten. Andererseits war es oft auch ein Zeichen dafür, wie gut es ihnen gefiel. Es bedurfte dann immer eines gewissen Taktes, die Bitte abzureisen ohne zu verletzen. Am einleuchtendsten war dann noch der Hinweis auf das andere Geschlecht: Es sei doch denkbar, daß man sich außerhalb der Tagung einmal wieder treffe, und dann könne man doch schlecht als Mann eine junge Dame auf der Straße duzen, nur weil man einmal zusammen auf einer Tagung war. Der Einführungsabend fixierte das Klima für den ersten Teil der Tagung. Er mußte also "exemplarisch" demonstrieren, wie die Mitarbeiter sich das Verhältnis zu den Teilnehmern wünschten. Zur Distanz kam das höfliche Aufgreifen aller möglichen Fragen der Teilnehmer, auch der scheinbar abwegigen. Individuellen Wünschen wurde recht gegeben und höchstens mit dem Hinweis auf technische Schwierigkeiten begegnet. Alle technischen Fragen (Mithilfe im Haus usw.) wurden kurz und bündig, ohne pädagogische Überfrachtungen, behandelt.
Als Mißgriff erwiesen sich alle Versuche, den ersten Abend gesellig zu gestalten. Selbst reine Tanzabende scheiterten. Dahinter verbarg sich unser Denkfehler, daß Geselligkeit am Anfang einer Kommunikation stehen könne, während sie tatsächlich
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jedoch erst aus ihrem Prozeß hervorgehen kann. Erfolgreicher war, die Einführung so kurz wie möglich zu halten, um dann noch eine Stunde in der Teeküche zwanglos zu plaudern.
b) Die Arbeitsgruppe
Die Arbeitsgruppe hatte, wie schon beschrieben, das Höchstmaß an Verbindlichkeit für alle Teilnehmer. In ihr wurde intensiv am Programm gearbeitet. Sie trat mindestens einmal täglich zusammen. Für die Leitung einer solchen Gruppe hatten sich die Mitarbeiter vorbereitet, in ihr fungierten sie als kompetente Sachkenner.
Die Inhalte der Gruppenarbeit unterschieden sich nach den Teilnehmern. Bei den Oberschultagungen dominierte eine wesentliche Problemstellung von "relativer Aktualität", die mit wissenschaftlichem Aufwand im Stile des Arbeitsunterrichts erarbeitet wurde (4).
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Eine solche thematische Bescheidung und gleichzeitige Intensivierung war in den Lehrlingstagungen nicht durchzuhalten. Während die Tätigkeit der Arbeitsgruppen in den Schülertagungen dem pädagogischen Begriff des "Lehrgangs" sehr nahe kamen, mußte bei den Lehrlingen nach 2-3 Sitzungen das Thema gewechselt werden, weil dann ihre Konzentrationsfähigkeit auf eine einzelne Frage erschöpft war. Das war nicht ein Problem mangelhafter Methodik, sondern eine Frage der geistigen Fähigkeiten und intellektuell-handwerklichen Fertigkeiten. Hier mußten also grundsätzlich mehrere Themen, oft auf Kosten der Tiefe, behandelt werden. Die Mängel der Lehrlinge sind folgendermaßen zusammenzufassen:
a) Den Lehrlingen fehlte vor allem die sprachliche Fähigkeit, Probleme zu sehen, weil ihr Wortschatz und - damit zusammenhängend - ihre begriffliche Vorstellungskraft nicht ausreichten. Das äußerte sich schon darin, daß wir kaum jemals Texte fanden, die wir ihnen zur Lektüre in die Hand geben konnten. Selbst journalistisch gut durchgeformte Leitartikel überforderten ihren Wortschatz derart, daß man an einen Lateinunterricht erinnert wurde, wo vor lauter Vokabelschwierigkeiten der Gehalt des Textes gar
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nicht zum Vorschein kam. Daß die Konzentrationsfähigkeit bald nachließ, ist daher nicht verwunderlich. Ob dieses sprachliche Defizit in der geistiger Konstitution oder lediglich in einem "Mangel an Gelegenheit" begründet ist, können wir auf Grund unserer Erfahrungen nicht entscheiden. Ihre politische Informationsquelle war nicht das Wort, sondern das Bild, insbesondere das Fernsehbild. Wenn es gelang, von neuen Bildern her neue Denkimpulse zu vermitteln, dann konnte man auch ein Sachproblem weiter vertiefen. Dennoch ließ sich das sprachliche Defizit nicht voll durch visuelle Hilfen kompensieren, weil Bilder allein für einen politischen Vorstellungszusammenhang unzureichend sind. Das begriffliche Unvermögen der Lehrlinge ist nur ein Symptom für ihren Ausschluß von der politischen Beteiligung überhaupt. Begriffe wie "Produktivität", "Klasse", "Vergesellschaftung", "Organisation", "Volkseinkommen", "Interdependenz", "Rolle", "sozialer Status", "Investition" - um nur einige zu nennen - spielen ja nicht nur in bestimmten wissenschaftlichen Zusammenhängen der Soziologie oder der Nationalökonomie eine Rolle, sie sind vielmehr zu sprachlichen Chiffren geworden, mit denen allein wir uns noch an der Lösung politisch-gesellschaftlicher Probleme beteiligen können. Sie bezeichnen ja jeweils eine Vielzahl erkannter Sachverhalte. Tauscht man sie aus - z.B. mit irgendwelchen "Bildern", die nicht wiederum sprachlich unter Kontrolle gebracht werden - dann werden notwendig auch die Sachverhalte unscharf. Wer also über das Instrumentarium solcher Begriffe nicht sachlich richtig verfügen kann, dem bleiben nicht nur diese Sachverhalte verborgen, er bleibt vielmehr auch notwendigerweise von der politischen Beteiligung ausgeschlossen, insofern sie auf verbaler Kommunikation der Bürger über die in einem bestimmten Problem "angemessene" Lösung beruht. Selbst wenn es also denkbar wäre, daß man dieselben Sachverhalte
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mit "anschaulicheren" Begriffen erschließen könnte, so müßten auch diese irgendwann in die in der politischen Gesellschaft benutzten übersetzt werden.
Denkt man diesen Zusammenhang folgerichtig weiter, so wird die Einsicht unausweichlich, daß politische Bildung für Oberschüler und Nicht-Oberschüler verschiedene Funktionen hat. Gewiß verfügen auch Oberschüler selten über angemessene politische Begriffe. Aber dank ihrer allgemeinen sprachlichen Ausbildung können sie diesen Mangel immer relativ schnell beheben. Deshalb kann man mit Oberschülern auch den Versuch wagen, das Ganze der politischen Wirklichkeit in einen gedanklichen und vor allem kritischen Zusammenhang zu bringen. Man kann im Unterricht mit ihnen die politische Wirklichkeit "substantiell rational" betrachten.(5) Die politische Bildungsarbeit mit Lehrlingen wird sich hingegen vor allem mit einer "funktionell rationalen" Betrachtung des Politischen begnügen müssen. Hier kommt es darauf an, die politische Welt durch einen begrifflichen Zusammenhang aufzuschließen, der einfach das "Mitreden" erlaubt und interessanter macht. Die Lehrlings haben übrigens einen sicheren Blick für dieses Bedürfnis. Wir wunderten uns zunächst immer, daß sie als freie Gesprächsthemen so häufig "Politische Grundbegriffe" nannten. Aber im Rahmen der voraufgegangenen Überlegungen ist dieser Wunsch gar nicht mehr verwunderlich. "Politisch gebildet sein" heißt für sie eben, in der verbalen Kommunikation mit anderen besser informiert sein, "die richtigen Worte gebrauchen können".
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b) Hinzu kam ein allgemeines kulturelles Defizit. Den meisten Lehrlingen war offensichtlich seit der Schulzeit nie mehr ein kultureller Anspruch gegenüber getreten, sei es Musik, Literatur oder Kunst. Ob selbst in ihrer Schulzeit kulturelle Objektivitäten - und nicht vielmehr Derivate aus zweiter Hand - eine Rolle gespielt haben, sei hier nur gefragt. Wichtiger ist wohl die Tatsache, daß kulturelle Anforderungen außerhalb der Berufsausbildung in ihrem Alltag ihnen nirgendwo abverlangt werden. Wären kulturelle Kenntnisse und Erfahrungen in ihrem Alltag mit einem gewissen Prestigewert ausgestattet, so würden sie sich vielleicht ebenso darum bemühen wie um die "politischen Begriffe". Deshalb ließ sich auch nicht verantworten, ihnen auf der Tagung lediglich Politisches als kulturelle Erfahrung zu vermitteln; es fehlte der Hintergrund, auf dem das Politische seinen Stellenwert hätte gewinnen können. Auch vom Umfang her mußte also das Politische auf der Tagung in einem sinnvollen Verhältnis zu den übrigen kulturellen Bereichen bleiben.
c) Den Lehrlingen fehlten nahezu alle wichtigen geistig-handwerklichen Fähigkeiten. Sie lasen stockend und langsam, konnten höchstens 15 Minuten lang einer zusammenhängenden sprachlichen Darstellung folgen und hatten keinerlei Diskussionserfahrungen.
c) Die freie Gesprächsgruppe
In dem Bewußtsein, daß die für die Arbeitsgruppe vorgesehenen Themen bestenfalls nur einen Teil der thematischen Interessen der Teilnehmer treffen, und daß in der Zeit zwischen Planung und Beginn der Tagung die politische Entwicklung neue Aktualitäten schaffen konnte, wurde die freie Gesprächsgruppe als Korrektiv geschaffen. Sie wurde eingerichtet, wenn die Teilnehmer Themen für ein Gespräch vorschlugen, die im Programm nicht vorgesehen waren. Die Breite der Themen war dabei unbegrenzt.
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Auf solche Themen war ein Mitarbeiter höchstens zufällig vorbereitet. Er stand ihnen selbst als "Fragender" in der gleichen Verlegenheit wie die Jugendlichen gegenüber. Zwar hatte er noch einige Stunden Zeit, sich mit Hilfe der Bibliothek und der privaten Archive der hauptamtlichen Mitarbeiter vorzubereiten, aber auch dies verschaffte ihm nicht die gleiche Rolle, wie er sie in der Arbeitsgruppe hatte. Deshalb konnte hier seine Aufgabe neben der formalen Leitung nur darin liegen zu demonstrieren, wie man sich als "Gebildeter" mit einem neuen Problem auseinandersetzt, über das man nicht einmal hinreichend informiert ist.
Die Mitarbeiter waren lange Zeit uneins darüber, ob es pädagogisch vertretbar sei, auch ein Gespräch zu leiten, für dessen Inhalt man nicht kompetent war. Gerade die Studenten äußerten wegen ihres wissenschaftlichen Engagements heftige Bedenken. Würde man im Bewußtsein der Teilnehmer nicht nur die ohnehin schon vorhandene Gewohnheit, daß in Sachen Politik jeder über alles redet, verstärken? Die Diskussionen führten schließlich zu dem Ergebnis, daß diese Situation ja doch den Normalfall politischer Meinungsbildung darstelle; denn im allgemeinen ist Meinungsbildung eine Reaktion auf eine politische Auseinandersetzung, für die das Wissen nicht fertig bereit liegt, sondern erst herbeigeschafft oder wenigstens neu geordnet werden muß.
d) Die Neigungsgruppe
In der freien Zeit wurden Neigungsgruppen angeboten. Die Sprecher erkundeten dazu die Meinungen der Teilnehmer, sammelten Vorschläge und koordinierten sie mit den technischen Möglichkeiten des Hauses, die hier sehr wichtig waren. Sport, Musizieren, Musikhören, Werken, Tanzen, Filminterpretation, Tonbandarbeit, Kurzspiel waren die häufigsten Inhalte. Die Teilnahme an solchen Vorhaben, die zwischen 1 und 4 Sitzungen dauern konnten, war grundsätzlich frei-
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willig. Die Lehrlinge allerdings mußten sich zunächst immer für eine solche Gruppe entscheiden. Dies durchbrach zwar den Grundsatz, daß der Jugendliche über die freie Zeit frei verfügen sollte, andererseits mußte den Lehrlingen zunächst immer demonstriert werden, worum es sich bei diesen Angeboten handelte. Da sie die meisten Freizeitmöglichkeiten des Hauses nicht kannten, hätten sie sich von vornherein auch nicht zu einem vernünftigen Ja oder Nein entscheiden können. Erst nach der 1. Sitzung wurde ihnen freigestellt, ob sie weiter mitmachen wollten. Die meisten blieben dann dabei, weil sie aufgeschlossen für alles Neue waren.
e) Der Tanzabend
Der Tanzabend war immer ein Höhepunkt der geselligen Kommunikation auf einer Tagung. Er fand ein bis zweimal während einer Tagung statt. Zunächst überließen wir seine Gestaltung immer den jugendlichen Teilnehmern. Dabei zeigte sich zu unserer Überraschung, daß, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Jugendlichen dazu nicht fähig waren; außer dem unermüdlichen Arrangement "heißer" Musik fiel ihnen kaum etwas ein. Da aber immer eine starke Minderheit nicht tanzen konnte oder wollte, stellten sich bald Mißstimmung und Langeweile ein. Oder aber einige Jugendbewegte versuchten in richtiger Interpretation der schlechten Stimmung Spiele anzubringen, die von anderen als unter ihrem Niveau stehend boykottiert wurden. Nun ist eine mißlungene Veranstaltung immer noch guter Stoff für eine anschließende Bewußtmachung einiger Grundbedingungen geselligen Wohlbefindens. Aber damit war die Enttäuschung des Erlebnisses nicht zu kompensieren. So entschlossen sich also die Mitarbeiter, den ersten Tanzabend einer Tagung selbst zu gestalten.
Es erschien uns unglaublich, daß insbesondere die Oberschüler von sich aus nicht in der Lage sein sollten, einen solchen Tanzabend unter sich zu gestalten. In zahlreichen Gesprächen mit ihnen wurden dann die
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Gründe klar: Alle Möglichkeiten des Tanzes in ihrem Alltag - Hausparty, Schulfest, öffentliche Tanzveranstaltung - spielten sich in einer privaten Umgebung ab. Selbst beim Besuch einer öffentlichen Massenveranstaltung war man entweder mit einem einzelnen Partner oder mit einer Gruppe von Bekannten "unter sich". Für die gesellschaftliche Dimension eines Tanzabends hatten sie weder Erfahrungen noch eine besondere Antenne. So meinten sie zunächst immer, jeder müsse sich eben so gut amüsieren, wie er könne.
Die Mitarbeiter legten nun Wert darauf zu demonstrieren, von welchen Bedingungen im einzelnen das gesellige Wohlbefinden aller an einem solchen Abend abhinge: Gemütliche Tischordnung, wo jeder im Verlauf des Abends auch Platz und Partner wechseln kann; die Musik nur so laut, daß die Nichttänzer sich weiter unterhalten können; regelmäßige Musikpausen, damit Partnerwechsel möglich ist und alle sich zwischen den Tänzen unterhalten können; wenige, aber sorgfältig ausgesuchte Darbietungen für die Tanzpausen, wobei eine gute Kabarett- oder Chansonplatte besser sein kann, als das wiederholte Abspielen eigener Sketsche, die ohnehin jeder kennt; sorgsam dosierte Tanzspiele, um den Partnerwechsel zu erleichtern; gemeinschaftliche Einlagen, wie Singen, nur dann, wenn Text und Musik angemessen sind und die Atmosphäre dies zuläßt. War auf diese Weise ein Tanzabend einmal vorgemacht, brauchten sich die Mitarbeiter um die folgenden nicht mehr zu kümmern. Wahrend eines solchen Abends saßen die Mitarbeiter verteilt unter den Teilnehmern und bestimmten so unauffällig den Stil mit. Leider mußte auf den Lehrlingstagungen fast immer auf die Tanzabende verzichtet werden, weil nicht genug Mädchen da waren. Um dennoch auch den Lehrlingen Möglichkeiten gesellschaftlichen Lernens zu bieten, wurden Tanzkurse für die Nichttänzer eingerichtet, für die sich die weiblichen Mitarbeiter
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zur Verfügung stellten. Für die Lehrlinge war das Lernen des Tanzens und damit gesellschaftlicher Spielregeln so wichtig, daß wir entsprechende Spiele ersannen, an der alle teilnehmen konnten. Kleinen Gruppen wurden charakteristische gesellschaftliche Situationen als Stegreifspiel aufgetragen. Um ihnen die Hemmungen zu nehmen, baten wir, wenige kleine Fehler zu machen, die die anderen dann herausfinden sollten. Auf diese konnten sie die unbeabsichtigten hinter den beabsichtigten Fehlern verstecken.
Der Mangel an Mädchen bei den Lehrlingstagungen stellte uns aber vor ein grundsätzliches Problem. Es bestand die Gefahr, daß der gesellige Umgang der Lehrlinge jenen unkultivierten rabulistischen Stil annahm, wie man ihn bei bestimmten männlichen Jugendgruppen findet. Im Grunde ist die gesellschaftliche Kultivierung, die in der Spannung der Geschlechter begründet ist, durch nichts Gleichwertiges zu ersetzen. Als Ersatz fanden wir das Prinzip der Gruppenwettbewerbe. Eine Lehrlingsgruppe wurde in drei oder vier gleich große Untergruppen aufgeteilt, die jeweils gleiche Aufgaben bekamen, die nach einem Punktsystem bewertet wurden. Die Aufgaben reichten vom Fußball-Turnier über eine soziologische Exkursion (Ermittlung bestimmter sozialer Tatbestände des benachbarten Dorfes) bis hin zu intellektuell diffizilen Aufgaben wie die Formulierung eines politischen Leitartikels oder eines Sachberichtes, bei dem die Gruppe die Möglichkeiten der Bücherei arbeitsteilig ausnutzen mußte. Auf dem Abschlußabend erreichte der Wettbewerb seinen Höhepunkt. Dieses methodische Prinzip des Wettbewerbs, der zunächst den geselligen Umgang der Lehrlinge bestimmen sollte, hatte einige nützliche Folgerungen für die Tagungsgestaltung, die gar nicht beabsichtigt waren, nun aber, einmal entdeckt, konsequent aufgegriffen wurden. Abgesehen davon, daß die Lehrlinge den Effekt einer guten Kooperation in der Gruppe erfuhren, erwies sich
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der durch den Leistungswettbewerb freigesetzte Lernwille als so stark, daß man ihn mit allen Inhalten befrachten konnte. Was gelernt werden sollte, war nun einfach durch die Gegenstände des Wettbewerbs sowie durch die Kriterien der Beurteilung zu fixieren. Weiter konnten sich bei einer guten methodischen Planung die unterrichtlichen Absichten an den Eigenproduktionen der Lehrlinge aus den Wettbewerben anhängen. Dafür werden im III. Teil noch einige Beispiele gebracht. Im ganzen aber blieb die Methode des Wettbewerbs für das gesellschaftliche Lernen der Lehrlinge leider nur eine Notlösung.
f) Der Tagesbeginn
Daß man das Programm des Tages mit einer gemeinsamen musisch-kulturellen Einstimmung beginnen müsse, ist undiskutierter Grundsatz aller Tagungsveranstalter. Sieht man von vielfältigen ideologischen Besetzungen ab, die dieser Grundsatz erfahren hat, so bleibt immerhin die Erfahrung, daß in der Tat auch heute und auch im Umgang mit der Jugend eine solche Einstimmung positive Rückwirkungen auf die Unterrichtsarbeit hat. Die Schwierigkeit liegt also nicht in der Grundsatzentscheidung, sondern in der Festsetzung der Inhalte. Der Überlieferung entspricht, den Tag mit gemeinsamem Singen zu beginnen. Dagegen waren zwei Bedenken anzumelden. Einmal erwies es sich als undurchführbar, die Jugendlichen überhaupt und schon gar jeden Morgen zum Singen zu bewegen. Ihnen schien sich dabei eine unübersteigbare psychische Barriere aufzutun. Den Gründen dafür im einzelnen nachzugehen, ist hier nicht der Ort. Immerhin stellte sich auch heraus, daß die geradezu affektive Ablehnung des Singens - von einer Minderheit abgesehen - durchaus zu umgehen war, wenn dafür eine informelle Art gefunden wurde.
Waren also die Widerstände gegen das Singen durchaus zu überwinden, so blieb immer noch die weitere Frage offen, ob denn die Mobilisierung musischen Tuns tat-
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sächlich so erstrebenswert sei. Diese Frage war weniger grundsätzlich als praktisch zu entscheiden. Es mußte geprüft werden, ob nicht angesichts der Kürze der Zeit andere Inhalte wichtiger waren. Für die Lehrlingstagungen war das nicht schwer zu entscheiden. Die Lehrlinge wiesen - wie wir sahen - ein derartiges Defizit an allgemeinen kulturellen Erfahrungen auf, daß die Mitarbeiter sich entschlossen, die 20 Minuten des Tagesbeginns dazu zu benutzen, die Lehrlinge mit ihnen mehr oder weniger unbekannten kulturellen Aussageformen bekannt zu machen. Klassische und moderne Musik, Kabarett, Chansons, Spirituals, moderne Lyrik, Auszüge aus modernen Theaterstücken bildeten das Programm. Entscheidend war, daß die Mitarbeiter sich dabei wahrheitsgemäß nicht als Fachleute gaben, sondern als interessierte Laien. Umgekehrt interessierten die Lehrlinge sich von einem bestimmten Zeitpunkt an für diese Angebote nicht deshalb, weil sie "bildend" waren, sondern weil ein Mitarbeiter auch mit dem, was er darbot, sich persönlich vorstellte. Daher galt als Regel: Der Mitarbeiter bietet nur solche Inhalte an, die ihn selbst auch besonders interessieren. Nach einer sehr knappen, rein informatorischen Einleitung sprach dann nur noch das Werk selbst. Es wurde in dieser Veranstaltung weder interpretiert, noch diskutiert. Die Absicht war auch nicht, daß alle alles Dargebotene verstanden, sondern daß wenigstens einige im Verlauf der Tagung den Wunsch äußerten, mehr darüber zu wissen. Diese Hoffnung trog selten.
Die Reaktion der Lehrlinge war insofern verblüffend, als diese Veranstaltung sich bei ihnen großer Beliebtheit erfreute, obwohl hier keinerlei methodische oder didaktische Überlegungen angestellt wurden, sondern das kulturelle Interesse des jeweiligen Mitarbeiters das einzige Auswahlkriterium blieb. Da das Programm des Tagesbeginns immer geheim blieb, warteten die Lehrlinge jeden Morgen mit Spannung
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darauf, womit sie diesmal überrascht würden.
g) Das Abendgespräch
Als besonders fruchtbar hat sich der Versuch erwiesen, bestimmte Bereiche der Erwachsenenwelt, institutionalisiert in Berufen, durch Personen in die Tagung hineinzuholen (Geistliche, Offiziere; Architekten, Bankfachleute, Fürsorger, Kommunalpolitiker, Krankenschwestern usw.). Wie wenig selbstverständlich eine solche Begegnung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ist, zeigte dieses Experiment. Trotz stundenlanger Vorbereitungsgespräche mit den betreffenden Erwachsenen scheiterten unsere Versuche oft, weil die Erwachsenen trotz allen guten Willens spontan immer wieder in die "Rolle" des Erwachsenen zurückfielen, der "der" Jugend endlich klarmachen müsse, "worauf es im Leben ankäme". Nach langen Bemühungen hatten wir endlich einen Kreis gefunden, der über folgende Bedingungen verfügte, die ein solches Abendgespräch fruchtbar machten.
1) Diese Erwachsenen mußten in dar Lage sein, in knappen Strichen über ihren Beruf zu informieren.
2) Sie mußten in der Lage sein, wenigstens ungefähr den funktionalen Ort ihres Berufes im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtgefüge zu bezeichnen. Daran scheiterten schon die meisten, die wir in Aussicht genommen hatten.
3) Sie mußten den nicht unerheblichen persönlichen Mut aufbringen, "Probleme" ihrer beruflichen Tätigkeit zu exponieren. Dies setzte voraus, daß sie sich von der kurzatmigen Zweck-Mittel-Relation ihres beruflichen Alltags distanzieren konnten.
4) Sie mußten den Jugendlichen gegenüber "offen" auftreten, sie gewissermaßen ins Vertrauen ziehen, ihren kritischen Einwänden ohne Affekt begegnen.
Waren diese Bedingungen erfüllt, so gehörten die Abendgespräche zu den fruchtbarsten Ereignissen der Tagung. Dabei war es generell keine Frage des Bildungsniveaus eines Berufes, ob sie erfüllt wurden
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oder nicht. Diese Erwachsenen wurden übrigens nicht als "Referenten" - diesen Anspruch hätten sie selten erfüllen können - sondern als "Gäste" eingeführt, ein Status, der ihnen von vornherein eine günstige Gesprächsposition einräumte.
Zum Abendgespräch wurden gelegentlich auch Personengruppen eingeladen. In der Nähe hatte sich z.B. ein Laienkabarett aufgetan, das der Gewerkschaft nahe stand und sich noch ganz bewusst als "Agitationstheater" verstand. Nach der Vorstellung saßen die Jugendlichen mit den Spielern in der Teestube, luden sie zu Tee, Kaffee oder Bier ein und äußerten sich dabei kritisch zum Programm wie vor allem auch zu den darin enthaltenen politischen Vorstellungen.
h) Das Abschlußgespräch
Am Nachmittag des letzten Tages fand das Abschlußgespräch statt. Es diente der Tagungsleitung dazu, eine sachliche Zusammenfassung vorzunehmen. Außerdem wurden die Teilnehmer um eine zusammenfassende Kritik gebeten.
Die sachliche Zusammenfassung wurde vom Tagungsleiter vorgenommen. Vorauf ging eine längere Sitzung des Mitarbeiterteams, in der sich der Tagungsleiter für seine zusammenfassende Darstellung die wichtigsten Informationen über den Tagungsablauf holte, da er ja nicht an allen Veranstaltungen teilgenommen hatte. Das so sorgfältig vorbereitete Referat mußte drei Gesichtspunkte berücksichtigen.
a) Zunächst mußten die unterrichtlichen Ergebnisse zusammengefaßt werden. Das war vor allem in den Lehrlingstagungen wichtig, weil die Vielzahl der behandelten Themen unbedingt einer zusammenfassenden Deutung bedurften. In den Oberschultagungen wurden die Schüler in folgender Form an der Zusammenfassung beteiligt: Jede Arbeitsgruppe wählte einen Berichterstatter, der in 15 Minuten über Arbeitsweise und Ergebnisse seiner Gruppe berichtete. Auf die Wahl hatte der für die Gruppe zuständige Mitarbeiter keinen Einfluß. Die Gruppe sollte dabei lernen, aus ihrer
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Mitte für eine bestimmte Funktion den geeigneten Mann zu bestimmen. Nur in seltenen Ausnahmefällen tat sie dabei einen Mißgriff. Viel öfter zeigte sich vielmehr, daß die Gruppe über die Fähigkeiten ihrer Mitglieder besser informiert war als der Mitarbeiter. Die Berichte mussten selbstständig verfasst werden, der Mitarbeiter durfte während der Vorbereitung nur auf konkrete Einzelfragen antworten. Der Tagungsleiter gab allen Berichterstattern eine kurze Instruktion über die rein formalen Probleme eines so knappen Berichtes (Verhältnis von schriftliche Aufzeichnung und freiem Sprechen; Probleme des "Spannungsbogens" eines Kurzreferates usw.)
b) Es war notwendig, noch einmal Einzelheiten des gemeinsamen Zusammenlebens zu deuten, vor allem im Hinblick auf die schon beschriebenen "Verhaltens-Experimente". Dabei wurde nicht nur nach "richtig" und "falsch" gewertet, sondern vor allem wurden die soziologischen Voraussetzungen und Folgerungen bestimmter Verhaltensweisen und Krisen innerhalb der Tagung ins Bewußtsein gehoben. In diesem Sinne wurde die eigene Verhaltenserfahrung zum Gegenstand eines rationalen politischen Unterrichts.
c) Schließlich mußte die "Ausnahme-Situation" der Tagung selbst gedeutet werden, wollten wir illusionäre Erwartungen an den Alltag vermeiden.. Es mußte gezeigt werden, warum die direkte Kommunikationsform der Tagung weder in der Schule noch im Beruf realisierbar ist, daß sowohl menschliche Unzulänglichkeit wie aber auch objektive gesellschaftliche Bedingungen dies verhindern. Unsere Deutung, unterstützt von konkreten Beispielen aus Schule, Betrieb und der Tagung, liefen im wesentlichen darauf hinaus, Verständnis für die widersprüchliche Mehrdimensionalität des modernen menschlichen Daseins zu erwecken und dem Rollenwiderspruch etwa zwischen beruflichen Funktionen und den Kommunikationen in der Freizeit einen positiven Sinn abzugewinnen.
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Für die kritische Stellungnahme der Teilnehmer zur Tagung selbst wurden mehrere Formen entwickelt. Gelegentlich wurden etwa Tests durchgeführt, um ihre Einstellung zu erfahren. Besonders beliebt war die Form des "Meet-the-team" - begrifflich entlehnt von "Meet-the-press" des amerikanischen Fernsehens. Die Mitarbeiter saßen dann den Teilnehmern gegenüber und durften nach allem gefragt werden - auch nach sehr persönlichen Dingen, auf die der betreffende Mitarbeiter entweder humorig oder mit "no comment" antwortete. Im ständigen Wechsel zwischen unernsten Anfragen, die nur die Schlagfertigkeit der Mitarbeiter auf die Probe stellen sollten, Informationsfragen und kritischen Fragen zur Tagung erfuhren die Mitarbeiter mehr über die tatsächliche Einstellung der Jugendlichen als durch einen offiziellen Appell an ihre Kritik.
i) Das Abschlußfest
Brachte das Abschlußgespräch die sachliche Zusammenfassung der Tagungsarbeit, so stellte das Abschlußfest am letzten Abend den geselligen Ausklang dar. Allgemein gilt hier das, was schon über den Tanzabend gesagt wurde. Bei den Oberschultagungen war Tanz auch für den Abschlußabend das wesentliche Merkmale - unterbrochen von kabarettistischen Eigenproduktionen, die meist an die Anschrift der Mitarbeiter gerichtet waren. Persönliche Gespräche unter dem Schutz der anonymisierenden Tanzmusik waren häufiger als bei den Tanzfesten vorher. In den Lehrlingstagungen dominierte der Abschluß des Wettbewerbs, dessen Schlußergebnis dann ausgiebig gefeiert wurde.
7) Zusammenfassung und Übergang
Eine zusammenfassende didaktische Interpretation dieses I. Teiles wollen wir den Schlußkapiteln unserer Untersuchung vorbehalten. Es wird dann vor allem um die Frage gehen, welche Bedeutung der "Unterrichtssituation Tagung" für die Lehrinhalte zukommt.
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Wir haben versucht, allgemeine Faktoren zu ermitteln. die das Erziehungsgeschehen auf der Tagung bestimmen. Dabei mußten wir weit über die rein pädagogischen Zusammenhänge hinausgreifen und den gesellschaftlichen und kulturpolitischen Einflüssen wenigstens soweit Raum geben, daß ihre pädagogischen Implikationen im Prinzip einsichtig wurden. Wir gingen von vier allgemeinen Faktoren aus, analysierten dann die Besonderheiten der Tagung, um schließlich einige wesentliche Aspekte der Tagungsmethodik darzustellen, die ohne jene allgemeinen Betrachtungen unverständlich geblieben wären. Das wichtigste Ergebnis war, daß die so charakterisierte Wirklichkeit der Tagung günstig auf die politische Lernbereitschaft der Jugendlichen einwirkte. Nun müssen wir uns dem Gegenstand "Politik" selbst zuwenden. Was soll eigentlich gelernt werden, wenn von politischer Bildung auf Tagungen die Rede ist? Diese Frage muß zunächst grundsätzlich, d.h. unabhängig von der Tagungssituation gestellt werden. Um zu klären, was auf Tagungen gelernt werden soll, müssen wir uns zuvor klarmachen, was überhaupt an politischen Inhalten gelernt werden soll und kann. Keine Unterrichtssituation kann sich einen spezifischen Gegenstand schaffen, sie kann höchstens einen besonderen Zugang zu ihm freilegen oder sich auf bestimmte Teilaspekte beschränken. In beiden Fällen aber muß zunächst das Ganze bedacht werden. Um die Problematik des Ganzen einer politischen Lehre zu erkennen, wollen wir nun in sechs "Brennpunkten"' die bisherige Diskussion zusammenfassen.
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Anmerkungen zu Kap. 3
(1) Zum Begriff des "Teams" vgl. Kentler, a.a.O. S. S.53. Um eine Mitarbeiter-Gruppe so bezeichnen zu können, müssen folgende Merkmale zusammentreffen:
a) Die personelle Zusammensetzung eines Teams kann nicht diktiert werden, etwa durch die zufällige Beziehung am Arbeitsplatz, vielmehr müssen die Einzelnen sich für die Zusammenarbeit mit den anderen frei entscheiden können.
b) Die Einzelnen müssen grundsätzlich die gleichen Kompetenzen und gleich hohe - wenn auch nicht gleichartige - fachliche Voraussetzungen mitbringen, so daß die Leitung des Teams zur rein organisatorischen Frage wird und grundsätzlich jedem zufallen kann.
c) Die Zielsetzung der gemeinsamen Tätigkeit muß von allen im Grundsatz akzeptiert werden und allen hinreichend bewußt sein, auch wenn arbeitsteilig an ihrer Verwirklichung gearbeitet wird.
d) Die Beziehungen der Einzelnen zueinander bedürfen eines Minimums an gegenseitiger persönlicher Sympathie.
2) Daß es nötig sei, die menschliche Gesellung dadurch zu kultivieren, daß man nicht nur auf die gemeinschaftliche, sondern darüber hinaus auch auf die distanzierteren Formen hin erzieht, ist vor allem von Theodor Wilhelm immer wieder ins Gespräch gebracht worden, zuletzt nachdrücklich in: Theodor Wilhelm, Zum Begriff 'Sozialpädagogik' ... . Im ganzen gaben wir den nicht-gemeinschaftlichen Kommunikationsformen den Vorzug, während wir die gemeinschaftlichen der Spontaneität der Jugendlichen überließen. Ähnlich auch Schepp, a.a.O., S. 187 f.
3) Die Entschuldigungen der Jugendlichen verdienen eine kleine Anmerkung. Ihr "Entschuldigen Sie bitte" war eine Patentlösung, mit der sie alle Verstöße am schnellsten zu lösen glaubten. Diese Formel mußte in ihrem Alltag verhältnismäßig erfolgreich sein. Dabei war ihnen der Sinn einer persönlichen Entschuldigung meist verloren gegangen. Sie unterschieden nicht mehr, wann ein Verstoß sich gegen einen Mitarbeiter oder gegen einen Teilnehmer richtete, und wann man höchstens "Es tut mir leid" sagen kann. Sie wollten auf diese Weise den Status des unmündigen Jugendlichen in Anspruch nehmen, während sie sonst sich durchaus als Erwachsene fühlten. Sie spielten so unbewußt beide Rollen gegeneinander aus. Diese Haltung hängt wohl damit zusammen, daß sie objektive Normansprüche personalisieren. Die sittliche Weltordnung erscheint ihnen gleichsam patriarchalisch repräsentiert. So einleuchtend diese Haltung jugendpsychologisch sein mag, sie führt offensichtlich aber dazu, den normativen Postulaten selbst auszuweichen und sich statt einer Auseinandersetzung mit ihnen mit einer bloß taktischen Absicherung bei "Abweichungen" zu begnügen.
4) Die didaktische Begründung wird im III. Teil erfolgen. Unter "relativer Aktualität" verstehen wir hier politische Aktualitäten, die sich zwar auch in Tagesereignissen auswirken, aber einen umfassenderen Problemzusammenhang repräsentieren. Im Jahre 1962 wurden folgende Themen in dieser Weise in Oberschultagungen behandelt: Dichtung und Politik bei Bert Brecht - Judenfrage und Antisemitismus - Geschichte und Funktion der politischen Parteien - Die Presse als vierte Gewalt - Die Ost-West-Auseinandersetzung in der internationalen Politik. Probleme und Theorien - Zur Kritik des historischen Materialismus - Deutsch in Deutschland. Zum Problem der geteilten Sprache - Wissenschaft, Programm, Utopie. Der Sowjetkommunismus in der Krise - Die literarische Opposition in der Bundesrepublik - Die Grundrechte in den deutschen Verfassungen - unveränderliche Rechte? - Klassenkampf, Revolution und Evolution. Die Entwicklung der industriellen Gesellschaft seit Marx - Was heißt "Vergangenheit bewältigen"? - Politische Bildung und politische Kritik -Kunst und "sozialistischer Realismus" - Die Vorstellungen über die künftige Gesellschaft bei Marx und bei Chruschtschow - Reklame, Propaganda und das Problem der Freiheit - Die Deutschlandpolitik der Alliierten unter besonderer Berücksichtigung der Berlin-Krise - Widerstandsrecht und Opposition in Diktatur und Demokratie.
Die Themen selbst verraten wenig über ihren didaktischen Gehalt und scheinen dem, was später im Teil III zum didaktischen Aufbau ausgeführt wird, zu widersprechen.
Der Widerspruch erklärt sich vor allem daraus, daß die Themen, die den Schulen und damit den Schülern zugeleitet wurden, sehr stark unter Werbegesichtspunkten formuliert waren. Unsere didaktische Vorstellung konnte deshalb in diese Formulierungen nicht eingehen. Um Oberschüler zum Besuch der Tagung zu gewinnen, mußten die Themen "wissenschaftlich" formuliert sein und außerdem dem spezifischen Zugang der Oberschüler zum Politischen entsprechen.5) Zu der nützlichen Unterscheidung von "substantiell rationalem" und "funktionell rationalem" Denken bei Karl Mannheim vgl. unten S. 162
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