Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 1: 1958 - 1961

© Hermann Giesecke
 

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

Zu dieser Edition
Dieser 1. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1958 bis 1961. In dieser Zeit war ich zunächst noch Student (1954 bis 1960), danach (1960 bis 1963) als Dozent am Jugendhof Steinkimmen bzw. - ab 1961 - als dessen Leiter tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist Lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.

Die Beiträge werden von "1" an fortlaufend numeriert.    ()


 
 

Inhalt von Band 1

1. Auf dem Weg zu einem sozialistischen Bildungsideal? (1958)

2. Kleinbürger, persönliche Anständigkeit und technischer Mord (1959)

3. Die Zerstörung der deutschen Politik (1959)

4. Chrustschow kämpft gegen die Erstarrung (1959)

5. Das Amerikabild der Deutschen (1959)

6. Marxismus als Unterrichtsprinzip (1959)

7. Zur Theorie der demokratischen Gesellschaft (1960)

8. Die Ostthematik in der politischen Bildung (1960)

9. Erziehung als Organisation (1960)

10. Zur Geschichte des Antisemitismus (1960)

11. Das Politische in der politischen Bildung (1961)

12. Demokratie in Amerika (1961)

13. Deutschlands Weg in die Diktatur (1961)

14. Verrat und Verräter (1961)



 


 1. Auf dem Weg zu einem sozialistischen Bildungsideal? (1958)

Gedanken zur neuen Schulreform in der SBZ

(In: West-Ost-Berichte, H. 10/1958, S. 161-166)
 

Wir setzen mit dem folgenden Beitrag die Schilderung der Situation der Schule in der Sowjetzone fort. Der Verfasser beschäftigt sich mit der politischen und insbesondere der gesellschaftspolitischen Dimension der vor kurzem verkündeten Schulreformen. Damit wird das eigentliche Thema angesprochen, um das es in der Auseinandersetzung zwischen 0st und West geht. Bei der Lektüre des Aufsatzes sollte man sich vergegenwärtigen, daß die Reformen in der Zone nicht allein dastehen. Sie gehen letztlich auf Vorgänge und Entscheidungen in Moskau zurück. Chruschtschow hat in einer Rede am 8. April 1958 auf dem Xlll. Kongreß des Komsomol ausführlich von dem Plan einer sowjetischen Schulreform gesprochen, die nicht anders aussieht als die jetzt in der "DDR" vorgesehenen Maßnahmen. In einem der nächsten Hefte werden wir uns deshalb mit den Schul- und Hochschulproblemen in der Sowjetunion befassen. (Anm. d. Redaktion, H.G.)

Als die Regierung der heutigen "DDR" vor mehr als 10 Jahren unter einer für sie günstigen politischen Konstellation mit Hilfe der nicht zufällig anwesenden Panzer der Roten Armee ihre Arbeit an der "sozialistischen Neugestaltung" Deutschlands begann, mußte sie sich darüber im klaren sein, daß sie auf die Dauer außer geringen kommunistischen Teilen der Arbeiterschaft keine hinreichende soziologische Grundlage für ihre Pläne finden würde. Sie mußte als Minderheitsregime bei der Durchsetzung des Sozialismus mit der konzentrierten Feindseligkeit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Um dennoch seine Macht zu behaupten und darüber hinaus zu stabilisieren, boten sich ihm drei verschiedene und doch miteinander aufs engste zusammenhängende Möglichkeiten an: Erhöhung des Lebensstandards, Terror und Erziehung. Jeder einzelne dieser Faktoren verhält sich im allgemeinen umgekehrt proportional den beiden andern: Hebung des Lebensstandards macht eine Minderung des unmittelbaren Terrors und radikaler politisch bedingter Erziehungsmaßnahmen möglich, Erfolge in der Bewußtseinsbeeinflussung der Massen erlauben eine Reduktion des Terrors und bis zu einem gewissen Grade auch des Lebensstandards, genügende Erhöhung des Lebensstandards verbunden mit erzieherischen Erfolgen im Sinne des Regimes können die Anwendung von Terror weitgehend überflüssig machen. Da in der SBZ die Hebung des Lebensstandards nur langsam Fortschritte macht, man andererseits auf die Dauer auf den Bajonetten nicht sitzenbleiben konnte, konzentrierten die Machthaber schon sehr früh ihre Anstrengungen auf die "Erziehung des neuen Menschen". Dabei verwunderte zunächst, daß man im wesentlichen das bürgerliche Bildungsideal noch übernahm und versuchte, seine Werte für die "Arbeiterklasse" zu okkupieren, so als ob erst sie der bürgerlichen Bildung ihre seinerzeit von den Autoren gewünschte erzieherische Bedeutung geben könnte. Die deutschen Klassiker gingen in Fortsetzung der sozialistischen Tradition seit Franz Mehring über die marxistische Interpretation in das Eigentum der Kommunisten über. Trotz zum Teil einschneidender Maßnahmen im Bildungssektor, vor allem in der Lehrerbildung, der politischen Beeinflussung der Schulen, der antikirchlichen Propaganda usw. kann nicht die Rede davon sein, daß die Pädagogik der DDR bisher ein klar und deutlich vom bürgerlichen unterschiedenes spezifisch sozialistisches Bildungsprinzip formuliert und praktisch durchgesetzt hätte, weder in stofflicher noch in methodischer Hinsicht. Sie hat sich vielmehr bisher das vorgefundene bürgerliche Bildungsideal politisch nutzbar zu machen versucht. Stofflich gab es die politisch bedingten Erweiterungen der Marxismuskunde und die bekannten Abstriche des als unwichtig Empfundenen, die Schwerpunkte wurden zum Teil erheblich verschoben, methodisch ging die Diskussion kaum über die Kontroverse "Lernschule oder Arbeitsschule" hinaus, und das Verhältnis von FDJ und Schule ähnelte formal gesehen, wenn man die kon-

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krete politische Absicht einmal für einen Augenblick übersieht, den westlichen Bemühungen, Schule, Elternhaus und Jugendbund zu einer erzieherischen Einheit zusammenzufassen.

Die Ansicht, daß ein totalitärer Staat wie die DDR bisher mit einem auch uns geläufigen Bildungsprinzip gearbeitet habe, ist nicht mehr so überraschend, wenn man sich die relativ mühelosen Übergänge klarmacht, die die bürgerliche Bildung im Nationalsozialismus gefunden hat, wie aus der Lektüre der einschlägigen Zeitschriften jener Jahre deutlich zu entnehmen ist. Vielleicht hängt diese zunächst befremdliche Tatsache damit zusammen, daß ein einzelner kultureller Bereich wie Erziehung uns heute allein keine Auskunft mehr darüber geben kann, welcher Staatsform er dient, wenn man ihn nicht einordnen kann in den konkreten gesellschaftlichen und vor allem machtpolitischen Strukturzusammenhang.

Diese Bemerkungen müssen vorausgeschickt werden, wenn wir uns das Neue an der Schulreform vom 1. September 1958 klarmachen wollen, die bewußt zurückgeht auf die Marxsche Anthropologie, vor allem auf seinen Gedanken, daß die moderne Entzweiung des Menschen wesentlich auf der Arbeitsteilung, besonders auf der Trennung von geistiger und manueller Arbeit beruhe. Die Möglichkeiten zur Überwindung dieser Entzweiung sah Marx in der vielseitigen Ausbildung der Menschen, so daß sie nicht mehr wie bisher unausweichlich an einen Beruf gebunden seien, vielmehr je nach Geschmack und Neigung gerade die Tätigkeit ausüben könnten, zu der sie sich hingezogen fühlten. "In der kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen." Als erzieherischen Weg gibt er im "Kapital" die gemeinsame Produktionstätigkeit aller Glieder der Gesellschaft an. In einer Würdigung der Arbeit Owens - ebenfalls im Kapital - sagt er: "Aus dem Fabriksystem, wie man im Detail von Robert Owen verfolgen kann, entsproß der Keim der Erziehung der Zukunft, welche für alle Kinder über einem gewissen Alter produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbinden wird, nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen." Aus diesem Satz wird die Pädagogik vollständig von der Soziologie absorbiert. Nun hat allerdings Marx wie bei allen seinen Überlegungen auch seine pädagogischen Vorstellungen nicht bis zur letzten Systematisierung gebracht, so daß die Frage, ob sich die konkreten pädagogischen Maßnahmen der DDR zu Recht auf ihn berufen, vorläufig offen bleiben muß und einer eigenen Untersuchung wert wäre.

Produktion und Unterricht im Wechselverhältnis

Der Kernpunkt der neuen Schulreform, die übrigens durch eine Reihe teils spontaner, teils bewußt geplanter Schulversuche vorbereitet wurde, ist darin zu sehen, daß vom 1. September an alle Schüler, je nach Altersstufen verschieden, einen bestimmten Teil der Schulzeit in der landwirtschaftlichen oder industriellen Produktion verbringen sollen. In den Klassen 5 und 6 sind dafür 50 Jahresstunden vorgesehen, die durch das Zusammenlegen der für das "Werken" vorgesehenen Stunden mit anderen aus dem Stundenplan ausgespart werden. Für das 7. bis 10. Schuljahr sind 150 Jahresarbeitsstunden geplant, von denen die eine Hälfte an einem ganzen Tag in der Woche, die andere in zusammenhängenden Praktika geleistet werden soll. Im 9. und 10. Schuljahr kommt zu dieser produktiven Arbeit als neues Fach "Grundlagen der Produktion" hinzu. Außerdem werden obligatorische Kurse für Traktorfahren eingerichtet, die durch eine Berechtigungsprüfung abgeschlossen werden.

Bisher beschränkte sich die "Nähe der Produktion" darauf, daß im unabhängig von den Anforderungen der Produktion verlaufenden Schulbetrieb etwa Beispiele aus der Arbeit der LPG verwandt wurden, pädagogisch gesprochen also auf eine "Verlebendigung des Unterrichts", die zunächst noch gar nichts mit Marxismus im Sinne des obigen Zitats zu tun hatte. Auch die häufiger als bei uns im Lehrplan eingesetzten Werksbesichtigungen, verbunden mit dem Mythos vom "Gespräch mit der Arbeiterklasse an den Stätten der Produktion", hatten solange keinen spezifisch marxistischen Charakter, als der Unterricht selbst relativ autonom

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blieb gegenüber solchen Wirkungen von außen und sie nach seinen Maßstäben pädagogisch einbezog oder nicht. Selbst Ernteeinsätze und sonstige Ferienarbeitslager mit Schülern und Studenten brachten zwar neue Möglichkeiten zur Politisierung der Jugendlichen, aber eben nicht eigentlich eine neue Pädagogik zustande, zumal man diese Maßnahmen weitgehend als zeitweilige wirtschaftliche Notlösung zur Behebung des Arbeitskräftemangels in der Landwirtschaft ansehen konnte. Jetzt allerdings wird der Unterricht selbst von der Produktion her dynamisiert, Produktion und Unterricht treten in ein Wechselverhältnis. Der Stoff, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern, wird zunehmend von konkreten Bedürfnissen der die einzelnen Land- und Stadtschulen umgebenden Wirtschaftsbetriebe bestimmt werden. So soll der Hauptanteil des Biologieunterrichts in Zukunft von der Agrobotanik, Agrozoologie und Landwirtschaftstechnik gestellt werden. Ideologisch zeigt sich hier die typisch leninistische Kombination des Marxschen Naturbegriffs, den die Natur nur insofern interessiert, als sie dem Zugriff des Menschen offensteht, mit dem ontologisch gesehenen "objektiven" von Engels: Von Marx übernimmt man die von den Notwendigkeiten der Produktion bestimmte Auswahl der Gegenstände, von Engels die These, daß diese Auswahl dennoch "objektive" Naturwissenschaft repräsentiere.

Weitgesteckte Ziele

Wir tun gut daran, uns kurz einige der möglichen Folgen dieser neuen Maßnahmen vor Augen zu halten. Die Planung geht in Wirklichkeit viel weiter, als die unbefangene Betrachtung der neuen Schulgesetze ahnen läßt, und ist zum Beispiel aus einem Aufsatz der offiziellen pädagogischen Zeitschrift zu entnehmen ("Pädagogik", 6, 1958, S. 452-459). Danach ist ausdrücklich daran gedacht, die Arbeit in der Produktion auch zu einer produktiven Arbeit zu machen, sie so zu organisieren, daß sie einen wenn auch bescheidenen Teil der Erfüllung der jeweiligen Wirtschaftspläne ausmacht. Abgesehen davon, daß es mindestens anfangs durch den einsetzenden Sturm Zehntausender von Kindern und Jugendlichen auf die Betriebe vermutlich eher zu einem Produktionsrückgang kommen wird, und abgesehen von der Frage, ob sich vom Standpunkt der Produktion aus überhaupt jemals die geplante Verbindung von Schule und Produktion sinnvoll organisieren läßt - bekanntlich haben die Wirtschaftsfunktionäre den neuen Plänen den größten Widerstand entgegengebracht - , hätte ein Gelingen weitreichende psychologisch-pädagogische Folgen: Wenn in einer Gesellschaft, in der die Produktion einen sehr hohen gesellschaftlichen Wert einnimmt oder wenigstens einnehmen soll, den in der Ausbildung stehenden Kindern glaubhaft klargemacht werden kann, daß ihre zusammenhängende Tätigkeit in Schule und Produktion gesellschaftlich nützlich sei, wird sich das gerade bei einer Jugend, die für alles Technische so ansprechbar ist und schon frühzeitig als "erwachsen" angesehen werden will, einerseits günstig auf den Lerneifer auswirken, zum anderen aber möglicherweise sie viel "selbstverständlicher" als bisher in das kommunistische Gesellschaftssystem einführen. (Ich erinnere daran, daß das Problem der "echten Aufgabe" eines der meistdiskutierten in unseren politisch-pädagogischen Überlegungen ist.) Welches Ansehen bei seinen Schülern wird ein Lehrer haben, wenn er Traktor fahren und ihn vor ihren Augen eigenhändig reparieren kann?

Eine in Aussicht genommene Ergänzung stellt die "Verbindung des umgestalteten Unterrichts mit Sport und militärischen Übungen" dar. Bestimmte militärische Formen seien, so heißt es in dem zitierten Aufsatz, für die Organisierung großer Menschenmassen unabdingbar, der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) komme eine größere Aufgabe als bisher in der sozialistischen Erziehung zu. "Ein Fahnenappell zum Beispiel ist nur wirkungsvoll, wenn er in einer straffen militärischen Ordnung durchgeführt wird." Damit die Verbindung aller einzelnen erzieherischen Maßnahmen zur weltanschaulichen Gesamterziehung geschlagen werden kann, wird neuerdings in der 10. Klasse dialektischer Materialismus, Politökonomie und Astronomie gelehrt.

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Rückwirkungen auf die Lehrerbildung

Selbstverständlich ergibt sich aus all dem auch eine Neuorientierung der Lehrerbildung. Wenn die Lehrer die Produktionsarbeit der Schüler richtig organisieren sollen, müssen sie selbst ein Minimum an Produktionserfahrung zur Geltung bringen können. Zusätzlich zu den bisherigen pädagogischen Praktika der Junglehrer an den Schulen wird demgemäß für sie nun ein Praktikum in einer dem Fach naheliegenden Produktionsstätte angesetzt werden. So sollen alle Biologielehrer in Zukunft ein Jahr in der Landwirtschaft tätig sein, und im Zusammenhang mit der eben besprochenen vormilitärischen Ausbildung der Schüler wird jeder künftige Lehrer eine abgeschlossene militärische Ausbildung erhalten, während die Studentinnen in Nachrichtentechnik und Sanitätswesen eingeführt werden. Alle diese Maßnahmen werden natürlich erst nacheinander verwirklicht werden können, sie werden aber von den Planern heute bereits zusammen gesehen.

Es wäre nun völlig verfehlt, anzunehmen, daß diese Schulreform allein deshalb angeordnet wurde, um das Marxsche Erziehungsideal in die Praxis umzusetzen. Der Zeitpunkt ihrer Einführung darf nicht übersehen werden. Die bisherige Erziehung hat vom Standpunkt des Regimes aus weitgehend versagt. Der Aderlaß am Körper der Gesellschaft durch die Flucht führender Wissenschaftler und vor allem auch Studenten und Schüler beginnt bedrohlich zu werden. Nach offizieller Meinung ist die Pädagogik noch zu sehr von "bürgerlichen Rückständen getränkt" gewesen. "Revisionistische und opportunistische Einstellungen auf dem Gebiet der Pädagogik" müßten zerschlagen werden. An anderer Stelle heißt es: "Es ist kein Geheimnis, daß manche Pädagogen noch nicht den tiefen Sinn der Führung der Arbeiterklasse in Schul- und Erziehungsfragen begriffen haben und aus einem gewissen Berufsdünkel heraus diese innerlich ablehnen." So ist also die konkrete politische Situation, vor allem die Bewußtseinssituation weiter Kreise der Bevölkerung, ein entscheidender Grund für die Einführung der sozialistischen Schulreform gerade zu diesem Zeitpunkt.

Mit der neuen Schulreform ist also ein kleines Stück eines sehr viel weiter gedachten Erziehungsprogramms inszeniert worden, das, auf der Grundlage der Marxschen Anthropologie, die die Beseitigung des Unterschiedes zwischen geistiger und körperlicher Arbeit propagiert, eines Bildungsideals, das sich jeweils von den wechselnden Notwendigkeiten der Produktion bestimmen läßt, der Schule ihre erzieherische Autonomie nimmt und dadurch eigentlich erst die letzten Brücken zum bisherigen deutschen Erziehungsideal einreißt. Wenn dieses Programm durchgesetzt werden soll, werden angesichts seines Umfangs Stoffkürzungen unbedingt nötig werden, die nicht bei den naturwissenschaftlichen Fächern und erst recht nicht bei den weltanschaulichen, sondern mit Sicherheit bei den schöngeistigen Fächern zu erwarten sind. Möglicherweise werden diese Kürzungen in der Volksschule ausgeglichen werden können durch die ebenfalls seit längerer Zeit geplante Einführung des l0. Schuljahres, in der Oberschule allerdings wird sich ein solcher Ausgleich kaum schaffen lassen. Damit aber wird die Entfremdung zwischen den Generationen beider deutschen Teile noch weiter getrieben und gelangt allmählich zu ihrem Höhepunkt. Den jugendlichen Flüchtlingen wird dadurch eine Fortsetzung der Berufsausbildung in der Bundesrepublik noch mehr als bisher erschwert.

Wahrscheinlich wird sich also der Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule erheblich verringern auf Kosten der letzteren. Der Vorwurf, in der bürgerlichen Gesellschaft sei der Unterschied zwischen diesen beiden Schultypen identisch mit der unterschiedlichen Erziehung der "Ausbeuter" und "Ausgebeuteten" überhaupt, da die höhere Bildung überhaupt keinen Kontakt mit der manuellen Arbeit vorsehe, während der Volksschulbesucher immerhin wenigstens als 14jähriger in eine Lehre und damit in die Produktion komme, wurde in vergangenen Jahrzehnten immer wieder vorgebracht und nimmt heute noch in den Vorwürfen gegen die westdeutsche "Klassenerziehung" eine führende Rolle ein. Auch an diesem Tatbestand hatte sich in der Schulsituation der DDR bis heute nichts wesentlich

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geändert, abgesehen von der Einrichtung der Arbeiter- und Bauernfakultät und im übrigen von den Versuchen, ideologisch wenigstens diese immer schon als ungenügend empfundene Realität durch Thesen von der "Verbindung von Intelligenz und Arbeiterklasse" u. ä. zu überbrücken. Tatsächlich aber ging auch in der DDR der Schüler bis zum Abitur zur Schule, anschließend zur Universität, ohne daß er, abgesehen von den Ernteeinsätzen und ähnlichen Gelegenheiten, in wirklichen "Kontakt mit der Arbeiterklasse" gekommen wäre.

Bedrohte Bildungsvorstellungen

Die neue Schulreform bedroht aufs schärfste die bisherigen deutschen Bildungsvorstellungen, selbst wenn deren geistige Quellen als Stoff zum Teil noch in den weiteren Unterricht übernommen werden sollten. Die neue "sozialistische Bildung" wird sich ausschließlich orientieren am Optimismus der technischen Perfektion und am marxistischen Erleben und Meistern der unmittelbaren kollektiven Lebensproblematik. ,,Fachwissen" und "Bildungswissen" würden nahezu zusammenfallen. Zu jeder Form eines Bildungswissens, gleichgültig wie es in seinen Inhalten im einzelnen aussehen mag, gehört aber notwendig die Fähigkeit, sich vom unmittelbaren persönlichen und kollektiven Erleben zurückziehen zu können auf den Boden eines diese Unmittelbarkeit einordnenden "objektiven" Lebensüberblicks. Die geschichtliche Kontinuität ist für den Marxisten wegen der durch den Klassenkampf bedingten Relativität der Epochen nicht verbindlich. Vergangene Epochen haben mit der revolutionären Lösung ihrer Widersprüche ihre geschichtliche Relevanz verloren. Bleibt die Utopie, die Erwartung der künftigen Gesellschaft. Diese Utopie ist aber nichts als Bewußtsein. Die mit solchem Pathos vorgetragene Hoffnung, auf dem Weg zum "allseitig gebildeten" Menschen zu sein, der "nicht Maler ist, sondern höchstens unter anderem auch malt", findet auch nicht die geringste Unterstützung in der Wirklichkeit der industriellen Gesellschaft und ihrer Trends. Bedeutet

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diese Schulreform vielleicht gar nicht den Anfang eines neuen Bildungsprogramms, sondern vielmehr das Ende dessen, was man unabhängig von der konkreten Ausformung noch als Bildung bezeichnen kann? Wenn dazu, wie vielfach von Kennern behauptet wird, selbst bei den gläubigen Marxisten die das Handeln prägende Kraft der eigenen Utopie nachgelassen hat, was bleibt dann noch anderes übrig als reine Unmittelbarkeit, Aufstellen und Erfüllen von Produktionsplänen? Wird auf die Dauer die erzieherische Absicht überhaupt zurückgedrängt von den eigenen Gesetzen der einzelnen Betriebe, die um der Erfüllung der Produktionsziffern willen die Kinder als billige Hilfsarbeitskräfte verwenden müssen? Alles Fragen, die nur die Zukunft beantworten kann, die aber heute junge Menschen betreffen, die die Folgen dieses Erziehungsplanes an sich selber erfahren werden. Trotz dieser und vieler anderer Bedenken gibt es einige Punkte, die wir aufmerksam zur Kenntnis nehmen sollten. Stärkere Orientierung des Bildungswissens an der gesellschaftlichen Aktualität zum Beispiel kann in einer freien Gesellschaft auch größere soziale Verbindlichkeit des Wissens bedeuten. Politik und Erziehung sind heute zwei sich durchdringende Bereiche. Je "erfolgreicher" die Erziehung im anderen Deutschland, um so politisch bedenklicher für uns.

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2. Kleinbürger, persönliche Anständigkeit und technischer Mord (1959)

Bemerkungen zu einem erregenden Buch

(In: West-Ost-Berichte H. 9/1959, S. 325-332)
 

KOMMANDANT IN AUSCHWITZ: Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß. Eingeleitet und kommentiert von Martin Broszat, im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte in München. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1958, 184 Seiten, 15,80 DM.

Rudolf Höß, dreieinhalb Jahre Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, wurde nach seiner Vernehmung im Nürnberger Prozeß im Mai 1946 zur Aburteilung nach Polen ausgeliefert. Während der Krakauer Untersuchungshaft fertigte er freiwillig umfangreiche handschriftliche Aufzeichnungen autobiographischen Charakters an, deren wichtigste Teile das Institut für Zeitgeschichte im vorliegenden Band veröffentlicht hat. Der Herausgeber hatte Gelegenheit, die Echtheit der Aufzeichnungen in Polen selbst nachzuprüfen, und in einer kurzen, aber präzisen und Maßstäbe für die Interpretation angebenden Einleitung legte er die Nachweise der Echtheit vor.

Das Buch nimmt in der Fülle der Literatur über den Nationalsozialismus einen besonderen Platz ein und ist mit den Möglichkeiten einer Rezension überhaupt nicht hinreichend zu erfassen. Auch hier nehmen die Beschreibungen der nationalsozialistischen Greueltaten einen weiten Raum ein, aber was sie von anderen Darstellungen dieser Art unterscheidet, ist der Stil der Formulierung und der daraus sichtbar werdende geistig-seelische Hintergrund des Schreibers selbst. Höß' nüchterne und sachliche Darstellungsweise des Massenmordes hatte schon im Nürnberger Prozeß selbst in den Reihen der Hauptangeklagten eine Sensation des Entsetzens hervorgerufen. So bereitwillig er als Nationalsozialist jedem Befehl gehorcht hatte, so kam er auch den Anklagebehörden nach, als sie ihn aufforderten, seine Aussagen zu machen: Er gehorchte dem neuen Befehl mit derselben Zuverlässigkeit wie dem alten.

Schon als Kind hatten ihn seine streng katholischen Eltern zum unbedingten Gehorsam erzogen und zur Einhaltung der persönlichen Pflichten, der Kriegsdienst bestärkte ihn in der Meinung, daß bedingungslose Pflichterfüllung und unbedingter Gehorsam die höchsten persönlichen Tugenden seien, und bis zum Ende seines Lebens war in ihm die Vorstellung lebendig, daß er im großen und ganzen seine "harte Pflicht" mit persönlicher Entsagung erfüllt habe.

Seine Aufzeichnungen geben das Bild eines normalen kleinbürgerlichen Werdeganges wieder, und manche Stationen sind repräsentativ für ganze Gruppen seiner Generation. So der Übergang vom Fronterlebnis des ersten Weltkrieges zum Einsatz in den Kampfbünden der Nachkriegszeit und in den Freikorps oder der Übertritt von der Landsiedlungsbewegung der Artamanen, der auch Himmler angehörte, in die SS, für den der Hauptgrund der Wunsch war, wieder Soldat zu sein.

Soweit Höß persönliche Erlebnisse berichtet, sind sie meistens mit kleinbürgerlicher Moralität stilisiert und verraten kaum persönliche Züge: So wie er fiel man überhaupt

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(Seiten 326-328 sind mit Fotos ausgefüllt, H.G.)

in seinen Kreisen von der Kirche ab, die Zeichnung seiner Kindheit entwirft ein klassisches "Pimpfenideal", und die Beschreibung seiner "Feuertaufe" könnte Dutzenden von Kriegsbüchern entnommen sein. Das gleiche gilt für sein erstes Liebeserlebnis. Fügt man noch hinzu, daß er sein Leben lang mit unermüdlicher Hingabe für seine Familie sorgte und das Musterbild eines guten kleinbürgerlichen Familienvaters abgab, so ergibt sich das Porträt eines ordnungsliebenden, pflichtbewußten, tierliebenden und naturverbundenen Menschen, dessen einziger Fehler eigentlich darin bestand, daß die andern ihm die falschen Befehle gaben. Und hierin liegt eine der Provokationen dieses Buches: Höß räumt endgültig mit der Legende auf, daß die Grausamkeiten der Massenvernichtung lediglich auf persönliche Vertiertheit und Sadismus der SS-Leute zurückzuführen seien, daß also der Nationalsozialismus mit seinen Schrecken eine historische Verirrung einer moralisch minderwertigen Clique gewesen sei. Höß hat niemals persönlich Häftlinge mißhandelt, hat solche Mißhandlungen als verantwortlicher Kommandant sogar zu verhindern versucht, er hat nicht von sich aus gefoltert oder willkürlich getötet. Er tat es nur auf Befehl, innerlich widerstrebend, aber "hart gegen sich selbst". Folglich war es kein "Mord", sondern "Hinrichtung". Oder? - Unter anderen Umständen und bei anderen Befehlsgebern wäre er genauso gewissenhaft ein ehrenwertes Glied der Gesellschaft geworden, wie er so zum Massenmörder wurde. Über die Qualitäten der persönlichen Integrität, die oft in ausgesprochene Heuchelei ausarteten, so wenn er die sexuellen Beziehungen der Häftlinge minuziös beschreibt und verurteilt oder über das Verhalten der jüdischen Verbrennungskommandos herzieht, die sich durch die Ausführung des Befehls doch nur ihr Leben ein wenig zu verlängern dachten, urteilt Broszat: "Höß ist ... das exemplarische Beispiel dafür, daß dergleichen ,Qualitäten' nicht vor Inhumanität bewahren, sondern pervertiert und in den Dienst des politischen Verbrechens gestellt werden können" (S. 15). Ich meine, der Satz müßte anders lauten: Die Führer machten sich eine vorhandene moralische Struktur ihrer Bevölkerung zunutze, ohne diese selbst zu verändern, eine Moralität, die für eine stabile und intakte Gesellschaft, in der solche Befehle nicht gegeben wurden und auch nicht gegeben werden mußten, völlig ausreichte, die aber auf die neuen Situationen des gesellschaftlichen Zusammenbruchs nicht mehr anwendbar war. Die Moralität der "persönlichen Sittlichkeit" setzte eine "gute Führung" des Staates voraus und mußte pervertieren, als sie durch Demokratisierung der Gesellschaft angehalten wurde, sich an der ständigen Reproduktion der "guten Führung" zu beteiligen. Es ist bezeichnend, daß Höß an keiner Stelle sich in politische Erörterungen einläßt. Politische Herrschaft war für ihn ein fraglos Gegebenes, die Ausführung ihrer Befehle war "sittlich". So hatte er es gelernt, im Elternhaus und beim Militär. Wie sollte das, was seine Eltern, seine Truppenführer und seine Gefängnisaufseher an ihm lobten, auf einmal falsch sein? Die "persönliche Sittlichkeit" gab ihm das "gute Gewissen" für die Massenvernichtungen, ein moralisches Selbstbewußtsein, das einfach durch nichts zu erschüttern war. Sie gab das Gefühl, über normale Asoziale und Mörder unendlich erhaben zu sein. So schreibt er nach der minuziösen Schilderung des ersten von ihm erlebten Vergasungsvorgangs:

"Nach mehreren Stunden erst wurde geöffnet und entlüftet. Da sah ich zum ersten Male die Gasleichen in der Menge. Mich befiel doch ein Unbehagen, so ein Erschauern, obwohl ich mir den Gastod schlimmer vorgestellt hatte. Die Leichen waren aber durchweg ohne jegliche Verkrampfung. Wie mir die Ärzte erklärten, wirkte die Blausäure lähmend auf die Lunge, die Wirkung wäre aber so plötzlich und stark, daß es nicht zu den Erstickungserscheinungen wie z. B. durch Leuchtgas oder durch allgemeine Luftentziehung des Sauerstoffs führe. Über die Tötung der russischen Kriegsgefangenen an sich machte ich mir damals keine Gedanken. Es war befohlen, ich hatte es durchzuführen. Doch ich muß offen sagen, auf mich wirkte diese Ver-

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gasung beruhigend, da ja in absehbarer Zeit mit der Massenvernichtung der Juden begonnen werden mußte, und noch war weder Eichmann noch mir die Art der Tötung dieser zu erwartenden Massen klar. Durch Gas sollte es wohl sein, aber wie und was für ein Gas? - Mir graute immer vor den Erschießungen, wenn ich an die Massen, an die Frauen und Kinder dachte. Ich hatte schon genug von den Geiselexekutionen, von den Gruppenerschießungen, die vom RFSS (Reichsführer SS Himmler) oder RSHA (Reichssicherheitshauptamt) befohlen wurden. Nun war ich doch beruhigt, daß uns allen diese Blutbäder erspart bleiben sollten, daß auch die Opfer bis zum letzten Moment geschont werden konnten. Gerade dieses machte mir am meisten Sorge, wenn ich an die Schilderungen Eichmanns von dem Niedermähen der Juden mit MGs und MPs durch die Einsatzkommandos dachte. Grauenhafte Szenen sollen sich dabei abgespielt haben: das Weglaufen von Angeschossenen, das Töten der Verwundeten, vor allem der Frauen und Kinder. Die häufigen Selbstmorde in den Reihen der Einsatzkommandos, die das Im-Blut-Waten nicht mehr ertragen konnten. Einige sind auch verrückt geworden. Die meisten Angehörigen dieser Einsatzkommandos haben sich mittels Alkohol über diese schaurige Arbeit hinweggeholfen." (S. 122/123)

Selbst für das wohltemperierte kleinbürgerliche "Gewissen" war die eigenhändige Tötung so vieler Menschen eine kaum zu ertragende Belastung. Die ständigen Manipulierungen des eigenen sittlichen Bewußtseins nahmen dabei notwendig den Charakter eines allerdings nicht mehr empfundenen Zynismus an. Im Juli 1942 besuchte Himmler das KL Auschwitz. Darüber schreibt Höß:

"Ich zeigte ihm das Zigeunerlager eingehend. Er sah sich alles gründlich an, sah die vollgestopften Wohnbaracken, die ungenügenden hygienischen Verhältnisse, die vollbelegten Krankenbaracken, sah die Seuchenkranken, sah die Kinderseuche Noma, die mich immer erschaudern ließ, sie erinnert mich an die Leprakranken, an die Aussätzigen, die ich in Palästina einst sah, diese abgezehrten Kinderkörperchen mit den großen Löchern in der Backenhaut, durch die man durchsehen konnte, dieses langsame Verfaulen am lebendigen Leibe. - Er hörte die Sterblichkeitsziffern, die, gesehen am Gesamtlager, noch relativ gering waren. Doch die Kindersterblichkeit war außerordentlich hoch. Ich glaube nicht, daß von den Neugeborenen viele die ersten Wochen überstanden haben. Er sah alles genau und wirklichkeitsgetreu - und gab uns den Befehl, sie zu vernichten, nachdem die Arbeitsfähigen wie bei den Juden ausgesucht waren. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß der Personenkreis doch nicht ganz dem entspräche, den er für Auschwitz vorgesehen. Er befahl hierauf, daß das RKPA (Reichskriminalpolizeiamt) schnellstens die Durchsiebung vorzunehmen hätte. Dies hat dann zwei Jahre gedauert. Die arbeitsfähigen Zigeuner wurden in andere Lager überstellt. Es blieben dann noch bis August 1944 ca. 4000 Zigeuner übrig, die in die Gaskammern gehen mußten. Bis zu diesem Zeitpunkt wußten diese nicht, was ihnen bevorstand. Erst als sie barackenweise nach dem Krematorium I wanderten, merkten sie es. Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen. Ich selbst habe es nicht gesehen, doch Schwarzhuber sagte mir, daß keine Judenvernichtung bisher so schwierig gewesen sei, und ihm sei es besonders schwer geworden, weil er sie fast alle genau kannte und er in einem guten Verhältnis zu ihnen stand. Denn in ihrer ganzen Art waren sie eigentlich zutraulich wie Kinder. Trotz der widrigen Verhältnisse hat das Gros der Zigeuner, soviel ich beobachten konnte, psychisch nicht besonders unter der Haft gelitten, wenn man von dem nun gefesselten Wandertrieb absieht. Die Enge der Unterbringung, die schlechten hygienischen Verhältnisse, zum Teil auch die mangelhafte Ernährung waren sie in ihrem primitiven bisher geführten Leben gewöhnt. Auch die Krank-

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heit und die hohe Sterblichkeit nahmen sie nicht so tragisch. Sie waren eben ihrem ganzen Wesen nach Kinder geblieben, sprunghaft in ihrem Denken und Handeln. Sie spielten gerne, auch bei der Arbeit, die sie nie ganz ernst nahmen. Sie mochten auch dem Schwersten die leichte Seite abzugewinnen. Sie waren Optimisten. Ich habe bei den Zigeunern nie finstere, haßerfüllte Blicke beobachtet. Kam man ins Lager, so kamen sie sofort aus ihren Baracken, spielten ihre Instrumente, ließen die Kinder tanzen, machten ihre üblichen Kunststückchen. Es gab einen großen Kindergarten, wo die Kinder nach Herzenslust rumtollen konnten mit Spielzeug aller Art. Sprach man sie an, so antworteten sie unbeschwert und zutraulich, kamen mit allerlei Wünschen. Mir kam es immer so vor, als wenn ihnen die Haft so gar nicht so recht zum Bewußtsein gekommen wäre. Untereinander befehdeten sie sich schwer. Die vielerlei Stämme und Sippen brachten das so mit sich, dazu das hitzige, streitlustige Blut an und für sich. In ihren Sippen hielten sie aber fest zusammen und waren sehr anhänglich. Als es an die Aussortierung der Arbeitsfähigen ging und dadurch die Trennung, das Auseinanderreißen der Sippen nötig wurde, gab es rührende Szenen, viel Leid und viel Tränen. Sie ließen sich aber doch einigermaßen beruhigen und trösten, als man ihnen sagte, daß sie später wieder alle zusammenkämen. Eine Zeitlang hatten wir arbeitsfähige Zigeuner im Stammlager in Auschwitz; diese setzten alles daran, um ihre Sippe ab und zu sehen zu können, wenn nur von weitem. Oft mußten wir Jüngere beim Appell suchen, sie hatten sich mit Kunst und Tücke ins Zigeunerlager zu ihrer Sippe geschlichen aus Heimweh. Ja, als ich in Oranienburg bei der Inspektion KL war, wurde ich oft von Zigeunern, die mich von Auschwitz kannten, angesprochen und nach ihren Sippenangehörigen gefragt. Auch noch, als diese lange schon vergast waren. Es fiel mir immer schwer, ihnen ausweichend zu antworten. Gerade wegen ihres großen Zutrauens. Obwohl ich in Auschwitz viel Ärger mit ihnen hatte, waren sie mir doch meine liebsten Häftlinge - wenn man das so überhaupt sagen kann. Sie brachten es nicht fertig, längere Zeit bei einer Arbeit zu bleiben. Sie ,zigeunerten' zu gerne überall herum. Am begehrtesten war ihnen das Transportkommando, da kamen sie überall hin, konnten ihre Neugier befriedigen - und hatten Gelegenheit zum Stehlen. Dieser Trieb zum Stehlen und Vagabundieren ist ihnen angeboren und nicht auszurotten. Sie haben auch ganz andere moralische Anschauungen. Stehlen bedeutet ihnen absolut nichts Böses. Es ist ihnen unverständlich, daß man dafür bestraft wird. - Ich spreche all dies vom Gros der Inhaftierten, von den wirklichen umherziehenden, immer auf ruheloser Wanderschaft befindlichen Zigeunern, auch der Mischlinge, die zigeunerische Personen waren. Nicht von den seßhaft Gewordenen, in den Städten Verbliebenen. Sie hatten schon zu viel von der Zivilisation angenommen, aber leider nicht das Beste.

Ihrem Leben und Treiben zuzusehen, wäre interessant gewesen, hätte ich nicht dahinter das große Grauen gesehen - den Vernichtungsbefehl, den in Auschwitz außer mir bis Mitte 1944 nur die Ärzte kannten. Diese hatten laut RFSS-Befehl die Kranken, besonders die Kinder, unauffällig zu beseitigen. Und gerade die hatten solches Zutrauen zu den Ärzten. Nichts ist wohl schwerer, als über dieses kalt, mitleidlos, ohne Erbarmen hinwegschreiben zu müssen." (S. 105 bis 107.)

Der Typ des "anständigen" Unterführers, der ja gerade durch seine sittliche Selbstverleugnung der herrschenden Macht noch verfügbarer, weil berechenbarer wurde, entsprach durchaus dem Ideal Himmlers, der am 4. Oktober 1943 vor hohen Führern der SS im Hinblick auf die Judenvernichtung erklärte:

"Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und

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dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und nie zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte." (S. 15.)

Höß verstand seine Vernichtungstätigkeit als soldatische Aufgabe an der Front des "inneren Feindes", ohne das Wissen um die Verschiedenheit der militärischen und zivilen Sphäre, wobei es auch hier nur ein allgemeines nationalsozialistisches Bewußtsein widerspiegelt:

"Mir wird immer vorgehalten, warum ich nicht den Vernichtungsbefehl abgelehnt hätte, diesen grauenhaften Mord an Frauen und Kindern. Ich habe aber schon in Nürnberg geantwortet: Was würde mit dem Geschwaderkommodore geschehen sein, der sich geweigert hätte, einen Angriff auf eine Stadt zu fliegen, von der er genau wußte, daß es dort keine Rüstung, kein wehrwichtiges Unternehmen, keine militärischen Anlagen von Bedeutung gab? Wo er genau wußte, daß seine Bomben nur Frauen und Kinder töten würden? Er wäre doch sicherlich vor ein Kriegsgericht gekommen. Doch das wollte man nicht gelten lassen als Vergleich. Ich bin aber der Ansicht, daß beide Situationen vergleichbar sind. Ich war genauso Soldat, Offizier, wie jener!" (S. 138.)

Diese wie zahlreiche andere Äußerungen des Kommandanten von Auschwitz decken sich fast wörtlich mit dem, was man bei uns heute noch täglich hören kann. Kaum jemand ist mit der Barbarei "innerlich" einverstanden - Höß war es auch nicht; aber viele suchen sie noch heute wie Höß zu "erklären" und zu "verstehen". Der Kommandant von Auschwitz hat seine Schuld gebüßt, aber sein Typ lebt weiter: der persönlich anständige Kleinbürger, pflichtbewußt und gewissenhaft gegenüber seinen alltäglichen Obliegenheiten, verläßlich und gewinnend in seinen mitmenschlichen Beziehungen, nicht ohne kulturelle Interessen zur Verschönerung seines Daseins, der nicht gelernt hat, sich über die Gesamtzusammenhänge seiner partiellen Funktion Rechenschaft abzulegen und deshalb eine Frage danach für unzulässig hielte, ein dankbares Objekt und Subjekt für jede Macht, wenn sie nur in seinen "Bildern" von der Politik zu sprechen versteht. Und unsere Erziehung produziert diesen Typ unentwegt weiter, wie vor 1933. Wir sollten uns aber über das Fehlen wirksamer faschistischer Tendenzen in unserem Lande keinen Illusionen hingeben: es handelt sich hier viel weniger um einen allgemeinen Gesinnungswandel als um soziologische Veränderungen. Wirtschaftlicher Aufbau, Ausklang der Klassenkampfphase und relative soziale Stabilisierung haben die ausdrücklichen faschistischen Reminiszenzen weitgehend entschärft, sie vom politischen Versammlungssaal zum Biertisch hin abgedrängt. Aber soziologische Strukturen wandeln sich ständig ...

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3. Die Zerstörung der deutschen Politik (1959)

(In: West-Ost-Berichte, H. 10/1959, S. 371-373)
 

 Die Zerstörung der deutschen Politik Dokumente 1871 - 1933, hrsg. u. kommentiert von Harry Pross, Fischer-Bücherei, Bd. 264, 380 S. Fischer-Verlag, Frankfurt - Hamburg 1959.

Im Jahre 1955 erschien ein umfangreiches Buch des inzwischen in Ungnade gefallenen und wieder halbwegs rehabilitierten ungarischen Kommunisten Georg Lukacs, dessen wesentliche These darin bestand, daß die gesamte bürgerliche deutsche Philosophie vom Beginn des 19. Jahrhunderts an in dem Maße, wie sie sich irrationalisierte, die jeweiligen Stationen des deutschen Imperialismus stabilisiert habe und daher zwar nicht notwendig - die kommunistische Partei habe 1933 eine Lösung genannt, aber man habe nicht auf sie gehört! - , aber doch folgerichtig in den deutschen Faschismus eingemündet sei (1). Damit war das Urteil über die gesamte deutsche Geistesgeschichte der Moderne schlechthin gesprochen. Zwar trug das Werk alle Schwächen, die naturgemäß einem solch dogmatischen Versuch anhaften, aber immerhin blieb es schon deshalb lange Zeit die beste Untersuchung zur Frage der ideologischen Vorgeschichte des Nationalsozialismus, weil es keine bessere gab. Erst in jüngster Zeit erschienen mit der Neuauflage von

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Plessners "Verspäteter Nation" (vgl. Besprechung in WOB 1959, 9, S. 323 f.) und dem vorliegenden Taschenbuch westdeutsche Versuche, zur Frage der geistigen Urheberschaft der faschistischen Ideologie Stellung zu nehmen.

Dabei verzichtete Pross, Redakteur von Pechels "Deutscher Rundschau", im Gegensatz zu Lukacs, auf den er sich dabei allerdings nicht bezieht, zu Recht auf eine "ganzheitliche" Einordnung der Frage. "Die Frage nach der Tradition oder Nichttradition der Hitlerei in der deutschen Geschichte (erweist sich) als müßig. Das Unheil kam von den alten Teutonen auf unsere Tage, und es kam zugleich nirgendwoher. Durch solche Antworten erfahren wir nichts." (S. 7.) Vielmehr sieht er den Hauptgrund für das Aufkommen des deutschen Faschismus in der fortschreitenden "Entpolitisierung" des bürgerlichen Denkens, die er treffend definiert als den "Verzicht auf gewissenhaftes, der Vernunft unterworfenes Nachdenken in öffentlichen Angelegenheiten" (S. 19). Unter dem Aspekt, wie weit die verschiedenen bürgerlichen Bewußtseinsströmungen zu dieser Entpolitisierung beigetragen haben, sucht er sie unter Verwendung von ungefähr 150 Textstücken in 8 große Schwerpunkte zu gliedern, die in der historischen Realität allerdings keineswegs isoliert dastehen, sondern sich vielfältig amalgamieren: "Das zweite Reich", "Kulturpessimismus", "Alldeutschtum", "Vom Wandervogel zum Jungenstaat", "1914 und 1917", "Antisemitismus", "Der Mythos vom Volk", "Die radikale Gegenrevolution".

Die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln sind stilistisch durchgefeilte Essays, aggressiv, ohne unrichtig zu werden, ein Musterbeispiel für einen Journalismus, dessen sachliches Gewissen die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand ist, und der sich infolgedessen freimachen kann von der Verpflichtung, für jede These einen wissenschaftlichen Apparat von Anmerkungen hinzuzufügen, die doch nur, wenn überhaupt, den Fachmann interessieren würden. Die Freude an der pointierten, teilweise paradoxen Formulierung geht erfreulicherweise nie auf Kosten der Sache, was für deutsche politische Schriftstellerei keineswegs als Regel anzusehen ist. Das gesellschaftliche Phänomen des wilhelminischen Militarismus ist z. B. scharf getroffen, wenn der Verfasser vom Leutnantsrang als der "Bestechungssumme, mit der die herrschende Klasse den potentiellen Führern des Bürgertums den zivilen Schneid abkaufte", spricht (S. 18). - Die innenpolitische Problematik der Entstehung des Deutschen Reiches ("Die es wollten, hatten nur zu akklamieren, und die es schufen, taten es mit Vorbehalt und ohne rechte Zuversicht in seine Zukunft" S. 10) sieht er dabei ebenso deutlich wie das soziologische Dilemma der "Revolution" von 1918. (Sie "hatte im wesentlichen das Bürgertum aufgerufen, seine Entpolitisierung durch Bismarck rückgängig zu machen. Statt des Mittelstandes folgten dem Appell hauptsächlich die Angehörigen der alten Oberschicht und die Arbeiterelite nach" S. 149).

Ungemein verdichtet erscheint seine politische Interpretation des literarischen Kulturpessimismus: "Die Einschränkung des kulturellen und zivilen Lebens im Zweiten Reich hat ihren intellektuellen Ausdruck in der Wichtigkeit gefunden, die dem isolierten Erlebnis, also dem Nacherleben literarischer oder vom tagtäglichen Lebensgang abgetrennter Ereignisse, zugemessen wurde. Aus dem realen Arbeitsleben im Dienste des unangetasteten Herrschaftssystems floh, wer des Lesens kundig war, in die 'eigentliche' Welt des Buches, 'lnnerlichkeit', das 'innere Reich', das 'reine Deutschtum' waren Namen für diesen Rückzug vor der Realität. Es war ein Rückzug vor der Schlacht, eine Retraite ohne Ziel ... Man glaubte nicht mehr, daß Worte Taten sein können und Ideen Wirklichkeiten mitbestimmen. Marxens Hinweis darauf, daß die Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift, blieb weithin unverstanden. Und doch geschah gerade dies im Kulturpessimismus.
Aber was für Ideen waren das!" (S. 50).

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Die vom Autor aufgenommenen Texte sind voll von bezeichnenden Schlüsselwörtern für eine derartige Geistesverfassung, wie "Autorität" und "Befehl", "Wesen", "Wesenswille", "Bereitschaft zum Opfer", "Dienst an der Gemeinschaft", "Hingabe an den Führer" usw. Sie machen deutlich, daß Hitler keinen einzigen Punkt seines ideologischen Programms erfinden mußte, daß seine Originalität vielmehr darin bestand, aus dem ihm vorliegenden Wust entpolitisierter Politikastereien die "materielle Gewalt" geprägt zu haben.

Pross zieht die Summe: "Der langwierige Prozeß der Zerstörung der Politik folgte dem falschen Denken über Politik nach, das sich oft genug auf hohem und höchstem Niveau bewegte" (S. 8). Der Politik aber dürfte es ziemlich gleichgültig sein, ob sie ihren Todesstoß mit Bildzeitungs- oder Spenglerniveau bekommt.

So entlarvt der Verfasser, immer unter dem Aspekt der politischen Folgen, zahlreiche Einstellungen zum Politischen, die zum Teil heute noch anzutreffen sind, indem er auf ihre verderbliche Wirkung in der Vergangenheit verweist. Das darf uns aber nicht den Blick dafür nehmen, daß sich in den letzten Jahren unter dem Einfluß der politischen Bildermacher neue Formen der Entpolitisierung bemerkbar machen, was die Vermutung zuläßt, daß es sich hierbei um ein an die Strukturen der modernen Gesellschaft überhaupt gebundenes Problem handelt, im Grunde um die Kernfrage nach den Möglichkeiten politischer Bildung heute. Ich denke dabei u. a. an die zunehmenden Versuche, das "Nachdenken in öffentlichen Angelegenheiten" zu Gesinnungsfragen zu machen. Unter diesem Aspekt bedürfen insbesondere einige Auswüchse des "Antikommunismus" unserer sorgsamen Beobachtung.

Die Wichtigkeit der Fragestellung, die klugen, mit vielen Fakten unauffällig gespickten Einleitungen, die oft mehr Fragen aufwerfen als beantworten, die zahlreichen, selbst dem Fachhistoriker heute kaum zugänglichen Quellen in Verbindung mit einer sorgsam ausgewählten Bibliographie machen das Büchlein zu einer der wertvollsten zeitgeschichtlichen Neuerscheinungen der letzten Jahre, um so mehr, als es in einer preiswerten Taschenbuchausgabe herausgebracht wurde.

Anmerkungen:
(1) Georg Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin (Ost) 1955.
 

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4. Chrustschow kämpft gegen die Erstarrung (1959)

Zur Einführung der "polytechnischen Bildung" in der Sowjetunion

(In: West-Ost-Berichte, H. 2/1959, S. 33-38)
 

"Man hat meine Vorschläge zur sowjetischen Schulreform allgemein sehr gelobt. Doch vielleicht hat sich mancher dabei im stillen gedacht: Die Reform ist gut, aber ehe sie in Kraft tritt, muß mein Mitia auf der Universität sein ..."

Mit diesen Worten sprach Chrustschow in seiner direkten und unmißverständlichen Art ein Problem an, das die Parteiführung seit langem beschäftigt und in immer ärgere Schwierigkeiten bringt, ein Problem, das nur aus der Kenntnis der gesellschaftlichen Umwälzungen verständlich wird, die sich seit der Machtergreifung Lenins in dem gewaltigen Raum der Sowjetunion vollzogen haben: Es geht um die Prestigeansprüche eines zahlenmäßig immer größer werdenden Mittelstandes an die Parteielite, eines Mittelstandes, den die Parteifunktionäre selbst in den vergangenen Jahrzehnten produziert haben und mit dem sie teilweise sogar identisch sind.

Beim Ausbruch der russischen Revolution bestand ein großer Teil des russischen Volkes aus ungebildeten Analphabeten, die die vielfältigen Formen politischer und wirtschaftlicher Bedrückung mit einer für europäische Verhältnisse kaum glaubhaften Gleichmütigkeit zu ertragen gelernt hatten. Diese, von zahlreichen, nicht nur marxistischen Intellektuellen jener Zeit als menschenunwürdig empfundene Situation gab einen idealen Nährboden für erzieherische Utopien ab, die in den Bemühungen der Krupskaja - Lenins Frau - , Blonskijs und später Makarenkos auch einen Höhepunkt humanitärer pädagogischer Bestrebungen zeitigten und einen erzieherischen Aufbruch hervorriefen, dessen Impetus wohl nur noch mit der damals schon verebbenden Kraft der Jugendbewegung in Deutschland zu vergleichen ist. Bereits damals bot sich das Ideal der "allseitigen Erziehung" an, wie es Marx für die Erziehung der Arbeiterklasse als verbindlich festgelegt hatte, dasselbe Leitbild, das im vergangenen Jahr die ideologische Grundlage für die vielbeachtete Schulreform in der SBZ und in der Sowjetunion abgab.

Stalin machte spätestens mit dem ersten Fünfjahrplan 1928 diesem von einem großen humanitären Pathos getragenen, aber im ganzen doch angesichts der realen Lage Rußlands zu weit gegriffenen Experimentieren ein Ende und gab unter dem Stichwort des "Sozialismus in einem Lande" die Marschroute für die kommenden Jahre an: Produktion ohne Rücksicht auf Rentabilität, ohne Rücksicht auf die dazu verwendeten Menschen. Das konnte für die Erziehung nur bedeuten: Produktion von Spezialisten, die schnellstens in der Lage sein mußten, einen ganz bestimmten, eng umrissenen Platz in der Wirtschaft auszufüllen.

Der einzelne Mensch wurde ein genormtes Rädchen im Gesamtmechanismus der großen Gesellschaft, für immer an den Ort gebunden, wofür die "Ingenieure der Seele" ihn präpariert und wohin sie ihn placiert hatten. Von "polytechnischer Erziehung" und "allseitiger Bildung" konnte keine Rede mehr sein - im Gegenteil: Die Ausbeutung und seelische Verarmung des Menschen, gerade wenn man sie mit den anthropologischen Kategorien von Marx beschrieb,

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hatten ein Ausmaß angenommen, das sich durchaus mit den grausigsten Bildern des westlichen Frühkapitalismus vergleichen ließ. Der Typ des "Spezialisten" war geschaffen. Als einer solchen Bildungssituation angemessen ergab sich die zentrale Planwirtschaft, deren Zentrale mit 22 Wirtschaftsministerien in Moskau lag und selbst die Leiter großer Wirtschaftsunternehmen zu ausführenden Organen der bis in die geringsten Betriebsangelegenheiten eindringenden Anordnungen machte. Es ist seither viel gestritten worden, ob der brutale Weg Stalins unausweichlich war. Für unseren Zusammenhang genügt die Feststellung, daß die pädagogischen Bemühungen der ersten Jahre nach der Revolution in der Tat auf eine dafür nicht vorbereitete gesellschaftlich-ökonomische Gesamtlage trafen und damals kaum ein realistisches Konzept für die Erziehung des gesamten Volkes hätten abgeben können.

In den folgenden Jahren schob sich zwischen die Parteiführung einerseits und die amorphe Masse der zu Sklaven erniedrigten Arbeiter andererseits eine neue Schicht: Die Betriebsleiter, Techniker und die neu entstandene Intelligenz im allgemeinen. Man hat diesen Prozeß als die "Verbürgerlichung" der Sowjetunion bezeichnet. Seit etwa 1950 macht sich eine wachsende Unzufriedenheit gerade dieser Schicht mit dem herrschenden System, vor allem mit dem rigorosen Führungsanspruch der Partei bemerkbar. Die Kritik entstand aus einem Grunde, dem sich die höchste Führung nicht verschließen konnte: Es hatte sich gezeigt, daß das sowjetische Bildungs- und Produktionssystem, wollte es auf die Dauer den Standard der westlichen Welt nachholen, sich umstellen mußte von der reinen Produktionsquantität auf die Rentabilität, die aber wiederum nur durchzusetzen war mit Wirtschaftsführern, deren Ausbildung sie für wechselnde Disponibilität und vor allem für eine eigenverantwortliche Lenkung von Industriebetrieben befähigte. Die Forderung nach einer Reform des Schulwesens ergab sich also primär aus den Sachforderungen der Wirtschaft, das Ergebnis war die sogenannte "Liberalisierung" der Wirtschaft selbst.

Auf die in dieser Weise veränderten Produktionsverhältnisse antwortete der XIX. Parteitag im Oktober 1952 mit der Einführung der obligatorischen Zehnklassenschule, die eine Synthese von Allgemeinbildung und polytechnischer Erziehung herbeiführen sollte.

Im Herbst 1955 wurde geplant, bis 1960 die Zehnklassenschule für die gesamte Sowjetunion durchzuführen. Jeder dritte Absolvent sollte für die Universität zugelassen, die übrigen an die weiterbildenden Fachschulen verwiesen werden. Ein Teil der Stundenzahlen, die bisher für die allgemeinbildenden Fächer vorgesehen waren, wurden den naturwissenschaftlichen zugeschlagen. Darüber hinaus wurde als "Verbindung des Unterrichts mit der Produktion" verfügt:

a) eine Wochenstunde des 1. - 4. Schuljahres für die handwerkliche Arbeit;

b) zwei Wochenstunden des 5. - 7. Schuljahres praktische Arbeit im Schulgarten, Feld und in Schullaboratorien;

c) zwei Wochenstunden "Praktikum" im 8. - 10. Schuljahr, d. h. praktische Arbeit in Landwirtschaft, Elektrotechnik, Maschinenbau usw.

Am 22. Dezember 1958 beschloß der Oberste Sowjet ein Gesetz zur "besseren Verbindung der Schule mit dem Leben", das Chrustschow durch einen offenen Brief in der Prawda vom 2. September 1958 vorbereitet hatte. Das Gesetz reduziert die seit 1952 vorgesehene Zehnklassenschule auf acht Jahre. Anschließend gliedert sich der Schulweg auf in:

a) eine dreijährige Schule der Arbeiter- und Bauernjugend, die im Abend- oder Schichtunterricht die volle mittlere Bildung vermittelt (Abitur);

b) eine dreijährige, mittlere allgemeinbildende polytechnische Arbeitsschule, die eine volle mittlere Bildung zusammen mit einer Fachausbildung in einem bestimmten Berufszweig gibt;

c) Das Technikum oder eine andere Spezialmittelschule, in der Jugendliche eine mittlere Allgemeinbildung oder Spezialausbildung erhalten.

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Alle diese Schultypen sind eng angeschlossen an die gleichzeitige berufliche Arbeit des Schülers. Prinzip dieses Gesetzes ist, daß niemand auf die Universität gelangt, der nicht mindestens zwei Jahre vorher "gesellschaftlich-nützliche Arbeit" geleistet hat.

Auch für das Studium an den Universitäten soll die Kombination von Berufsarbeit und Studium für die ersten drei Jahre eingeführt werden. Man rechnet für das Jahr 1965 mit 2 Millionen Studenten, die in dieser Weise Studium und Beruf verbinden werden. Vom dritten Studienjahr an sollen die Studenten drei Tage in der Woche von der Berufsarbeit freigestellt und erst in den beiden letzten Jahren ganz von der Arbeit befreit werden. Das Bildungssystem bleibt aber weiterhin so angelegt, daß grundsätzlich jeder den Weg zur Universität nehmen kann, wenn er will und sich in der Produktion bewährt hat.

Das erzieherische Problem

Mit dieser Schulreform versucht die kommunistische Partei zwei Probleme zu lösen, die eng miteinander zusammenhängen. Zunächst ein rein erzieherisches: Welche Ausbildung muß man den jungen Sowjetbürgern geben, damit sie die von der veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Situation aus anfallenden Aufgaben bewältigen können?

Wir müssen uns hüten, das, was die sowjetische Erziehung mit "Allgemeinbildung" bezeichnet, aus der Perspektive der deutschen Bildungstradition bewerten zu wollen. Eine solche Betrachtungsweise wäre deshalb unangemessen, weil eine Trennung von Produktion und Bildung undenkbar ist für ein Land, das seit 40 Jahren die gewaltigsten Anstrengungen macht, die Industrialisierung nachzuholen, für die die westlichen Staaten bis zu 100 Jahren Vorsprung hatten. Die Trennung von Arbeit und Bildung setzt eine gesellschaftlich-ökonomische Situation voraus, die für die westlichen Staaten durch den Übergang von der Produktions- zur Konsumgesellschaft teilweise bereits überholt, für die Sowjetunion aber noch nicht einmal erreicht ist: Die Möglichkeit der ökonomischen Freisetzung einer ganzen Bildungsschicht, die zwischen staatlichen Verwaltungsaufgaben und wirtschaftlichen Produktionsaufgaben steht, unabhängig davon, daß solche Grenzen im einzelnen sehr fließend sind.

Die Ausrichtung der Volksbildungsaufgabe an den Erfordernissen der Produktion in Rußland ist nicht nur das Ergebnis theoretischer marxistischer Konzeptionen, sondern eine Forderung, die die Lage des Landes ganz allgemein stellte. Diese Identität von nationaler Lage und marxistischem Gedankengut macht die typisch sowjetische Entwicklung aus, während sich das Problem für die SBZ völlig anders stellt, wie noch zu erörtern sein wird. So wäre es jedenfalls, mit russischen Augen gesehen, völlig falsch, von einer zunehmenden Spezialisierung der Bildung zu sprechen und von einer Abnahme des allgemeinbildenden Charakters der Schulen. Tatsächlich handelt es sich um eine beachtenswerte Auflockerung des rigorosen Spezialistentums. So sollen durch die neuen technischen Fachschulen Arbeiter der Landwirtschaft für mehr als 80 Hauptberufe ausgebildet werden. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß hier noch weitere Spezialisierungen stattfinden, so wird man doch in jedem Fall eine größere Fächerung der Ausbildung annehmen müssen, und gerade eine solche Fächerung ist das Neue gegenüber dem bisherigen Spezialistentum. Im Zuge der Schulreform, die Ende 1959 in Kraft treten und in 3 bis 5 Jahren abgeschlossen sein soll, wird sich der Studienweg bis zum Abschluß des Hochschulstudiums um einige Jahre verlängern, während bisher der russische Student im allgemeinen mit 22 oder 23 Jahren die Universität verließ, lediglich - wie Chrustschow kritisiert - ausgestattet mit einem theoretischen Wissen, das in der Praxis über Jahre hinaus unbrauchbar bleiben mußte.

Der Zwang, sich einige Jahre in der praktischen Arbeit bewähren zu müssen, soll offenbar einen neuen Leistungsfilter für die Aufnahme an der Universität überhaupt abgeben, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal insofern, als die theoretische Vertiefung aus der Bewäl-

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tigung der Praxis heraus erfolgen soll, und andererseits insofern, als der einzelne während der Jahre des praktischen Arbeitens sich mit einer größeren Reife überlegen könne, ob er für das Studium überhaupt geeignet bzw. interessiert sei. Damit greift der Parteichef eine in den letzten Jahren offensichtlich weitverbreitete Praxis an, daß der Besuch der Hochschule von weiten Kreisen, besonders aus dem neuen "Bürgertum", als Privileg für ihre Söhne und Töchter angesehen wurde. "Die körperliche Arbeit wird für die Kinder zu einer Art Schreckgespenst." Manche Eltern wendeten, so heißt es, alle möglichen Mittel der Beeinflussung an, um ihre Kinder auf die Universität schicken zu können.

Schulreform und neues Strafrecht

Damit ist aber bereits der zweite Problemkomplex angesprochen, den die Reform einer Lösung zuführen soll. Denn eine zunehmende Bildungsprivilegisierung würde nicht nur das ideologische Selbstverständnis der kommunistischen Gesellschaft bedrohen, sondern vor allem auch eine soziale Gegenkraft in Gestalt des neuen Mittelstandes hervorrufen, die auf die Dauer dem Führungsanspruch der Partei gefährlich werden muß. Der schon wiederholt angesprochene neue Mittelstand ist nun allerdings keineswegs zu vergleichen mit der "bürgerlichen Opposition" in der SBZ; denn im Gegensatz zu ihr hat er selbst keine andere als eine marxistische Tradition, die ihn zwar dazu befähigt, auf dem Boden des marxistischen Staatsverständnisses um ein Fortschreiten gewisser persönlicher Freiheiten zu ringen, aber nicht, um etwa eine "Gegenideologie" gegen die herrschende Meinung zu entwickeln. Dazu reicht die eigene Lebens- und Denkerfahrung nicht aus.

So ist es keineswegs zufällig, daß gleichzeitig mit der Schulreform auch eine Strafrechtsreform vom Obersten Sowjet verabschiedet wurde, die einerseits den Staatssicherheitsdienst fest in die Hand der Partei bringt, zum anderen aber auch gewisse Sicherungen des persönlichen Rechtsschutzes garantiert. Aber das kulturpolitische Problem läßt sich noch allgemeiner stellen: Wie kann man die Bevölkerung davon überzeugen, daß nicht alle Absolventen der Mittelschulen, selbst wenn sie dem Leistungsanspruch genügen sollten, ihre Studien an der Universität fortsetzen können, weil eine bestimmte Quantität von Bewerbern nicht überschritten werden darf? Die sowjetischen Hochschulen können unter den gegenwärtigen Bedingungen jährlich 450000 Bewerber aufnehmen, davon nur die Hälfte im Direktstudium, die anderen müssen sich ohnehin mit einem Fernstudium begnügen. Die Mittelschulen verlassen aber jährlich 800000 Schüler. Das sich hieraus ergebende sozialpsychologische Problem stellt sich um so schärfer, als das Regime in den vergangenen Jahrzehnten selbst mit einem gewaltigen Bildungspathos die Lern- und Aufstiegsfreudigkeit der russischen Jugend mobilisiert hat. "In der sozialistischen Gesellschaft muß doch die Arbeit nach ihrem Nutzen bewertet werden, und zwar nicht nur durch den Lohn, sondern - und das ist die Hauptsache - durch die öffentliche gesellschaftliche Anerkennung. Man muß der Jugend ständig einprägen, daß die Hauptsache für die Gesellschaft das ist, wovon die Gesellschaft lebt: die produktive Arbeit; denn nur sie schafft materielle Werte. Die Arbeit ist für jeden Sowjetmenschen ein Lebensbedürfnis." So meint der sowjetische Parteichef, aber ob es ihm gelingen wird, die natürliche menschliche Regung zu unterdrücken, die einen Nobelpreisträger für Physik höher einschätzt als einen noch so guten Facharbeiter, wird sich erst noch erweisen müssen.

Zweifellos entspringt die Schulreform auch einem ganz bestimmten wirtschaftlichen Grund: Offensichtlich ist die mit der früheren Konzeption der Zehnjahresschule verbundene wirtschaftliche Freisetzung vieler Millionen Jugendlicher für den ökonomischen Stand der Sowjetunion noch nicht tragbar. Die Reform weist also nicht nur eine erzieherische und kulturpolitische, sondern auch eine ökonomische Seite auf. Das Feld der innenpolitischen Problematik, in die hinein sie gestellt ist, ließe sich zweifellos noch ergänzen. Nur die wichtigsten Faktoren konnten hier angesprochen werden.

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Gefährliche Vergleiche mit der SBZ

Nun liegt die Annahme nahe, daß die beiden Schulreformen vom 1. September 1958 in der SBZ und vom 22. Dezember 1958 in der Sowjetunion, da sie beide die "polytechnische Bildung" auf ihr Programm geschrieben haben, innerlich miteinander zusammenhängen und möglicherweise sogar politisch miteinander abgesprochen seien. Das läßt sich im einzelnen heute kaum prüfen. Man kann aber einige wesentliche Unterschiede feststellen, die sich aus der historischen und politischen Verschiedenheit beider Staaten ergeben und bei einer vergleichenden Beurteilung nicht außer acht gelassen werden sollten.

1. Die sowjetische Schulreform kann, wie wir gesehen haben, an eine Erziehungstradition anknüpfen, die sich wesentlich von der deutschen unterscheidet und mit ihr kaum vergleichbar ist. Gemessen an der bisherigen allgemeinen Ausbildung bedeutet sie in jedem Falle einen Fortschritt hinsichtlich einer größeren, wenn auch um die konkrete industrielle und landwirtschaftliche Arbeit konzentrierten "Allgemeinbildung". Der "Spezialist" Stalinscher Prägung wird verschwinden und ersetzt werden durch einen Arbeiter- und Ingenieurtyp, der hinsichtlich des technischen Allgemein- und Fachwissens sowie einer konkreten Produktionserfahrung auf der Höhe seiner Zeit sein wird. Ob sich bei einem entsprechenden Stand der gesellschaftlichen Produktivität die Erziehung in Richtung auf eine Allgemeinbildung im westlichen Sinne verändern wird, ist zu vermuten, vorläufig aber noch nicht abzusehen.

In der SBZ hingegen traf die marxistische Bildungskonzeption der "polytechnischen Bildung" auf ein bereits hochdifferenziertes Kulturbewußtsein, das sich in einer theoretisch wie praktisch leistungsfähigen Schulstruktur auswies. Daher stieß die marxistische Schule von vornherein auf den Widerstand der bisherigen Kulturträger, die sie als eine "kulturpolitische Überfremdung" empfinden mußten. Die systematische Zerschlagung der bürgerlichen Schule war vom Standpunkt des Regimes aus eine politische Notwendigkeit, wenn die politischen Ziele überhaupt durchgesetzt werden sollten. Für Rußland hingegen beginnt eine ernst zu nehmende und den industriellen Bedürfnissen angemessene Erziehungspolitik erst mit dem Aufkommen der bolschewistischen Partei, so daß hier ein historischer Bruch gar nicht eintreten konnte.

2. Die kommunistische Partei braucht sich daher heute im Innern auch nicht mehr grundsätzlich durchzusetzen. Die marxistischen Staatsnormen sind heute selbstverständlich anerkannt, viel selbstverständlicher vermutlich als die demokratischen bei uns. In der SBZ hingegen stellt die Einführung der "polytechnischen Bildung" gerade einen Versuch dar, ein bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung noch nicht vorhandenes "sozialistisches Bewußtsein" herzustellen.

In der Sowjetunion sind spätestens seit dem Ende des letzten Krieges die bürgerlichen Widersacher des Regimes verschwunden, weil sie entweder ausgerottet oder inzwischen umerzogen wurden. Damit entfällt aber auch weitgehend die Möglichkeit, quantitativ notwendige Beschränkungen im Bildungsaufstieg mit einer politisch bedingten Auswahl zu begründen. In der schon erwähnten Strafrechtsreform wurde der Terminus "Feind des Volkes" gestrichen und außerdem festgelegt, daß kein Bürger mehr mit Entzug der Staatsbürgerschaft und der Ausweisung bestraft werden dürfe. In der SBZ hingegen geben die zahlreichen "bürgerlichen Feinde" dem Staate heute noch die Möglichkeit, die notwendige quantitative Auslese für gesellschaftliche Prestigepositionen durch politische Klassifikationen der Bewerber zu erreichen, wodurch das Regime der Aufgabe enthoben wird, der Bevölkerung anzugeben, nach welchen "gerechten" Maßstäben die Zulassung zum Universitätsstudium gegeben werden soll.

Man muß die Schulreform des sowjetischen Parteichefs im Zusammenhang mit den zahlreichen Reformmaßnahmen sehen, mit denen er die unter Stalin völlig erstarrte Partei und die unfruchtbar gewordene Gesellschaftsstruktur wieder in Bewegung zu bringen versucht. Ihr

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gemeinsames Ziel ist offensichtlich, Partei und Gesellschaft zu "demokratisieren", nicht im westlichen Sinne von parlamentarischen Vertretungen, sondern im Sinne einer Demokratisierung der einzelnen Institutionen, indem sie einmal miteinander zur gegenseitigen Kontrolle verzahnt, zum anderen durch die Mitwirkung jedes einzelnen Bürgers an seinem Ort beweglich gehalten werden.

Chrustschow will offensichtlich eine Stabilisierung oder "Ständisierung" der Gesellschaft verhindern, daher auch seine Maßnahmen gegen die aufkommende Bildungsprivilegisierung. Sollte es ihm gelingen, die sowjetische Gesellschaft mit einem bis in die kleinsten Dörfer dieses weiten Raumes hinein funktionierenden "Rätesystem" zu überziehen, das "offen" bleibt und einen ständigen Durchfluß neuer Eliten gestattet, entstünde der westlichen Welt damit zum ersten Male eine ernst zu nehmende Alternative für die Organisation einer hochindustrialisierten Gesellschaft, die dazu zwingen würde, die Auseinandersetzung mit "dem Kommunismus" auf einer anderen und vermutlich gewissenhafteren Ebene zu führen, als das heute geschieht. Jedenfalls wäre es aus vielerlei Gründen falsch und gefährlich, die heutige Sowjetunion mit unseren Erfahrungen aus der SBZ beurteilen zu wollen.

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5. Das Amerikabild der Deutschen (1959)

(In: West-Ost-Berichte H. 10/1959, S. 369-370)
 

 ERNST FRAENKEL: Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens. Äußerungen deutscher Staatsmänner und Staatsdenker über Staat und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Fraenkel, Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1959, 333 Seiten.

Die deutsche Literatur über Amerika ist seit 1945 in einem nicht mehr zu übersehenden Maße angeschwollen, und im Zeitalter des Nato-Bündnisses und der politischen Zusammenfassung des Westens unter der Führung der USA scheinen Geschichte und Eigenart des Partners jenseits des Ozeans für unsere öffentliche Meinung "kein Problem" mehr zu sein. Um so nachdenklicher muß uns stimmen, wenn der Berliner Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel in seinem neuesten Werk darauf hinweist, daß der deutschen Literatur bisher noch keine klassische Darstellung der amerikanischen Gesellschafts- und Lebensformen gelungen ist. Im Gegenteil: Das deutsche "politische Denken" des 19. und 20. Jahrhunderts ist überwiegend gekennzeichnet durch erstaunlich hartnäckige Mißverständnisse der amerikanischen Gesellschaft, die solange noch erklärlich scheinen, als die USA nicht in unmittelbare Berührung mit der deutschen Außenpolitik kamen. Da boten sie sich zur Projizierung literarischer Wunsch- und Alpträume an. Nikolaus Lenau klagt: "Der Amerikaner hat keinen Wein, keine Nachtigall", und Heinrich Heine singt "von dem großen Freiheitsstall, der bewohnt von Gleichheitsflegeln". Wie konnte diese Nation von Auswanderern auf "geschichtslosem Boden" auch den Vorstellungen von "organischem Wachstum" genügen? Sie war das geeignete Objekt, das "ökonomische Minderwertigkeitsgefühl", das man gegenüber dem "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" empfand, mit einem - weitgehend daraus resultierenden - "intellektuellen Überwertigkeitsgefühl" zu kompensieren. Das Mißverstehen der amerikanischen Gesellschaft ist nur eine Variante des weit verbreiteten Mangels an politisch-gesellschaftlichem Bewußtsein in den bürgerlichen Schichten des 19. und 20. Jahrhunderts, und auch heute noch erscheint uns "der Amerikaner" vielfach eher nützlich als honorig.

Fraenkel ist diesen Phänomenen mit Gründlichkeit und Geschick nachgegangen. Sein Buch läßt nach einer komprimierten Einleitung, die das Thema historisch wie politisch auslotet, 83 Autoren aus drei Jahrhunderten zu Wort kommen, beginnend mit Christian D. F. Schubarth und schließend mit der Rede des Bundespräsidenten Prof. Heuss vor den beiden Häusern des Kongresses der USA vom Juni 1958; dazwischen finden sich die wenigen kenntnisreichen Äußerungen vor allem aus den Reihen der Nationalökonomen und Soziologen, überwiegend aber solche vom Niveau eines Houston St. Chamberlain. "Nur wer den Unsinn kennt", kommentiert Fraenkel, "den der Kronhistoriker Wilhelms II. und Adolf Hitlers, der oberste Lehrer nur allzuvieler Oberlehrer von sich gegeben hat, wird voll zu begreifen in der Lage sein, wie es möglich war, daß in kritischen Momenten der deutschen Geschichte eine unsinnige Amerikapolitik von einflußreichen Schichten der öffentlichen Meinung gefordert und in einer Schicksalsstunde der deutschen Geschichte geradezu erzwungen worden ist." (S. 15/16.) Ähnlich wie Chamberlain äußert sich Spengler:

Es handele sich bei den USA "um ein unermeßliches Gebiet und eine von Stadt zu

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Stadt schweifende Bevölkerung von Trappern, die in ihm auf Dollarjagd gehen". Erst wenn man diese zu ihrer Zeit sehr einflußreichen Stimmen kennt, begreift man die Leichtfertigkeit, mit der die deutsche Politik sich in beiden Weltkriegen auf eine militärische Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten eingelassen hat. Die politische und militärische Unterschätzung der USA in der Vergangenheit, die Hitler mit seiner These von der "Verjudung" Amerikas dem an rationale politische Argumentation nicht gewöhnten deutschen Bürgertum zu begründen versuchte, bekämpfte Max Weber schon im Jahre 1916 mit seiner Bemerkung: "Daß in Deutschland niemand wußte, was ein amerikanischer Wahlkampf ist und was er für Folgen hat, trotz aller Beispiele der Geschichte, ist ein Skandal sondergleichen." Wie konnte das auch ein Volk wissen, das bis auf den heutigen Tag zum Parteiwesen seines eigenen Landes kein angemessenes Verhältnis gefunden hat?

So handelt Fraenkels Buch sehr viel mehr über Deutschland als über Amerika und zeichnet einen Hintergrund, auf dem die Zerstörung der politischen Vernunft in Deutschland deutlich ablesbar wird. Dem politischen Erzieher bieten die zuverlässigen Quellentexte in Verbindung mit der informationsreichen Einleitung ein Arbeits- und Anschauungsmaterial, wie es eine noch so gute Monographie niemals hätte bringen können.

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6. Marxismus als Unterrichtsprinzip (1959)

Gesichtspunkte des Schulaufbaus in der SBZ und des Lehrplans der "Zehnjährigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule"

(In: West-Ost-Berichte, H. 9/1959, S. 299-304)
 

"Wir haben zwar das kapitalistische Bildungsprivileg und das Erbe des Militarismus überwunden, aber das andere Erbe der alten Gesellschaft, die Losgelöstheit der Schule vom Leben, beginnen wir erst jetzt zu beseitigen."
(Kurt Hager, Mitglied des Zentralkomitees der SED auf der IV. ZK-Tagung der SED am 15.1.1959)

Mit dem Anspruch, die bisherige Schule dem Leben anzupassen, wurde Ende des vergangenen Jahres in der DDR durch die Einführung des "Unterrichtstages in der Produktion" eine neue Phase der sowjetzonalen Schulpolitik eingeleitet, wobei man unter "Leben"  die Produktivität der Menschen als Grundbedingung ihres gesellschaftlichen und individuellen Daseins verstand und demnach die "Liebe zur Arbeit" als ein vorrangiges Erziehungsziel bestimmte. Der "Unterrichtstag in der Produktion" führt die Schüler des 7. - 10. Schuljahres in die industriellen und landwirtschaftlichen Betriebe der Umgebung und soll sie an den gesellschaftlichen Produktionsstätten selbst - nicht etwa nur in nach rein pädagogischen Überlegungen ausgestatteten "Schulwerkstätten", in denen nur noch die jüngeren Jahrgänge sich betätigen sollen - zum besseren Verständnis der zu (a) bearbeitenden Natur und der Gesellschaft führen. Seine Diskussion nahm in den vergangenen Monaten einen weiten Raum in den pädagogischen Fachzeitschriften und auch in den Tageszeitungen der DDR ein, eine Reihe von Schulen legte dabei der Öffentlichkeit ihre besonderen Erfahrungen vor, und zahlreiche Einzelpläne für seine Gestaltung wurden erarbeitet. Obwohl aber auch heute das Experimentierstadium noch keineswegs überwunden ist, wurden bereits die nächsten Maßnahmen ergriffen, die eine schulpolitische Planung bis zum Jahre 1964 vorsehen.

Das Zentralkomitee der SED nahm auf seiner IV. Tagung vom 15./17. Januar 1959 nach einem Grundsatzreferat von Kurt Hager 35 Thesen an, in denen die organisatorischen und lehrplanmäßigen Grundsätze für das gesamte Schulreformwerk formuliert wurden (1), und wenige Wochen später legte das "Deutsche Pädagogische Zentralinstitut" der Zonenöffentlichkeit einen umfangreichen "Entwurf einer Grundkonzeption für das Lehrplanwerk der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule" vor (2).

Dieser neue Schultyp, offiziell in Zukunft "Oberschule" genannt, bildet den Kern der geplanten organisatorischen Veränderungen im Schulwesen der DDR, dessen Lehrpläne und Erziehungsziele maßgeblich sein werden für die bisherigen höheren Schulen wie für  die bisherige Berufsausbildung. Er entspricht rein äußerlich der überlieferten Mittelschule,  wird aber durch die Polytechnisierung völlig umgewandelt und soll bis zum Jahre 1964 obligatorisch für die ganze DDR eingeführt sein. In den 10 Jahren ihrer Mindestschulzeit

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werden die Schüler in 17 verbindlichen und 2 fakultativen Fächern unterrichtet. Die Verteilung der Fächer im einzelnen geht aus folgendem Wochenstundenplan hervor (3):


 
 
 

Die Leistungsanforderung für eine Schule, deren Ziel jedes Kind erreichen soll, ist ausgesprochen hoch gesteckt, zumal wenn man daran denkt, daß der "Unterrichtstag in der Produktion" einen ganzen Tag der Woche beansprucht, so daß die Stundenzahl auf 5 Tage zusammengedrängt werden muß. Da das Regime auf der anderen Seite sich keine Leistungsminderung seiner Schulen leisten kann und will, steht und fällt die innere Verwirklichung dieser neuen "Volksschule" mit der Frage, ob durch die konzentrierten erzieherischen Bemühungen von Schule, Elternhaus und Jugendverband der Nachweis erbracht werden kann, daß das Sitzenbleiben ein Relikt der alten Schule sei. Die These, daß jedes normal veranlagte Kind das Ziel dieser Schule erreichen könne, nimmt in der fachpädagogischen Erörterung infolgedessen einen großen Raum ein (4).

Der Gedanke der polytechnischen Bildung und Erziehung soll als besonderes Fach  - vor allem durch das Fach "Einführung in die sozialistische Produktion" - und als Unterrichtsprinzip für alle anderen Fächer verwirklicht werden. Während für die naturwissenschaftlichen Fächer das polytechnische Prinzip noch am ertragreichsten erscheint, bleibt zunächst unverständlich, wie sich die geisteswissenschaftlichen und literarischen in diese Konzeption einbauen lassen. Das geschieht vor allem durch die Auswahl der Übungsstoffe. Die historische Betrachtung aller Stoffe geht von der marxistischen Klasseninterpretation der Gegenwart

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aus und bezieht sich in gesellschaftsgeschichtlicher und technologischer Betrachtungsweise auf sie. Folgende Stoffverteilung für die 8.. Klasse mag das für den Geschichtsunterricht zeigen.

1. Die Einigung Deutschlands durch Preußen
"Blut- und Eisen"-Politik Bismarcks). 3 Std.

2. Die Pariser Kommune. 3 Std. 

3, Die weitere Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland nach 1871.
Der Aufschwung der marxistischen Arbeiterbewegung.
Vom heroischen Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen das Sozialistengesetz und um die Verbesserung ihrer sozialen Lage. 7 Std. 

4. Der Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus.
Die Welt ist unter einigen imperialistischen Großmächten aufgeteilt (imperialistisches Kolonialsystem). Der besonders aggressive Charakter des deutschen Imperialismus. Vom Kampf der imperialistischen Staaten um die Neuaufteilung der Welt.
 Die Gründung der II. Internationale.
 Vom Kampf der Arbeiterbewegung gegen Imperialismus, Militarismus und drohende Kriegsgefahr. Das Eindringen des Opportunismus in die deutsche Arbeiterbewegung. Aus dem Leben Lenins. Sein Kampf um die Schaffung einer revolutionären Kampfpartei in Rußland. 15 Std.

5. Der Zusammenbruch der 11. Internationale beim Ausbruch des I. Weltkrieges.
 Der Verlauf des 1. Weltkrieges. 
 Der Kampf der Bolschewicki und der deutschen Linken gegen den imperialistischen Krieg.
 Anwachsen der Antikriegsbewegung und Heranreifen einer revolutionären Krise (Rußland, Deutschland, Frankreich). 5 Std.

6. Die Februarrevolution 1917 in Rußland. Die große sozialistische Oktoberrevolution. 
Die ersten Dekrete und Maßnahmen der Sowjetmacht. Der Einfluß

der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf die revolutionäre Bewegung am Ende des 1. Weltkrieges. Der Kampf der Arbeiter und Bauern um den Sieg der Sowjetmacht (Interventionskrieg und Bürgerkrieg, Gründung  der UdSSR).
Die weltgeschichtliche Bedeutung der großen sozialistischen Oktoberrevolution. 12 Std. 

7. Die Novemberrevolution in Deutschland und ihre Lehren.
Die Gründung der KPD  6 Std.(5).

Im Geschichtsunterricht wird der Zeitgeschichte ein bedeutender Raum gewidmet. In der 5. Klasse werden in "geschichtlichen Einzelbildern" mit stark emotionaler Wirkung (z. B. "Ernst Thälmann - vom Sohn seiner Klasse zum Führer seiner Klasse") die Stationen des "Klassenkampfes" im 20. Jahrhundert dem jugendlichen Gemüt eingeprägt, in der 6. und 7. Klasse wird die Geschichte von der "Urgesellschaft" bis zur Gründung der SPD behandelt, und die drei letzten Klassen beschäftigen sich erneut mit der Zeitgeschichte von Bismarck bis in die unmittelbare Gegenwart der weltpolitischen Auseinandersetzung.

Dem Deutschunterricht wird die Aufgabe gestellt, "einen möglichst wirksamen Beitrag zur Realisierung der Erziehungs- und Bildungsziele der sozialistischen Oberschule (zu) leisten". Deshalb "ist ihm eine für alle Disziplinen gültige politisch-ideologische Thematik zugrunde zu legen, die vor allem dem Bereich der sozialistischen Produktion in Industrie und Land-

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wirtschaft und dem gesellschaftlichen Leben in der DDR entnommen wird" (6). Aufsatzthemen und grammatische Übungsstoffe werden aus dem "Erleben des Unterrichtstages" genommen, und durch besondere Berücksichtigung der "sozialistischen Gegenwartsliteratur" wird auch in der Oberstufe die Reflexion über den Komplex Gesellschaft -  Produktion - Technik gepflegt. Erst für die 9. und 10. Klasse sieht der Lehrplan die Behandlung des "nationalen Literaturerbes" vor, "weil erst in diesen Klassen ausreichende Voraussetzungen dafür geschaffen sind, daß sich die Schüler mit Werken des fortschrittlichen Bürgertums vom Standpunkt der Arbeiterklasse her auseinandersetzen können"(7).

In ähnlicher Weise wird durch die Betonung gesellschaftlich-ökonomischer Stoffe und durch die Soziologisierung aller Stoffe in den anderen musischen und geisteswissenschaftlichen Fächern die Durchsetzung des polytechnischen Prinzips versucht. Selbstverständlich ist diese Sicht der Unterrichtsstoffe keineswegs neu - ihr Funktionswandel kann hier im einzelnen nicht dargestellt werden - , aber sie bekommt erst jetzt durch die Kombination mit der Polytechnik und dem neuen Schulaufbau ihre integrale psychologisch-pädagogische Bedeutung.

Die Einführung dieser Schule ist schon 1952 von der SED erwogen worden. Die Verzögerung wird der inzwischen ausgeschalteten Gruppe um Schirdewan zur Last gelegt, die für den "Revisionismus in der Pädagogik" verantwortlich sei und "schädliche bürgerliche Theorien, die Begabtentheorie", vertreten habe. In Wirklichkeit aber wäre schon aus ökonomischen Gründen im Jahre 1952 die Regierung der DDR noch gar nicht in der Lage gewesen, die gewaltigen Aufwendungen für eine solche Neuorganisation des Schulwesens bereitzustellen.

Außer der zehnklassigen Oberschule soll die zwölfklassige, die mit der neunten Klasse beginnt, mit naturwissenschaftlichem, neusprachlichem und altsprachlichem Zweig beibehalten werden. Sie umfaßt damit nur noch vier selbständige Jahresklassen. In Zukunft werden drei grundsätzlich verschiedene, in sich differenzierte Wege zum Abitur führen und damit zur Hochschulreife.  Einmal schließt die zwölfjährige Oberschule mit dem Abitur ab. Von hier führt der Weg zur Universität nur über ein einjähriges, von der Hochschule auf Grund der gewünschten Fachrichtung vorgeschlagenes Praktikum. Der zweite Weg geht über die Berufsausbildung, denn spezielle Klassen der Berufsschule, die sonst nur noch zwei Jahre dauern sollen, schließen nach drei Jahren ebenfalls mit dem Abitur ab. Ein dritter Zugang führt schließlich über die Berufstätigkeit: Die großen Betriebe, vor allem der chemischen Industrie, sollen eigene Betriebsoberschulen und die Volkshochschulen Abendoberschulen einrichten. Außerdem werden vor allem für diejenigen, die vor der Einrichtung der zehnjährigen Schule ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben, Kurse für die Sonderreifeprüfung geschaffen. Während dieser Ausbildungszeit muß die berufliche Tätigkeit weiter ausgeübt werden. Die ehemaligen Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF) werden noch befristet beibehalten, obwohl sie eigentlich durch die Neuordnung überflüssig geworden sind. Vor allem in den Landgegenden, in denen auch in nächster Zeit noch kein genügend dichtes Netz von Ausbildungsstätten errichtet werden kann, behalten sie weiterhin ihre Aufgabe.

Um die Leistungskapazität der vorhandenen Hochschulen und Universitäten möglichst auszunutzen, werden die bereits eingerichteten Abendkurse der Universitäten und das Fernstudium bedeutend ausgebaut. Die Vorstellungen gehen, allerdings noch wenig präzisiert, dahin, auf die Dauer den größten Teil der Studierenden erst in den mittleren und höheren Semestern zum Direktstudium zuzulassen. Die meisten Besucher der zehnjährigen Oberschule aber werden zweifellos nach Beendigung der Schulzeit einen Beruf ergreifen. Man hofft, daß die polytechnische Ausbildung in der Oberschule einen Teil der bisherigen
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Berufsschulbildung überflüssig machen wird, so daß die zweijährige Berufsschule in der Lage ist, nicht nur für einen speziellen, sondern für zwei oder drei verwandte Berufe auszubilden. Da bestimmte Klassen der Berufsschule zum Abitur führen sollen, ergibt sich eine im einzelnen noch nicht festgelegte Änderung des gesamten Berufsschulwesens, insbesondere seiner Lehrerausbildung.

Mit dieser Schulreform hofft die Regierung der DDR folgendes zu erreichen: Einmal hat die ideologische Erziehung der heranwachsenden Generation im allgemeinen bisher versagt. Das geht aus Flüchtlingszahlen und Berichten der Tagespresse eindeutig hervor. Da im marxistischen Selbstverständnis dieser Mißerfolg nicht in der Ideologie begründet sein kann, sondern nur in der fehlerhaften Art ihrer Verbreitung, macht man dafür neben anderen Faktoren die abstrakte Art des Lehrens verantwortlich. Die marxistische Belehrung  sei, so sagt man, in der Schule bisher zu sehr "fachlich" erfolgt, eben "vom Leben getrennt".  Nach dem neuen Lehrplan wird daher versucht, die marxistische Geschichts- und Weltanschauung fast ausschließlich als Unterrichtsprinzip zu vermitteln. Sie wird nicht mehr in einem eigenen "staatsbürgerlichen" Fach betrieben, sondern integriert alle Fächer an der Schule zu einer Sach- und Sinneinheit; denn polytechnische Erziehung (8) bedeutet viel mehr als lediglich verbesserte Berufsausbildung oder Technisierung der Bildung, und wenn man sagt, hier feiere der vordergründige Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts, der inzwischen durch unsere philosophische wie einzelwissenschaftliche Forschung "überwunden" sei, seine Auferstehung, so ist das nur soweit richtig, wie etwa Comte und Marx dasselbe meinten. Polytechnik ist der Versuch, durch Erziehung das Individuum mit den Mächten der Politik und der industriellen Produktion einem Bewußtseins- Sinn- und Aktionszusammenhang zu integrieren auf dem Weg der fortschreitenden marxistisch kanalisierten Reflexion des Heranwachsenden über seine ebenfalls fortschreitende direkte Mitgestaltung der Produktionssphäre und gesellschaftlichen Umwelt. Dabei wird auf die Konstruktion einer pädagogisch gefilterten Produktionssituation, wie sie etwa die deutsche Arbeitsschule schuf, bewußt verzichtet: Die Pädagogik tritt den Weg in die Industriegesellschaft an, deren "Notwendigkeiten" sie sich unterordnet. So aber plagt sich der Schüler nicht mehr so sehr mit marxistischem Stoff ab, der an ihn herangetragen wird wie andere Stoffe auch, sondern die marxistischen Einflüsse ergeben sich viel natürlicher aus der Tätigkeit in den Betrieben.
Anders gesagt: Das Kind wird, selbst wenn es von Hause aus mit Skepsis dem Staat gegenübersteht, kaum noch feststellen können, wo das, was es "gern tut", aufhört und die politische Beeinflussung beginnt. Wenn das politische Ziel der Schulreform darin besteht - wie offiziell keineswegs verschwiegen wird - , der heranwachsenden Generation die sozialistische Gesellschaft selbstverständlich zu machen, so ist die vorliegende Konzeption der Polytechnik das psychologisch Durchdachteste, was die marxistische Pädagogik bisher ersonnen hat. Es ist auch nicht anzunehmen, daß sie wegen ihres Rekurses auf die industriell verstandene produktive Tätigkeit in dem Augenblick fragwürdig werden müsse, da die sozialistischen Länder infolge ihrer hohen Produktivität vor ernsthafte Freizeitprobleme auch in der Erziehung gestellt würden. Es hieße die für den Marxisten untrennbare Dialektik von Technologie und Gesellschaft übersehen, wollte man annehmen, eine Verlagerung von der Arbeitserziehung, an der heute die DDR wegen ihres bedarfswirtschaftlichen Stadiums noch unbedingt festhalten muß, zur Freizeiterziehung müßte notwendig einen Bruch mit der heutigen Polytechnik bedeuten. Im Gegenteil, eine solche Verlagerung wird ihr theoretisch wegen ihres Zuges zur historischen Relativierung viel leichter fallen als unserer Pädagogik, der historisch Gewordenes in weit höherem Maße als für immer Gegebenes gilt.

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Das Regime muß aber auch ein quantitatives Problem lösen. In den letzten Jahren war die Zahl der Abiturienten größer als die Aufnahmekapazität der Hochschulen. So mußten viele Absolventen der Oberschulen gegen ihre Absicht wenigstens zeitweise eine berufliche Tätigkeit aufnehmen, aus der sie von den Betrieben wegen Arbeitskräftemangels in vielen Fällen nicht mehr entlassen wurden. Nun soll die Aufnahme des Studiums überhaupt von der beruflichen Bewährung abhängig gemacht werden, um damit einen neuen Leistungsfilter einzuführen. Durch die frühzeitige Heranführung des Kindes an die Arbeit will man möglichst viele Fachkräfte gewinnen, was nur dann möglich ist, wenn alle gesellschaftlichen Aufstiegschancen auch nach mehrjähriger beruflicher Tätigkeit prinzipiell offenstehen. Allerdings sind die Bedingungen, unter denen über den Berufsweg die Aufnahme in eine Hochschule erreicht werden kann, durch den Zwang zur gleichzeitigen beruflichen Tätigkeit hart und werden zweifellos zu einer entsprechenden Auslese führen. Hinzu kommt eine ganz allgemeine Aporie Die ökonomische Produktivität der DDR ist keineswegs bereits so hoch, daß man sich ein derart aufwendiges Volksbildungswesen leisten könnte. Sie kann deshalb auf die produktive Mitarbeit der heranwachsenden Generation auf keinen Fall verzichten. So führt die Divergenz von ökumenischem Stand und schulpolitischer Intention zu einer hohen Leistungsforderung an die Jugendlichen, die bereits mit 16 oder 17 Jahren die allgemeine Berufsausbildung und zusätzlich eine ebenfalls hohe Anforderungen stellende "Allgemeinbildung" durchlaufen haben. Diese Divergenz erklärt auch wesentliche Punkte des geplanten Schulaufbaus und macht seine eigentlich soziologische Dimension offenbar. Mit der Schulreform werden aber, so scheint es, auch außenpolitische Erwägungen verbunden. Daß in nahezu jedem Aufsatz über Fragen der Polytechnik auf die "Rückständigkeit" des Schulwesens in Westdeutschland hingewiesen wird, ist nicht nur ein Ausfluß jener sattsam bekannten Hetzpropaganda gegen die Bundesrepublik, die schon zum "guten Ton" einer wissenschaftlichen Veröffentlichung gehört. Die mit soviel geistigem wie materiellem Aufwand betriebene Veränderung des Schulwesens soll vielmehr ebenso wie die in hartnäckiger Kleinarbeit gepflegten wirtschaftlichen Kontakte mit nichtsozialistischen Ländern das politische System durch den Nachweis seiner Leistungsfähigkeit in der nichtkommunistischen Welt außenpolitisch hoffähig machen. Sollten sich die Pläne verwirklichen, dann könnte allerdings das Schulsystem der DDR, vor allem im Hinblick auf die allgemeine Volksbildung und die Allgemeinbildung der Berufstätigen, einen hervorragenden Platz in der europäischen Konkurrenz einnehmen - wenn man vom politischen Gesamtzusammenhang absieht, was bekanntlich um so mehr geschieht, je weiter der Beobachter vom Schauplatz des Geschehens entfernt ist.

Die polytechnische Erziehung ist seit dem Aufkommen der industriellen Gesellschaft in Deutschland der erste Versuch, unter Einsatz einer vorhandenen politischen Macht und unter vorbehaltlosem Bekenntnis zum Industrialisierungsprozeß die durch diesen Vorgang in verschiedenen Richtungen treibenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Einzelgebilde durch erzieherische Vermittlung einer Weltanschauung integrierbar und damit einsehbar und manipulierbar zu machen. Ob ein solcher Versuch im allgemeinen und im Falle der marxistischen Ideologie im besonderen auf die Dauer ohne politische Zwangsvollstreckung erfolgreich sein kann, ist hier nur zu fragen. Sicher ist jedenfalls, daß wir in Zukunft bei der berufstätigen Jugend der DDR auf ein Gegenwarts- und Geschichtsbewußtsein treffen, daß wegen seiner Einseitigkeit nicht weniger selbstbewußt zu sein braucht und sich auch und gerade dort, wo es unrichtig ist, dem geschichtslosen und damit unpolitischen Bewußtsein des weitaus größten Teils unserer Bevölkerung nur noch überlegener erweisen muß. Die Hebung der allgemeinen Volksbildung, und zwar die obligatorische, ist längst nicht mehr in unsere freie Entscheidung gelegt, sie wird uns von der Gegenseite als ein deutliches und bewußtes Politikum aufgezwungen. In diesem Sinne ist es politisch richtig, die möglichen Erfolge der sowjetzonalen Schulreform eher zu hoch als zu gering einzuschätzen.

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Anmerkungen:

(a) Das Wort "zu" fehlt im Original, was als Druckfehler zu bewerten ist (H.G.)

(1) Über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der DDR (Thesen des Zentralkomitees), Berlin 1959.
 

(2) Entwurf einer Grundkonzeption für das Lehrplanwerk der zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, hrsg. vom Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut, Berlin I959.
 

(3) Lehrplanwerk ... S. 49
 

(4) Vgl. besonders: Bernhard Hüber: Wege zur Verhinderung des Zurückbleibens, "Pädagogik" 1959, 4, S. 296-302
 

(5) Lehrplanwerk ...  S. 181.
 

(6) Lehrplanwerk ... S. 173.
 

(7) Lehrplanwerk ... S. 173.

(8) Zur näheren Erörterung des Begriffs der Polytechnik sowie zum folgenden vergleiche: Rolf Peltner: Das Für und Wider der polytechnischen Erziehung, West-Ost-Berichte 1959, S. 137-151.   


 7. Zur Theorie der demokratischen Gesellschaft (1960)

(In: Neue Politische Literatur, H. 4/1960, S. 320-324)
 

 Paul Schmitt: Religion, Idee und Staat. Aus dem Nachlaß hrsg. v. Hedwig von Roques-von Beit unter Hinzufügung von ungedruckten Schriften und Gedichten. 654 S., Francke Verlag, Bern 1959.

Daß der Name des Verfassers in Deutschland fast völlig unbekannt ist, macht bereits einen Teil der zeitgeschichtlichen Bedeutung seines umfangreichen fragmentarischen Werkes aus: Er war einer der wenigen konservativen Geister, deren unbestechliches sittliches und intellektuelles Urteil einen politischen Pakt mit dem sich als geistesverwandt ausgebenden "konservativen" Nationalsozialismus nicht zuließ. Den im Jahre 1900 geborenen und humanistisch erzogenen Autor sah das Jahr 1933 als Bankier und Direktor des Verlages Knorr & Hirth in München, des zweitgrößten Zeitungs- und Zeitschriftenverlags in Deutschland, dem damals die "Münchener Neueste Nachrichten", "Die Grüne Post", die "Münchener Illustrierte Presse", "Der illustrierte

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Rundfunk", der "Deutsche Sonntag" und die "Süddeutschen Monatshefte" gehörten. Da Sch. sich den Werbungen der Nationalsozialisten widersetzte, die naturgemäß an seiner Mitarbeit ein besonderes Interesse haben mußten, blieb nur die Emigration, die ihn 1934 nach Rom und 1938 in die Schweiz führte, wo er 1953, wenige Wochen vor seinem Tode, eingebürgert wurde. In den Jahren seines Exils arbeitete er für zahlreiche Schweizer Zeitungen und Zeitschriften, vor allem für die "Neue Zürcher Zeitung".

Der vor seinem Tode von ihm selbst festgelegte Titel des Werkes gibt treffend das zentrale Anliegen seines Denkens wieder, dessen vielerlei Zeugnisse in Gestalt von Rezensionen, Artikeln, Vorträgen und Fragmenten die Herausgeberin systematisch unter Hinzufügung der größtenteils unveröffentlichten Gedichte geordnet hat. Mit den drei Begriffen des Titels faßte Sch. die Substanz der abendländischen Kultur zusammen, die er aus der historischen Zufälligkeit herauszudestillieren und an die jeweilige geschichtliche Situation anzupassen suchte. Seine Lebensaufgabe sah er darin, das für seine Gegenwart mit ihnen Gemeinte herauszufinden und für die politische und gesellschaftliche Gestaltung wieder normativ werden zu lassen.

Es besagt dabei nicht viel, daß die ausgesprochen zeitgeschichtlichen und politisch aktuellen Beiträge einen vergleichsweise kleinen Raum einnehmen; denn es ist in der Struktur eines solchen Denkens angelegt, aktuelle Fragen könnten zu ihrer hinreichenden Klärung zurückgeführt werden auf ideelle Prinzipien, die sich in der historischen Wirklichkeit nur jeweils verschieden manifestierten. Deshalb ist im Sinne des Verf. ein Aufsatz über "Staatsumwälzung im alten Rom" genauso "aktuell" wie eine Untersuchung der nationalsozialistischen Revolution.

Für die Universalität seines Geistes, die hier keineswegs auch nur annähernd gewürdigt werden kann, mögen nur einige der 65 Überschriften Zeugnis geben: "Antike Mysterien in der Gesellschaft ihrer Zeit"; "Politik und Idee im antiken Kaiserstaat"; "Revolutionäre Staatsideen des 19. Jahrhunderts und der Rechtsgedanke"; " Symbolik und Mythologie"; "Bismarck auf dem Weg zur Macht"; "Das Urbild in der Philosophie des Nikolaus de Cusa"; "Archetypisches bei Augustin und Goethe"; "Zwischen Demokratie und Despotie".

In dem letztgenannten Aufsatz aus dem Jahre 1944 ist das politische Bekenntnis des Verf. am greifbarsten formuliert. Hier bekennt er sich mit bewunderndem Seitenblick auf die nordamerikanische Geschichte und als überzeugter Katholik (!) zur Vertragstheorie des Staates, die er gegenüber Burckhardt nicht als eine Frage des historischen Ursprungs (S. 278) und gegenüber Carl Schmitt nicht als juristischen, nur durch eine übergeordnete Institution zu garantierenden Sachverhalt, sondern als eine politische Sitte, "als Auswirkung des dem Menschen als Menschen eingeborenen Grundsatzes der Freiheit" (S. 279) versteht. Gegner der so verstandenen Vertragstheorie ist der Grundsatz der "Ordnung um jeden Preis" (S. 284), repräsentiert für Sch. in der kommunistischen Partei und in den Ordnungsgrundsätzen des preußischen Staates, die der "geschichtsphilosophisch äußerst verwegene" und "terribelste aller simplificateurs" (S. 285), Spengler, in die letzte politisch wirksame Form gekleidet habe, "durch die schrillen Töne" der Nationalbolschewisten um Ernst Jünger "ergänzt". "Werkstattmentalität, die unserer technischen Zivilisation ein besonderes Gepräge gibt, umgebogen in eine verfälschende 'antihumane' Werkstatts- und Arbeiterlyrik, verband sich im Hirn solcher Dynamiteros des Geistes". (S. 286).

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Die nationalsozialistische Revolution selbst erschien ihm im Gegensatz zur marxistischen weniger als politisches denn als religiöses Phänomen. "Tatsache ist ... , daß mit dem historischen deutschen Nationalsozialismus eine neue Religion mit Adolf Hitler als religiösem Haupt aufgetreten ist, und daß ein gewaltiger Religionskampf begonnen hat, der in seinen riesigen Maßen vom deutschen Inland und dem übrigen Europa eben erst wahrgenommen wurde" (S. 305).

Diese Sicht hindert Sch. natürlich, die direkten historischen und geistigen Linien zwischen Spenglers "Preußentum" und dem Nationalsozialismus zu bemerken. Aber ein solcher Mangel gilt allgemein für ein Denken, dem die historische Jeweiligkeit immer um eine Nuance zu "unwesentlich" bleiben muß gegenüber dem hinter ihr vermuteten "Reich der Ideen". Der Zeitgeschichtler wird eine Reihe derartiger Einwände vorbringen können, die aber die in der Gesamtkonzeption liegende Leistung nicht schmälern, jenseits aller liberalistischen, plebiszitären und romantisch-kollektivistischen Vereinfachung eine politische Philosophie der Demokratie auf der sittlichen Grundlage der tradierten europäischen Humanität und unter Sinndeutung alles einzelwissenschaftlich Gewußten versucht zu haben. Es ist gewiß ein im besten Sinne des Wortes "konservativer" Versuch gewesen, aber in einer Zeit, in der dieser Konservativismus wegen seiner Seltenheit revolutionär wirken mußte.

Daß Sch., den Hans Barth in der Einführung zu Recht einen "christlichen Platoniker" nennt, sein Werk in den Jahren der nationalen Katastrophe begann, macht es zu einer Stimme des "anderen Deutschland", die wir nicht überhören sollten; denn eine noch zu schreibende politische Philosophie der demokratischen Gesellschaft wird um so mehr auf seinen Ansatz zurückkommen müssen, als die neueren Versuche in der Bundesrepublik in der Regel dadurch hinter Sch. zurückzufallen drohen, daß sie das Problem sachlich auf eine "westliche Ideologie" reduzieren und methodisch allzuleicht von unverbindlichen Assoziationen der Begriffe "Freiheit" und "Persönlichkeit" leben, was alles an Sch.s beeindruckende Rationalität nicht heranreichen kann.

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8. Die Ostthematik in der politischen Bildung (1960)

Ihre Grenzen und Möglichkeiten

(In: West-Ost-Berichte H. 6/1960, S. 253-257)
 

Die politische Erziehung ist eine viel zu ernste Sache, als daß man sie den Politikern überlassen dürfte. Die politische Erziehung ist eine viel zu ernste Sache, als daß man sie den Erziehern überlassen dürfte.
(Frei nach Tucholslsy)

In den letzten Jahren haben zwei Ereignisse die Diskussion um die politische Bildung unserer Jugend für einige Zeit in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt: Die fälschlich als "Antisemitismus" ausgegebenen Schmierereien von Köln und anderswo gaben Anlaß zu bewegten Klagen über das politische Desinteresse der nachwachsenden Generation in Westdeutschland. Ähnlich erregt aber wurde die Öffentlichkeit, als in den Jahren 1954/55 geschickt ausgewählte und möglichst unpolitisch aufgemachte FDJ-Gruppen in Gestalt von Tanz- und  Musikensembles aus der SBZ die Bundesrepublik überfielen, ihre Aufführungen darboten und dabei jede Gelegenheit  zur politischen Diskussion suchten, bei denen in der Regel die westdeutschen Teilnehmer "unterlagen". Weniger übrigens der fehlenden Ostkenntnis wegen als durch ein überlegen zur Schau getragenes "Wissen" um Details westlicher Innenpolitik, die den dialektisch geschulten Partnern angeblich bekannt waren. Diese Invasion wurde bald durch politische Maßnahmen der westdeutschen Behörden eingedämmt, aber zurück blieben in der Bundesrepublik zahlreiche Einladungen und auf der Gegenseite das Bewußtsein, der Westen könnte sich vor ihrer "ideologischen Schlagkraft" nur durch Polizeimaßnahmen retten. Damals entstand im politischen Vokabular Ulbrichts die Parole "Deutsche an einen Tisch". In der Hoffnung, auf die Dauer eine wirksame "ideologische Abwerbung" betreiben zu können, wurden die Einladungen paketweise nach Westdeutschland geschickt: an Jugendgruppen, Sportvereine, Gewerkschaften, Studentenverbindungen. Damals entstanden auch die Ferienlager für westdeutsche Kinder.
Da Infiltrationen dieser Art und dieses Umfanges schon aus technischen Gründen durch Polizeimaßnahmen allein nicht abgewehrt werden konnten, setzte sich langsam die Erkenntnis durch, ihnen mit erzieherischer Aufklärung begegnen zu müssen Die dazu notwendigen Mittel waren bald bereitgestellt. Einzelpersonen und Institutionen machten sich nicht immer kompetent ans Werk: Die Ostthematik wurde zur Mode, so wie 1919 die  Volkshochschule und wie neuerdings der Antisemitismus "im Zug der Zeit" liegen. In  einigen wenigen Gruppen der Jugend wurde dieser "Einfall" jedoch als eine unmittelbare Herausforderung aufgegriffen. Man suchte die Auseinandersetzung, reiste in die "Höhle des Löwen" und diskutierte dort schlecht und recht im Namen der Demokratie Zurück gekehrt wurden Experten zu nächtelangen Diskussionen herangeholt. Kaum bemerkt  von der großen Öffentlichkeit begann sich eine erstaunliche Ernsthaftigkeit und Energie für das Politische zu regen. Es gab damals "parteilose" Jugendliche, die sich nur zu diesem Zweck und aus diesem Anlaß zusammenschlossen. (Der Initiative dieser Gruppen  ist übrigens entscheidend zu verdanken, daß die Kontaktversuche nach einiger Zeit von der Gegenseite als erfolglos abgebrochen oder wenigstens scharf eingeschränkt wurden.)
Aber das war die Ausnahme. Die Regel blieb, daß die nun vorhandenen Mittel ihre Eigengesetzlichkeit entfalten und oft wenig qualifizierte Menschen anlockten, die von der Bereitstellung derartiger Mittel leben.

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Seit dieser Zeit hat die "Ost-West-Thematik" ihren festen Platz in der politischen Bildung unserer Tage, vielleicht den höchsten. Aber nur in wenigen Fällen ist der Versuch  unternommen worden, nach dem politischen und erzieherischen Sinn einer solchen "Ostarbeit" zu fragen, sie im Zusammenhang zur sonstigen politischen Bildung zu sehen,  ihren Ort im Bildungsgefüge des jungen Menschen überhaupt zu bestimmen. Der Anlaß wurde nur allzuoft zum Selbstzweck.

Im folgenden soll eine solche Ortsbestimmung versucht werden. Sie bedarf zweifellos der Diskussion und soll dazu anregen.

Die "Autonomie" der Ostthematik

Aus der Überlegung, nicht nur Berufspolitiker, sondern auch das Volk selbst auf ein spätestens im Augenblick der Wiedervereinigung einsetzendes Gespräch vorbereiten zu müssen, versuchte man in Lehrgängen, Vorträgen und Tagungen über Theorie und Praxis des Sowjetkommunismus sachgerecht zu unterrichten. Diese Informationen aber trafen in der Regel auf ein Bewußtsein, das die eigene politisch-demokratische Lebenssituation noch gar nicht bewältigt und verarbeitet, ja kaum begriffen hatte. Man setzte fälschlich ein demokratisches Bewußtsein als selbstverständlich voraus, Bei einiger Selbstkritik dürfte jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß eine solche Voraussetzung für keine Schicht unseres Volkes in nennenswertem Maße angenommen werden darf, auch für die der "Gebildeten" nicht. Niemand wird das bestreiten können, der jahrelang das Niveau politischer Diskussionen an den Universitäten beobachten konnte, der sich klarmacht, daß es bei uns bis heute noch keine auf der Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung stehende oder gar sie übersteigende politische "Philosophie der Demokratie" gibt, die doch erst die Kategorien für die Deutung der politischen Phänomene liefern müßte und die das leisten würde, was in der Vergangenheit der Amerikaner Dewey für seine Nation geleistet hat. Weil nun diese Ostinformationen, sehr oft mit bestem Wissen und größtmöglicher Objektivität erteilt, auf ein unpolitisches Bewußtsein trafen, konnten sie auch nicht politisiert und, erzieherisch gesehen, integriert werden. Sie blieben unverbindliche "Nachricht", wurden "konsumiert". Ihr Gegenstand erschien beliebig austauschbar. Die Selbsttäuschung, das demokratische Selbstbewußtsein sei hinreichend gefestigt und persönlich verbindlich, betraf und betrifft Informierte und Informierende in gleicher Weise. Für letztere bietet die Ostthematik die Möglichkeit, politische Bildung ohne politischen Standort zu betreiben. Als Ersatz für die gründliche Erarbeitung demokratischer Maximen und Wirklichkeiten, die allein zur differenzierenden politischen Wertung gerade auch der abzulehnenden politischen Strukturen führen können, muß eine oberflächliche Phraseologie von "Freiheit" und "Rechtsstaatlichkeit" dienen. Welchen Sinn kann es aber haben, das Funktionieren eines kommunistischen Einparteienstaates präzise darzustellen, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, Sinn und Funktion des eigenen Mehrparteiensystems mindestens ebenso differenziert darzustellen, oder wenn gar im Untergrund die Meinung mitspielt, Parteien seien überhaupt ein lasterhaftes Übel, weil sie z. B. den Aufstieg der "Eliten"  verhinderten? Selbst die rein wissenschaftliche Belehrung über Ostfragen gibt die Möglichkeit, dem wenigstens intellektuellen Engagement für die eigene politische Wirklichkeit - das ja nicht unbedingt zum Bekenntnis ausarten muß - zu entfliehen.

Diese Form der "autonomen Ostthematik", die losgelöst vom politischen und gesellschaftlichen Dasein des jungen Menschen betrieben wird, enthält eine Reihe verdeckter psychologischer Gefahrenmomente. Sie fördert die Tendenz, persönliche und soziale Unzufriedenheit in eine falsche, das Gemeinwohl bedrohende Richtung zu lenken. Wenn man einer heranwachsenden Generation nicht klarmachen kann, daß eine demokratische Gesellschaft für solche Fälle Institutionen und Verfahrensweisen zur Verfügung gestellt

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hat, durch deren Benutzung sich derartige Unzufriedenheit legitim in Veränderung umsetzen darf und sogar soll, braucht man sich nicht zu wundern, wenn ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs der Dinge Studenten auf die großzügige Hochschulförderung in der SBZ schielen, Schüler die ihnen anerzogene Hochachtung vor abstrakten  Gedankenkonstruktionen auf den Diamat wenden und Arbeiter mit den "sozialistischen Errungenschaften" liebäugeln. Eine fatale Rolle spielt dabei die rein ideologische  Betrachtung des Ost-West-Gegensatzes. Da wird versucht, dem geschlossenen ideologischen System des Kommunismus eine möglichst ebenso geschlossene "westliche Ideologie" gegenüberzustellen, die es als Consensus einer pluralistischen Gesellschaft gar nicht geben kann. Als ob es nicht darauf ankäme, die Historizität einer geschlossenen Gesellschaftsideologie und ihre nur noch unter Terror mögliche Erhaltung zu entlarven!
Aber bei genauem Zusehen ergibt sich immer wieder, daß solche "westlichen Ideologien" - die ja keineswegs identisch sind mit dem Wertkonsensus einer demokratischen Gesellschaft! - eine spezifische Flucht vor dem demokratischen Engagement zum Ausdruck bringen, nämlich in der Form des Zurückträumens in eine historisch unwiderruflich vergangene "Ganzheit".

Es kann also festgestellt werden, daß die "autonome Ostthematik" erzieherisch wertlos ist, weil ihre Informationen vom jungen Menschen mangels eigenen gesellschaftlichen Selbstverständnisses nicht integriert, also nicht zur "Bildung" werden können. Sie ist politisch bedenklich, weil aus demselben Grunde der gewünschte Effekt verfehlt werden  muß, zum mündigen, totalitären Bestrebungen im Ernstfall bewußt und erfolgreich entgegentretenden Bürger zu erziehen.

Der "Antikommunismus"

Während im Falle der "autonomen Ostthematik" die möglichst unvoreingenommene sachliche Belehrung im Vordergrund steht, die aber als solche nicht voraussetzungslos zur Kenntnis genommen werden kann, wird im Antikommunismus die sachliche, differenzierende, problembewußte Information planmäßig verlassen zugunsten einer diffusen Emotionalisierung gegen Unbekannt. Politische Phänomene werden reduziert auf abstrakte Moralität, Verhältnisse auf die moralische Qualität von Personen. Die Kategorie der Geschichtlichkeit wird gestrichen. Ein Musterbeispiel hierfür ist der Film "Völker hört die Signale...".

Auch für dieses Verfahren gilt die obige Problematik. Es kann ihm schon von seinem Ansatz her nicht gelingen, junge Menschen aktiv in die eigene Gesellschaft zu integrieren. Es fördert die vorgefundene politische Passivität, außerdem die Neigung, alle eigenen sozialen und politischen Probleme, zu deren Mitlösung jeder eigentlich aufgefordert sein sollte, als an sich nicht existent und hervorgerufen nur durch "Unterwühlung" der Gegenseite zu betrachten. Das Bild des Gegners ist so vereinfacht, daß an ihm der tatsächliche nicht identifiziert werden kann. Wenn der in den Betriebsrat gewählte Kommunist nun kameradschaftlich, hilfsbereit und relativ gebildet ist, wenn er klug genug ist, nicht nur als Demagoge aufzutreten, sondern als ein Mann, der außer reden auch geduldig und lange zuhören kann - dann leistet die Schablone nichts mehr. Sie wird vielmehr, im einzelnen unglaubwürdig geworden, möglicherweise auch im allgemeinen fragwürdig.

Politisch am bedenklichsten ist, daß der so skizzierte Antikommunismus ein kollektives Bewußtsein richtungsloser und latenter Aggressivität schafft, das eines Tages, je nach den Umständen, mit oder ohne Kontrolle der Herrschenden in politische Aktion umschlagen kann, deren Ziele und Methoden mit Sicherheit nicht vorausgesagt werden können. In diesem Sinne gewinnt der Antikommunismus allmählich die soziologische und psychologische Typik des Antisemitismus der Vergangenheit.

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Da er darüber hinaus zur Diffamierung auch berechtigter Kritik potentiell zur Verfügung steht, von deren Konstruktivität eine demokratische Gesellschaft zu leben pflegt, kann das ursprünglich zum Schutze der Gesellschaft begonnene Unternehmen immer auch zu ihrer Zerstörung umschlagen. Man tut aber gut daran, hinsichtlich der Urheber zu differenzieren. Zu seinen Anhängern gehören zunächst eine Reihe von Personen, für die mutatis mutandis das oben Gesagte gilt: Sie verschaffen sich durch die vereinfachende Aggressivität ihrer Haltung die Möglichkeit, der differenzierenden Selbstrationalisierung ihrer politischen Position auszuweichen. Man könnte vermutlich mit einigem Erfolg eine "Soziologie des Antikommunisten" schreiben, die wohl eine gewisse Identität mit der des zuerst beschriebenen Typs annehmen würde. Davon zu unterscheiden wären die Unternehmungen der für die Erhaltung der demokratischen Gesellschaft zuständigen Behörden, die sich im Zusammenhang ihrer Aufgabe der Abwehr der ideologischen Infiltration annehmen müssen. Objektiv führt zwar ihr Tun ebenfalls zu den oben angedeuteten Gefahren, wenn sie die antikommunistische Schematik zu der ihren machen oder sie mit ihren Mitteln fördern. Andererseits stehen sie dabei vor einem nicht wegzuleugnenden Problem: Es ist zunächst nicht ihre Schuld, wenn es bisher nicht gelungen ist, unsere Gesellschaft durch eine angemessene politische Bildung des gesamten Volkes von unten auf zu sichern. Derlei Vorwürfe wären viel eher den Kultusministerien und den Erziehern selbst zu machen. Wenn aber die Aufgabe des "ideologischen Schutzes" als unaufschiebbar angesehen wird, müssen die Behörden mit dem tatsächlichen, nicht einem wünschbaren Bewußtsein der Bevölkerung rechnen.

Die Ostthematik als "Aufhänger"

Die beiden bisher beschriebenen Behandlungen der Ostthematik weichen der Selbstdarstellung und Bewertung der demokratischen Gesellschaft aus und können aus diesem Grund nicht als politische Bildung angesprochen werden.

Die Ostthematik scheint nur dann einen vernünftigen Stellenwert im Gesamtrahmen der politischen Bildung einzunehmen, wenn sie als "Aufhänger" zur Erarbeitung und Bewertung der eigenen politischen Strukturen benutzt wird. So kann einer Darstellung des östlichen Einparteiensystems der Mehrparteienstaat der eigenen politischen Umwelt in seiner Funktion und in seinen Zwecken gegenübergestellt und als strukturell notwendiger Garant gesellschaftlicher Liberalität erklärt werden. Die Erörterung der Jugendweihe im Gesamtzusammenhang östlicher Jugendbeeinflussung dient dazu, das historische Interesse an der neuzeitlichen Konstellation von Kirche und Staat zu wecken und das gegenwärtige Verhältnis beider Mächte zu deuten. Die provozierend aggressive Darstellung durch den Gegner wird also genutzt, um das Interesse an der Kenntnis des eigenen objektiven Lebenszusammenhangs zu wecken. In der Mitte zwischen unverbindlicher Autonomie des Sachbereichs der Ostthematik und gefährlich vergröbernder Entpolitisierung des Antikommunismus liegt infolgedessen die planmäßige Einbeziehung der die östlichen Länder betreffenden Sachfragen in die politische Bildung. Es wäre töricht, auf diese Sachfragen überhaupt zu verzichten. Sie können als Gegenbild konkret verdeutlichter Unfreiheit das Nachdenken über die anscheinend so selbstverständliche Freiheit und deren Erhaltung in der eigenen Gesellschaft in Bewegung setzen. Dann kann aber nicht über "Freiheit als Wert", sondern nur über die konkreten Möglichkeiten und Grenzen freiheitlichen Daseins im Rahmen einer in ihrem Ablauf grundsätzlich begriffenen Gesellschaft gehandelt werden.

Noch aus einem anderen wichtigeren Grunde kann die Ostproblematik nicht gänzlich aus der politischen Bildung ausgeklammert werden: das würde eine Verfälschung des uns vorgegebenen objektiven Sachzusammenhangs bedeuten. Wenn oben gesagt wurde, Ostthematik ohne Integration des Jugendlichen mit seiner eigenen Gesellschaft sei poli-

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tisch und erzieherisch sinnlos, so gilt das auch umgekehrt: Diese Integration kann nicht ohne Berücksichtigung der Verhältnisse der SBZ und des Ostblocks geschehen, weil diese objektiv, zumindest psychologisch, alle wesentlichen inneren Probleme unserer Gesellschaft mit beeinflussen. Aber nur insoweit sie Teil des objektiv vorgegebenen Gesamtzusammenhangs ist, hat die Ostthematik sinnvollerweise ihren Platz in der politischen Bildung.

Es kommt also entscheidend darauf an, die nicht mehr unmittelbar erfahrbare Welt dem Heranwachsenden durch angemessene Kategorien "heranzuholen" und sie mit dem noch erfahrbaren Teil und der je einzelnen Person zu einem Funktions- und Sinnzusammenhang zu bringen. Die Behauptung, dafür sei die Welt zu "kompliziert" geworden, ist reine Denkfaulheit. Nie seit dem Aufkommen der modernen Gesellschaft sind die soziologischen Strukturen und ihre Dynamik so wenig kompliziert gewesen wie heute. "Hinge Erkenntnis von nichts anderem ab als der funktionellen Beschaffenheit der Gesellschaft, so könnte heute wahrscheinlich die berühmte Putzfrau recht wohl das Getriebe verstehen. Objektiv produziert ist vielmehr die subjektive Beschaffenheit, welche die objektiv mögliche Einsicht unmöglich macht." (1) Ein Großteil subjektiv ehrlicher Skepsis gegenüber der modernen Welt verbirgt sich gerade in den Reihen der Erzieher heute noch in den Vorstellungen ehemaliger Kulturkritik, die schon einmal dazu beigetragen hat, in Deutschland eine demokratische Gesellschaft ideologisch sturmreif zu schießen. Auch das Vokabular ist erhalten geblieben. Es reicht vom vernunftlosen Gerede über die "Masse" bis zur negativ bewerteten "Massendemokratie". Dieser Begriff schlägt leicht in die Deutung um, als sei Demokratie "nur" etwas für die "Massen" und es sei infolgedessen honoriger, sich dieser Gesellschaftsform gegenüber bestenfalls loyal, aber ohne Engagement zu verhalten. Derartige "geheime Vorbehalte" innerhalb der politischen Bildung sind aber nicht weniger bedenklich als die "Flucht nach vorn", wie sie im Antikommunismus und in der "wissenschaftlichen Ostkunde" zu Tage treten. Die Befürchtung, die gegenwärtige Jugend sei potentiell anfällig für das einheitliche Ideengebäude des Kommunismus, ist eine Selbstprojektion von Menschen, die ihren eigenen "Hunger nach Ideologien" für etwas dem Menschen schlechthin Immanentes ausgeben.
So erweist sich letztlich das Dilemma der "Ostarbeit" in der politischen Bildung als Teil eines viel allgemeineren: Es handelt sich um dasselbe Phänomen der "inneren Emigration" aus der konkreten Gesellschaft, wie es das Auflösen von Politik in Geschichte, Kulturgeschichte, Sozialkunde oder gar das bloße Praktizieren von "Gemeinschaft" widerspiegelt. Dies Problem, das nachgerade schon der Tiefenpsychologie zugeordnet werden muß, ist durch keine Patentlösung zu entwirren. Wer politische Bildung betreiben will, ohne seinen politischen (nicht ideologischen!) Standort hinreichend rationalisiert ins Spiel zu bringen, wird immer Ersatzfelder finden, die ihn dieser Pflicht entheben. Dann aber kann man nur dem Instinkt derjenigen Jugendlichen zustimmen, die auf ein so unverbindliches Angebot mit Desinteresse antworten; denn ohne ein Minimum an wenn auch kritischem Optimismus gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer zukünftigen Chancen kann politische Bildung glaubhaft nicht betrieben werden.

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Anmerkungen:

(1) Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung, DER MONAT 1959, Heft 132, S. 41
 

 

 

9. Erziehung als Organisation (1960)

(In: West-Ost-Berichte, Heft 7-8/1960, S. 333-336)
 

 "Die feste Ordnung an der Schule entwickelt das Verantwortungsbewußtsein der Schüler und gewöhnt sie frühzeitig daran, sich die Normen des sozialistischen Gemeinschaftslebens zu eigen zu machen und nach ihnen zu leben."
(Aus der "Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den allgemeinbildenden Schulen" vom 12. November 1959.)

Die mit der Einführung des "Unterrichtstages in der Produktion" begonnene Umwälzung des sowjetzonalen`Schulwesens ist mit der oben genannten Verordnung einen wichtigen Schritt weitergetrieben worden (1). Eine der Hauptschwierigkeiten, die einer erfolgreichen Durchführung dieser Reform im Wege stehen, ist in der Gefahr einer unterrichtlichen Überforderung der Schüler gegeben, die zu einem Absinken des Niveaus der "zehnjährigen polytechnischen Oberschule" führen kann. Dies umso mehr, als die staatliche Inanspruchnahme über die schulische Erfassung weit hinaus geht und auch große Teile der freien Zeit erfaßt, in der sich die "gesellschaftlichen Organisationen" des jungen Menschen zu bemächtigen suchen. Dabei kommt es in der Praxis zu merkwürdigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Schule, Elternhaus und Jugendverband, die einer  einheitlichen und gezielten erzieherischen Erfassung des Jugendlichen hinderlich im  Wege stehen und den Erfolg der polytechnischen Oberschule entscheidend gefährden.

Diesen Mißständen sucht die Verordnung vom 12. November 1959 dadurch abzuhelfen, daß sie der Schule die Aufgabe zuweist, auch die außerschulischen Bereiche in die gesamte Erziehungsarbeit einzubeziehen. Damit bekommt der Schulleiter eine bedeutende  Stellung im Gefüge der Erziehung. Er "hat die Schule nach dem Prinzip der Einzelleitung auf der Grundlage kollektiver Beratungen zu leiten. Er stützt sich auf den Pädagogischen Rat, den Elternbeirat, den polytechnischen Beirat des Betriebes, die Schulgewerkschaftsgruppe und die Leitungen der FDJ und der Pionierorganisation "Ernst Thälmann". Er muß die Hilfe der Bevölkerung organisieren und sie in die Lösung der Aufgaben einbeziehen". Deren Kritiken und Vorschläge muß er "beachten, sorgfältig auswerten und beantworten".

Als "fester Bestandteil der Schule" wird ein von einem Lehrer geleiteter Schulhort für jede Schule eingerichtet, der "den Schülern beim Lernen... helfen und sie in einer sinnvollen Freizeitgestaltung erzieherisch... betreuen" soll. Außerschulische Veranstaltungen dürfen erst zwei Stunden nach Ende der schulischen stattfinden. Im Konfliktfalle entscheidet der Direktor, der auch für den Schulhort verantwortlich ist und die Lehrer  seines Kollegiums dort einsetzt. Er ist Vorsitzender des Pädagogischen Rates, der zusammengesetzt ist aus den Mitgliedern des Kollegiums, dem Vorsitzenden des Elternbeirates und vom Direktor berufener Betreuer aus den jeder Schule zugewiesenen "Patenbetrieben", an denen der "Unterrichtstag" stattfindet. Ähnlich autoritär ist die Stellung des Klassenleiters gegenüber den übrigen in seiner Klasse unterrichtenden Lehrern.
"Er kontrolliert, wie die in seiner Klasse unterrichtenden Lehrer die Lehrpläne erfüllen. Er ist berechtigt und verpflichtet, bei Nichterfüllung der Aufgaben in der Bildungs- und Erziehungsarbeit durch die Fachlehrer Maßnahmen zur Durchsetzung der Lehrplanan-

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forderungen und zur Sicherung der festgelegten Ordnung zu ergreifen und informiert darüber den Direktor oder Schulleiter; er überzeugt sich von den Unterrichtsvorbereitungen und von der Qualität des Unterrichts der Lehrer in seiner Klasse. Er ist berechtigt und verpflichtet, zur Förderung zurückbleibender Schüler den Fachlehrern und Erziehern im Schulhort und Internat Hinweise zu geben und Forderungen zu stellen..." Die pädagogische Verantwortlichkeit für den "Unterrichtstag" liegt letztlich ebenfalls in der Hand des Direktors. Beratend unterstützt ihn dabei der "Polytechnische Beirat", dem Vertreter der Betriebsleitung, der Gewerkschaft, die FDJ, "erfahrene Arbeiter, Meister und Ingenieure", der Betriebsarzt sowie Lehrmeister und Lehrer der Betriebsberufsschule angehören. Das Verhältnis des Betriebes zur Schule wird folgendermaßen festgelegt:

"Die Leiter der Betriebe sind für die planmäßige und kontinuierliche Durchführung der Grundlehrgänge und des Unterrichtsfaches 'Einführung in die sozialistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft' in ihrem Betrieb verantwortlich. Sie sollen erfahrene Arbeiter, Meister und Ingenieure als Betreuer der Schüler einsetzen und deren fachliche und im Zusammenwirken mit der Schule deren pädagogische Qualifikation fördern.

Die Leiter der Betriebe haben für den Unterrichtstag in der Produktion ständig Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen oder Lehrabteilungen mit den erforderlichen Ausrüstungen einzurichten und die notwendigen Werkstoffe und Arbeitsgeräte bereitzustellen. Der Unterrichtstag in der Produktion darf nicht früher als der sonstige lehrplanmäßige Unterricht der Klasse beginnen.

Die Leiter der Betriebe sind außerdem verpflichtet, die Schulen bei der Schaffung und Instandsetzung von Unterrichtsräumen und Lehrmitteln, bei der Ausrüstung der Kabinette und Lehrmittelsammlungen und bei der Ausstattung mit Sportgeräten wirksam zu unterstützen. Sie sollen zur Ausrüstung der Schulhorte und Internate beitragen und betriebliche Einrichtungen für die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaften zur Verfügung stellen.

Es ist anzustreben, daß die Verpflichtungen der Leiter der Betriebe in die Betriebskollektivverträge aufgenommen werden."

Den Eltern wird selbstverständlich keinerlei Einfluß auf die inhaltliche Gestaltung der Erziehung eingeräumt, lediglich an der Verwirklichung der vorgegebenen Konzeption sollen sie beteiligt werden. "Die Direktoren oder Schulleiter und die Klassenleiter haben alle wichtigen Maßnahmen zur Sicherung der Planmäßigkeit und Stetigkeit des Bildungs- und Erziehungsprozesses und einer festen Ordnung mit den Elternbeiräten und Elternaktivs zu beraten und mit ihnen bei der Verwirklichung dieser Maßnahmen und der Durchführung der gemeinsamen Beschlüsse eng zusammenzuarbeiten."

Die Schüler "sollen sich aktiv am Leben der Schule beteiligen", was, da andererseits die autoritäre Stellung des Lehrers gleichzeitig unterstrichen wird, eine wohlwollende Umschreibung für "sich fügen" ist. Ein eigenständiger, von der Beauftragung durch die Lehrer unabhängiger Aufgabenkreis wird ihnen nicht gewährt.

"Den Schülern können durch Lehrer und Erzieher besondere, ihren Fähigkeiten entsprechende Aufträge erteilt werden, die geeignet sind, die Selbständigkeit, Selbsttätigkeit und Mitverantwortung der Schüler besonders zu entwickeln. Solche Aufträge können zum Inhalt haben:
Hilfe für die schwachen und jüngeren Schüler,
Mithilfe bei der Pausenaufsicht, Selbstbedienung im Speiseraum,
Ausgestaltung der Klassen- und Horträume, Pflege der Lehrmittel und des Beschäftigungsmaterials,

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Mithilfe bei der Reinigung der Räume, besonders in Schulhorten, und der Wohnräume in Internaten."

Das Verhältnis von staatlicher Macht, - repräsentiert durch den Direktor -  und Bevölkerung - repräsentiert durch die verschiedenen Kollektive und "Beiräte" - , ist geradezu ein Musterbeispiel kommunistischer Gesellschaftsorganisation. Auf der einen Seite dienen diese in der Regel berufenen Beiräte dazu, als "Transmissionsriemen" des staatlichen Willens nach unten zu wirken. Die staatliche Konzeption der "Polytechnischen Bildung" soll auf diese Weise bis zu allen Eltern gelangen. "Mithilfe der Bevölkerung" heißt ihre Gewinnung für die staatliche, ihnen diskussionslos vorgegebene Konzeption. Die sich personell überschneidenden Beiräte in der Hand und unter der Leitung des Schulleiters reichen in alle Daseinsbereiche des jungen Menschen hinein und ermöglichen so einen einheitlichen erzieherischen Zugriff, eine zielbewußte Koordination der verschiedenen Erziehungsmaßnahmen, nicht nur der intendierten, sondern auch der funktionalen. Auf der anderen Seite aber sollen die Beiräte und damit wenigstens ein Teil der Bevölkerung initiativ werden mit Vorschlägen zur Ausführung. An dieser Stelle wird der Kern des kommunistischen "Demokratiebegriffes" sichtbar: Er meint die möglichst selbständige Mitarbeit der Bevölkerung an der Ausführung der ohne ihre Mitwirkung von oben diktierten Grundsätze und unterscheidet sich insofern nachdrücklich von der nationalsozialistischen Gesellschaftsvorstellung, deren einseitigem Führer-Gefolgschaftsmodell der Einbau derart "demokratischer" Elemente prinzipiell fremd bleiben mußte. Gerade solche demokratischen Rudimente tragen nicht unerheblich zur inneren Stabilisierung bei und machen das kommunistische Regime von vornherein erfolgreicher als das faschistische. Damit aber geraten politisch bewußte Eltern auch in einen viel schwierigeren Konflikt. Können sie sich einer an sich vernünftigen und sinnvollen Mitbeteiligung an der Gestaltung des unmittelbaren Lebenshorizontes ihrer Kinder entziehen, der ja in der Regel die Grenzen von Schule, Elternhaus und Betrieb nicht überschreitet, wenn es sich um an sich evidente Fragen handelt wie Verbesserung des schulischen Äußeren, Beachtung der Jugendschutz- und -gesundheitsbestimmungen oder das Mitkommen in der Schule? Dienen sie aber auf der anderen Seite damit objektiv nicht auch dem, was sie möglicherweise nicht wünschen: der erfolgreichen Durchsetzung des kommunistischen Erziehungsplanes? In dieser Dialektik liegt ein Gewissenskonflikt beschlossen, den wir zu sehr zu ignorieren geneigt sind.

An der organisatorischen Neustrukturierung der Erziehung in der SBZ ist auch eine historische Seite von Interesse, die ebenfalls ein besonderes Licht auf die kommunistische Theorie im allgemeinen wirft. Es ist in der Geschichte der kommunistischen Schulpolitik durchaus nicht selbstverständlich, daß gerade den Lehrern und Erziehern derart viel staatliche Autorität zugestanden wird. Früher, etwa in der Weimarer Republik, war die Schulpolitik der KPD von einer ausgesprochenen Lehrerfeindlichkeit getragen. Kindergruppen, Jugendgruppen und Elternräte bekamen die Aufgabe, Obstruktion zu betreiben gegen die Lehrerschaft, als Ziel wurde Wahl oder mindestens Kontrolle der Lehrer durch die Bevölkerung gefordert. (Etwa durch unangemeldeten Besuch des Unterrichts). Heute dagegen darf eine Störung schulischer Veranstaltungen nur mit ausdrücklicher ministerieller Genehmigung erfolgen, die die Jugendlichen erfassenden "gesellschaftlichen Organisationen", einst vorrangig, sind der Schule bewußt untergeordnet. In dieser Verschiebung zeigt sich nicht nur die Relativierung kommunistischer Zielsetzung überhaupt (Strategie und Taktik), sondern auch ein größeres innenpolitisches Selbstbewußtsein des Regimes, das die "Säuberungen" innerhalb der Lehrerschaft offensichtlich für erfolgreich beendet hält und mindestens über eine genügende Anzahl parteitreuer Direktoren zu verfügen meint.

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Abgesehen von diesen politisch-historischen Dimensionen bleibt erzieherisch an dieser neuen "Schulordnung" charakteristisch, daß neben die fachliche Integration, von der andernorts ausführlicher die Rede war (2), nun auch die organisatorische Integration der pädagogischen Kräfte und Einflüsse getreten ist: ein Beweis dafür, wie ernst die SED ihre Schulreform nimmt und wie große politische Hoffnungen sie daran knüpft.
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Anmerkungen:
(1) Verordnung über die Sicherung einer festen Ordnung an den allgemeinbildenden Schulen (Schulordnung}", = Beilage zur Deutschen Lehrerzeitung Nr. 47/1959. Die Zitate dieses Artikels sind dieser Verordnung entnommen.

(2) Vgl. H. Giesecke: Marxismus als Unterrichtsprinzip. in: West-Ost-Berichte, H. 9/1959. (In diesem Band unter Nr. 6, H. G.) 

 

 10. Zur Geschichte des Antisemitismus (1960)

(In: West-Ost-Berichte, H. 9-10/1960, S. 429-434)
 

 Das Wort Antisemitismus taucht Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch auf. Schon der Begriff ist so unscharf wie das Sammelsurium wilder Gedanken, die seitdem unter ihm subsumiert werden. Er meinte von Anfang an - wiewohl rassisch-biologisch verstanden - keineswegs die ganze Rasse der Semiten, sondern unter ihnen ausschließlich die Juden. Zwar sind Judenhaß und Judenausschreitungen so alt wie die europäische Geschichte selbst, aber dennoch hat es seinen Sinn, die moderne Form der Judenfeindschaft deutlich abzusetzen von der überlieferten, mögen sich die Erscheinungen im einzelnen auch noch so sehr gleichen. Es hieße einer wirren Geschichtsmetaphysik verfallen, sich darüber hinaus mit dem Hinweis auf die offensichtliche historische Mächtigkeit des zu Unrecht Vertretenen beruhigen und seine Wiederholung damit insgeheim fördern, wollte man auf eine derartige Differenzierung verzichten. Unsinn wird durch eine jahrhundertelange Ahnentafel nicht richtiger. "Es war schon immer so", heißt auch: "Ich ändere es nicht". - Waren die Antworten der Antisemiten schon auf falsche Fragen gegeben, so kann eine historisch-politische Bewältigung nicht auf die Entlarvung solcher Fragen verzichten. Noch in der Vermutung, die Juden müßten an der Entfesselung des Hasses ihren Teil Schuld gehabt haben, wird der Irrtum bestätigt, den man gutwillig korrigieren will. Sie unterstellt, daß am Antisemitismus nur das Ausmaß zu beklagen sei. Es handelt sich aber beim modernen Antisemitismus um eine spezifische Wirklichkeitsfremdheit, die fiktive gesellschaftliche Antinomien an die Stelle der tatsächlichen setzt, letztere ignoriert und sie gerade dadurch bestätigt.
Damit ist ausgesprochen, daß er untrennbar verbunden ist mit den sozialen Umschichtungsprozessen der industriellen Gesellschaft. Er begleitet insbesondere das Schicksal der Schicht, der die industrielle Gesellschaft über weite Strecken den gnadenlosen Kampf angesagt hatte: des Mittelstandes.

Gerade unter diesem Aspekt sind in den letzten Jahren grundsätzliche Untersuchungen angestellt worden, deren wichtigste im folgenden kurz skizziert werden sollen. Den Übergang von der mittelalterlichen zur industriellen Epoche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts greift das Buch von

ELEONORE STERLING: Er ist wie Du - Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland (1815 - 1850); Chr. Kaiser Verlag, München 1956; 235 S., 9,80 DM;

heraus. Es stützt sich nur zum Teil auf die Zeugnisse der "großen Literatur", insbesondere aber auf die Meinungen unzähliger Tagesschriftsteller, auf umfangreiche zeitgenössische Flugschriften- und Zeitschriftenliteratur und vor allem auf die Berichte und Petitionen der verschiedenen Stände. Dieses Material gibt das Bewußtsein breitester Schichten ungleich genauer wieder, als die zwar kultivierteren, aber vergleichsweise esoterischen literarischen Zeugnisse der in die Geistesgeschichte eingegangenen Autoren. Dabei wird nicht nur das Judenverständnis dieser Schichten erfaßt, sondern ihr gesellschaftliches Bewußtsein überhaupt, das sich des mittelalterlichen christlich-jüdischen Gegensatzes bis in die Begrifflichkeit hinein bedient, als seinen Trägern durch die Konkurrenzwirtschaft die gerade durch die feudale Gesellschaft garantierten Besitztümer

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und der persönliche Schutz entrissen werden; subjektive Religiosität und "Interessenideologie" gehen eine kaum zu unterscheidende Verbindung ein. - Auf der anderen Seite geht die Verf. auf die Entwicklung des Judentums in dieser Zeit ein, seine theologische Liberalisierung, die die rechtliche Emanzipation begleitete - seine tatsächliche, oft maßlos überschätzte Stellung in Wirtschaft und Politik - , aber auch seine besondere Affinität für die Chancen der aufsteigenden Gesellschaft. Ausführlichen Raum widmet St. auch der Entwicklung der protestantischen Theologie und ihres Verhältnisses zur jüdischen. Ansätze eines sich anbahnenden Ausgleichs werden überrollt durch die Verschmelzung von christlichem Judenhaß und "Germanomanie" zur politisch-gesellschaftlichen Allianz all der konservativen Kräfte, die sich zum gemeinsamen Kampf gegen die moderne Gesellschaft verbündeten. Ihnen wurde der Jude zum "Symbol der neuen Gesellschaft" (S. 29).

Eine ungefähre chronologische Fortsetzung des ausgezeichneten Buches von Sterling ist

PAUL W. MASSING: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus; Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 8; Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1959; 287 S., 24, - DM.

Massing untersucht den deutschen Antisemitismus von der Reichsgründung bis zum Vorabend des 1. Weltkrieges, ohne allerdings wie Sterling auf die gleichzeitige Entwicklung des Judentums im einzelnen einzugehen. Dieser Verzicht erhält seine Berechtigung dadurch, daß inzwischen der Judenhaß von seinen konkreten Objekten sich soweit entfernt hat, daß er mit ihnen kaum noch etwas zu tun hat, wird aber zweifellos gerade in den Kreisen auf Skepsis stoßen, die einer solch scharfsinnigen historisch-soziologischen Analyse sich verweigern, wenn sie es ablehnt, falschen Fragen und Antworten sich "verstehend" zu nähern und ihnen dadurch ein unzulässiges Gewicht zu verleihen. - M. destilliert zwei verschiedene, aber innerlich zusammenhängende Formen des Antisemitismus heraus: sein spontanes und sein manipuliertes Moment.

Das vorhandene Ressentiment wurde manipuliert durch konservative Politiker, die selbst keineswegs Antisemiten waren, so daß (in Preußen) Auf- und Abschwellen der antisemitischen Welle koinzidiert mit innenpolitischen Machtverschiebungen; so etwa als 1875 sich die konservative "Kreuzzeitung" und die "Germania" des Zentrums antijüdisch-antiliberaler Parolen bedienten und auf dieser Ebene Bismarcks Wechsel von den Liberalen zu den protestantisch-katholischen Konservativen vorbereiteten. Bismarck selbst unterstützte nach 1879 den Antisemitismus des ihm im übrigen unangenehmen Hofprediger Stöcker um seines Kampfes gegen die Liberalen willen. Solch manipulierten Judenfeindschaften widmet M. ausführliche Einzelanalysen. Über Bismarck kommt er in diesem Zusammenhang zu dem Schluß: "Bismarck muß als der erste große Manipulator des Antisemitismus in Deutschland betrachtet werden, und zwar gerade deswegen, weil er weder rassische noch religiöse Vorurteile gegen Juden hatte und die Juden als solche gar nicht sein Ziel waren" (S. 47). - Aber die Manipulation schuf den Antisemitismus nicht. Gegen Ende des Jahrhunderts machten sich "die Geister, die man rief" selbständig, traten als "Radauantisemitismus" über die den Konservativen genehmen Ufer und zwangen den "Antisemitismus der feinen Leute" in ihre Bahnen. In die teils spontane, teils manipulierte Welle des Judenhasses gerieten wenigstens zeitweise alle Schichten des Volkes, mit Ausnahme der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft, die, im Besitz der marxistischen Wahrheit, voller Verachtung auf sein Treiben herabsahen, allerdings auch nichts unternahmen, ihm zu begegnen, - etwa durch eine Gewinnung der Mittelschichten als solcher, anstatt ihrer Behandlung als determinierte Proletarier. Erst die wirtschaftliche Stabilisierung zu Beginn des neuen Jahrhunderts ließ die antisemitische

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Welle abklingen, allerdings nicht überwinden, wie sich sehr bald nach dem Kriege herausstellen sollte.

Der besondere Wert des Buches von M. besteht neben der exakten Behandlung des Hauptthemas in der Darstellung der innenpolitischen Schwierigkeiten des Bismarckreiches, deren Behandlung im Geschichtsunterricht bis auf den heutigen Tag noch zugunsten der außenpolitischen Entwicklung gröblich vernachlässigt wird.

Eine besondere Stellung im Zusammenhang der einschlägigen Literatur nimmt das Kapitel über Antisemitismus in

HANNAH ARENDT: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft; Europäische Verlagsanstalt Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1957,

ein. Es ist das besondere Verdienst der Verf., auf Aspekte des Problems hingewiesen zu haben, die von den anderen Autoren mehr oder weniger vernachlässigt werden. So weist sie mit Nachdruck auf den europäischen Charakter der Judenfrage hin und untersucht insbesondere die ökonomische Rolle der sogenannten "Ausnahmejuden". Letztere leiten sich nach A. von den "Hofjuden" der absoluten Fürsten her, die immer wieder nach einer finanziellen Stabilisierung des Staates Umschau hielten und sie dadurch erreichten, daß sie, da das aufsteigende Bürgertum eine finanzielle Beteiligung an staatlichen Unternehmungen verweigerte, die reichen Juden als Finanziers an ihren Hof banden, mit Privilegien ausstatteten, aber auch verhinderten, daß sie wie das Bürgertum im gesellschaftlichen Raum (Industrialisierung usw.) sich engagierten. Andererseits hätten die jüdischen Gemeinden sich dieser "Hofjuden" bedient, um auf diese Weise, durch den direkten Draht zu Hof, Erleichterungen zu erhalten, was wiederum die "Ausnahmejuden" in eine Vormachtstellung gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern gebracht und die tradierte jüdische Gemeindestruktur unterhöhlt habe. So siedelt die Verf. das Antisemitismusproblem im Widerspruch von Staat und Gesellschaft an: Die Juden, aus der gesellschaftlichen Klassenstruktur planmäßig ausgeklammert, seien die einzigen finanziellen Träger des monarchischen Staates gewesen und insofern das Haßobjekt aller Kräfte, die staatsfeindlich gesinnt waren. Da diese reichen Juden nun einerseits sich entfremdeten von den ärmeren jüdischen Mitbürgern, andererseits ihnen die Assimilation in der nationalen Gesellschaft verweigert wurde, sei ihr gesellschaftliches Feld das internationale Ausnahmejudentum geworden, das von den Herrschern in politischen Missionen, so gut wie nie aber von ihm selbst zur politischen Initiative benutzt worden sei.

Wir müssen uns an dieser Stelle mit der historischen Ausgangsposition, wie sie A. gibt, begnügen. A. unternimmt die erste zusammenfassende neuere Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Judenfrage. Es bleibt aber die Frage, ob die vorliegenden Detailuntersuchungen eine solche globale Sicht schon zulassen. Die bestechende Logik dieses Kapitels kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß kaum eine These ausreichend im einzelnen belegt wird. Vieles muß also fragwürdig bleiben: Haben die Antisemiten des 19. Jahrhunderts die ökonomische Rolle der Juden so gesehen wie die Verfasserin? Gerade die Untersuchung von Sterling widerspricht dem entschieden. Ist die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, auf der alle Ausführungen wesentlich beruhen, in der historischen Wirklichkeit so streng durchzuhalten, wie die Verf. sie postuliert? Kann man die völkischen antisemitischen Gruppen tatsächlich als antinationalistisch bezeichnen, nur weil sie ihren Judenhaß auf internationalen Kongressen zum Ausdruck brachten, und somit einen Gegensatz von Nationalismus und Antisemitismus konstruieren? (S. 6f.) - Derlei eigenwillige Interpretationen lassen an manchen Stellen zur Vorsicht raten. Manchen Behauptungen stehen die Einzeluntersuchungen von Massing und Sterling entschieden entgegen.

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Nimmt man die Deutungen der Verf. als Forschungshypothesen, wird man das brillant geschriebene Kapitel gerade wegen der bisher in den anderen Darstellungen noch fehlenden Aspekte (Hofjudentum, europäischer Charakter der Judenfrage, Analyse der Dreyfuß-Affaire und mancher Exkurse wie den über den Aufstieg Disraelis und die Geschichte der Rothschilds) mit Gewinn und Genuß lesen. Es empfiehlt sich allerdings, zur Ergänzung wenigstens eine der anderen Untersuchungen hinzuzuziehen.

Einzeluntersuchungen über den Antisemitismus in der Weimarer Republik fehlen noch, Hier ist man auf vereinzelte Zeitschriftenaufsätze angewiesen. Sehr viel genauer hingegen ist uns die Judenpolitik des Dritten Reiches bekannt. Ihrem Endstadium, der "Endlösung", ist das Buch des Engländers

GERALD REITLINGER: Die Endlösung; Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939 bis 1945; Colloquium-Verlag Berlin, 3. Aufl. 1960. 698 S.,  24,80 DM.

gewidmet. R. hat alle erreichbaren Quellen herangezogen, die Berichte Überlebender, die Zeugenaussagen der an den Kriegsverbrecherprozessen Beteiligten und die Archive des Dritten Reiches. Er zeichnet die Intrigen und die für den NS-Staat so charakteristischen Kompetenzstreitigkeiten sowie die Schwierigkeiten nach, die positiv oder negativ in den einzelnen Ländern Einfluß auf das Ausmaß der "Endlösung" hatten und gibt auch sehr verläßliche Zahlen über das Ausmaß der Vernichtung. Schließlich versucht er mit viel Einfühlungsvermögen Charakteristiken der Akteure. Über Himmler meint er z. B.: " ... Himmler war so durch und durch deutsch und Mittelklasse, daß er all die Fehler und Vorzüge eines Deutschen aus der Mittelklasse in sich vereinigte. Weit mehr als Hitler verkörperte er den Durchschnittsmann, von dem immer noch angenommen wird, daß er der Herrscher dieses unglückseligen Jahrhunderts sei. Himmler konnte daher weder lügen, noch seiner Einbildungskraft freien Lauf lassen, ohne sich lächerlich zu machen. Selbst fähig, die meisten Dinge, die er glauben wollte, zu glauben, erwartete er nicht, daß sie die Leichtgläubigkeit anderer auf die Probe stellen könnten - und dies ist eine Schwäche, an welcher die Deutschen vielleicht mehr leiden als andere Völker" (S. 544).

Daß die geplante Totalvernichtung des Judentums nicht ganz durchgeführt werden konnte, lag wesentlich daran, daß selbst die perfekteste Verwaltungsmaschinerie an der Unzulänglichkeit der Menschen scheitert: "Wieviel schlimmer wäre es gewesen, wenn die Franzosen nicht unbeständig, die Italiener nicht nachlässig, die Ungarn nicht eifersüchtig, die Rumänen nicht bestechlich und die Deutschen selbst nicht solche Sklaven des Protokolls gewesen wären" (555).

Ein Verzeichnis der Nachkriegsschicksale der für die "Endlösung" Verantwortlichen, eine umfangreiche Bibliographie, Personen- und Ortsregister machen das Werk zu einem unersetzbaren Handbuch über diesen grausigen Gegenstand, das nach dem Stand unseres Wissens die dunkelste Episode der neuesten Geschichte ins Bewußtsein bringt, "die als eines der größten Rätsel unserer Zeit betrachtet werden muß".

Diesem "Rätsel" sucht das letzte in unserem Zusammenhang zu nennende Buch beizukommen:

EVA G. REICHMANN: Flucht in den Haß - Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe; Europäische Verlagsanstalt Frankfurt (1956), 324 S., 9,80 DM.

Die Verf., früher Mitarbeiterin des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und bis 1938 Leiterin der Berliner Monatszeitschrift "Der Morgen", ist selbst eines der Opfer, über deren Peiniger sie schreibt. Erst wenn man bedenkt, welche Distanzierung es kostet, solches

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Schicksal in wissenschaftliche Objektivierung zu verwandeln, kann man den Wert dieser Arbeit ermessen. Rs. Buch hat diese Objektivierung nicht nur in bewundernswerter Weise geleistet (wenn die Analyse auch nicht "voraussetzungslos" sein kann; S. 18), es ist darüber hinaus zu einer der besten historisch-soziologischen Interpretationen des Nationalsozialismus selbst geworden. Es gibt keineswegs eine "Geschichte des Antisemitismus", sondern setzt die Fakten insbesondere der Judenpolitik Hitlers als bekannt voraus und befaßt sich im wesentlichen mit ihrer soziologisch-psychologischen Analyse bis zum Jahre 1933. R. sieht dabei den modernen Antisemitismus als einen "Sonderfall der Gruppenspannung" in der Konkurrenzgesellschaft, unterscheidet zwischen einer "echten", aus den Problemen der Emanzipation erwachsenen Judenfrage und der "unechten", aus sekundärer Rationalisierung erwachsenen.

Damit stellt sie das Problem in ein ganzes Feld von Entwicklungsfaktoren, die teils einander ergänzen, teils einander behindern: "Die Konkurrenzwirtschaft als Brutstätte kollektiver Unzufriedenheit" (S. 73); der Wertverfall; die Romantik und ihre Fortwirkung; die Bevölkerungsvermehrung und das Anwachsen des Kleinbürgertums; die Probleme der totalen Demokratisierung; die politischen Ideologien; die verspätete Industrialisierung in Deutschland; der Widerspruch von Staat und Gesellschaft in Preußen und die daraus resultierende Unsicherheit des Nationalbewußtseins - um nur einige zu nennen.

Man könnte Rs. Arbeit mit einigem Recht eine "Theorie" der deutschen innenpolitischen Geschichte aus soziologischer Sicht nennen: sie geht der für weite Strecken noch nicht geleisteten historischen Individuation voraus und macht sie so eigentlich erst möglich. Dabei blickt sie hoffnungsvoll auf die deutsch-jüdische Zusammenarbeit für die Zukunft, die durch den NS wohl unterbrochen, aber nicht zerstört sei, und spricht jenseits aller simplen Kollektivschuldthesen um so deutlichere Warnungen aus:
"Man wollte nicht morden - damals. Man war nur träge, gleichgültig, fahrlässig. Aber dann wurde gemordet. Trägheit, Gleichgültigkeit, Fahrlässigkeit hatten das Beil in die Hand des Henkers gleiten lassen. Schmachvolle Unterdrückung war das Los derer geworden, die in der Wahl ihrer 'Befreier' so schuldhaft geirrt hatten" (S. 9).

Kaum eine Einzelfrage der jüngsten deutschen Geschichte ist bisher so ausführlich untersucht worden wie die Geschichte des Antisemitismus. Es ist aber sicher kein Zufall, daß, von der Untersuchung von Sterling abgesehen, es sich hier um Übersetzungen ausländischer Arbeiten handelt. Das wird den nicht wundern, der weiß, wie wenig unsere Geisteswissenschaften dazu prädestiniert sind, wie schwierig es auch heute noch ist, die soziologische Analyse in unsere Geschichtswissenschaft sinnvoll einzubauen, die sicher nicht allein hinreichend klärt, ohne die es aber bei solchen Fragen zu schweren Fehlurteilen kommen muß. Es ist auch deshalb nicht verwunderlich, weil unser Volk die Neigung hat, diese Phase seiner Geschichte fruchtlos zu vergessen. Ihre "Bewältigung" wurde uns bisher durch Zufälle und durch unsere Gegner aufgezwungen. Wenn aber der Opfergang des jüdischen Volkes und aller anderen Opfer des Nazi-Regimes einen Sinn hat, dann den, daß er uns verpflichtet, seine Ursachen zu erforschen, nicht um unter uns die Schuld zu verteilen, sondern damit gerade durch unsere Wachsamkeit in Zukunft Barbarei verhindert werde Dazu gehört das Wissen um die konkreten Möglichkeiten moderner Barbarei. Sonst gilt möglicherweise für einen neuen Kollektivhaß mit einem neuen ideologischen Etikett, was Adorno (Massing S: VIII) zur Charakterisierung des Antisemitismus sagt: Er war "die kürzeste und ungefährlichste Art, von einer Lebensnot abzulenken, zu deren Beseitigung andere Mittel verfügbar wären".

Niemand aber wird noch sagen können, über das Schicksal des Judentums in

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Deutschland gäbe es noch keine wissenschaftliche, sondern nur propagandistische Literatur. Jeder, der sich ernsthaft um eine Klärung bemüht, kann unschwer an das Wissen herankommen, das er dazu braucht (1).

Anmerkungen:
(1) Zur Ergänzung sei hier noch auf einige leicht erreichbare, kürzere Schriften hingewiesen: Die Juden und wir - in der Schriftenreihe Wissen und Verantwortung, hrsg. vom Arbeitskreis für angewandte Anthropologie e.V. (Göttingen}, 2. Aufl. 1960, 80 S., DM 3,90. - Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 - 1945, hrsg. und kommentiert von W. Hofer. Fischer-Bücherei, 285 S., DM 3,30 (Abschnitt über Judenverfolgungen) - Die Zerstörung der deutschen Politik. Dokumente 1871 - 1933, hrsg. und kommentiert von Harry Pross. Fischer-Bücherei, 380 S., DM 3,30

 

 

 11. Das Politische in der politischen Bildung (1961)

(In: Neue Politische Literatur H. 9/1961, S. 797-803)
 

Kurt Gerhard Fischer - Karl Hermann - Hans Mahrenholz: Der politische Unterricht. 180 S., Verlag Dr. Max Gehlen, Bad Homburg - Berlin - Zürich 1960.

Wolfgang Hilligen: Sehen, Beurteilen, Handeln, Teil 2, = Lese- und Arbeitsbuch zur Politischen Bildung und Sozialkunde, Ausgabe A für das 7. - 10. Schuljahr, 310 S., Hirschgraben Verlag, Frankfurt a. M. 1960.

Die Literatur zur Theorie und Praxis der politischen Bildung ist inzwischen unübersehbar geworden. Der Praktiker steht hilflos dem Angebot gegenüber, das er allein nicht einmal mehr zur Kenntnis nehmen, geschweige denn beurteilen kann. Gibt die Vielzahl der Publikationen auch das große Interesse von Pädagogen. Politikwissenschaftlern und Journalisten wieder, so bleibt doch die Tatsache, daß eine Klärung im Grundsätzlichen wie Methodisch-Didaktischen bisher nicht erreicht wurde. Insbesondere über die Frage, wie das spezifisch Politische in der politischen Bildung zu seinem Recht kommen könne, gehen die Meinungen noch erheblich auseinander. Ohne Frage bietet die deutsche pädagogische Tradition hier kaum Anknüpfungspunkte. Sie war entweder festgelegt auf konservative "Ordnungsstandpunkte" oder führte im anderen Extrem der "Pädagogischen Bewegung" fast immer zu unpolitischen Formen. Vor allem durch Einflüsse der politischen und sozialen Wissenschaften bahnt sich hier in den letzten Jahren eine Änderung an. Eins der wenigen Bücher, die einerseits an die Wurzeln des Politischen herankommen und andererseits brauchbare Vorschläge für die Praxis des Unterrichts entwickeln, ist das nun anzuzeigende.

Es wurde, wie das Vorwort ausweist, von

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einem Team von Praktikern "aus berufsbildender Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung" geschrieben. Die Verf. setzen in einem I. Teil ("Aufgabe und Ziel der politischen Bildung") ihre Bestrebungen deutlich und temperamentvoll ab gegenüber anderen Formen, in denen sie mit Recht Verfälschungen des Politischen sehen. Sie wenden sich u. a. gegen die Überschätzung der Partnerschafts- und Mitbürgerbildung (" ... wo ein Staat auf partnerschaftlichen Lebensformen allein funktionierend beruht, haben wir es mit der Diktatur zu tun", S. 24); gegen den theoriefeindlichen Praktizismus ("Es ist nichts praktischer als eine gute Theorie", S. 8); gegen eine überhebliche Elitekonzeption (",Die Entscheidung über Bestand oder Verfall der modernen 'westlichen' Demokratie wird dort gefällt, wo darüber entschieden wird, ob das Wagnis mit der Vernunft der Mehrheit eingegangen wird oder nicht", S. 10); gegen den lehrhaften Enzyklopädismus und Spezialismus; gegen die maßlose Überschätzung der Möglichkeiten in der Schule ("Sie kann weder Neuordnungen in ihrem Raum vorformen, noch stellvertretend in pädagogischen Inseln vorbereiten", S. 21); schließlich gegen die einseitige Berufsgebundenheit und Berufsbezogenheit des üblichen Sozialkundeunterrichts. Nun sind derlei Kritiken nicht neu. Auch in anderen Grundsatzüberlegungen haben solche Einsichten an Raum gewonnen. So mag vordergründig scheinen, als liefen die Verf. mit ihren Angriffen häufig offene Türen ein. Wer aber wie sie die Praxis kennt, weiß, daß dort vielfach ganz andere Ideologien und Praktiken zu finden sind als in den führenden fachlichen Stellungnahmen. Ob allerdings die Verf. hier Klärung bringen können, muß offen bleiben; denn in dem Bemühen, möglichst alles Wichtige zur theoretischen Vertiefung zu sagen, stehen manche Einsichten recht aphoristisch nebeneinander, finden sich gelegentlich

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Banalitäten neben anderen Formulierungen, die schlechthin einmalig sind in der entsprechenden Nachkriegsliteratur. Vor allem enthält auf diese Weise manches einen polemischen Charakter, was lediglich allzu verkürzt gesagt ist. Deshalb wäre der Rat, den Umfang zu erweitern, sicher am Platz gewesen.

Ihre theoretischen Darlegungen, die Grundsätze des Politischen ebenso berücksichtigen wie unterrichtspraktische Gesichtspunkte (Zeitbeschränkung), gipfeln in der Formulierung von neun "Grundeinsichten", die alle oder teilweise aus jeder echten politischen Fragestellung gewonnen werden können. An deren Formulierung und Begründung dürfte sich der Meinungsstreit um dieses Buch vor allem entzünden, zumal so klare politische Stellungnahmen der politischen Pädagogik so ungewöhnlich wie notwendig sind:

"1. Ohne die Kulturschöpfung Staat ist menschliches Leben nicht denkbar, denn der Mensch ist nicht geschaffen, ein Einzeldasein zu führen.

2. Politik ist das Ringen um den Besitz von Macht, mittels derer ein bestimmtes Bild staatlicher Ordnung verwirklicht werden soll. Politik ist aber auch der Gebrauch der Macht zur Verwirklichung einer Ordnung.

3. Wer meint, in der Politik heilige der Zweck die Mittel, übersieht, daß der Wert einer Politik nie allein durch den Erfolg bestimmt wird, sondern ebenso durch den Preis, der dafür zu zahlen ist.

4. In der Gesellschaft von heute vermögen Einzelne und gesellschaftliche Intimgruppen nicht mehr, eine als gerecht empfundene Ordnung der Daseinsvorsorge herzustellen. Daher ist dem Staat zu seiner herkömmlichen Aufgabe der Ordnung des Daseins die der Ordnung der Daseinsvorsorge zugefallen.

5. Zur politischen Willensbildung und zur

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Verwirklichung des Gewollten bedarf es ständiger Integration vieler unterschiedlicher Interessen innerhalb von Verbänden, innerhalb der Parteien und im Parlament.

6. Menschliches Freiheitsstreben richtet sich auf Autonomie in der Entscheidung für Werte und bei ihrer Verwirklichung. Demokratie ist diejenige Herrschaftsform, die individuelle und Gruppeninteressen am wenigstens einschränkt und damit am wirksamsten den Mißbrauch staatlicher Macht hindert. Deshalb ist Demokratie das 'geringere Übel.

7. Die Erhaltung demokratischer Freiheit ist weitgehend eine Frage der politischen Bildung aller Bürger. Politischer Einsicht muß politisches Tun folgen Denn jedermann ist vom Politischen betroffen. Auch der Unpolitische hat sich politisch entschieden.

8. In der Politik gibt es verschiedene Meinungen Die 'richtige' Meinung gibt es nicht.
Darum geht es politisch immer um 'besser oder schlechter', niemals um 'gut oder schlecht'!

9. Die Alternative zur schlecht funktionierenden Demokratie heißt nicht Diktatur, sondern besser funktionierende Demokratie" (S. 28 f.).

Im folgenden werden die einzelnen "Grundeinsichten" ausführlich paraphrasiert, wobei - ein guter methodischer Einfall! - am Rand in Stichworten auf historische und sonstige Stoffzusammenhänge verwiesen wird Da der Lehrer dabei nirgends stofflich festgelegt wird, vielmehr je nach der Situation seines Unterrichts davon Gebrauch machen kann, bieten ihm diese stichwortartigen Hinweise eine Fülle phantasievoller Arbeitsmöglichkeiten.

 Es wäre müßig, mit den Verf. darüber zu rechten, ob ihre neun Thesen vollständig sind oder nicht. Sie verstehen ihre Vorschläge als Beispiele. Wichtig ist ihnen die

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vorgelegte Methode, durch "politisches Philosophieren" zu Einsichten zu gelangen, die Politik und Moral, bezogen aufs konkrete individuelle und gesellschaftlich-staatliche Dasein, in eine lebensfähige Beziehung bringen. Im Vergleich dazu träfen kritische Anmerkungen zu einzelnen Formulierungen und Passagen nur Unwichtiges. Sie seien daher beschränkt auf die Bemerkung, daß an einzelnen Stellen der Stil leider unnötig kompliziert wird, z B.: "Politik ist die Konkurrenz verschiedener Ordnungsbilder unter Einsatz der zu Machtfaktoren gewordenen Qualitäten" (S. 42).

Diesem, "Die Praxis des Unterrichts" genannten ausgedehnten Mittelteil folgen abschließend acht Unterrichtsbeispiele, in denen die Verf. darlegen, wie sie selbst im Sinne der vorher aufgeschlüsselten Methoden und Absichten im Unterricht gearbeitet haben. Es handelt sich dabei um "Unterrichtsprojekte" von mehreren Schulstunden, die sowohl im schulischen wie auch außerschulischen Bereich praktizierbar sind. Obwohl ihre stofflichen Ausgangspunkte völlig verschieden sind, führen sie zu weitgehend übereinstimmenden "Grundeinsichten". Allerdings wird hier auch eine Gefahr deutlich, der die Verf. zwar entgehen, der aber allzu einfallslose Nachahmer verfallen könnten: Wenn die sachlichen Zusammenhänge, die den ",Grundeinsichten" vorausgehen, weniger ernst genommen werden als diese, wenn sie zum bloßen Mittel werden, dann führen die Anregungen folgerichtig zu einer Neuauflage der abstrakt moralischen Staatsbürgerbildung, die sie eingangs mit Recht ablehnen.

Von einer sehr ähnlichen Konzeption der politischen Bildung ist das "Lese- und Arbeitsbuch zur politischen Bildung und Sozialkunde" von W. Hilligen getragen. Es ist ebenfalls kein "Stoffbuch", das eine stoffliche Systematik ausbreitete, die

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ohnehin in den wenigen zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden gar nicht ausgeschöpft werden könnte. Die einzelnen, keineswegs sachlogisch aufeinander folgenden Kapitel behandeln alle wesentlichen Probleme, denen sich der Heranwachsende gegenüber sieht. Verweise auf benachbarte Problemstellungen in anderen Kapiteln ermöglichen dem Lehrer einen beliebigen Einstieg, der dann im "Schneeballsystem" ebenso beliebig verbreitert werden kann. Vorpolitische Lebensbereiche wie Schule und Familie werden in ihrer Bezogenheit mit politischen Strukturen gesehen. Die wichtigsten Erkenntnisse eines jeden Kapitels (die etwa den "Grundeinsichten" des o. g. Buches entsprechen) sind satztechnisch besonders hervorgehoben, wie überhaupt satztechnische und sonstige methodische Einfälle die Lektüre auch für den Erwachsenen zu einem echten Vergnügen machen.

Obwohl noch sehr viel Lobenswertes zur methodisch-didaktischen Anlage des Buches zu sagen wäre, ist an dieser Stelle seine politische Dimension interessanter. Denn politische Lehrbücher sind auch "Politische Literatur" Sie spiegeln möglicherweise weit besser das politische Selbstverständnis eines Volkes wider, als die doch immer nur auf einen engen Leserkreis beschränkte wissenschaftliche Literatur. Ideologiekritische Untersuchungen von Lehrbüchern sind in Deutschland ebenso erfolgversprechende wie noch unerledigte Aufgaben. Während die meisten politischen Lese- und Arbeitsbücher zweifellos vordemokratische oder bestenfalls unpolitische Vorstellungen verraten, ist das Buch von H. ein politisches und konsequent demokratisches zugleich: Es akzeptiert die Pluralität der Gesellschaft und der in ihr lebendigen Interessen und billigt ihnen politische Essentialität zu. Es weist warm und eindringlich auf Tugenden hin, derer der demokratische Gestaltungswille bedarf: Fairneß und Toleranz;

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es verzichtet aber darauf, gegen die Interessen nebulöse politische "Ganzheiten" zu mobilisieren Vor allem bringt es zum Ausdruck, daß "die Ordnung" nicht nur Subjekt des Individuums ist, sondern auch Objekt. Der demokratische Mensch dient nicht nur seiner Ordnung, er bedient sich ihrer zugleich! So wird, was Freiheit heißt, in H.s Buch an der jeweils konkreten Realität evident und setzt sich ohne wertenden Kommentar ab gegen die Beispiele aus der Realität zeitgenössischer Diktaturen, die ebenfalls ausgiebig Berücksichtigung finden. Überall, wo es die Sache zuläßt, werden gleichberechtigte Entscheidungsmöglichkeiten vorgelegt.(1) Beachtenswert ist auch, daß der Horizont dieses Buches die provinzielle Enge von "Berufsbezogenheit" und "Heimatkunde" weit übersteigt und bis zu den großen weltpolitischen Fragen unserer Zeit durchstößt, wobei sorgsam jede engstirnige "Kulturkritik" vermieden wird.

H. hat den Nachweis erbracht, daß auch der Sozialkundeunterricht politisch sachgerecht und dennoch lebendig gestaltet werden kann. Seine Arbeitsbücher und das erstgenannte Werk gehören zu den besten Schriften ihres Genres. Man möchte ihnen, sowie vor allem der in ihnen zum Ausdruck kommenden Konzeption weiteste Verbreitung wünschen.

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Anmerkungen:

(1) Der Verlag hat neben der besprochenen Ausgabe A noch eine für das 7. - 9. Schuljahr gedachte Ausgabe B herausgebracht, in der die Kapitel gekürzt sind, deren politische Problemstellungen der Altersstufe noch nicht angemessen sind. In diesem Sinne ist die Ausgabe A "politischer".

12. Demokratie in Amerika (1961)

(In: West-Ost-Berichte, H. 2-3/1961, S. 154-155)
 

 Ernst Fraenkel, zur Zeit Professor an der Freien Universität Berlin, hat in seiner Studie "Amerika im Spiegel deutschen politischen Denkens" (1) gezeigt, wie sich die Vorstellung der Deutschen über Amerika im Laufe der Geschichte entwickelt hat. Im vorliegenden Werk setzt er eine Information über die USA fort, indem er das

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amerikanische Regierungssystem im Vergleich zum deutschen darstellt. Dabei zeigt sich, daß wesentliche Vorgänge der politischen Willensbildung in den USA anders verlaufen als bei uns, ein Beweis dafür, wie wenig einheitlich "der Westen" in Wirklichkeit ist und wie groß die Spielräume der politischen Gestaltungsmöglichkeiten in den modernen Demokratien überhaupt sind. Gemeinsam ist ihnen allen der "Versuch, in einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft unter Verwendung rechtsstaatlicher Prinzipien mittels demokratischer Mehrheitsentscheidungen durch einen Appell an allgemein gültige Wertvorstellungen einen einheitlichen Staatswillen zu formen" (S. 12). Es tut gut, die eigene Verfassungswirklichkeit an der amerikanischen zu messen; denn was gut an ihr ist, was verbesserungswürdig, unterscheidet sich so leichter. Das Buch ist für den deutschen Leser geschrieben, der amerikanischen Darstellungen, gerade wenn sie übersetzt sind, mißverstehen muß, weil er sie mit den Maßstäben seines eigenen Regierungssystems und seiner eigenen politischen Tradition aufnimmt. In der ausführlichen Einleitung, in der die Methode der Darstellung beispielhaft begründet wird, weist der Verfasser u. a. darauf hin, daß sich schon die wesentlichen politischen Begriffe in beiden Systemen, obwohl sie immer synonym übersetzt werden, erheblich voneinander unterscheiden, weil sie eine jeweils verschiedene gefühlsmäßige Wertigkeit aufweisen.

Auch in diesem Werk verfolgt der Autor den eingestandenen Zweck, Vorurteile über die USA auszuräumen. Bei seinem wissenschaftlichen Rang ist es selbstverständlich, daß dabei auch die problematischen Seiten der amerikanischen Politik deutlich gesehen werden. Aber selbst der Leser, der keinerlei Vorurteile zu haben meint, entdeckt bei der Lektüre, wie sehr auch seine Vorstellungen von typischen Mißverständnissen geprägt sind. Eine solche gerade auch unter Gebildeten sehr häufige Fehldeutung verweist etwa auf die "Traditionslosigkeit" der amerikanischen Nation. Fraenkel stellt richtig, daß ein erhebliches Maß an institutioneller und bewußtseinsmäßiger Tradition ein wesentlicher Garant für den Zusammenhalt der pluralistischen amerikanischen Gesellschaft ist.

Nach der nicht mühelosen, aber fruchtbaren Lektüre des Buches mag der Leser zunächst verwirrt sein über die Kompliziertheit der politischen Willensbildung in den USA. Aber vielleicht wird er gerade darin mit Fraenkel eine wesentliche Bedingung der bürgerlichen Freiheiten sehen: "Die Verfassungsstruktur der Vereinigten Staaten von Amerika beruht auf der Erkenntnis, daß es das kennzeichnende Merkmal einer jeden Tyrannis ist, ein möglichst simples Regierungssystem zu errichten, und daß es das Kennzeichen eines jeden freiheitlichen Rechtsstaates ist, daß er - unter Ablehnung des Prinzips "Ein Führer, ein Volk, ein Reich" und der dieses Prinzip tragenden Ideologie - ein bewußt kompliziertes Regierungssystem errichtet." (S. 346). Ein umfangreiches Personen- und Sachregister machen das Buch zu einem politischen Handbuch über die USA. Ihre Verfassung ist dankenswerterweise im Anhang vollständig abgedruckt.

Ernst Fraenkel: Das amerikanische Regierungssystem. Westdeutscher Verlag Köln/Opladen, 1960, 400 S., 27,50 DM

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Anmerkungen:

(1) Vgl. meine Rezension in West-Ost-Berichte, H. 10/1959, in diesem Band wiedergegeben unter Nr. 5, H. G.


 

 13. Deutschlands Weg in die Diktatur (1961)

Probleme und Möglichkeiten zeitgeschichtlicher Tondokumente

(In: Neue Politische Literatur, H. 6/1961, S. 503-514)
 

Der Erzieher ist geneigt, auf jede neue politische "Dokumentation" mit gewissem Mißtrauen zu reagieren. Das öffentliche Ansehen des Wortes "Dokument" steht in einem zu mangelhaften Verhältnis zur Sache selbst, der kommerzielle Erfolg jedes "Dokumentar"-Berichtes in zu großem Widerspruch zum allgemeinen politischen Bewußtsein. Die Flut des Dokumentierens treibt, so muß man befürchten, die Ernsthaftigkeit aus dem Betrachter heraus und siedelt sie statt dessen im Dargestellten an. Auf diese Weise begibt er sich der Verpflichtung, zur Sache in ein aktives, fragendes Verhältnis zu treten. Verfügt er nicht über Erfahrung im Umgang mit dem Dokument und begreift somit seinen Sinn nicht, dann setzt er allzuleicht "dokumentarisch" gleich mit "richtig", "wahr", "fraglos", "erkannt". Kritik erscheint unsinnig gegenüber dem, was doch seinem ganzen Anschein nach stimmig sein muß. Das Tondokument scheint Wahrheit zu garantieren und Irrtum auszuschließen. Der Aberglaube jedoch an die Erkenntnis stiftende Wirkung des Originalen, des durch menschlichen Geist nicht Verfälschten wird auch dort nicht geändert, wo in sachkundiger, verantwortlicher Weise mit ihm verfahren wird. Ein Mangel in der Bewußtseinsstruktur des Einzelnen kann nicht vom Objekt her korrigiert werden.

Das wissenschaftlich und publizistisch verantwortungsvolle Dokumentieren hat andererseits eine Chance, die gerade in

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diesem Aberglauben begründet liegt. Es kann auf diesem Wege falsche Informationen durch richtige, möglicherweise ein bedenkliches politisches Vorurteil durch ein humaneres ersetzen, ein schlechteres "Geschichtsbild" durch ein besseres auswechseln. Dies wäre, sollte es massenwirksam sein, sehr viel; aber mit dem, worauf es in der politischen Bildung letztlich ankommt: mit einem aktiven Zugriff auf Geschichte, mit einer Unterscheidung des durch ihren Gang unwiderruflich Erledigten und dem nur Vertagten hat auch dies noch nicht sehr viel zu tun. Ein solches Vermögen hätte eine geistige Disposition zur Voraussetzung, die nur in wenigen Fällen anzunehmen ist.

Ob das politische Bewußtsein unseres Volkes reifer geworden ist durch die Fülle des akustischen und optischen Dokumentierens, darf füglich bezweifelt werden. Wer sich des Mittels der Mode bedienen muß, verfällt auch deren Gesetzen. Nach meiner Erfahrung macht sich eine Übersättigung breit, die keineswegs aus erhöhter Erkenntnis resultiert. Man möchte "etwas anderes" hören, (wobei übrigens ein an sich gesundes politisches Mißtrauen eine nicht unerhebliche Rolle spielt). Es gereicht allgemein der deutschen Publizistik zum Ruhme, daß sie es war, die gut oder schlecht die jüngste Geschichte in die öffentliche Diskussion brachte. In ihren Bedingungen liegt aber beschlossen, daß sie dabei nicht unmittelbar erzieherisch verfahren kann. Spricht

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sie nicht ein wenigstens minimal vorgebildetes Bewußtsein an, oder kann sie sich nicht darauf verlassen, daß die Pädagogen ihre Impulse aufgreifen, verkehren sich ihre noch so guten Absichten ins Gegenteil. Sie kann nicht gestalten, wessen sie zu ihrer Voraussetzung bedarf und was beim Heranwachsenden ausschließlich in einem unmittelbaren dialogischen Verhältnis herausgebildet werden kann.

Eine Fehleinschätzung, die im Zusammenhang mit den bisherigen Dokumentationen immer wieder aufgetaucht ist, besteht in der Vermutung, daß die Reden der Nazigrößen dem jugendlichen Hörer sich von selbst entlarven Eine solche Selbstentlarvung dürfte nur denen deutlich werden, die diese Zeit mit Bewußtsein erlebt haben. Ihnen gibt das Wiederhören der einst geliebten oder gehaßten Stimmen vielleicht auch die innere Bereitschaft, auf den neuen Zusammenhang und die Interpretation zu horchen, die die Schallplatte ausstrahlt. Allein der Gedanke jedoch, daß Liebe und Haß einmal im engen Zusammenhang mit Politik gestanden haben, ist für die jüngere im Wohlstand aufgewachsene Generation schon unvollziehbar. Ohne Erfahrung im Umgang mit totalitären Gesellschaften, unfähig, sich mittels gedanklicher Abstraktion in diese Zeit versetzen zu können, muß sie die jüngste Vergangenheit als einen Riesenspektakel ansehen, das ihr eher über die "Dummheit" der Elterngeneration Auskunft gibt als über Konflikte die sie selbst noch bedrohen könnten.

Die historische "Richtigkeit" einer Tondokumentation, über die bei den einzelnen Werken gelegentlich gestritten wurde, scheint mir das geringste Problem zu sein, wenn die Verantwortung sich in den Händen qualifizierter Fachleute befindet. Auch die Historikerfrage nach "wesentlichen" und "nebensächlichen" Quellen ist hier zunächst irrelevant, weil eine an sich

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nebensächliche Quelle durch ihre Stellung im Ganzen wichtig gemacht werden kann; unter rein historischen Gesichtspunkten gibt es eine ganze Reihe zulässiger Möglichkeiten mit denselben oder anderen Unterlagen. Die entscheidende Frage ist vielmehr die nach der Wirkung einer solchen Dokumentation auf den Zuhörer. Unter diesem Gesichtspunkt wird man unter den sachlich richtigen Möglichkeiten eine engere Auswahl treffen müssen. Sie muß sich einstellen auf das, was als "allgemeine Meinung" oder als verbreitetes Vorurteil bekannt ist. Sie muß sich "engagieren". Eine Tondokumentation "sine ira et studio" ist nicht möglich, was nicht bedeuten kann, daß sie die Sache auf das angenommene Bewußtsein hin verfälscht, wohl aber, daß sie sich hinsichtlich der Akzente und der Auswahl nach ihr richtet.

Nach dem bisher Gesagten ist der pädagogische Ort der politischen Dokumentation das "Unterrichtsmittel". In dieser Funktion allerdings leistet sie Beachtliches: Die akustischen Dokumente machen Geschichte in einer maximal möglichen Weise lebendig. Kommentar und Dokumentation zusammen leisten die Aufgabe eines einführenden Referates, wie es anschaulicher und geraffter vom Erzieher nicht gehalten werden könnte. Dieser kann sich von vornherein auf die Interpretation des Gehörten konzentrieren, kann mit dem geweckten Interesse der Zuhörer rechnen und ist dabei nicht im geringsten an die Vorlage gebunden. Es steht ihm frei, die Schwerpunkte herauszugreifen, die ihm angesichts des Zuhörerkreises oder in der Kontinuität seiner Arbeit wichtig erscheinen. Und auch der, dem mangels eigener Zuständigkeit die Behandlung zeitgeschichtlicher Fragen schwierig erscheint, obwohl sie von ihm erwartet wird, kann mit dem Abspielen der Platten ein erstes Bedürfnis verantwortungsvoll befriedigen.

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Diese allgemeinen Vorbemerkungen, die zu den historisch-fachlichen Überlegungen an dieser Stelle wenigstens skizzenhaft eine politisch-pädagogische Ergänzung bringen wollen, sind bereits positiver Bestandteil der Kritik eines neuen Dokumentenschallplatten-Werkes, das offensichtlich am meisten von allen bisher vorliegenden Produktionen dieser Art (1) solche Überlegungen mit einbezogen hat. Mit diesem Werk stellt der Herausgeber Horst Siebecke (2) von 1914 bis 1939 den zeitlichen Anschluß an sein Dokumentarwerk "Deutschland im Zweiten Weltkrieg" her. Die im Mitarbeiterteam verkörperte Allianz von Journalismus und historischer Wissenschaft (Siebecke als Funk- und Fernsehjournalist, F. A. Krummacher, W. Besson und K. O. Frhr. v. Aretin als Historiker) hat sich für das Unternehmen als ungemein fruchtbar erwiesen. Die Bedingungen der Schallplattenproduktion begrenzten von vornherein das Ausmaß und zwangen so die Historiker, ihre Aussagen auf Wesentliches zu beschränken, ohne ungebührlich zu simplifizieren. Daß letzteres vermieden wurde, ist ein Verdienst des musterhaften Kommentars. Obwohl er wegen der geringen Zahl der Quellen auf der ersten Platte oft länger sein muß als dem Journalisten angenehm, ist er nie langweilig. Er differenziert, ohne zu intellektualisieren und ist frei von jeder aufdringlichen Belehrung.

"Seit Jahrzehnten liegt in Europa Krieg in der Luft. Es ist die schwüle, vom Säbelrasseln der Monarchen und Staatsmänner erfüllte Luft über einem Kontinent, dessen Völker im Wohlstand leben, dennoch einander mißtrauen und gegeneinander rüsten. In der überhitzten Atmosphäre

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nationalistischer Eitelkeit und imperialistischer Eifersucht fallen die Schüsse von Sarajewo, die Europa und die Welt in Flammen aufgehen lassen". So beginnt der Kommentar von Krummacher über die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, die selbst nicht mehr Gegenstand dieses Werkes sein konnte. In den Ohren der Fachhistoriker mag das pathetisch klingen, vielleicht sogar nicht ganz zutreffend ("Wohlstand"). Aber die Mentalität der Völker am Vorabend des Krieges war nicht die von Historikern. Würde der Kommentar sich auf rein sachliche Erklärungen und Ergänzungen beschränken, träte er in Widerspruch zur Unmittelbarkeit der Tondokumente und würde diese neutralisieren. Diese Forderung zu stellen, hieße die Regeln der schriftlichen Edition einfach zu übertragen. Die Harmonie und die Geschlossenheit des Plattenwerkes besteht gerade darin, daß der Kommentar in seinem Stil so unmittelbar zu sein bestrebt ist wie die Dokumente selbst. Hat man sich aber einmal für dieses Konzept entschieden, dann ist kein Raum mehr für distanzierende historische Reflexionen, wie sie der Historiker vielleicht wünschen möchte. Sie müssen vielmehr dem Zuhörer und seinen Gesprächen überlassen bleiben. Gelegentlich sind charakteristische Musikstücke in den Text eingeblendet und unterstreichen die emotionale Bedeutung der Dokumente. Angaben über Ort und Zeit sind in den schriftlichen Anhang verwiesen, wenn ihre Aufnahme in den Text den Fluß des Ganzen gestört hätte.

Es ist ein risikohaftes Unterfangen, eine Dokumentarplatte vom Beginn des Ersten Weltkrieges an herauszugeben, denn das aus dieser Zeit überlieferte Tonmaterial ist sehr beschränkt, dazu bruchstückhaft und außerdem meist zufällig. Alle überhaupt erhalten gebliebenen Tondokumente über diesen Zeitraum, die teilweise um die Mitte der zwanziger Jahre nach-

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gesprochen wurden, sind ausgewertet worden. Mit Recht verzichtete man grundsätzlich darauf, die Lücken durch schriftliche Dokumente zu füllen. Bei der Darstellung überwiegt bei allen drei Platten der systematische Akzent vor dem chronologischen. Die wichtigsten Ereignisse bleiben dabei deutlich genug. Entsprach es früher der Tendenz der Geschichtsschreibung und auch des Geschichtsunterrichts, der "hohen Politik" die fast ausschließliche Aufmerksamkeit zuzuwenden, - objektiv ein Mittel zur Distanzierung der Bevölkerung von der Politik - , so wendet sich unsere Dokumentation auch nachdrücklich der anderen Seite zu: den Interessen, Hoffnungen und Verirrungen der Vielen. Sie machen gleichsam den Kommentator zwischen den Reden der Großen zu ihrem Beobachter und Sprecher. Er berichtet von der Massenpropaganda der Kriegspartei und ihrer Gegner, vom Hunger, vom Sterben und von der Totalisierung des Krieges.

Wir hören die Stimmen Wilhelms II., Hindenburgs, Bethmann-Holwegs, Tirpitz' und Scheidemanns und staunen darüber, wie sehr die Stimmen und Worte oft schon denen gleichen, die 1933 die Alleinherrschaft antreten sollten. "Und auch in dem uns aufgezwungenen furchtbaren Daseinskampf, in dem wir heute noch stehen, müssen wir den vollen Endsieg nicht minder als mit dem Schwert mit den Pflugscharen unserer Bauern und mit der Kartoffelhacke unserer Bauersfrauen erkämpfen" ... erklärt der Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses, von Schwerin-Löwitz, im Jahre 1918. Und Tirpitz meint: "Der gewaltige Kampf, den Deutschland jetzt führt, geht nicht um Deutschland allein, er geht in Wahrheit um die Freiheit des europäischen Kontinents und seiner Völker gegen die alles verschlingende Tyrannei des Anglo-Amerikanismus". Wohltuend hebt sich die kämpferisch-nüchterne Stimme Scheide-

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manns heraus, der für einen ehrenvollen Frieden inmitten des Hexenkessels eines nationalistischen Größenwahns eintritt.

Dem von Krummacher gestalteten Teil von 1914 bis 1918 folgt auf derselben Platte die Zeit von 1919 bis 1933, für die Besson verantwortlich zeichnet. Hier fließen die Quellen schon reichlicher, vor allem ab 1928. Die Auswahl der Dokumente ist offensichtlich auf die Machtergreifung hin orientiert, wenngleich der Kapp-Putsch fehlt und der Versailler Vertrag nur im Kommentar kurz erwähnt wird. Dieser Verzicht liegt im Mangel an Material begründet, er rückt aber auch die Auswirkungen des Versailler Vertrages auf Hitlers Aufstieg in richtigere Dimensionen. So wenig eine Plattenseite (zirka 25 Minuten) zur Herausarbeitung auch nur der wichtigsten Probleme ausreichen kann, so wichtig sind die Dokumentationen der ersten Platte für das, was mit Recht den räumlichen Schwerpunkt einnimmt: die Herrschaft des Nationalsozialismus. Das Versprechen des Titels "Deutschlands Weg in die Diktatur" wird in der Tat erst durch diese Vorbereitung auf das Jahr 1933 eingelöst. Während alle Dokumentationen, die erst mit dem Jahre 1933 einsetzen, trotz aller anderen Absichten das Vorurteil nähren müssen, der Hitlerismus sei ein "Unfall" - eine Vorstellung, die reaktionäre Gruppen vor 1933 exkulpieren könnte - , wird im vorliegenden Werk erschreckend deutlich, auf welch breiter Basis das Senden und Empfangen hirnloser, als "politisches Gedankengut" ausgegebener Parolen schon vorher stand und wie macht- und hilflos die Kräfte der Mitte waren. Wird uns so das Jahr 1933 verständlicher? Vielleicht allzusehr! Vielleicht strahlt zuviel Folgerichtigkeit aus der Dokumentation heraus, vielleicht verblassen vor soviel eindrucksvoller Wirklichkeit die Möglichkeiten, die es damals auch gab. Oder gibt es keine Tonaufnahme aus jenen Jahren, aus der wir heute ein Konzept erkennen könnten,

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das nicht nur moralisch, sondern auch realpolitisch eine Chance gehabt hätte?

Das, was dann auf den beiden letzten, von v. Aretin gestalteten Platten zu hören ist, wird zu einem endlosen Monolog der Barbarei. Es handelt sich um das Selbstverständnis des Hitlerismus. Die Stimmen der Opposition sind uns nur insoweit erhalten, als das Regime selbst ein Interesse an ihrer Konservierung besaß, also erst im Rahmen der Volksgerichtshofprozesse nach dem 20. Juli 1944 (3).Sonst ist nur ihr Schweigen geblieben. Zu hören ist indes jenes unglaubliche Niveau an öffentlichen Reden, an das sich das Volk gewöhnte, weil es zu einem großen Teil längst daran gewöhnt war. Aufgenommen wurden eine Reihe bisher nicht veröffentlichter Tonaufnahmen aus dem Reichsautozug mit Reden Hitlers vor dem engsten Kreis seiner Partei, wo er sich von Anfang an sehr viel offenherziger gab. Der Kommentar bekommt nun eine neue Funktion: Er muß das Schweigen zur Sprache bringen, das keine akustischen Dokumente hinterlassen hat. Er tut das durch harte Schnitte oder durch Parallelisierung von Tatsachen, selten durch Werturteile über das Geschehen, und dadurch um so eindringlicher. So der Kommentar nach Hitlers Rede am "Tag von Potsdam": "Barhäuptig, sich tief verbeugend, steht Hitler vor dem Feldmarschall. Der Händedruck stärkt die Illusion von der Versöhnung zweier Generationen. Neuer deutscher Geist und altes preußisches Ethos scheinen zu einer Synthese verschmolzen. Vorbei am erhobenen Marschallstab des Feldmarschalls v. Hindenburg zieht das nationale Deutschland: Reichswehr, Stahlhelm, SA, Hitlerjugend, Frontkämpferbund und Studentenverbindungen. Der 'Völkische Beobachter', das

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Organ der NSDAP, meldet an diesem 23 März 1933 die Errichtung der Konzentrationslager Dachau, Feldberg und Oranienburg." - Oder zum Jahre 1938: "(Kommentar) Osterreich versinkt in frenetischem Jubel, während Himmlers Gestapo in Wien die ersten 70 000 Menschen in die Konzentrationslager verschleppt. (Hitler, Dokument) Als Führer und Reichskanzler der deutschen Nation und des Reichs melde ich vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich." - Und zur Errichtung des "Protektorats" 1939 heißt es: "(Kommentar)... daß der tschechoslowakische Staatspräsident Opfer einer Erpressung werden kann. Am 15. März 1939 unterzeichnet er in Berlin - von Hitler auf tiefste gedemütigt - ein Abkommen, mit dem er... (Goebbels, Dokument) das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des deutschen Reiches legt." Auch hier wurde stärker systematisch als chronologisch verfahren. Das Verhältnis des Nationalsozialismus zu Kunst, Wissenschaft, Erziehung, Kirche, Militär, zum ganzen Volk und zu den Nachbarvölkern wird zu einem Gemälde des Totalitarismus zusammengefügt. Wieder werden die Geschehnisse auch aus der Perspektive des "kleinen Mannes" beleuchtet. Er wird nicht angeklagt, er wird nicht entschuldigt, aber sein Verhalten wird erzählt: "Als im Juni 1933 für (die NSDAP) eine Mitgliedersperre verhängt wird, liegen mehr als eine Million Aufnahmeanträge in den Schubladen der Parteibüros." - " (Hitler, Dokument) Als ich kam, waren in Deutschland über 6,2 Millionen Erwerbslose, und jetzt sind es 3 710 000. Es ist dies auf neun Monate eine Leistung, die sich sehen lassen kann. (Kommentar) Das deutsche Volk sieht das ... und nichts außerdem." Das Dokumentarwerk schließt mit den Kriegsvorbereitungen gegen Polen und Hitlers Ausblick aus dem Jahre

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1937 von der "Ordensburg" Sonthofen aus: " (Die Gefallenen des Ersten Weltkrieges) sind nicht für ein halbes Deutschland, sondern für ein ganzes Deutschland gefallen, und wenn einst ihr Opfer doch vergeblich zu sein schien, dann ist in meinen Augen das nicht das letzte Kapitel der deutschen Geschichte gewesen, sondern das vorletzte. Das letzte schreiben wir!"

Kritik an diesem großen Wurf scheint mir nur in Einzelfragen möglich, wo gleichberechtigte Standpunkte eingenommen werden können. Wichtig erscheint mir vor allem, daß in dieser Tondokumentation eine journalistisch-historische Symbiose gefunden wurde, die die Tondokumentation zu einer publizistischen Aussage sui generis gemacht hat. Diese neue Form ist journalistisch hinsichtlich der klaren Sprache, der kritischen Tendenz, der Freude am formalen Einfall und des bewußten Verzichtes auf eine die un-

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mittelbare Evidenz das Materials übersteigende Reflexion Sie ist wissenschaftlich, insofern dieses journalistische Temperament sich gebunden weiß an Zuverlässigkeit und Korrektheit im Detail. Diese selbst gesteckten Grenzen haben die Herausgeber optimal ausgefüllt. Es wäre zu wünschen, daß in dieser Weise weitere Gebiete der politischen Bildung erschlossen würden.

Bliebe dem Hause Ariola noch zu danken, daß es in einer geschmackvoll aufgemachten Beilage den gesamten Wortlaut der Platten abgedruckt hat (4). Sie enthält außerdem Kurzbiographien, eine Erklärung wichtiger Ereignisse und Organisationen, auf die der Text nicht näher eingeht, eine Zeittafel, sowie knappe, weiterführende Literaturhinweise.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. die Beiträge von Erwin Viefhaus in NEUE POLITISCHE LITERATUR, VI/1960, Sp. 875 ff, und VI/1961, Sp. 289 ff.
 

(2) Deutschlands Weg in die Diktatur. Originalaufnahmen aus den Jahren von 1914 bis 1939, ausgewählt u. kommentiert v. F. A. Krummacher, Waldemar Besson u. Karl Otmar Frhr. v. Aretin, hrsg. v. Horst Siebecke. Drei 30-cm-Schallplatten in Kassette, Ariola-Athena, Gütersloh o. J [1961].
 

(3)   Hierüber sind unlängst aufschlußreiche Tonband-Aufnahmen aufgefunden worden, die nach Inhalt und Wiedergabequalität die bereits bekannten Tonfilme übertreffen.
 

(4) Der Christophorus-Verlag Herder GmbH., Freiburg i. Br., hat 1960 gleichfalls ein Textheft zu den drei Langspielplatten "Das Dritte Reich in Dokumenten", 1959, vorgelegt; vgl. NEUE POLITISCHE LITERATUR, V/1960, Sp. 897. 

 

 

 14. Verrat und Verräter (1961)

(In: Neue Politische Literatur, H. 3/1961, S. 227-236)
 

 Die unglückliche Situation unseres geteilten Landes und Volkes bewirkt eine zunehmende Ideologisierung unserer Innen- und Außenpolitik, die sich allerdings durchaus auf vorhandene Restbestände des antidemokratischen und autoritären Bewußtseins stützen kann. Schon aus diesem Grunde kommen die Auseinandersetzungen um die Grundfragen unseres demokratischen Lebens nicht zur Ruhe. Zur Ungewißheit über das künftige nationale Schicksal kommt die Unsicherheit über die Bewertungen der jüngsten Geschichte, die selbstverständliche politische Maßstäbe und Verhaltensweisen noch nicht zu liefern vermag. Eine solche Horizontlosigkeit unseres gesellschaftlichen und politischen Lebens gibt den geeigneten Boden ab für eine Diffamierung der gegenteiligen politischen Ansicht als einer antidemokratisch, vor allem kommunistisch beeinflußten.

Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß der personelle und materielle Aufwand der Kommunisten für ihre Untergrundtätigkeit in der Bundesrepublik ein beträchtlicher ist. Handelte es sich dabei lediglich um Spionage im alten Sinne, also um den Verrat staatlicher und hier vor allem militärischer Geheimnisse, so reichte eine möglichst genaue Kontrolle einzelner bestimmter öffentlicher Funktionen und ihrer Träger aus. Wir wissen aber, daß diese Untergrundtätigkeit versucht, in die gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen einzudringen, um deren Tätigkeit im Sinne der Auftraggeber zu steuern.

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Auch die Gründung neuer Organisationen, die sich an die Spitze gerade aktueller Stimmungen und Strömungen zu setzen versuchen, gehört zu dieser Taktik. Je undurchsichtiger solche Einflüsse nach Ort und Umfang für den einzelnen Bürger bleiben, umso stärker wird seine Angst vor ihnen. Diese Angst kann, vor allem in Fällen innen- und außenpolitischer Krisen, leicht zur Manipulierung der öffentlichen Meinung führen, die nach der tatsächlichen Verantwortung zu fragen sich versagen soll. Die Welle der MacCarthy-Prozesse hat beide Seiten gezeigt, die Tatsächlichkeit der kommunistischen Infiltration wie auch die innenpolitische Manipulation, die gelegentlich zu recht fragwürdigen Methoden und Urteilen auswuchs. Der notwendige Kampf gegen die kommunistische Zersetzungstätigkeit geht einher mit einer Schwächung der für das Funktionieren einer Demokratie unerläßlichen öffentlichen Kritik. Damit ist das Kernproblem genannt, das sich in dem Maße verschärft, wie zahlreiche innenpolitische Vorstellungen und Maßnahmen der Gegenseite sich als systemunabhängige, zweckrationale Funktionsregelungen enthüllen, deren Tabuierung nur anti- und vordemokratischen Beweggründen zugute kommen kann. Die politische Vernunft wird also darin bestehen, die Dialektik zwischen notwendigem Schutz vor dem Kommunismus und dadurch bedingter Beschneidung der öffentlichen Diskussion in das richtige Maß zu bringen. Unerläßlich hierfür ist die Kenntnis des tatsächlichen Ausmaßes und

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der Methoden der kommunistischen Untergrundtätigkeit in der Bundesrepublik. Leider ist hier unsere Kenntnis sehr viel geringer, als nach dem Umfang der Diskussionen darüber zu erwarten wäre (1).

Wo das gesicherte Wissen nicht ausreicht, schmuggeln sich leicht Ersatzlösungen ein, die von der Unsicherheit entlasten sollen. Gibt es die Möglichkeit, den Verrat auf bestimmte Schichten in der Gesellschaft zu lokalisieren? Dazu bietet sich vor allem der jeweilige innenpolitische Gegner an. In jüngster Zeit bedient man sich dabei der geschickten Methode, dem Angeschuldigten zwar subjektive Ehrlichkeit zuzubilligen, ihn aber der objektiven, wenn auch unwissenden Unterstützung des Gegners zu zeihen. Dies Verfahren hat zudem den Vorteil, daß es kaum eine Rechtfertigung zuläßt, weil beides, Anklage wie Verteidigung, sich auf meist nicht verifizierbare angeblich "objektive Zusammenhänge" der Dinge berufen muß.

Insbesondere in jenen spätkonservativen Kreisen, denen mangels politischer Phantasie die geringste Option für die Veränderung bestehender Zustände als Verrat erschien, gerieten "die Intellektuellen" in den Ruf, potentielle Verräter allein schon durch ihre Existenz zu sein. Dabei entsprach es dem dort beheimateten Irratio-

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nalismus, sich um eine Rationalisierung dieses Vorwurfes gar nicht erst zu bemühen, die schon bei der Begriffsbestimmung hätte einsetzen müssen. Sie lag weder in der inneren Motivation solcher Ideologien, da es nicht auf Klärung von Sachverhalten, sondern auf die Erhaltung bestehender Privilegien ankam, noch in der Möglichkeit des Gedankens selbst, der gerade wegen seiner Irrationalität sich der Beweislast durch Tatsachen entziehen konnte. Ein besonderes Merkmal dieser Ideologien war und ist, daß die begriffliche Unterscheidung zwar nur Erwünschtes vom Unerwünschten trennte, sich aber gleichwohl als eine Differenzierung objektiver Sachverhalte ausgab. So lief in diesem Sprachgebrauch die Unterscheidung von "Intelligenz" (später sagte man "Arbeiter der Stirn") und "Intellektuellen" auf nichts anderes hinaus als auf eine Unterscheidung von politisch genehmen und nicht genehmen Intelligenzlern, soviel philosophisches Vokabular man dazu auch bemühte. Angesichts der wieder zunehmenden Diffamierung von "Intellektuellen" in unserem Lande muß daher mit allem Nachdruck festgestellt werden: Der antiintellektualistische Affekt, der Widerstand gegen die Rationalisierung politischen Tuns und damit der Kampf gegen die "linke" Intelligenz ist vor 1933 und später unlösbarer Bestandteil des antidemokratischen Denkens und politischen Verhaltens gewesen. Gerade diese Erfahrung macht uns heute von vornherein skeptisch gegen nicht hinreichend fundierte neue Attacken in dieser Richtung. Doch muß dabei auch das andere gesehen werden: Die "linke Intelligenz" in Deutschland steckt seit langem in einer tiefen Krise. Die politischen Ereignisse haben ihre Kraft dezimiert. Zum Teil treibt sie fruchtlose politische Kritik aus völlig apolitischen Positionen. Die jahrzehntelange Erpressung und Korrumpierung der politischen Vernunft in unserem

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Lande blieb nicht weniger wirksam als die nationalsozialistischen Ereignisse und trieb die politische Kritik in ein Ghetto, in dem sie heute, als Alibi vom Konformismus geduldet, nur allzuoft in wirkungsloser Esoterik stecken zu bleiben droht.

I.

Mit diesen Bemerkungen ist schon ein großer Teil der Kritik an dem Buche Raymond Arons (2) vorweggenommen. Im Vordergrund steht hier die Auseinandersetzung mit den Mitgliedern der französischen kommunistischen Partei sowie ihren intellektuellen Mitläufern. Einem ersten Teil, in dem die drei großen Mythen der Linken, der Revolution und des Proletariats demontiert werden, folgt ein "Götzendienst der Geschichte" überschriebener zweiter Teil. In brillantem Stil und mit einem aufs politische Engagement zurückverweisenden Temperament setzt A. sich hier mit der geschichtsphilosophischen Entwicklung der Neuzeit, vor allem mit der marxistischen Geschichtsmetaphysik und ihrem Realitätswert auseinander.

In einem dritten Teil schließlich, "Die Entfremdung der Intellektuellen", spürt er den Motiven nach, die gerade diese Schicht in dauernde Unzufriedenheit mit der bestehenden Gesellschaft und in kollektive kommunistische Wunschträume versetze. Sei es, daß hier das politische Engagement des Verf. zu sehr zum Durchbruch kommt, sei es, daß die Situation gerade der französischen Intellektuellen eine zu spezielle ist - jedenfalls enttäuscht dieser Teil nach der Lektüre der beiden ersten beträchtlich und liegt streckenweise weit unter dem Niveau dessen, was uns sonst von A. bekannt ist.

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Soziologisch reichen die Darlegungen nicht an die bereits vorliegenden Deutungsversuche (etwa Mannheim oder Geiger) heran. Der Vorwurf der materiellen Interessiertheit wird einige Male zu oft erhoben. Allzu vieles wird berührt und dann nicht genügend ausgeführt. So dürfte die Behauptung, die Intellektuellen näherten sich dem Kommunismus aus Gram darüber, daß ihr Land in der Weltgeltung sinke (u. a. S. 266) kaum Allgemeingültigkeit beanspruchen. Bei uns jedenfalls neigen sich die nationalen Komplexe seit je sehr viel stärker rechtsradikalen Anschauungen zu. Die Gefahr rechtsradikaler Anfälligkeit, die doch auch und gerade für Frankreich nicht überwunden ist, wird fast gänzlich übergangen, so daß das Bild notwendig schief werden muß. Auffallend ist die nahezu kritiklose Bewunderung des "american way of life", die A. dazu verführt, jede antiamerikanische Haltung als prosowjetisch zu bezeichnen. Eine solche alternative Formulierung erwächst daraus, daß seine Betonung viel zu stark auf dem "Bekenntnis zu den Werten" liegt als darauf, wie in der konkreten Gesellschaft diese Werte ständig reproduziert werden könnten und welche Bedeutung dabei speziell den "Intellektuellen" zukäme. Auch die polemische Behauptung, der geschlossene Protest der französischen Intellektuellen gegen die Hinrichtung der Rosenbergs sei "weniger aus der Sorge um das Recht" geschehen, "als vielmehr durch die Neigung, den Vereinigten Staaten etwas am Zeuge zu flicken" (S. 277), ist wohl nur die halbe Wahrheit. Zweifellos finden sich auch in diesem Teil hervorragende Partien, vor allem dort, wo der Soziologe und Philosoph A. an die gründliche Analyse geht; aber aufs ganze gesehen helfen uns seine Darlegungen über die Intellektuellen für unsere deutsche Situation wenig weiter, denn es gelingt ihm zwar, abgesehen von Übertreibungen, die schon ge-

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nannte "Ghetto-Situation" aufs Korn zu nehmen, aber die andere Seite des Problems, die Frage nach der positiven Rolle der Intelligenz in der Demokratie, geht dabei unter, während doch gerade ein Autor wie A. dazu berufen wäre, hier eine diskutable Lösung vorzuschlagen.

II.

Der Meinungsstreit über "Verrat" entzündet sich vorwiegend an den Punkten, die von besonderer Bedeutung für das Schicksal des eigenen Landes gewesen sind. So ist auch die Diskussion um Recht und Unrecht des Widerstandes gegen Hitler keineswegs eine nur historische Frage: Ihr Ausgang ist vielmehr von unmittelbarem Einfluß auf das Selbstverständnis der Gegenwart. Die offizielle Version - die in der Bevölkerung eine viel schmalere Basis hat, als einer "öffentlichen Meinung" eigentlich zukommen müßte - erklärt dabei die im Reich selbst wirkenden Gruppen, soweit sie nicht kommunistisch waren, für rechtens, verwehrt dieses Urteil aber den in der Sowjetunion während des Krieges tätigen Gruppen des "Nationalkomitee Freies Deutschland" und des "Bundes Deutscher Offiziere". Diese Vorurteile haben vielerlei Gründe, teils recht naheliegende, teils sehr versteckte. Sie aufzuzählen ist hier nicht möglich. Es sei nur darauf hingewiesen, daß diese Sicht des Widerstandes von ganz bestimmten Voraussetzungen ausgeht bzw. solche zum Inhalt hat. Etwa: Bei den Feinden des Zweiten Weltkrieges sei zu unterscheiden zwischen den Westmächten und der Sowjetunion; letztere sei der eigentliche (unvermeidbare?) Kriegsgegner gewesen. Oder: Die Kommunisten hätten den Widerstand nicht aus nationalen Interessen geführt, sondern im Interesse dieses Feindes. Also sei Widerstand mit ihnen "Verrat". Heute haben sich derlei Ansichten fast als "selbstverständlich" durchgesetzt, bestimmt durch unse-

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re jüngsten Erfahrungen mit Kommunisten und die Deutungen dieser Erfahrungen wiederum bestimmend. Im Kriege aber wurden diese und eine Reihe anderer Grundsatzfragen "existentiell" für Männer, von denen Mitwirkung mit Kommunisten am wenigsten zu erwarten war.

Über ihre Tätigkeit, die bisher lediglich von Gerüchten und Ressentiments umgeben war, liegt nun die ausführliche Untersuchung von Bodo Scheurig (3) vor. Ihr standen besondere Schwierigkeiten entgegen. Einmal mußte der Verf. auf die Benutzung sowjetischer Quellen verzichten und seine Unterlagen zu einem großen Teil aus mündlichen Mitteilungen der Überlebenden gewinnen. Zum anderen ist das gegenwärtige politische Klima nicht gerade günstig für eine objektive Untersuchung gerade dieses Gegenstandes. Dennoch ist dem Verf. eine Arbeit gelungen, die zu den besten zeitgeschichtlichen Nachkriegsveröffentlichungen zu rechnen ist.

Sch. beginnt mit einer militärisch-strategischen Darstellung des Kampfes um Stalingrad, nach dessen Ende sich deutsche Offiziere in der Gefangenschaft Rechenschaft ablegten über die militärische und sittliche Berechtigung des ungeheuren Opfers, das "alle soldatischen Werte geschändet und aufgehoben" hatte (S. 173). Nach zermarternden Gewissenskonflikten über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns, die Sch. ausführlich und mit großem Einfühlungsvermögen zur Sprache bringt, schlossen sich eine Reihe von ihnen zum "Bund Deutscher Offiziere" zusammen, der sich auf sowjetische Initiative hin noch im Jahre 1943 mit der von den Emigranten um Pieck und Ulbricht bestimmten Gruppe des "Nationalkomitees" vereinigte. Die Russen gewährten dem Bund

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zunächst einige Selbständigkeit. So konnte er auch durchsetzen, daß der vorher übliche, gänzlich erfolglose Appell an die Massen der Landser weitgehend ersetzt wurde durch die Aufforderung an die militärischen Führungsspitzen, die Truppen nach Ausschaltung Hitlers in völliger Ordnung bis an die Reichsgrenze zurückzuführen, um dann mit dem Gewicht der damals noch völlig intakten Wehrmacht Friedensverhandlungen einzuleiten. Mit der Konferenz von Teheran, als die endgültige Niederlage der Armee nur noch eine Frage der Zeit war, verloren die Offiziere bei den Sowjets auch an Gewicht und Bedeutung und konnten nur noch die noch kämpfende Truppe zur Kapitulation auffordern. Beide Appelle blieben völlig wirkungslos.

Es ist Sch. nicht nur gelungen, das komplizierte Geflecht von Fakten, Motiven, Hoffnungen und Wirkungen sauber darzustellen, er nimmt darüber hinaus auch sorgfältige politische Beurteilungen vor, unterscheidet das Mögliche vom Erhofften und das Erlaubte vom Unerlaubten. Dabei räumt er dem Unternehmen für den Beginn durchaus politische Chancen ein. "Wäre in dieser Lage die Propaganda des Komitees und Offiziersbundes fähig gewesen, Wehrmacht wie Volk zum Sturze Hitlers und zum Abschluß eines Waffenstillstandes zu veranlassen, hätte sich die Waagschale sicher fühlbar zugunsten des Reiches gehoben. Trotz der Rückschläge im Osten, in Afrika und Italien waren ihm 1943 noch immer erhebliche militärische und politische Trümpfe verblieben" (S. 177).

Auch die außenpolitische Auswirkung - politischer Druck der Russen auf die Westmächte - und die Beziehungen zum innerdeutschen Widerstand - nahezu

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völlige Ablehnung - werden ausführlich dargestellt. Der Verf. ist hier in einem höchstmöglichen Maße Männern gerecht geworden, die ein Staat, der notwendig jede Opposition zur Revolution werden ließ, in einer Ausnahmesituation zu außergewöhnlichen Handlungen zwang. Über den Anlaß des Gegenstandes hinaus gelingen Sch. vollgültige Erörterungen über die Frage "Verrat oder Gehorsam", weil er dabei nicht nur die moralisch-statische, sondern ebensosehr die konkret politische als eine verbindliche moralische Dimension zu Grunde legt. Dem Ergebnis kann man nur uneingeschränkt zustimmen: "Die Gebärde der Vortrefflichkeit war jedem Handeln oder Unterlassen versagt. Es gab für den Weg des Widerstandes und den des Gehorsams keine Schuldlosigkeit. Was hätte orientieren können, war von einem Staate versehrt, der alle Werte zerbrochen hatte. Das ist zum mindesten zuzugestehen, soll die nationalsozialistische Ära gemeinsam überwunden werden, die noch immer erst unvollkommen verstanden wurde" (S. 184).

Mit dieser Arbeit Sch.s ist unser Wissen um den deutschen Widerstand soweit abgerundet, daß daraus politische Urteile gewonnen werden können. Auf deren Grundlage müßten nun die ungelösten Fragen der Gegenwart zu einem Consensus geführt werden:

Wann darf - moralisch und sachlich-politisch - der Vorwurf des Verrates unter uns erhoben werden? Wann darf - moralisch und sachlich-politisch - ein politischer Vorschlag bei uns als eine Unterstützung des Gegners ausgegeben werden? Welche Rolle kommt in einer demokratischen Gesellschaft den Intellektuellen zu? Die Antworten aber müssen konkret sein.

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Anmerkungen:

(1) Diese Lücke kann auch das Buch von Karl Richter: Die trojanische Herde. Ein dokumentarischer Bericht. 314 S., Verlag für Politik und Wirtschaft, Köln 1959, nicht füllen. Einmal entzieht es sich hinsichtlich der Fakten völlig der wissenschaftlichen Nachprüfung; zum anderen entwickelt der Verf. keinerlei politische Maßstäbe für die Beurteilung, und schließlich "belastet" der Autor hier zahlreiche mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, ohne selbst mit seinem Namen dafür zu zeichnen ("Karl Richter" ist Pseudonym für "Werner Sticken"). Wenn sich der Gegenstand dem wissenschaftlichen Nachweis weitgehend entziehen sollte, müßte wenigstens der Name des Autors einen gewissen Ersatz dafür zu bieten suchen. Abgesehen davon verlangt die politische Fairneß, daß Anschuldigungen gegen noch lebende Mitbürger unter eigenem Namen erhoben werden, selbst wenn damit zusätzliche Risiken für den Autor verbunden sind.

(2) Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung. 384 S., Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin 1957.

(3) Bodo Scheurig: Freies Deutschland. Das Nationalkomitee und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943 - 1945. 269 S., Nymphenburger Verlagshandlung, München 1960.


 
 

 15. Hefte zum Zeitgeschehen (1961)

(In: Neue Politische Literatur, H. 11-12/1961, S. 1073-1074)
 

Wie alle Einzelwissenschaften, so wird auch die Zeitgeschichte in eine immer stärkere Spezialisierung gedrängt. Dies liegt im Fortschritt der wissenschaftlichen Methode begründet und in der unübersehbaren Fülle des zu verarbeitenden Materials. Je weniger aber eine Rückentwicklung dieses Zustandes zu erwarten ist, um so dringlicher wird die Frage nach dem "Bildungswert" zeitgeschichtlicher Ergebnisse, d. h. die Frage, was aus der Fülle der Fakten und Deutungen so wichtig ist, daß es dem aufnahmebereiten Laien mitgeteilt werden müßte. Denn auch er steht vor demselben Dilemma: Die ihm angebotenen seriösen Darstellungen sind zu zahlreich, zu umfangreich und meist auch terminologisch zu sehr fachlich orientiert. Das gilt auch für die meisten Taschenbücher. Je weniger die Wissenschaftler die hier anstehende Aufgaben aufgreifen, um so mehr bemächtigt sich ihrer die Massenpresse, allerdings mit ihren eigenen Maßstäben und Gesetzen. So klafft heute zwischen dem, was die Zeitgeschichte und die Politische Wissenschaft allgemein erarbeitet haben, und dem, was auf der Ebene des "Bildungsverbrauchers" davon ankommt, eine breite Kluft. Schuld daran

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ist nicht zuletzt der zwar abnehmende, aber doch immer noch vorhandene akademische Argwohn gegen alles "Nichtwissenschaftliche".

Bahnbrechend muß daher der Versuch eines Hannoveraner Verlages erscheinen, namhafte Wissenschaftler um eine kurze Darstellung der deutschen Geschichte von 1914 bis 1945 zu bitten. Der Umfang, ca 60 - 70 Seiten je Heft, zwang die Autoren, das wirklich Wesentliche des heutigen Forschungsstandes mitzuteilen. Als Form wurde der "Dokumentarbericht" gewählt: Was durch Dokumente -  die in den fortlaufenden Text eingearbeitet werden - gesagt werden kann, entfällt im Text. Jedes Heft enthält weiterführende Literaturhinweise, eine Zeittafel und genauen Nachweis der angeführten Quellen. Wenige, aber sorgsam ausgewählte Skizzen, Tabellen und Schaubilder tragen zur Verdeutlichung bei.

Die einzelnen Hefte unterscheiden sich zum Teil erheblich in stilistischer Hinsicht. Manches liest sich noch wie eine Dissertation, und die Entscheidung, was "wesentlich" sei, war nicht immer glücklich. Die "Mefo-Wechsel" Schachts etwa dürften den Leser dieser Reihe bei weitem überfordern Die Sache wird auch dadurch nicht klarer, daß der Erfinder in einem längeren Zitat zu Wort kommt. Im ganzen aber ist dieses so notwendige Unternehmen als voll gelungen zu betrachten. Der politischen Bildung würde ein großer Dienst erwiesen, könnte sich der Verlag zur Fortsetzung dieser Reihe entschließen. Der Themen, die einer solchen Bearbeitung harren, sind viele.

Hefte zum Zeitgeschehen, Verlag für Literatur und Zeitgeschehen GmbH, Hannover 1960:
Heft 1: F. A. Krummacher: Die Auflösung der Monarchie (1914 1918);
Heft 2: G. Prüfer / W. Tormin. Die Entstehung und Entwicklung der Weimarer Republik bis zu Eberts Tod  (1918 - 1925);
Heft 3: Richard Freyh: Stärke und Schwäche der Weimarer Republik (1925 - 1929)
Heft 4: . Andreas Hillgruber: Die Auflösung der Weimarer Republik - (1929 - 1933);
Heft 5: Walter Tormin: Die Jahre 1933 - 1934 (Die "Gleichschaltung");
Heft 6: Wolfgang Jäger: Ziele und Praxis des Nationalsozialismus (1934 1939);
Heft 7: Friedrich Zipfel: Krieg und Zusammenbruch (1939 - 1945) in Vorbereitung.
(Verlag für Literatur und Zeitgeschehen GmbH., Hannover 1960).

 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/werke1.htm

Inhaltsverzeichnis aller Bände