Hermann Giesecke

Politische Bildung in der Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag 1966

Teil III: Aspekte einer Didaktik der Jugendtagung

© Hermann Giesecke

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Inhaltsverzeichnis

Zu dieser Edition:

Der folgende Text beschreibt außerschulische politische Bildungsprojekte, die Anfang der 60er Jahre im Jugendhof Steinkimmen mit Gymnasiasten, Lehrlingen und Schulklassen durchgeführt wurden. Zu dieser Zeit befand sich diese besondere pädagogische Arbeit noch in den Anfängen. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Der hier wiedergebene Text ist aus meiner Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" hervorgegangen, die in zwei Bänden veröffentlicht wurde. Zugrunde gelegt wurde die 3. Aufl. von 1972, die aber bis auf auf das Vorwort mit der ersten von 1966 identisch ist. Der andere, theoretische Teil erschien unter dem Titel "Didaktik der Politischen Bildung", München: Juventa-Verlag 1965.
Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurde das Original jedoch nicht verändert.  Um die Zitierfähigkeit zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
© Hermann Giesecke

DRITTER TEIL:

ASPEKTE EINER DIDAKTIK DER JUGENDTAGUNG

Nicht nur für die Schulfächer, sondern auch für die verschiedenen Schularten gibt es eine Didaktik. Wir kennen zum Beispiel eine "Berufsschul-Didaktik", eine "Volksschul-Didaktik" und eine "Didaktik der gymnasialen Oberstufe". Eine solche Didaktik hat immer wissenschaftlich kontrollierbar zu klären, was warum in diesen Einrichtungen gelehrt und gelernt werden soll und kann und was tatsächlich gelernt wird. Derartige zusammenhängende theoretische Überlegungen gibt es bisher für die Einrichtungen und Veranstaltungen der außerschulischen Jugendarbeit nicht. Sie werden aber immer notwendiger, denn die Zahl dieser Einrichtungen und Veranstaltungen nimmt ständig zu, sie müssen mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, und schon der Steuerzahler muß erwarten, daß ihm über die besonderen pädagogischen Möglichkeiten und Chancen dieses neuartigen pädagogischen Aufgabenbereiches Auskunft erteilt wird. Außerdem leuchtet ein, daß die Praktiker der Tagungsarbeit auf die Dauer vordergründigen Klischees verfallen müssen, wenn es ihnen nicht gelingt, den Erfahrungsbereich ihrer Praxis zu überschreiten, was wiederum vom Vorhandensein einer Theorie abhängt, die eine allgemeine Orientierung ermöglichen muß.

Bevor wir versuchen, aus dem Material unserer eigenen Erfahrungen Elemente einer solchen didaktischen Theorie

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zusammenzutragen, müssen wir uns zunächst noch einmal über den Begriff "Tagung" verständigen. Es ist nötig, ihn deutlicher als bisher gegen verwandte Veranstaltungsformen abzugrenzen. Offensichtlich gibt es Typen tagungsähnlicher Veranstaltungsformen, die zwar in Wirklichkeit ineinander übergehen, sich aber doch von ihrer Funktion her als Typen deutlich unterscheiden lassen. Zur Präzisierung des Sprachgebrauchs schlage ich vor, diesen Typen auch bestimmte Bezeichnungen zuzuordnen.

1. Eine "Tagung" kann vornehmlich der Berufsfortbildung bzw. dem beruflichen Umlernen dienen. Charakteristisches Beispiel dafür sind die Lehrerfortbildungsveranstaltungen. Diese Veranstaltungsform sollte man in Zukunft "Lehrgang" nennen. Für sie muß es natürlich auch didaktische Überlegungen geben. Sie werden um so notwendiger, je mehr in allen Berufen der Zwang zur regelmäßigen Fortbildung wächst. Eine "Didaktik der Fortbildung" ist noch nicht geschrieben.

2. Eine "Tagung" kann nicht nur der Berufsfortbildung, sondern auch der Berufsausübung dienen. Es gibt heute immer mehr berufliche Aufgaben, die wegen ihrer organisatorischen Struktur und ihres Bedarfes an Kommunikation und Beratung regelmäßig überregionaler Zusammenkünfte bedürfen. Für diesen Typus, der in der Regel keine besonderen pädagogischen Probleme aufwirft, möchte ich die Bezeichnung Konferenz vorschlagen.

3. Von diesen beiden Typen ist in diesem Buch nicht die Rede. In unserem Falle handelte es sich um Tagungen mit allgemeinbildendem Charakter, die in der Freizeit der Teilnehmer stattfinden. Für diesen Typus sollte man in Zukunft überhaupt nur den Begriff "Tagung" verwenden. In diesem eingeschränkten Sinne soll im folgenden von Tagung die Rede sein.

Es wurde schon deutlich, daß das sogenannte klassische didaktische Dreieck "Lehrer-Sache-Schüler" für die Beschreibung der Tagung ungeeignet ist. Wir wollen nun versuchen, ein anderes Faktorenmodell zu entwickeln, das die pädagogischen Sachverhalte einer Tagung genauer trifft

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und das uns Auskunft darüber geben kann, wovon die Lehr- und Lerninhalte und die pädagogischen Ziele tatsächlich abhängen.
 

Die pädagogischen Implikationen der Verwaltungsform

Wir haben zu Beginn unseres Berichtes darauf hingewiesen, in welcher Weise die organisatorischen Bedingungen der Trägerschaft uns den Spielraum für - zum Teil risikovolle - Experimente ermöglichten. Wir wollen diese Tatsache hier noch einmal in Erinnerung rufen. Wären wir an feste Haushaltspläne mit festen Haushaltstiteln gebunden gewesen, hätten wir eine von der pädagogischen Leitung unabhängige Verwaltungsleitung gehabt, hätte der Träger sich nicht jeder Einmischung in die pädagogische Arbeit enthalten, dann wäre die pädagogische Arbeit, die wir in diesem Buch beschrieben haben, gar nicht möglich gewesen. Das Verhältnis von Verwaltung und Pädagogik war in unserem Falle optimal gelöst, so nämlich, daß auf der einen Seite die Grundsätze der Verwaltung öffentlicher Mittel gewahrt werden konnten, auf der anderen Seite aber doch ein großer Spielraum für die pädagogische Arbeit erhalten blieb. Ich vermute, daß in einer staatlichen Einrichtung eine so glückliche Lösung des Verhältnisses von Pädagogik und Verwaltung nicht möglich wäre.
 
 

Die pädagogischen Implikationen des Freizeitmarktes

Tagungen sind Veranstaltungen der Freizeitpädagogik. Das heißt zunächst, daß die Teilnehmer in ihrer Freizeit solche Veranstaltungen besuchen. Das heißt aber nicht, daß nur die Freizeit auch Lehrinhalt einer Tagung sein

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kann. Man ist übereingekommen, Freizeit als diejenige Zeit im Zeithaushalt eines Menschen zu bezeichnen, die übrigbleibt, wenn man Arbeitszeit (bzw. Pflichtschulzeit), Schlafzeit und die mit der Arbeit bzw. Schule unmittelbar zusammenhängenden Tätigkeiten (Wegezeiten, Hausaufgaben usw.) abzieht. Die dann übrigbleibende Freizeit ( = arbeitsfreie Zeit) ist wieder zu einem guten Teil mit Verpflichtungen besetzt, die zwar nicht aus dem Beruf erwachsen, trotzdem aber einen hohen Grad an Festgelegtheit bedeuten können (etwa familiäre Verpflichtungen). Nur ein kleiner Teil der Freizeit ist also beliebig verfügbare Zeit. Dieser Teil wird aber wachsen, weil nach den übereinstimmenden Prognosen der Soziologen die arbeitsfreie Zeit allgemein zunehmen wird.

Diese beliebig verfügbare freie Zeit ist nun prinzipiell nicht inhaltlich festgelegt. Der Inhalt der beruflichen Tätigkeiten hingegen ist nahezu eindeutig durch die Art des Berufes bestimmt und festgelegt. Inhalt der Freizeitbeschäftigung in der frei verfügbaren Zeit kann - theoretisch - alles mögliche sein: Langeweile, Monotonie, Geselligkeit, Amüsement - und eben auch Bildung.

Unsere Freizeitpädagogik hat sich - zumindest in der Praxis - diese Tatsache oft noch nicht klar genug gemacht. Sie verbindet mit Freizeit meistens bestimmte pädagogische Inhalte, die der technischen und beruflichen Welt entgegengesetzt werden (etwa musische Bildung). In Wahrheit aber gibt es keine denkbare menschliche Tätigkeit, die den Prinzipien der Freizeit widerspräche. Genau dies macht es aber so schwierig, im Unterschied zur Schul- und Berufsausbildung Verläßliches und Allgemeingültiges über die Lehr- und Lerninhalte auf Tagungen zu sagen. Sehr wohl aber kann man sagen, daß der Freizeitcharakter der Tagung für die Didaktik weitreichende Folgen hat. Diese Folgen gilt es näher zu bestimmen.

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Die Lehrinhalte sind den Gesetzen des Marktes unterworfen

Läßt die frei verfügbare Zeit, von den einzelnen her gesehen, jede beliebige Gestaltung zu, so bedeutet das - von den Institutionen her gesehen - doch noch keineswegs, daß diese alles Beliebige zu jeder Zeit anbieten könnten. Wie nämlich bei der politischen Willensbildung die politischen Parteien die Einzelwillen erst zu erkennbaren politischen Kräften zusammenfassen, so sorgt das System des Marktes dafür, daß die einzelnen Freizeitinteressen zu artikulierten "Nachfragen" werden. Solche Nachfragen aber sind zum Teil durchaus irrationalen Wandlungen unterworfen. So hat es im Augenblick den Anschein, daß die "Nachfrage" nach den "Angeboten", von denen unser Buch berichtet, im Abnehmen begriffen ist. Das muß - wie noch zu zeigen sein wird - nicht unbedingt heißen, daß das Interesse für politische Bildung überhaupt abnimmt. Sehr im Unterschied zu den Schulen sind also die Tagungsveranstalter - auch und gerade im marktwirtschaftlichen Sinne - Teil des Freizeitsystems, das heißt des Systems von Angeboten, das den Menschen in der Freizeit gegenübertritt. Daraus ergibt sich eine weitere Folgerung.
 
 

Die Lehrinhalte stehen im Wettbewerb mit anderen

Auch dies ist eine für die deutsche Schule ziemlich undenkbare Tatsache. Die Lehrpläne der Schulen sind pädagogische Entscheidungen der ganzen Gesellschaft, die Tagungsveranstalter hingegen sind von vornherein gesellschaftliche Partikularitäten, Teilgruppen, die ihre "Lehrpläne" den anderen Teilgruppen gegenüber nicht verantworten müssen und dem Staat gegenüber auch nur in einem sehr allgemeinen Sinne, insofern er nämlich bestimmte Maßnahmen mitfinanziert.

Wir haben schon bei der Beschreibung unseres Trägers dar-

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auf hingewiesen, daß diese doppelte Abhängigkeit vom Markt eingeht in das, was die Tagungsveranstalter unter Bildung verstehen. In der außerschulischen Jugendarbeit - wie auch in der Erwachsenenbildung, obwohl dort die zunehmende Etatisierung diese Merkmale wieder rückgängig zu machen scheint - entwickelt sich zunehmend die Erfahrung von einer möglichen Pluralität der Bildungsvorstellungen, ihren Abhängigkeiten von bestimmten Gruppeninteressen und Gruppenzielen.

Es ist in diesem Zusammenhang ganz interessant, einmal auf die Frage einzugehen, mit welcher gesellschaftlichen Legitimation wir eigentlich unsere pädagogische Konzeption den Jugendlichen anboten. Von mißtrauischen Besuchern wurden wir oft gefragt: "Was versteht Ihr eigentlich unter politischer Bildung? Man kann das doch nicht im luftleeren Raum machen! Seid Ihr an einer Kirche, an einer Partei, an der Gewerkschaft oder an einem Unternehmerverband orientiert?" Wir konnten dann immer nur kleinlaut antworten, unser ganzer gesellschaftlicher Hintergrund seien etwa 40 Menschen (die meisten Studenten), die diese Konzeption für richtig hielten.

Diese Antwort befriedigt natürlich nicht. Seit die politischen Parteien beachtliche Mittel für ihre politische Bildungsarbeit fordern und die Begründung eine große Rolle spielt, eigentlich könnten nur politische Organisationen auch richtige politische Bildung betreiben, hat diese Frage prinzipiellen Charakter angenommen. Innerhalb unseres Gedankenganges, daß Tagungsarbeit Bestandteil des Freizeitmarktes sei, kann die Antwort nur lauten, daß jede Art von Monopolisierung den Gesetzen der Marktwirtschaft widerspricht und daß - innerhalb sehr weiter Grenzen - "Legitimation" hier gleichbedeutend ist mit "Nachfrage". In dieser Hinsicht konnten wir beruhigt sein, denn wir waren immer schon ein Jahr im voraus "ausgebucht". Ohne daß ich mich hier auf staatsrechtliche Erwägungen einlassen kann - von denen ich nichts verstehe - , möchte ich die Ansicht begründen, daß "politische Bildung" primär nicht eine Sache öffentlicher oder gar staatlicher In-

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stitutionen, sondern eine Sache der Bürger ist. Wie die Bürger sich zu diesem Zweck organisieren, welche Einrichtungen sie sich dafür schaffen, das muß man ihnen grundsätzlich selbst überlassen. Wenn unsere Verfassung sagt, die politischen Parteien seien "Instrumente der Willensbildung", so heißt das doch wohl: Instrumente in der Hand der Bürger. Selbstverständlich haben die politischen Parteien und andere Erwachsenengruppen das Recht, in der Jugendarbeit politische Bildung zu betreiben. Dies ist um so nötiger, als die moderne Schule sich immer mehr von den partikularen gesellschaftlichen Gruppen emanzipieren muß und die Jugendarbeit ganz allgemein das Feld sein wird, in dem sich die Erwachsenenverbände der jungen Generation vorstellen müssen. Aber das heißt noch keineswegs, daß politische Bildung schon dadurch Sinn und Verstand habe, daß es politische Parteien sind, die sie betreiben. Sie müssen dann schon eine Theorie haben, die öffentlich diskutiert und deren Praxis öffentlich nachgeprüft werden kann. Denn Erwachsenenverbände wie die politischen Parteien sind primär keine pädagogischen, sondern politische Einrichtungen. Ihre Mitglieder haben ihnen einen politischen und keinen pädagogischen Auftrag gegeben, und der eine ist keineswegs einfach aus dem anderen abzuleiten. Das verständliche Bedürfnis, Nachwuchs für den politischen Verband zu erhalten, hat allein noch nichts mit politischer Bildung zu tun. Politischer Bildung muß es immer darum gehen, Menschen in den Stand zu setzen, daß sie ihre politischen Rechte und Pflichten wahrnehmen können. Mitgliedschaft in einem Erwachsenenverband gehört aber grundsätzlich nicht zu den Pflichten, sondern zu den Rechten des Bürgers: er kann, aber er muß nicht. Jedenfalls muß man damit rechnen, daß die Bürger die politische Bildung ihrer Jugend auch noch in anderen Organisationen und Einrichtungen zu institutionalisieren wünschen.

Auch diese Frage ist nicht zuletzt durch den Jugendbericht der Bundesregierung aktuell geworden. Er räumt fälschlich nur den "Juniorengruppen der politischen Parteien"

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die Möglichkeit des "politischen Engagements" ein, bei den anderen findet dem Bericht zufolge "das so viel behauptete politische Engagement - genau genommen - nicht statt" (S. 71). - Natürlich ist diese Frage dadurch kompliziert geworden, daß alle politische Bildungsarbeit mit öffentlichen Mitteln finanziert werden muß. Und es wäre für die staatliche Verwaltung sehr viel einfacher, wenn man, anstatt eine pädagogische Aufgabe zu finanzieren, über die es große Meinungsverschiedenheiten gibt, bestimmte Träger finanzieren könnte, die an und für sich schon dafür legitimiert wären. Aber die Verwaltung muß sich hier schon an den Gedanken gewöhnen, daß gerade der Wettbewerb der verschiedenen Konzeptionen einen pädagogischen Sinn hat. Wenn sie diesen Wettbewerb nicht will, dann muß sie ihre Zuschüsse im ganzen einstellen, aber sie kann sie nicht in irgendeiner Weise monopolisieren. Was sie allerdings fordern kann, ist, daß die von ihr geförderten Träger durch eine pädagogische Theorie öffentlich Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen, so daß auf diese Weise eine allgemeine öffentliche Kontrolle und Diskussion darüber stattfinden kann. Der pädagogische Leitgedanke muß hier sein, daß es darum geht, junge Menschen in den Stand zu setzen, daß sie ihre Staatsbürgerrolle ausfüllen können. Nur damit kann eine öffentliche Finanzierung der freien politischen Bildungsarbeit begründet werden. Damit das geschieht, muß es neben den großen politischen Trägern auch solche Einrichtungen geben, deren Träger nicht unmittelbar an partikulare politische Interessen gebunden sind. Auf diese Weise muß den Jugendlichen Gelegenheit gegeben werden, einen Veranstalter zu suchen, der primär die Steigerung ihrer Fähigkeiten und nicht die Mitgliedszahlen seines Verbandes im Auge hat. Wir müssen hier das Problem der Legitimation auf sich beruhen lassen. Aber man muß sich im klaren darüber sein, daß es in dem Augenblick auftaucht, wo verschiedene gesellschaftliche Gruppen verschiedene pädagogische Zielvorstellungen entwickeln, die im Wettbewerb miteinander stehen. Diese Konkurrenz verschiedener Bildungsvorstel-

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lungen ging jedoch in einer viel praktischeren Weise in die Praxis unserer Arbeit ein. Das nämlich, was wir unter dem Selbstanspruch "Pädagogik" sagten und taten, widersprach oft dem, was ebenfalls unter dem Anspruch "Pädagogik" im Betrieb oder in der Schule oder auch im Elternhaus gesagt und getan wurde. Die Jugendlichen waren klug genug, diesen Widerspruch zu bemerken. Wir hätten den Jugendlichen keinen Gefallen getan, wenn wir ihnen diesen Widerspruch verborgen hätten; denn er spiegelt ja eine Erziehungsrealität wider.
 
 

Die Freizeitbedingungen sind lern-neutral

Wir haben gesehen, in welcher Weise die Freizeitbedingungen der Tagung die Teilnehmer für neue Eindrücke und Erfahrungen öffneten. Dies wurde besonders im Vergleich zu den Tagungen mit Schulklassen deutlich, wo die Merkmale der Freizeitsituation subjektiv und objektiv fast völlig fehlten. Was gelernt wurde, war in den beiden anderen Tagungstypen nicht mehr bestimmt durch den Blick auf Zeugnisse oder direkten beruflichen Aufstieg, sondern weitgehend individuell beliebig. Im Hinblick auf die politische Bildung entfiel vor allem der Verdacht, daß man in jemandes Auftrag "geschult" würde.

Aber das darf nicht zu dem falschen Schluß verführen, als ob die Freizeitsituation von sich aus schon eine produktive Lernsituation sei. Sie ist an sich völlig indifferent. Die Offenheit wird vielmehr nur dann produktiv, wenn sie entsprechend mit Aufgaben und Ansprüchen belastet wird. An vielen Stellen unseres Berichtes wurde deutlich, daß die Lernbereitschaft in dem Augenblick nachließ, wo sie nicht auf interessante Weise neu herausgefordert wurde. Man kann sich also niemals damit begnügen, mittlere Ansprüche zu stellen und im übrigen auf die jugendliche "Spontaneität" zu vertrauen. Das, was die Jugendlichen in unseren Tagungen "spontan" taten, war allein selten im Sinne des Lernens produktiv für sie.

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Politisch-pädagogische "Grunderfahrungen"

Unsere Tagung war vor allem eine erzieherische Gesellungsform. Jugendliche und Erwachsene gingen freiwillig, auf Zeit und an ein und demselben Ort eine pädagogisch bestimmte Gesellung miteinander ein. Sie war pädagogisch schon allein dadurch, daß sie selbst erziehende Wirkungen hatte, die sich nicht allein aus der Inhaltlichkeit des Programms ableiten ließen. Diese Wirkungen kamen vor allem durch die besondere Sozialsituation zustande. Auf der einen Seite ermöglichte die geringe Zahl der Teilnehmer eine intime Sozialform wie die der Gemeinschaft. Auf der anderen Seite waren die Partner einander zunächst nicht bekannt und deshalb auf eine distanzierte, gesellschaftliche Kommunikationsform angewiesen. Daher war jede Tagung durch die Abgestuftheit der Sozialbeziehungen bestimmt: sie wurde zum Feld eines vielgestaltigen social-learning.

Soziales Lernen hat wie jedes Lernen zur Voraussetzung, daß Fehler gemacht werden dürfen. Die Möglichkeit, Fehler zu machen, hängt entscheidend davon ab, welche Folgen daraus erwachsen können. Im Alltag haben Meinungen und Verhalten oft weitreichende Folgen. Dafür sorgen vor allem die Rollenerwartungen der täglichen sozialen Umgebung. Sie dulden nur einen sehr beschränkten Spielraum. Die Tagung hat die Möglichkeit, diesen Freiheits-Spielraum erheblich zu erweitern. Darin lag für uns eine besondere pädagogische Chance. Es wurde möglich, den Konformitätsdruck der alltäglichen Rollen zu "verfremden", indem man die dazugehörigen Verhaltensweisen und Meinungen "experimentell in Frage stellte".

Aber solche Selbstexperimente der Jugendlichen führten nicht von sich aus schon zu neuen Selbst- und Welterfahrungen. Ließ man ihnen einfach freien Lauf, so zeigten sie eine unverkennbare Tendenz zu "Subkultur-Strukturen", also zu gleichsam inoffiziellen Kultur- und Verhaltensformen, die sich durch die Mechanik der Kommunika-

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tion bildeten. Nur wo es gelang, sich solche Prozesse bewußt zu machen, hatten sie als neue Erfahrung auch eine produktive Lernwirkung. Nur selten gelang es den Jugendlichen, ohne unsere Hilfe diese Prozesse ins Bewußtsein zu heben; denn das hätte vorausgesetzt, daß sie dabei die neue Sozialsituation mit den Dimensionen der offiziellen Gesellschaft in einen Zusammenhang zusammendenken können. Die sonst bloß reaktiven Verhaltensmechanismen mußten auf die Objektivität der wirklichen Gesellschaft hin transzendiert werden können - erst das konnte in einem vollen Sinne Erfahrung heißen. Nur im Vergleich zu den Alltagssituationen waren die neuen Erfahrungen überhaupt wahrnehmbar. Schon die Frage, warum das liberale Klima der Tagungssituation den sonstigen Sozialerfahrungen der Jugendlichen so sehr widersprach, konnte erst auf dem Hintergrund einer derartigen gesellschaftlichen Theorie gelöst werden. "Erfahrung" ist also eine intellektuell hochaktive Angelegenheit. Von Erfahrung ist in pädagogischen Zusammenhängen unentwegt die Rede, aber oft werden "Beobachtung", "Erlebnis" und "Erfahrung" gar nicht mehr unterschieden. Erfahrung kann aber nur ein nach strengen Regeln interpretiertes Erlebnis sein. Oder anders: Erfahrung ist aufgeklärtes Erlebnis, aufgeklärte Beobachtung.

Es genügte also nicht, daß wir in unseren Tagungen die eben beschriebenen Verhältnisse schufen; sie mußten auch ins Bewußtsein dringen. Dies geschah nun weniger in den geplanten Veranstaltungen als vielmehr in den ungeplanten Gesprächen, wo uns die Teilnehmer oft fragten, warum wir das so und nicht anders machten. In solchen Gesprächen fand vielleicht der effektivste und verbindlichste Teil unserer politischen Bildungsarbeit statt.

Die experimentelle Gesellungsform der Tagung ermöglichte den Teilnehmern eine Reihe politischer Grunderfahrungen, die primär nichts mit dem Lehrstoff zu tun hatten, sondern vor allem durch das Arrangement der Sozialsituationen erfolgen konnten. Wir müssen uns wohl von der Vorstellung lösen, daß Politik und erst recht demokratische

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Politik ein von den anderen Lebensbereichen deutlich isolierbarer Teil des menschlichen Lebens sei. Der Demokratisierungsprozeß der Neuzeit führt ja nicht nur zum allgemeinen Wahlrecht, sondern darüber hinaus zu einer neuen Anthropologie, zu einer umfassenden Neuinterpretation des Menschen in der modernen Welt: es handelt sich um eine "Fundamentaldemokratisierung" (Karl Mannheim).

Die "Grunderfahrungen", von denen nun die Rede sein soll, hängen mit dieser politisch-anthropologischen Deutung des Demokratisierungsprozesses aufs engste zusammen, sie sind gewissermaßen deren pädagogische Übersetzung. Dabei ist zu beachten, daß diese Grunderfahrungen in einen untrennbaren Zusammenhang gehören, daß sie erst in diesem Zusammenhang zu "demokratisch-politischen" Grunderfahrungen werden können.
 
 

Die Erfahrung der rationalen Leistungsfähigkeit

Es kommt entscheidend darauf an, die intellektuellen Frustrationen junger Menschen - vor allem der Nicht-Oberschüler - zu korrigieren. Die Selbsteinschätzung der meisten Lehrlinge - "wir sind zu dumm für Politik" - ist eine hohe Barriere auf dem Weg zur rationalen Einstellung gegenüber politischen Erscheinungen. Die Übung des rationalen Vergnügens muß auf Jugendtagungen nicht unbedingt an politischen Stoffen erfolgen. Literatur und Film sind ebenso legitime Gegenstände dafür. Worauf es ankommt, ist, bei irgendeiner beliebigen Sache "dahinterzukommen" und am Umgang mit der eigenen Intelligenz Spaß zu haben. Was immer Thema einer Tagung sein mag, seine Behandlung wird in dem Augenblick schon Beitrag zur politischen Bildung, wo die sachlichen Strukturen des Themas ernst genommen und erfolgreich durchschaut werden. Es geht also durchaus immer um Sachen (und damit um Stoffe und Unterricht), aber die Sache muß nicht unbedingt Politik im stofflichen Sinne sein.

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Es geht im Grunde darum, das intellektuell-kritische Potential dort zu stärken, wo es sich gerade stärken läßt. Die Gelegenheit dafür ist in der Regel bei solchen Gegenständen günstiger, mit denen sich der Jugendliche ohnehin in seinem Alltag auseinandersetzen muß. Damit soll nicht gesagt sein, daß es für die politische Bildung grundsätzlich gleichgültig ist, welche Stoffe man behandelt und welche nicht: gute Filmkenntnisse ersetzen nicht gute Kenntnisse über die politischen Parteien. Aber eine Tagung kann - im Unterschied zur Schule - keinen langfristigen Bildungsgang konzipieren, sie bedeutet meist sogar einen Bruch innerhalb der schulischen Kontinuität. Sie verfährt daher realistischer, wenn sie das intellektuelle und rationale Potential dort stärkt, wo sie es in wenigen Tagen stärken kann.

Gerade diese Erfahrung aber, daß die rationalen Fähigkeiten viel weiter reichen, als man selbst für möglich gehalten hätte, daß sie in der Lage sind, Umweltbedingungen zu ordnen und damit auch der eigenen Lebensplanung verfügbar zu machen, entspricht jenem Postulat des Demokratisierungsprozesses, daß der Mensch soweit wie möglich Subjekt seiner Verhältnisse und so wenig wie nötig ihr Objekt sein soll. Dies ist sehr viel mehr als die inzwischen allgemein anerkannte bloß formale Einsicht der Lerntheorie, daß Lernmotivation und Lernbereitschaft wesentlich vom Lernerfolg abhängen. Hier wird vielmehr inhaltlich auch ein bestimmtes Lernziel gefordert, das der Demokratisierungsprozeß unwiderruflich auf die Tagesordnung gesetzt hat: die rationale Eroberung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Zwecke der je persönlichen Lebensplanung.

Dazu gehört nicht zuletzt, daß man auch Lehrlinge mit elementaren wissenschaftlichen Techniken und Verfahren vertraut macht. Gerade in den Rahmen einer "Produktion" fügen sich solche Informationen zwanglos ein. Bei der Beschreibung unseres Beispiels zeigten wir, wie sehr wir jede sich bietende Gelegenheit dazu nutzten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der wir das taten, rief bei

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vielen Pädagogen, mit denen wir darüber diskutierten - so bei den Lehrern unserer Klassen - blankes Entsetzen hervor. "Verfrühung", "Überforderung" und "Dilettantismus" waren noch die geringsten Vorwürfe, die wir einstecken mußten. Zeitweise fühlten wir uns in dieser Frage regelrecht isoliert und glaubten - als "Außenseiter" - selbst nicht mehr an unser Konzept.

Aber die geschlossene Feindschaft, die wir damit heraufbeschworen, legte auch den Verdacht nahe, daß wir mit diesem Teil unserer Konzeption bestimmte Momente der herrschenden pädagogischen Weltanschauung empfindlich getroffen haben mußten. Der anti-wissenschaftliche Affekt, den wir insbesondere bei Pädagogen aus der Jugendarbeit und aus Volks- und Berufsschulen antrafen, ging nämlich einher mit der anderen Auffassung, daß moderne Technik und Zivilisation menschenfeindliche Entwicklungen seien, die man zwar als "Schicksal" hinnehmen müsse, gegen die man aber andererseits mit möglichst viel "Bildung" angehen müsse, um dem also bedrohten Menschen zu Hilfe zu kommen.

Es bedarf keiner großen Phantasie, um zu erkennen, daß ein solches fatalistisches pädagogisches Weltbild, falls es weit genug verbreitet ist - was man leider befürchten muß - seinen Teil zur politischen Desorientierung der heranwachsenden Jugend beiträgt. Da es sich nicht zufällig vor allem in solchen pädagogischen Konzeptionen findet, mit denen Volks- und Berufsschüler konfrontiert werden, gehört es objektiv zu jenen ideologischen Instrumenten, mit denen die politische Beteiligung dieser Schichten weiter verzögert und neutralisiert wird, indem die kritische rationale Energie auf eine schlechte Metaphysik der Technik hin abgeleitet wird.

Natürlich waren auch wir uns darüber im klaren, daß es eine "Dialektik der Aufklärung" (Adorno) gibt, daß heute nichts weniger angebracht ist als naiver Fortschrittsoptimismus. Aber dies ist nicht etwas, was wir heute den Lehrlingen sagen müssen. Vielleicht wird man diesen Akzent ihnen in 20 Jahren deutlich machen müssen. Heute kommt

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es für diese Gruppen unserer Gesellschaft erst einmal darauf an, die Phase des aufklärerischen Denkens nachzuholen, deutlich zu machen, daß "Wissenschaft" ein Instrument ist, das die moderne Gesellschaft zusammen mit dem allgemeinen Wahlrecht hervorgebracht hat, ja, daß die inhaltliche - und nicht bloß formale - Wahrnehmung des allgemeinen Wahlrechts gar nicht möglich ist ohne das Instrument der Wissenschaft; daß Wissenschaft das wichtigste Instrument ist, mit dem wir heute noch die komplizierte Großgesellschaft ordnen können. Mit anderen Worten: Wer nicht wenigstens in einem elementaren Sinne Wissenschaft - vor allem Sozialwissenschaft - "lesen" kann, der ist eo ipso schon von der politischen Beteiligung ausgeschlossen. Für unsere Lehrlinge bedeutete also die Erfahrung ihrer rationalen Leistungsfähigkeit nicht zuletzt, auch wissenschaftliche Ergebnisse und Verfahrensweisen als ihre Sache zu betrachten, die auch zum Zwecke ihrer Lebensplanung zur Verfügung steht. Wenn wir also mit unseren Lehrlingen irgendeinen Sozialreport erstellten, so ging es nicht nur um das Ergebnis, sondern auch um Grundbegriffe wissenschaftlicher Verfahren wie "Nachprüfbarkeit", "Verallgemeinerungsfähigkeit" und "Methode". Natürlich konnten diese Bemühungen nie so weit reichen, daß unsere Lehrlinge anschließend wissenschaftliche Bücher lesen konnten - das scheiterte schon an ihrem Sprachschatz. Es kam uns nur darauf an, sie die Erfahrung machen zu lassen, daß Wissenschaft nicht nur "für die anderen" da ist, sondern auch für sie: daß also zum Beispiel der Inhalt eines Interviews, das ein Wissenschaftler vor dem Fernsehen gibt, nachgeprüft werden kann - und garantiert auch von seinen Kollegen nachgeprüft wird - , was bei der Meinungsäußerung eines Politikers schon sehr viel schwerer ist.

Der Soziologe Karl Mannheim hat in seiner Schrift "Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie" (Tübingen 1932) die Vermutung geäußert, daß es in Zukunft soziale Schichten geben wird, die ihre grundlegenden Bildungserlebnisse und Bildungserfahrungen nicht mehr bei der Lektüre klassischer

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Texte - wie die sogenannten "Humanisten" - , sondern in der Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit ihrer eigenen Zeit haben würden. Diesen Gedanken können wir aus unseren Erfahrungen mit Lehrlingen nur bestätigen. Wenn unsere Produktionen den wirklichen sozialen Lebensbedingungen wirklicher Menschen nachgingen, wenn sie ihren Problemen, Sorgen und Nöten nachspürten und sie zu erklären versuchten, dann mobilisierten wir immer starke Lernmotive, die sich auch in strenge geistige Zucht nehmen ließen. Daß unsere Reports "richtig" sein mußten, war ihnen ebenso selbstverständlich, wie daß in ihrem Betrieb ein Werkstück "passen" mußte. Bei der Frage aber, wie man sich der "Richtigkeit" des eigenen Reports versichern konnte, war man schon auf elementare wissenschaftliche Kategorien verwiesen. Jedenfalls spürten die Lehrlinge, daß wir ihnen hier etwas zeigten, wovon man sie bisher mehr oder weniger ausgeschlossen hatte, und sie honorierten uns das durch ein unübersehbares Interesse.
 
 

Die Erfahrung vom Reichtum der Freizeitangebote

Wir sahen schon, daß das Freizeitsystem von sich aus nicht festlegt, was man tun muß. Die tatsächlich feststellbare Beschränkung des jugendlichen Freizeitverhaltens ist vorwiegend eine quantitative: Es hat sich "eingespielt", daß man bestimmte Dinge in der freien Zeit tut, und man nimmt schon gar nicht mehr zur Kenntnis, daß es auch andere Möglichkeiten gibt. So sehen etwa Lehrlinge in der Regel nur bestimmte Unterhaltungssendungen mittleren Niveaus im Fernsehen. Es hat nun wenig Sinn, ihnen den Appetit daran zu verderben, sondern man muß sie einladen, auch die anderen Möglichkeiten des Fernsehens wahrzunehmen, zum Beispiel die politischen Informationssendungen. Man muß gleichsam mit ihnen gemeinsam die "Schallmauer" ihres milieubedingten Freizeitverhaltens durchbrechen. Umgekehrt kann es gerade bei hochbegabten

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Oberschülern darauf ankommen, sie an Unterhaltungssendungen mittleren Niveaus heranzuführen, um sie von der - ebenso milieubedingten - Hochtourigkeit intellektueller Anspannung und Vereinseitigung zu lösen.

Auch diese Erfahrung ist ein wertvoller Beitrag zur politischen Bildung, weil sich in einer wie immer gearteten Beschränktheit gegenüber den Freizeitangeboten auch eine Verkrampfung des politischen Verhaltens ausdrückt, ja eine Disponibilität zu Vorurteilen. Zu den "Befreiungen", die der Demokratisierungsprozeß gebracht hat, gehört auch die von den durch die Tradition festgelegten schichtenspezifischen Freizeittätigkeiten. Das ganze heutige Freizeitangebot - von den simplen Vergnügungen bis zum Film der neuen Welle, vom Schlager bis zur elektronischen Musik - sich verfügbar zu machen und sich in solchen Medien je verschieden zu erfahren, ist eine Steigerung der Lebensmöglichkeiten, die eng mit dem Demokratisierungsprozeß zusammenhängt. Nicht, daß viele Menschen das Falsche in ihrer Freizeit tun, ist das Problem, sondern daß sie immer das gleiche tun, sich kein Repertoire des Freizeitverhaltens aneignen. Nicht, wer Schlager mag, sondern wer nur Schlager hört, nicht, wer sich bei Lou van Burg amüsiert, sondern wer nichts anderes amüsant findet, ist der Gefangene seiner Freizeitgewohnheiten, weil er keinen Mut zu neuen Erfahrungen hat.

Diese Überlegung war der Grund, weshalb wir in unseren Tagungen sorgfältig vermieden, die Freizeitinteressen unserer Gäste als solche zu qualifizieren. Wir bemühten uns vielmehr, das, was sie interessierte, durch unsere Interessen zu ergänzen. Waren unsere Lehrlinge auf Schlager festgelegt, brachten wir Chansons, Songs, Jazz und Blues ins Spiel; kompensierten unsere Oberschüler ihre Pubertät allzu einseitig mit frechen Brecht-Songs, entdeckten wir unsere Vorliebe für nichtssagende Schlager. Einer unserer Studenten brachte dieses Verfahren auf eine umwerfend einfache Formel: "Der liebe Gott hat einen großen Tierpark; wer daraus nur die Löwen oder die Mäuse kennt, bei dem besteht die ganze Zoologie aus Brüllen oder Pie-

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pen". - Diese Grunderfahrung vom Reichtum der Freizeitangebote hängt mit einer anderen unmittelbar zusammen, mit der Erfahrung, daß die menschliche Existenz nicht auf ein Bedürfnis reduziert werden darf.
 
 

Die Erfahrung von der Vielschichtigkeit der menschlichen Bedürfnisse

Unsere Tagungsgestaltung versuchte den jungen Leuten auf diese Weise die Erfahrung zu vermitteln, daß die menschlichen Bedürfnisse nicht einfach auf einen kleinen Nenner gebracht werden können. "Geistige Auseinandersetzungen", Arbeit, individuelle Hobbies, Geselligkeit, Amüsement, Flirt, Langeweile, diese menschlichen Daseinsweisen machen zusammen erst Humanität aus. Wo die Arbeit denunziert wird (wie in manchen Strömungen des Bildungshumanismus) oder die Muße (wie in der Arbeitsideologie des 18. bis 20. Jahrhunderts) oder das Vergnügen (wie in vielen pädagogischen Strömungen der Gegenwart), da wird auch immer ein wichtiger Aspekt der Humanität denunziert. Indem wir durch die Tagungsgestaltung die grundsätzliche Gleichrangigkeit dieser verschiedenen Bedürfnisse demonstrierten, trugen wir einem wichtigen Ergebnis der Demokratisierung Rechnung. Im Prozeß der gesellschaftlichen Demokratisierung, von dem die Entwicklung der Freizeitkultur ein Teil ist, gewinnen auch diejenigen Bedürfnisse eine Berechtigung, die sich nicht eindeutig auf bestimmte von außen angesonnene Leistungen und Pflichten funktionalisieren lassen. Die Befreiung von der Totalität der Berufsrolle zum Beispiel ist ein wesentliches inhaltliches Merkmal des Demokratisierungsprozesses. In Rousseaus These vom defizienten Charakter des vergesellschafteten Menschen klingt zugleich der Protest gegen jede einseitige, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgerufene Beschränkung des Lebenshorizonts an. Der Ruf nach dem "allseitig gebildeten Menschen" impliziert selbst in seiner kommunistischen Per-

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vertierung noch die Forderung nach einer "allseitig ausgeprägten Existenz", und beides ist untrennbar mit demokratischen Verhältnissen verbunden.
 
 

Die Erfahrung vom Luxuscharakter des Lernens

Vieles müssen wir lernen, weil wir es in einem unmittelbaren Sinne für unser Leben brauchen. Lernen wir es nicht, so drohen wir zu scheitern. Aber vieles lernen wir auch, weil es unser Leben ganz einfach bereichert, nicht, weil wir es unmittelbar brauchen. Der Sinn, der dem deutschen Wort Luxus anhaftet, ist negativ. Luxus ist das, was überflüssig ist. Aber unter welchem Aspekt überflüssig? Der Luxus ist überflüssig im Hinblick auf gesellschaftliche Leistungen, vor allem auf berufliche Leistungen. An dieser Einstellung hat sich inzwischen schon in ökonomischer Hinsicht einiges geändert. Das komplizierte System unserer Produktion verlangt ein gewisses Maß an Konsum, Konsum wird im Interesse der Funktionssicherung unserer Gesellschaft zu einer politischen Pflicht.

Schon deshalb müssen wir den Begriff des Luxus aufwerten, und dies gerade auch im Hinblick auf Bildungsveranstaltungen. Noch immer ist es ein Luxus, wenn Volksschüler mehr lernen, als unmittelbar oder mittelbar für ihren Beruf nötig ist. Es ist für ihren späteren beruflichen Standort nicht nötig, daß sie etwas von Literatur, vom künstlerischen Film, von Musik oder von der seriösen Journalistik verstehen. Und ihrer gesellschaftlichen Pflicht zum Konsum kommen sie ohnehin nach, da es ja für den Markt im Prinzip gleichgültig ist, was gekauft wird, wenn nur überhaupt gekauft wird. Volksschüler literarisch, künstlerisch und geschmacklich - und nicht nur technologisch und human-technisch - zu "bilden", ist offenbar ein Luxus, der sich durch nichts ökonomisch rechtfertigen läßt. Nun wage ich die Behauptung, daß genau dies ein wesentliches Merkmal undemokratischer Verhältnisse in unserer Gesellschaft ist. Wenn wir also - vor allem un-

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seren Lehrlingen - die Erfahrung vermitteln konnten, daß man vieles lernen kann aus ganz privatem Spaß, was niemandem direkt nutzt, wofür sich die Gesellschaft nicht einmal interessiert (da sie dafür ja auch keine Zeugnisse ausstellt), was man nicht einmal im vordergründigen Sinne brauchen kann - kurz: daß Lernen auch ein Luxus ist, den man sich leisten kann, aber nicht leisten muß - , dann war damit ebenfalls eine demokratische Grunderfahrung gewonnen.

Dieser Luxuscharakter gilt zunehmend gerade auch für das politische Lernen im engeren Sinne. Schon vor Jahren hat der Politologe Wilhelm Hennis darauf hingewiesen, daß die klassischen Motive des 19. und 20. Jahrhunderts für die politische Beteiligung der Menschen heute weitgehend entfallen sind und daß unsere politische Pädagogik davon noch keine rechte Kenntnis genommen hat ("Das Modell des Bürgers", im Juliheft 1957 der Zeitschrift "Gesellschaft-Staat-Erziehung"). Weder für das Funktionieren des Staates noch für die einzelne Existenz sei die politische Beteiligung aller so notwendig wie noch zur Zeit der Weimarer Republik. Es scheint in der Tat so, daß politisches Interesse und politische Beteiligung zunehmend als Luxus gelten können und müssen, und es ist noch keineswegs ausgemacht, daß diese Begründung der Demokratisierung unserer Gesellschaft schlechter bekommen muß als diejenige, die von der "Pflicht zur Staatsbürgerrolle" ausgeht.
 
 

Die Erfahrung vom kooperativen Charakter der politischen Erkenntnis

Unsere Oberschüler und Lehrlinge hatten aus ganz verschiedenen Gründen Schwierigkeiten mit kooperativen Arbeitsformen. Die Oberschüler neigten dazu, sie für überflüssig zu halten; sie hielten es lieber mit solistischen Verfahren. Die Lehrlinge waren nicht an Kooperationsformen gewöhnt und taten sich immer schwer, wenn es um Orga-

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nisation und Koordination ging. Nun kann der einzelne zwar ein Buch lesen und daraus lernen. Aber Probleme von einigem Gewicht können nur in Kooperation mit anderen Menschen exponiert und - wenn überhaupt - gelöst werden.

Diese Erfahrung ist, wie mir scheint, geeignet, das nahezu hoffnungslose Ausgeliefertsein des einzelnen an die politischen Mächte auf rationale Weise aufzufangen. Gemeinsam mit anderen und unter Benutzung der dafür in unserer Gesellschaft vorhandenen Informations-Dienstleistungen (Fernsehen, Funk, Publizistik) kann man etwas, was man allein nicht mehr kann: das politische Getriebe und seine eigene Stellung in der Welt durchschaubar machen.

Es ist keine Frage, daß sowohl politische Erkenntnis wie politische Beteiligung heute nur in solch solidarischer Weise möglich sind. Demnach ist diese Grunderfahrung auch von eminenter Bedeutung für das politische Bewußtsein. Wenn wir in unseren Tagungen also die kooperativen Unterrichtsformen bevorzugten (Arbeitsgemeinschaft, Gruppenarbeit), so nicht nur deshalb, weil sie den Lerneffekt erhöhten - was ja keineswegs immer der Fall ist -, sondern vor allem deshalb, weil damit demonstriert werden sollte, daß Probleme von einigem Gewicht nur so noch erfaßt und gelöst werden können.
 
 

Die Erfahrung verminderter Repression

Wie ausführlich im ersten Teil beschrieben wurde, gelang es uns, den äußeren sozialen Druck auf unseren Tagungen sehr gering zu halten, sehr viel geringer jedenfalls, als er im Alltag der Jugendlichen war: Die Teilnahme blieb weitgehend freiwillig; Zeugnisse wurden nicht erteilt, ebensowenig Informationen an die "Mächte", die im Alltag der Jugendlichen eine entscheidende Rolle spielten (Eltern, Lehrer, Vorgesetzte usw.); wo unsere Teilnehmer in festen Gruppen kamen (Lehrjahr), sprengten wir die Rollenverteilung; schließlich beschränkten wir uns auf je-

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nes Mindestmaß an gesellschaftlicher Autorität ("Rollen-Ensemble"), das gerade noch zu vertreten war.

Dadurch wurde unsere Tagung zu einer Art "sozialer Unterdruckkammer". Dies zwang unsere Gäste nicht nur dazu, den größten Teil ihrer Probleme selbst zu lösen, sondern es löste sie zunächst ganz allgemein aus den Gebundenheiten und Klischees ihres alltäglichen Rollenverhaltens. Sie konnten mit ihrem Verhalten und ihren Meinungen und Urteilen experimentieren. So erlebten sie sich selbst in einer Weise, die sie vorher nicht für möglich gehalten hätten; sie merkten, daß sie mehr und anderes konnten, als sie bisher geglaubt hatten; sie spürten, wie sehr ihr Dasein sich aus den sozialen Zwängen ihres Alltags bestimmte. Wie würde man sein ohne den Beruf, mit einem anderen Beruf, mit anderen Freunden, in einem anderen Wohnviertel, mit einer anderen Schulbildung, mit anderen Familienverhältnissen, mit mehr Geld, mit mehr Freizeit? Diese Erfahrung, daß man - wenn auch nur für kurze Zeit - die sozialen und die ideologischen Determinanten des Alltags außer Kraft setzen kann, kann die weitere Erfahrung von der Veränderbarkeit des Alltags überhaupt zur Folge haben. Sie kann der Einsicht freien Lauf geben, daß diejenigen objektiven Bedingungen, die den Alltag zu dem machen, was er ist, ebenfalls bis zu einem bestimmten Grade änderbar sind. Dies wäre eine eminent politische Einsicht und Motivation zugleich. Ob hingegen umgekehrt die Erfahrung von der Änderbarkeit des scheinbar Unveränderlichen auch im Alltag selbst gewonnen werden kann, scheint mir sehr viel fraglicher. Karl Mannheim hat einmal gesagt, Bildung sei die "Fähigkeit zur Distanz von der Unmittelbarkeit des Daseins". Vielleicht ist heute für die meisten Menschen eine solche Distanz nicht mehr durch einen geistigen Aufschwung im Alltag selbst möglich, sondern bedarf als Bedingung ihrer Möglichkeit auch der regelmäßigen räumlichen Distanz.

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Die Erfahrung vom funktionalen Charakter der Herrschaft

Natürlich war die Repression in unseren Tagungen nur geringer als im Alltag, also keineswegs aufgehoben. Zum Beispiel hatten wir als Leiter und Mitarbeiter einer öffentlichen Einrichtung - noch dazu einer pädagogischen - bestimmte Pflichten gegenüber den Jugendlichen, die wir nicht übersehen konnten und deren prinzipielle Ignorierung auch keinen pädagogischen Gewinn gebracht hätte. Diese Pflichten - deren notwendige Folge ein Herrschaftsverhältnis zu unseren Jugendlichen war - lassen sich vielleicht am einfachsten mit dem Stichwort der "Aufsichtspflicht" zusammenfassen.

Wir versuchten nun, wie bereits ausführlich dargelegt wurde, diese Notwendigkeit zu kanalisieren, indem wir unsere Beziehungen zu den Jugendlichen in der Weise eines "Rollen-Ensembles" zu gestalten trachteten. Dadurch sollten unsere Jugendlichen folgende Erfahrung machen: Ein öffentlicher Gehorsamsanspruch ist in einer demokratischen Gesellschaft nie total, sondern begrenzt; diese Begrenzung muß soweit wie möglich rational umschrieben werden. So versuchten wir, unsere Herrschaftsrolle gegenüber den Jugendlichen - die "institutionelle Repräsentation" - durch wenige, inhaltlich klar festgelegte Gebote und Verbote zu umschreiben. Was an Beziehungen darüber hinausging, unterlag nicht mehr diesem Herrschaftsverhältnis, sondern war durch andere Strukturen geprägt.

Auf diese Weise fanden sich unsere Gäste einem durchrationalisierten Herrschaftsverhältnis gegenüber, das ihnen dadurch erst die Möglichkeit zur kritischen Distanz eröffnete. Zwar konnten uns die Jugendlichen nicht abwählen, aber sie konnten ihren Widerstand sehr wirkungsvoll in anderer Weise zur Geltung bringen: Sie konnten sich weigern, an dem von uns vorgeschlagenen Programm teilzunehmen, was ja auch gelegentlich vorkam. Dann mußten wir auf andere Weise zu einer Einigung gelangen als mit Hilfe der uns von der Gesellschaft verliehenen Macht.

Ähnlich war die Selbstverwaltung der Jugendlichen auf-

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zufassen. Auch hier ging es um ein Herrschaftsverhältnis, das die Jugendlichen selbst konstituierten und das funktionieren mußte, wenn nicht die Ordnung der kleinen Gemeinschaft zusammenbrechen sollte. Hier war die Führung abwählbar und ebenfalls rational begrenzt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt, daß es uns nicht um ein "Demokratie-Spiel" ging, um die Illusion, daß die Machtbeziehungen auf einer Tagung inhaltlich den abstrakten gesellschaftlichen entsprächen. Nicht der inhaltliche, sondern der formale Aspekt stand bei uns im Vordergrund: Erlaubte Herrschaft hat immer funktionalen, rationalen, gewissermaßen "Rollen-Charakter".
 
 

Die Erfahrung der Subjektivität

Bei der Darstellung der äußeren Bedingungen, unter denen wir zu arbeiten hatten, beklagten wir die Kollektivität der Schlafräume. Sie erlaubte keine individuelle Gestaltung, sie griff vielmehr immer wieder die Subjektivität und Intimität unserer Gäste an. Man macht sich wohl zuwenig klar, daß hinter Gemeinschaftsschlafräumen und vor allem Gemeinschaftswaschräumen ein handfester und primitiver, weil unaufgeklärter Kollektivismus steckt. Es geht bei unserer Kritik daran nicht nur um Komfort im Sinne einer vordergründigen Bequemlichkeit, sondern um eine grundsätzliche Frage unseres politischen Menschenbildes.

Man muß sich wohl klarmachen, daß unsere Jugendlichen - die Nichtoberschüler stärker als die Oberschüler - unentwegten öffentlichen Anschlägen auf ihre Subjektivität und Individualität ausgeliefert sind. Betrieb, Schule, Milieu, Freizeit rubrizieren das, was jemand denkt, meint, urteilt und fühlt von vornherein unter kollektive Größen: Leistungen, Gewohnheiten, Pflichten. Die sogenannte Ich-Findung als diejenige Leistung des Subjekts, die diesem Gefüge den je einzelnen Stempel aufzudrücken vermag, wird immer schwieriger, oft ganz unmöglich.

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Es schien uns deshalb immer sehr wichtig zu sein, den Jugendlichen klarzumachen, daß sie Recht daran tun, sich in ihren Wünschen, Interessen, Bedürfnissen und Urteilen von den anderen zu unterscheiden. So gaben wir uns Mühe, jedem einzelnen Freizeitinteresse zur Verwirklichung zu verhelfen, wenn das auch technisch schwierig war. Vor allem gaben wir in unserem Studententeam das Vorbild dazu. Unsere Studenten hatten nämlich zum Teil ausgeprägte Eigenarten, die sie auch auf der Tagung durchhielten. Der eine hielt jeden Mittag einen Mittagsschlaf und war durch nichts davon abzubringen; der zweite machte jeden Mittag einen Spaziergang, und zwar allein. Wollte sich ihm jemand anschließen, so wies er höflich, aber bestimmt darauf hin, daß er das Alleinsein zu seiner Sammlung brauche, anschließend stünde er wieder voll zur Verfügung. Der dritte war ein kultivierter Pfeifenraucher und brachte zu jeder Gruppensitzung ein halbes Dutzend kalter Pfeifen mit, die er vor sich auf den Tisch legte und in immer derselben Reihenfolge durchrauchte. Der vierte war ein Liebhaber französischer Spezialgerichte, kam damit natürlich in einer Heimverpflegung nicht auf seine Kosten und kochte sich gelegentlich unter erheblichem Aufwand sein Spezialgericht selbst. Die eine Studentin liebte den letzten modischen Chic, die andere fühlte sich in Nietenhosen wohler. So dokumentierte sich die persönliche Eigenart auf vielerlei Weise.

Unsere Jugendlichen - vor allem die Lehrlinge - waren zunächst einigermaßen überrascht, daß wir diese Eigenarten nicht nur duldeten, sondern sogar gegenseitig mit einem leicht ironischen Unterton hofierten. Unsere Devise, daß jeder seine Facon so lange beibehalten solle, wie er anderen nicht auf die Nerven fällt, war für sie gänzlich ungewöhnlich. Es bedarf wohl keines Hinweises, daß eine solche Einstellung zur eigenen wie fremden Subjektivität wesentlicher Bestandteil einer demokratischen Anthropologie ist. Wenn es dafür noch eines Beweises bedürfte, so hat ihn vom anderen Ende her die DDR geliefert, die immer wieder mit ungeheurem Aufwand jedes Anzeichen

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einer solchen Subjektivität in ihrer Jugend bekämpft, weil ihr der implizite demokratische Impuls einer solchen Haltung nicht entgangen ist.
 
 

Die Unbestimmtheit der Lehrprogramme und Unterrichtsformen

Gemeinhin gilt eine Tagung wohl nur dann als Beitrag zur politischen Jugendbildung, wenn ihr ein politisches Thema zugrunde liegt. Wäre dieser stoffliche Gesichtspunkt der einzig erlaubte, so könnte man sich mit Lehrlingen solche Tagungen sparen, denn sie wären, wie wir gesehen haben, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine angemessene Beschäftigung mit politischen Problemen und Stoffen setzt vieles voraus, was Lehrlinge meist noch mühsam nachholen müssen.

Diese Meinung, daß der Stoff entscheide, ob eine Tagung der politischen Bildung dient oder nicht, geht auf die verständliche, aber doch problematische Einstellung der öffentlichen Hand zurück, die nach einem objektivierbaren Kriterium für die Bezuschussung sucht. Aber dahinter steckt außerdem wohl auch der Versuch, sich die Probleme der politischen Bildung etwas zu einfach zu machen. Wenn es nur darum geht, ein bisher vernachlässigtes Stoffgebiet der bisherigen Jugendbildungsarbeit hinzuzufügen, so verzichtet man darauf, die anthropologischen Konsequenzen der Demokratisierung mit ins Auge zu fassen.

Wir stellen daher die Gegenthese auf: Wenn eine Tagung so organisiert und gestaltet ist, daß sie die eben beschriebenen Grunderfahrungen nicht ermöglicht, so ist sie auch dann kein Beitrag zur politischen Bildung, wenn sie politische Stoffe behandelt; wenn eine Tagung aber diese Grunderfahrungen ermöglicht, so muß sie nicht unbedingt politische Stoffe behandeln, damit sie zur politischen Bildung beiträgt.

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Natürlich hat jede Tagung ein Programm, aus dem hervorgeht, welche Stoffe man behandeln will. Aber die Programme sind schon deshalb abänderbar, weil sie keine Grundlage für Lehrpläne, Zeugnisse und langfristig geplante Unterrichtung sind. Die Unterrichtsinhalte sind in hohem Maße beliebig und bleiben den Wünschen der Gäste und Lehrenden weitgehend überlassen.

Dies hat den Vorteil, daß man in optimaler Weise die jeweils sich bietenden Lernchancen, Lernrichtungen und Lernmotivationen ausnutzen kann, ohne immer an das "Klassenziel" denken zu müssen. Aber man muß auch die Gefahren sehen, die in diesen Möglichkeiten stecken.

1. Lehrpläne haben eine unübersehbare stabilisierende Wirkung. Man kann sich an ihnen orientieren und muß nicht immer wieder seinen Unterricht von Anfang an neu durchdenken. Wenn wie in der Tagungsarbeit solche Lehrpläne fehlen, wird dem didaktischen und methodischen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet; der Schritt zur didaktischen Sektiererei ist klein, weil die von außen herangetragenen Kontrollinstanzen fehlen, mit denen man sich auseinandersetzen könnte. Methodistische Spielereien, sachlicher und unterrichtlicher Dilettantismus bedrohen die Tagungsarbeit daher unentwegt.

2. Wenn die auf einer Tagung Anwesenden einen derartigen Einfluß auf die Lehrinhalte haben, dann besteht immer die Gefahr, daß die Gesetze der Sache gar nicht mehr ernst genommen werden. Die Beliebigkeit der Stoffauswahl schlägt leicht in eine Beliebigkeit der Interpretation des ausgewählten Stoffes um. Der "Beschluß", sich für Spielfilme zu interessieren, führt zum Beispiel leicht dazu, auch darüber abzustimmen, was ein guter oder schlechter, langweiliger oder spannender Film nun sei, zumal eben die Lehrenden in solchen didaktischen Fragen mangels verbindlicher Lehrpläne auf sich selbst verwiesen sind. Derartige Fehlgriffe, die unverkennbar eine Schlagseite zur "Halbbildung" haben, lassen sich nur durch eine Art didaktischer Dauerreflexion abfangen, für die ein Team von Mitarbeitern Voraussetzung ist, dessen einzelne Mit-

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glieder - wie unsere Studenten - sich ihre sachlichen Informationen und Erfahrungen immer wieder außerhalb der Tagung beschaffen. Ein Mitarbeiterteam, das jahrelang hauptamtlich an einer Tagungsstätte arbeitet, ohne regelmäßig mit Außenstehenden zusammen zu arbeiten, wird früher oder später mit größter Wahrscheinlichkeit der didaktischen Sektiererei erliegen.

Genauso offen wie die Lehrprogramme sind die Unterrichtsformen. Es gibt keine denkbare Unterrichtsform, die nicht auf einer Tagung sinnvoll sein könnte. Es gibt andererseits aber auch keine Unterrichtsform, die für die Tagung besonders prädestiniert wäre. Man macht es sich zu einfach, wenn man zum Beispiel meint, daß die Formen der Gruppenarbeit "typisch" für die Tagung seien. Es kommt eben ganz darauf an, was jeweils erreicht werden soll. Geht es darum, einen systematischen Zusammenhang von Orientierungswissen zu vermitteln, dann ist "Lehrervortrag" und "Frontalunterricht" immer noch die produktivste Lehrmethode; sind Lehrlinge dabei die Partner, dann ist jeder noch so gute Vortrag, der länger als 30 Minuten dauert, umsonst; geht es nicht um Sachfragen im Sinne des positiven Wissens, sondern um normative und Sinnfragen, dann ist das Referat (außer als Einstieg) immer unangebracht, weil es für solche Fragen keine "Fachleute" gibt, sondern nur gemeinsam Suchende, so daß hier die Gesprächsformen dominant sein müssen (Arbeitsgemeinschaft, Diskussion usw.); kommt es hingegen mehr auf die Festigung des sozialen und intellektuellen Selbstbewußtseins an, so haben "indirekte" und in gewissem Sinne "unrentable" Unterrichtsformen wie die "Produktion" den Vorzug.

Besonders kompliziert werden die Unterrichtsformen dann, wenn man sich für die "Gruppen-Produktion" entscheidet; denn sie ist eigentlich keine einzelne Methode, sondern ein Bündel von Methoden, die immer wieder gewechselt werden müssen, je nach dem, worauf es gerade ankommt.

Alle denkbaren Lehrinhalte und alle denkbaren Unterrichtsformen und Unterrichtsmethoden können also in der

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Tagung von Bedeutung sein. Dennoch kann man sagen, daß mit einer gewissen statistischen Häufigkeit die Gesprächsformen auf einer Tagung dominieren. Denkt man nämlich noch einmal die besonderen Bedingungen und Möglichkeiten der Tagung zusammen, so fällt auf, daß sie weniger neue Kenntnisse, Stoffe und Techniken anbietet - was von anderen Erziehungsfaktoren viel sinnvoller bewirkt werden kann - , als vielmehr die vorhandenen konkreten Erfahrungen, Kenntnisse, Informationen, Meinungen und Urteile auf ihren Grund, ihre Ursachen und Zusammenhänge befragt und sie so mit neuen subjektiven Bedeutsamkeiten zu versehen sucht. Dieser "philosophierende Charakter" der Tagung spiegelt sich insbesondere in den mannigfachen Gesprächsformen wider. Wo es nämlich vor allem um die Klärung privater und kollektiver Konflikte geht, handelt es sich letztlich nicht darum, daß der Lehrende durch Fragen das jugendliche Denken auf einen vorweg bekannten und gewissen Inhalt hin aktiviert, wie etwa innerhalb des systematischen Unterrichts. Wo aber die Inhalte letztlich ungewiß sind, hat nur das Gespräch zwischen gleichgestellten Partnern einen methodischen Sinn.

Hier liegt nun auch die Erklärung dafür, weshalb es nicht möglich ist, eine Didaktik der Tagung von spezifischen Unterrichtsformen und Unterrichtsinhalten her zu formulieren. Zu der Frage, was junge Menschen überhaupt lernen sollen, kann man nämlich zwei extrem verschiedene Meinungen haben. Man kann von den objektiven Erwartungen der Erwachsenenwelt ausgehen und verlangen, daß junge Menschen alles lernen sollen, was nach Meinung der Erwachsenen nun einmal gelernt werden müsse. Man kann aber auch von den jugendlichen Lernwünschen und -bedürfnissen ausgehen und nur das lehren, was diesen Interessen und Bedürfnissen entspricht. Heute bahnt sich eine Verständigung zwischen der "subjektivistischen" und "objektivistischen" Betrachtungsweise an: man paßt das, was objektiv gelernt werden muß, den Altersstufen an und stuft so den Stoff von Jahrgang zu Jahrgang.

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Vermutlich ist dieses Strukturprinzip der Stoffe für die Schule ein optimaler didaktischer Kompromiß. Ich möchte diese Struktur der Stoffe eine systematische nennen. Für die Tagungsarbeit kann dieses Prinzip aber schon deshalb nicht gelten, weil ihr die wichtigste Voraussetzung dafür fehlt, die über Jahre sich erstreckende Planung.

In der Tagungsarbeit steht eine andere Struktur der Stoffe im Mittelpunkt: die problemorientierte oder "aporetische". Man kann nämlich auch davon ausgehen, daß jedes private und subjektive Problem die Widerspiegelung eines allgemeinen und objektiven Problems ist: Die allgemeine soziale Unsicherheit des Jugendalters verweist auf die normative Pluralität der Gesellschaft und auf das Auseinanderfallen der primären und sekundären Sozialhorizonte; die sexuellen Schwierigkeiten des Jugendalters verweisen unter anderem auf die Sexualisierung des Marktes und ebenfalls auf normative gesellschaftliche Mehrdeutigkeiten; das politische Desinteresse von 17jährigen spiegelt die allgemeine politische Ohnmacht wider usw. Man kann einen Lehrstoff also so strukturieren, daß man die individuellen Probleme des Jugendalters, bei deren Bewältigung die Pädagogik helfen soll, aus den objektiven gesellschaftlichen Konflikten und Mehrdeutigkeiten ableitet und diese zunächst einmal aufklärt und interpretiert.

Dies kann nun mittelbar und unmittelbar geschehen. Pädagogisch organisieren lassen sich nur die mittelbaren Formen. Unsere Gruppenproduktionen waren eine solche mittelbare Form. Indem die Jugendlichen über objektive gesellschaftliche Probleme etwas produzierten, arbeiteten sie zugleich - ohne daß ihnen das immer bewußt war - an der Klärung und Lösung einiger ihrer privaten Probleme. - Die unmittelbare Konflikterhellung ist die individuelle Beratung, die sich wohl arrangieren, aber nicht eigentlich veranstalten läßt.

Mit dem Hinweis auf die aporetische Struktur der Lehrinhalte auf der Tagung haben wir nun etwas genauer beschrieben, was mit der "Beliebigkeit" der Lehrinhalte gemeint ist. Vor allem wird jetzt deutlich, daß diese Be-

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liebigkeit einen positiven pädagogischen Sinn haben kann in Ergänzung zu der schulischen Struktur der Lehr- und Lerninhalte. Behält man diesen Sinn im Auge, so fällt es auch leichter, sich vor der Gefahr des didaktischen Dilettantismus zu schützen.

In dieser Struktur der Lehrinhalte einer Tagung stecken einige wichtige Voraussetzungen, die man klar sehen muß.

1. Man kann wohl mit einer gewissen statistischen Häufigkeit eine Sammlung von Stoffen aufstellen, die immer wieder eine Rolle spielen werden, aber nicht eigentlich einen Stoffkanon. Die Vorstellung eines Kanons als eines über weite geschichtliche Räume konstanten Zusammenhangs von Lehrinhalten ("Klassik") hat in dieser Struktur keinen Ort mehr.

2. In dieser Struktur sind die gemeinhin angenommenen Unterschiede zwischen "Jugend" und "Erwachsenen" weitgehend aufgehoben. Die Probleme und Konflikte, um die es hier geht, sind keine spezifischen Jugendprobleme, sondern altersindifferente Probleme der ganzen Gesellschaft, die sich höchstens im Hinblick auf das Jugendalter modifizieren. Die Sexualprobleme zum Beispiel sind nicht typisch für die Jugendphase, sondern für die ganze Gesellschaft, und werden dementsprechend behandelt. Daraus folgt: Jugendliche gelten auf der Tagung prinzipiell als Erwachsene. Dem Vorwurf der "Verfrühung" kann leicht begegnet werden. Nicht die Pädagogik greift hier vor, sondern die Gesellschaft selbst hat den "Schonraum" für die Jugend unwiderruflich gesprengt - vor allem dadurch, daß sie ihn in den Markt einbezog, so daß die Pädagogik dieser Entwicklung nur nachfolgen kann.

3. Angesichts von Konflikten und Problemen sind die Sachverhalte und Normen mehrdeutig. Folgerichtig geht es hier nicht mehr um "Tugend", sondern um "Aufklärung". Die Tagung hat keinerlei Möglichkeit und Legitimation, die Mehrdeutigkeiten eindeutig zu machen - genau dies wäre "Tugend". Sie muß sich vielmehr darauf beschränken, Gründe, Folgen und Zusammenhänge von privaten und kollektiven Konflikten und Entscheidungen

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ins Bewußtsein zu bringen, und die einzelnen Lehrer können allenfalls durch ihr persönliches Beispiel mögliche Lösungen anbieten, aber die Lösung kann nicht schon im Stoffplan oder im Arrangement der Stoffe selbst stecken.
 
 

Die Team-Leitung

Daß wir die Tagungsleitung in der beschriebenen Weise in der Form der Team-Leitung durchführten, schien uns nicht nur aus organisatorischen Gründen sinnvoll, sondern darüber hinaus eng mit dem didaktischen Konzept zusammenzuhängen. Auf jener Ebene des Unterrichts, auf der die noch rationalisierbaren Gehalte sich in die Entscheidungssituation hinein öffnen, wären der subjektiven Willkür Tür und Tor geöffnet, wenn nicht das Team durch Diskussion den einzelnen zu ständiger Selbstkontrolle zwänge. In diesem Sinne ist das Team durch das Mißtrauen gegen die isolierte Verantwortung des isoliert tätigen Erziehers bestimmt, und die Verantwortung des Erziehers erfährt hier insofern eine Wendung, als sie sich nun nicht mehr nur in - prinzipiell unaufhebbaren - irrationalen Dimensionen bewegt, sondern auch ein klares soziales Gegenüber findet, vor dem verantwortet wird. Das Team zwang den einzelnen nicht zu bestimmten Entscheidungen hinsichtlich seiner pädagogischen Arbeit, aber es zwang ihn, seine Tätigkeit zu begründen und vor den anderen zu verteidigen. Ohne Team-Leitung dürfte die eben beschriebene Gefahr der didaktischen Sektiererei kaum zu bannen sein.

Auch die geschilderten Experimentierprozesse auf der Tagung verlangten sowohl hinsichtlich ihrer Deutung wie hinsichtlich ihrer produktiven pädagogischen Behandlung das Team. Sowohl die inhaltlichen Aufgaben der politischen Bildung wie die erzieherischen Prozesse überfordern grundsätzlich den einzelnen Pädagogen.

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Das Team arbeitete also durchaus arbeitsteilig. Die konkrete pädagogische Arbeit blieb auch bei uns eine Sache des einzelnen Mitarbeiters. Das Team kann aber - wenn es entsprechend zusammengesetzt ist - etwas tun, was dem einzelnen grundsätzlich nicht mehr möglich ist, nämlich die Arbeitsteilung dadurch wieder aufheben, daß es selbst zu einer Art höherem Bewußtsein des Ganzen wird, das da arbeitsteilig betrieben werden muß: die Kommunikation und Kooperation des Teams ermöglichte, daß jeder sich dieses Bewußtsein aneignete.

Aber auch die Team-Leitung ist natürlich eine Form der Führung. Das Team muß also eine klare Führungsposition herausstellen, die die Denkprozesse und Auseinandersetzungen innerhalb des Teams repräsentiert. Aus der Gruppentheorie weiß man, daß zielgerichtete Kommunikationen nicht schon dadurch entstehen, daß die Gruppenmitglieder ab und zu miteinander reden. Die Gruppe des Teams muß also gleichsam aus sich selbst jene Funktion aussondern. die auch die Ergebnisse festhält und sie wieder neu auf die Praxis anzuwenden versucht. Diese Führerrolle kann wechseln, aber sie muß jederzeit klar sein. Die Bereitschaft des einzelnen Mitarbeiters, die eigenen arbeitsteiligen Tätigkeiten auf den Gesamtzusammenhang des Tagungsprozesses zu beziehen, ist nämlich nicht von selbst da, sie bedarf um so mehr einer Person, die sie ständig fordert, als sie mit einer erheblichen Belastung verbunden ist, der man sich oft lieber entzieht, wenn die eigenen Aufgaben des Tages erfüllt sind.

Dann wird das Team zu einer losen Mitarbeitergruppe, die zwar noch organisatorische Absprachen trifft, der aber das Bewußtsein vom Zusammenhang der pädagogischen Prozesse entgleitet. Die Tatsache also, daß eine Tagung von mehreren Mitarbeitern gestaltet wird und daß diese Mitarbeiter auch vernünftige Absprachen miteinander treffen, konstituiert allein noch nicht ein Leitungs-Team. Es kann sich dabei auch um die undialektische Aufrechterhaltung der bloß rationeller betriebenen pädagogischen Arbeitsteilung handeln.

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Tagung und Alltag

Die Tagung kann in ihrem sozialen Gefüge vieles von dem wirklich werden lassen, was in der tatsächlichen Gesellschaft noch fehlt: daß Jugendliche als potentielle Erwachsene ernst genommen werden; daß sie sinnvolle und nicht manipulierte Aufgaben der Mitverantwortung vorfinden; daß die soziale Repression auf ein Mindestmaß zurückgenommen ist; daß die Interessen und Probleme der Jugendlichen als genauso wichtig gelten wie die Konflikte der Gesellschaft auch. Damit ist nichts weniger gesagt, als daß die Tagung eine utopische Sozialsituation ist, weil sie allgemein noch nicht mögliche gesellschaftliche Verhältnisse in den Räumen ihrer "pädagogischen Provinz" vorwegnimmt. Das bedeutet aber eben auch, daß die spezifischen Möglichkeiten der Tagung nicht unbesehen übertragbar sind auf andere Erziehungsfelder. Augenblicklich würde die Theorie der Tagung ideologisch, wenn sie sich als Modell für alle anderen pädagogischen Felder verstünde. Ihre Ausnahmesituation läßt sich hingegen nur rechtfertigen, wenn man sie als Teil der teils sich ergänzenden, teils sich widersprechenden Erziehungseinflüsse sieht, wenn man also etwa die Existenz des heutigen Schulwesens mit seinen gesellschaftlichen Bedingungen voraussetzt.

Damit taucht aber noch einmal die Frage nach den möglichen Rückwirkungen des Tagungserlebnisses auf den Alltag auf. Wäre nicht denkbar, daß die Jugendlichen, in die Repressionen ihres Alltags zurückgekehrt, mit Freude an die "schöne Zeit" zurückdenken, wo alles ganz anders war, wohin man auch gerne wieder zurückkehrt - wie in einen Urlaub? Besteht nicht die Gefahr, daß der Alltag nach einem Tagungsbesuch nicht änderbar, sondern nur erträglicher scheint im Vergleich zu vorher? Ist die Tagung vielleicht ein neues "Opium des Volkes"? Obwohl man solche Rückwirkungen nicht messen kann, sollte man sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß die Wirkung oft nicht weiterreichen wird als bis zur Erbauung.

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Die Frage nach der Wirkung wird letztlich nicht auf der Tagung, sondern im Alltag entschieden. Wir brauchen im Alltag der jungen Menschen Plattformen, auf denen sie mit anderen Jugendlichen und mit Erwachsenen den von der Tagung ausgelösten Impulsen weiter nachgehen können. Es wäre ein entscheidender Irrtum anzunehmen, unsere Tagungskonzeption allein vermöchte die politische Vorstellungskraft der Jugendlichen hinreichend anzureichern, solange es nicht auch in der örtlichen Jugendarbeit überall Stationen gibt, in denen ab und zu Besinnungspausen eingeschaltet werden können. Eine Didaktik der lokalen Maßnahmen wird aber ganz anders aussehen müssen als die Tagungsdidaktik. Darüber nachzudenken würde zwar durchaus in den Rahmen unseres Themas, nicht aber mehr in den Rahmen dieses Buches gehören.
 
 

Zusammenfassung

Die didaktischen Faktoren und Bedingungen der Tagungsarbeit lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Das, was an Lehrinhalten auf einer Tagung möglich ist und tatsächlich eine Rolle spielt, hängt entscheidend von der Verwaltungs- und Organisationsstruktur der Trägerschaft ab. Verwaltung und Organisation sind wichtige didaktische Größen.

2. Die Lehrinhalte auf einer Tagung sind den Gesetzen des Marktes unterworfen, genauer: den Marktgesetzen der Freizeitindustrie, von der die Tagung ein - subventionierter - Teil ist. Gelehrt und gelernt wird also nicht einfach, was "an sich" "pädagogisch" einleuchtet, sondern was als "Nachfrage" im Sinne des Marktes erst ein "Angebot" konstituieren kann.

3. Die Veranstalter von Tagungen sind in der Regel gesellschaftliche Teilgruppen. Die spezifischen politischen Weltbilder und Interessen dieser Teilgruppen gehen also

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in die angebotenen Lehrgehalte ein. Demnach kann es keine Didaktik der Tagung geben, die jenseits dieser Perspektiven angesiedelt wäre. Das bedeutet nicht, daß es keine allgemeine didaktische Theorie der Tagung geben könnte, sondern nur, daß eine solche Theorie die besonderen politischen Vorstellungen der Träger gebührend in Rechnung stellen muß. Insofern diese Tätigkeit der Träger eine öffentliche und mit Mitteln der ganzen Gesellschaft finanzierte ist, muß sie auch immer die Partikularität ihrer Zielsetzung übersteigen. Aus diesem Zusammenhang folgt, daß immer verschiedene Tagungskonzeptionen in Konkurrenz zueinander stehen, daß sie gegenseitig - auch mit pädagogischen Begründungen! - "Abwerbung" betreiben, indem sie dieselben Jugendlichen in der Freizeit für sich zu gewinnen trachten. In den im Wettbewerb miteinander stehenden Tagungskonzeptionen hat sich die politische Pluralität unserer Gesellschaft gleichsam in eine pädagogische übersetzt. Oder allgemeiner: Nicht die Schule, sondern die Jugendarbeit ist die angemessene pädagogische Antwort auf den pluralistischen Charakter der Gesellschaft. Daraus folgt, daß dieser pädagogische Bereich nicht nur einer pädagogischen Begründung, sondern auch einer Art von "Wettbewerbsordnung" bedarf. Jede Monopolisierung würde in diesem Bereich auch den pädagogischen Sinn gefährden, der vornehmlich in der Tatsache liegt, daß junge Leute innerhalb der verschiedenen Angebote wählen können.

4. Die Lehr- und Lerngehalte der Tagung werden nicht nur von den Trägern im organisatorischen Sinne, sondern ebenso auch von den pädagogischen Mitarbeitern bestimmt. Deren soziale Herkunft, Ausbildung, persönliche Motive und Gruppenstruktur sind bestimmende didaktische Faktoren. Es macht einen großen Unterschied, ob eine Tagungsstätte mit einem festen hauptamtlichen Mitarbeiterstab oder mit freien Mitarbeitern arbeitet, ob der Mitarbeiterstab zu einem Team integriert ist oder nur zufällig kooperiert, ob die Mitarbeiter Universitätsstudenten oder Studenten der pädagogischen Hochschule sind.

5. Die Lehr- und Lerngehalte hängen weiter von den Be-

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dürfnissen und Wünschen der jugendlichen Teilnehmer ab, zumal diesen die Konkurrenz der Tagungsangebote immer bewußter wird. Kein noch so gut pädagogisch durchdachtes Programm kann sich halten, wenn es nicht überzeugend "an den Mann gebracht" werden kann. Mit anderen Worten: Nur was auf die Dauer den jugendlichen Bedürfnissen - nicht nur den artikulierten, sondern vor allem auch den "sprachlosen" - entspricht, kann sich als didaktisches Konzept bewähren. Die Tagungsveranstalter sind also bei Strafe ihrer ökonomischen Existenz gezwungen, diese Bedürfnisse vorurteilsfrei und ohne Rücksicht auf ideologisch begründete Fehlinterpretation immer wieder neu zu ermitteln.

6. Die Tagungsdidaktik muß ferner realistisch die allgemeinen Bildungsunterschiede zwischen den jugendlichen Gruppen berücksichtigen. Daß es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer "politischen Bildung für Oberschüler" und einer "politischen Bildung für Lehrlinge" geben darf, versteht sich in einer demokratischen Gesellschaft von selbst. Aber dies ist ein Postulat, die Realität sieht anders aus. Die Bildungsunterschiede sind tatsächlich so gravierend, daß man mit Lehrlingen nicht das gleiche tun kann wie mit Oberschülern. Wenn man mit Lehrlingen politischen Unterricht betreibt, ohne zugleich ihre allgemeinen geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu steigern, führt das zu einem scheinbar sehr einleuchtenden positivistischen Zirkel: Lehrlinge sind an Politik nicht interessiert - politische Bildung ist daher zwecklos - Lehrlinge sind offenbar für andere, unpolitische "Bildungsgüter" empfänglicher - sie werden mit unpolitischen Bildungsgütern befaßt - Lehrlinge sind an Politik nicht interessiert. Dabei geht es nicht darum, weniger "rationale" Bildungsverfahren für Lehrlinge zu finden, sondern um das genaue Gegenteil: die rationalen Fähigkeiten überall dort zu stärken, wo immer sie sich stärken lassen.

7. Es kann niemandem verübelt werden, wenn er auf Tagungen systematische, schulähnliche Lehrveranstaltungen durchführt, solange er dafür interessierte Jugendliche fin-

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det. Auch unsere eigenen Oberschul-Veranstaltungen kamen diesem Typus sehr nahe. Aber die besonderen Chancen der Tagung liegen nicht in der logisch-systematischen, sondern in der "aporetischen" Stoffgliederung. Oder anders: Man kann - im Unterschied zur Schule - die Bedingungen der Tagung so arrangieren, daß die Neigung zur Besinnung auf die privaten Lebensprobleme und die objektiven politisch-gesellschaftlichen Konflikte wächst und auf Befriedigung drängt. Demnach kann man Tagungen nicht von spezifischen Stoffen her definieren; Stoff kann alles sein, was in den Rahmen privater und kollektiver Konflikte gehört. Die optimale methodische Entsprechung dieses didaktischen Ansatzes ist nicht der "Lehrgang", sondern die "Produktion".

8. Das pädagogische Spezifikum der Tagung ist schon eher getroffen, wenn man in den Blick nimmt, in wie weiten Grenzen sie ihre Kommunikationsstruktur variieren und arrangieren kann. In der Sprache der Schuldidaktik ausgedrückt: Nicht so sehr die "Fächer" und die "Stoffe", sondern das "Schulleben" definieren die didaktische Besonderheit der Tagung. Diese Freiheit des Arrangements der sozialen Beziehungen ermöglicht jene "Grunderfahrungen", die im Alltag der Jugendlichen entweder gar nicht oder doch nicht in dieser Unmittelbarkeit möglich sind.

9. Von einer Didaktik der Tagung zu sprechen, ist nur sinnvoll, wenn man davon ausgeht, daß es Erziehungsinstitutionen gibt, deren Aufgabe, Zielsetzung und pädagogische Verfahrensweisen nicht mehr miteinander identisch sind. In einer Vorstellung, nach der Elternhaus, Schule und Jugendarbeit im Grunde "am gleichen Strang ziehen", ist kein Platz für eine Tagungsdidaktik. Sie wäre dann allenfalls eine geringfügige Variation einer irgendwie gearteten "allgemeinen Didaktik". In dem Versuch, überhaupt eine Didaktik der Tagung in Angriff zu nehmen, steckt bereits die Prämisse von der Nicht-Identität der pädagogisch organisierten Einrichtungen, oder genauer: Es steckt darin die These von der Nicht-Identität von Schule und Jugendarbeit. Die Grundvorstellung einer jeden

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Tagungsdidaktik muß also sein, daß Erziehung und Bildung als realer, je einzelner Vorgang Resultante eines vielschichtigen und weitgehend antinomischen Wirkungszusammenhanges ist, in dem es neben den bloß wirksamen (wie Massenmedien) auch mehr planende (Schule) und mehr korrigierende (Jugendarbeit) Stationen gibt. Wenn man dann in diesem Modell von einer Didaktik der Tagung spricht, dann fallen als erstes die Grenzen ins Auge: Es geht nicht um die Erziehung oder um die Bildung oder um den Menschen, sondern darum, im ganzen Gefüge der Wirkfaktoren eine vernünftige, möglichst nicht ohne weiteres austauschbare Position zu finden, die sich begrenzt, aber doch sinnvoll in diesen Prozeß einschaltet. So wie man etwa von der Berufsberatung keine umfassende Erziehungstheorie, sondern punktuell vernünftige Aktionen erwartet, so darf man auch von einer Tagungsdidaktik nicht erwarten, daß sie alle pädagogischen Probleme gleich mitlöst.

10. Die Tagung gehört insofern in den Rahmen der Freizeitpädagogik, als sie in der Freizeit der Teilnehmer stattfindet. Aber dies allein - so sahen wir - ermöglicht keine präzise didaktische Folgerung. Didaktisch bedeutsam wird diese Tatsache vielmehr erst dann, wenn man die Freizeitbedingungen der Tagung so weit radikalisiert, daß ihre Chancen als eine gesteigerte Möglichkeit der Humanität, also des menschenwürdigen Lebens, erfahren werden können. Mit der Radikalisierung der Freizeitbedingungen geht dann eine Radikalisierung der "Befreiungen" einher, die sich in der Freizeitentwicklung repräsentieren: die Befreiung von den Zufälligkeiten der Alltags-Existenz im allgemeinen und des Milieus und der eigenen Biographie im besonderen. Diese scheinbar unausweichlichen Zufälligkeiten geraten dann in die Reflexion, können zum Objekt des besinnlichen Nachdenkens werden, weil dies offensichtlich auch im Alltag nur "verschütteten" und "unterdrückten" Bedürfnissen entspricht; durch die Reflexion verlieren solche Zufälligkeiten die magische Kraft des Unausweichlichen.

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11. So ist die Didaktik der Tagung weniger durch bestimmte Lehrinhalte und Lehrformen, als vielmehr durch das Ziel bestimmt, dem Alltag gegenüberzutreten, ihn zu verfremden. Dazu muß eine Tagung eine gewisse Zeit dauern und auch räumlich sich vom Alltag distanzieren. Die "Alltags-Ferne" unseres Jugendhofes ist also keine Sozialromantik, sondern notwendige Bedingung zur Schärfung einer dem alltäglichen Druck entgegenwirkenden Vorstellungskraft.

12. Damit aber wird die Tagungsdidaktik zu einer Variation der politischen Didaktik. Wenn die Tagung - wie wir zu zeigen versuchten - objektiv die Möglichkeit hat, bestimmte anthropologische Momente der Demokratisierung weiterzutreiben, dann muß sie diese Möglichkeiten auch ergreifen. Dann aber gerät sie in die Zuständigkeit der politischen Didaktik. Ergreift sie diese Möglichkeiten aber nicht, sondern hält sie nur die alltäglichen Sozialisationen und Indoktrinationen mit anderen Mitteln aufrecht, dann ist sie nicht etwa unpolitisch, sondern nur politisch restriktiv. Wenn eine objektive Möglichkeit zur weiteren Demokratisierung nicht genutzt wird, dann muß man von politischer Restriktion sprechen. Dem widerspricht nicht, daß die Träger politische Untergruppen sind und ihre Vorstellungen in die Lehrinhalte eingehen. Eine Gruppe, deren Existenz und Wirkung davon abhängt, daß weitere Möglichkeiten der Demokratisierung nicht realisiert werden, hat keine Legitimation zur politischen Erziehung der Jugend. Ein Einwand gegen unser Konzept kann nur in dem Nachweis liegen, daß unsere anthropologischen Folgerungen aus der Demokratisierung falsch oder einseitig sind.

13. Die Distanz der Tagung vom Alltag hat aber noch eine weitere Bedeutung. Der "Alltag" junger Menschen ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, daß man aus den "primären" Horizonten der Familie in die "sekundären" Horizonte der Großgesellschaft hineinwächst. Das bedeutet praktisch, daß man sich mit sehr heteronomen sozialen Leistungserwartungen auseinandersetzen muß (Arbeit - Freizeit; Betrieb - Familie; Massenmedien - Schule; Freund

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- Kollege, usw.). Dieser schwierige soziale Reifungsprozeß mit seinem Zwang, die in ihrer Struktur und in ihrer Normativität verschiedenen Erwartungen souverän zu beherrschen, fällt zusammen mit der entwicklungspsychologischen Notwendigkeit der Ich-Findung und Ich-Identität, also mit der Aufgabe, diese verschiedenen Erwartungen zu einer je persönlichen Version zu integrieren.

Normalerweise hält man wohl die Schule für diejenige pädagogische Einrichtung, deren Aufgabe nicht zuletzt ist, zur Ich-Findung zu verhelfen. Zu Beginn unseres Berichtes habe ich nun beschrieben, wie übermächtig das Bedürfnis unserer jungen Gäste immer wieder war, mit uns über die Frage "Wer bin ich?" nachzudenken. Daraus ist zu schließen, daß sie in ihrem Alltag - und eben auch in der Schule - keine nennenswerte Gelegenheit dazu haben. Offensichtlich ist die Schule - weniger im Hinblick auf ihr pädagogisches Selbstverständnis als vielmehr im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion - selbst primär zu einem Ort partikularer Leistungsanforderungen geworden, die ihre Forderungen unter anderem mit der Unterdrückung anderer Leistungserwartungen und -fähigkeiten erkaufen muß. Das aber würde bedeuten, daß sie, indem sie selbst in die Rollenwidersprüche einbezogen ist, nicht mehr der Ort für eine allgemeine Lebensinterpretation sein kann. Auch sie würde dann gezwungen sein, das jugendliche Ich immer nur partikular zu sehen.

Wenn das zutrifft und wenn es weiter zutrifft, daß Ich-Findung kein einmaliger Akt in den Jahren der Pubertät, sondern ein sich weit ins Erwachsenenleben hineinziehender Prozeß ist, dann taucht das Bedürfnis und die Notwendigkeit auf, die damit heraufbeschworenen pädagogischen Probleme neu zu institutionalisieren. Ein neuer Ort dafür wäre die Tagung. Der wesentliche pädagogische Sinn der Tagung wäre dann, eine pädagogische Plattform zu sein, auf der die Menschen primär nicht über "Dinge", sondern über ihre Ich-Identität reflektieren - und dies nicht nur einmal, sondern relativ häufig und so, daß die stofflichen Medien dabei immer wieder wechseln.

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So können wir am Schluß eine Brücke schlagen von der Jugendtagung zu den Tagungen der Erwachsenenbildung. Wer solche Tagungen nicht mit kulturkritischer Voreingenommenheit, sondern mit der Frage beobachtet, welche - sonst offenbar unterdrückten - Bedürfnisse die erwachsenen Teilnehmer eigentlich zusammenführen, der wird meist zu ähnlichen Ergebnissen kommen, die auch bei unseren Jugendtagungen ins Auge sprangen: Man will unmittelbar über Sachen, mittelbar aber über sich selbst diskutieren - und dies an einem Ort, der nicht selbst schon wieder in den Verdacht geraten muß, fremdbestimmte Leistungen in den Mittelpunkt zu stellen.

Alexander Mitscherlich hat einmal darauf hingewiesen, daß in früheren Zeiten die meisten Menschen "ich-schwach" bleiben konnten, weil sie innerhalb traditioneller Verhaltenssteuerungen gut aufgehoben waren, daß aber heute die Zahl derjenigen immer mehr zunimmt, die sich auf solche Steuerungen nicht mehr verlassen können (Pubertät und Tradition, in: v. Friedeburg, Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln 1965). Das aber fordert neue und gewaltige Lernleistungen großer Massen heraus - nicht nur unter den Jugendlichen, sondern auch unter den Erwachsenen. Die Tagung ist eine von den Einrichtungen, in denen unsere Gesellschaft - bisher unbewußt - solche Lernleistungen institutionalisiert hat.

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/steink3.htm

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