Hermann Giesecke
Gesammelte Schriften
Band 11: 1973
© Hermann GieseckeInhaltsverzeichnis aller Bände
Register
Zu dieser Edition
Dieser 11. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahr 1973. In diesem Jahr war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien (In diesem Jahr sind erschienen: Methodik des politischen Unterrichts, München 1973, und Bildungsreform und Emanzipation, München 1973).
Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.
83. Lehrerschaft und Gesamtschule (1973) Inhalt von Band 11
84. Erziehung gegen den Kapitalismus? (1973)
85. Pluralistische Sozialisation und das Verhältnis von Schule und Sozialpädagogik (1973)
86. Die neuen hessischen Rahmenrichtlinien für den Lernbereich "Gesellschaftskunde, Sekundarstufe I" (1973)
86a. Neue Rahmenrichtlinien für „Gesellschaftslehre" in Hessen (1973)
87. Überfüllte Seminare und hochschuldidaktische Fetische (1973)
88. Die Reform, die zur Ideologie erstarrt ist (1973)
83. Lehrerschaft und Gesamtschule (1973)
(In: Die Deutsche Schule, H. 3/1973, S. 188-190)
(Eine Replik auf: Hanns Eyferth/Dieter Galas: Lehrerschaft und Gesamtschule. Zu einer Äußerung von Hermann Giesecke. In: Die Deutsche Schule, H. 1/1973, S. 30-34. Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit meinem Aufsatz Von der Einheitsschule zur Gesamtschule - Interessenwidersprüche zwischen Lehrern und Arbeiterkindern: In: Neue Sammlung, H. 3/1972, S. 187-203, auseinander. H. G.)
Ich freue mich, daß die Kollegen Hanns Eyferth und Dieter Galas sich in Heft 1/1973 mit meinen Thesen vom "Interessenwiderspruch zwischen Lehrern und Arbeiterkindern" auseinandergesetzt haben. Da dies zudem mit einigem Zorn geschieht, müßte man eigentlich gewichtige Argumente vermuten.
Leider jedoch gleicht ihre Kritik eher einem Verbandsstatement, das erneut behauptet, was kritisiert wurde, ohne die vorgebrachten Einwände wirklich aufzugreifen, statt dessen werden Behauptungen kritisiert, die gar nicht aufgestellt wurden.
Deshalb scheint es mir nützlich, einige Gesichtspunkte noch einmal klarzustellen:
1. Ich bin in dem inkriminierten Aufsatz davon ausgegangen, daß bei einer gesellschaftlichen Krise - wie der gegenwärtigen Bildungskrise - ,die neue Lösungen erheischt, immer von dem ausgegangen wird, was als historisch vermitteltes Bewußtsein vorliegt. Neue Lösungen entstehen überhaupt nur im Kontext historischer bzw. biographischer Vergleiche, wie ja auch an den gegenwärtigen Konzepten nichts wirklich neu ist. Vorliegen bestimmte Traditionen liberaler und sozialdemokratischer Schulpolitik sowie pädagogische Traditionen und Theoreme, die im engsten Zusammenhang mit der langen Emanzipationsgeschichte der Volksschullehrer stehen. Vereinfacht aus-
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gedrückt entstehen die gegenwärtigen Reformkonzepte dadurch, daß diese inhaltlichen Traditionen eine Verbindung mit den technokratischen Verwaltungen und den politischen Machtverhältnissen eingehen, wobei empirische Disziplinen wie etwa die Lerntheorie einen Beitrag zur fachlichen bzw. sachlichen Realisierungsmöglichkeit der Ziele leisten. Eine Kritik der gegenwärtigen "Reformpartei" müßte natürlich alle diese Faktoren berücksichtigen, mein Aufsatz beschränkte sich auf die Frage, ob und für welche historische Zeit im ideologiekritischen Sinne eine Interessenidentität zwischen Lehrern und ihrer historisch entstandenen Berufsideologie und Arbeiterkinde angenommen werden kann. Das Thema "Gesamtschule" wurde nur unter diesem Aspekt betrachtet, es blieb unerörtert, ob es für ihre Einführung auch noch andere Gründe geben könne, als die "Chancengleichheit" bzw. die Beseitigung der bildungsmäßigen Unterprivilegierung. Nur daß diese nicht durch die Gesamtschule beseitigt werden könne, wurde von mir behauptet. Daß meine unter Hinweis auf die "Arbeiter- und Bauernfakultät" der DDR erfolgten Alternativvorschläge einstweilen unrealistisch sind, wurde von mir ja eingeräumt; dies zeigt aber nach meiner Meinung nur, daß die Emanzipation des Arbeiterkindes durch Bildung überhaupt unrealistisch ist, weil dies keine der heute herrschenden Kräfte wirklich will - auch die Lehrerschaft nicht - , bzw. nur deklamatorisch.
2. Der Kernteil der Analyse des Lehrerbewußtseins, nämlich die charakteristischen Faktoren des pädagogischen als eines spezifischen Emanzipationsbewußtseins, wurden von Eyferth und Galas überhaupt nicht beachtet (z. B. Über-Pädagogisierung; Didaktik contra Wissenschaft u. a. m.). Deshalb muß in ihrer Kritik auch meine Argumentation als an den Haaren herbeigeholt, unsachlich und unsinnig erscheinen, so daß man ganz zu Recht darüber gekränkt ist.
3. Für den hier gemeinten ideologiekritischen Argumentationszusammenhang ist auch unwichtig, daß es zu dem beschriebenen ideologischen Syndrom Alternativen bzw. Varianten gegeben hat, auf die Eyferth und Galas hinweisen; entscheidend ist vielmehr, was sich faktisch durchgesetzt hat und somit gegenwärtig das Bewußtsein - z. B. der Lehrer im Kontinuum der Ausbildung - bestimmt. Das aber sind doch zweifellos die "geisteswissenschaftlichen" Konzepte gewesen.
4. Auch von Motiven im psychologischen Sinne ist nicht die Rede, mit denen die Lehrer etwa ihre Emanzipation im Rahmen der Gesamtschule und Gesamthochschule betreiben, sondern von dem objektiv überlieferten Vorstellungszusammenhang, in dem sich ihre Ziele und Argumente "selbstverständlich" bewegen.
5. Ebensowenig wird bestritten, daß viele Lehrer früher und heute sich wirklich und subjektiv ehrlich am Schicksal der benachteiligten Kinder engagieren, noch soll dies in irgendeiner Weise diskreditiert werden. Behauptet wird vielmehr nur, daß spätestens zu Beginn des Jahrhunderts die für die berufliche Selbstdefinition und für die gesellschaftliche Emanzipation der Lehrer benötigte "pädagogische Ideologie" in einen objektiven, d. h. durch bloße Willenserklärungen nicht zu überbrückenden Widerspruch zur politischen und pädagogischen Emanzipation des Arbeiterkindes getreten ist, und daß dieser Prozeß, da er auch heute nicht historisch relevant bearbeitet wird, auch gegenwärtig noch anhält. Das schließt übrigens gar nicht aus, daß nach dem Durchgang durch solche Reflexionen auf die Dauer eine Interessen-Solidarisierung zwischen Lehrern und Arbeiterkindern wieder möglich wird, "linke" Lehrerideologen behaupten das ja auch unentwegt; und es wäre sogar denkbar, daß dabei die Ein-
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richtung von Gesamtschulen eine wichtige Rolle spielen könnte. Das aber würde ganz andere didaktische und methodische Entwürfe verlangen, müßte der Schule ganz andere Aufgaben und Grenzen setzen. Um das wenigstens durch einen Hinweis zu illustrieren(1): Solange die Schule nicht die Erkenntnisse und Methoden wissenschaftlichen Denkens verbreitet; solange die Systematik der Sachverhalte weiter irgendwelchen von außen herangetragenen "Bildungszielen" bzw. "Lernzielen" geopfert wird; solange auch in Versuchsschulen und Gesamtschulen hektische organisatorische und methodische Aktivität die Möglichkeiten zur planmäßigen und systematischen Reflexion und intellektuellen Arbeit nicht aufkommen läßt; solange Kommunikation eine Art von Ganztagsbeschäftigung ist, eine Art von methodischem Selbstzweck, dessen Bedeutung nicht daran gemessen wird, was er zur Herstellung eines "richtigen Bewußtseins" beiträgt; solange wissenschaftlicher Unterricht als "didaktischer Objektivismus" abgewehrt wird - solange also diese und andere Variationen des von den Lehrern getragenen "pädagogischen Bewußtseins" auch in die neue Gesamtschule übernommen werden, solange wird die Emanzipation des Arbeiterkindes auch immer die Emanzipation von seinem Lehrer sein müssen. Und schon aus diesem Grunde wäre es z. B. wichtig, der Schule zeitliche Grenzen zu setzen und außerschulischen Bildungsmöglichkeiten, z. B. durch Gewerkschaften oder sonstige, mit den Interessen der Schüler eher verbundene gesellschaftliche Partikularitäten veranstalteten, einen viel größeren Raum zu gewähren. Aber nicht zufällig wird in den Bildungsplänen das genaue Gegenteil, nämlich die Eingemeindung außerschulischer Jugendbildungsarbeit und sogar sozialpädagogischer Funktionen in das formelle Schulwesen, angestrebt. Und auch die Lehrer widersetzen sich dem nicht. Auch die Gesamtschule bleibt Schule in einer Klassengesellschaft, in einer Gesellschaft der massiven Ungleichheit, und auch sie wird sich dieser fundamentalen Tatsache weder durch gutgemeinte Postulate noch durch naive Verbrüderungen entziehen können.
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Anmerkungen:
(1) Für eine ausführliche Entfaltung der Ideologiekritik an der Bildungsreform ist hier leider kein Raum, vgl. dazu mein im Frühjahr 1973 erscheinendes Buch "Bildungsreform und Emanzipation" (Juventa-Verlag München).
84. Erziehung gegen den Kapitalismus? (1973)
Neomarxistische Pädagogik in der Bundesrepublik
(In: Neue Sammlung, H. 1/1973, S. 42-61)
(Überarbeitetes Funkmanuskript, das am 19.5.72 im NDR III gesendet wurde. Die zum Hören bestimmte Textfassung wurde weitgehend beibehalten. Vorabdruck aus meinem im Frühjahr 1973 im Juventa-Verlag München erscheinenden Buch "Bildungsreform und Emanzipation").
I.
Die linke studentische Protestbewegung hat bisher in unserem Lande nicht die Erfolge gehabt, die sie sich gewünscht hatte. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik zwar in hohem Maße reformbedürftig ist, aber nicht revolutionär. Gleichwohl hat diese Bewegung eine Reihe von so nicht beabsichtigten Nebenwirkungen gehabt, die das politische Bewußtsein in unserem Lande entscheidend verändert haben:
1) Das repräsentative System der politischen Willensbildung, an dem der Bürger im wesentlichen durch die politischen Wahlen partizipiert, wird heute schon deshalb als demokratisch unzureichend erkannt, weil es nur für staatliche Institutionen eingerichtet ist, nicht jedoch auch für gesellschaftliche Institutionen wie zum Beispiel Industriebetriebe. Das Recht von Bürgerzusammenschlüssen, ihre Interessen an der gesellschaftlichen Basis gegen die Administration oder gegen die Maßnahmen von Industriebetrieben durch Aktionen durchzusetzen, wird heute im allgemeinen nicht mehr bestritten, solange das geltende Recht nicht verletzt wird.
2) Die jeweilige Rechtslage gilt dabei jedoch nicht mehr als schlechthin unantastbar. Vielmehr wird der Respekt vor dem geltenden Recht zunehmend im Zusammenhang mit der Notwendigkeit des Rechtsfortschritts gesehen. Geltende Rechtsvorschriften werden konfrontiert mit demokratischen Ansprüchen; sie werden an diesen Ansprüchen gemessen und zum Teil verworfen. Die Auseinandersetzungen um das Demonstrationsrecht sind dafür ebenso ein Beispiel wie der Kampf um den Paragraphen 218.
3) Im wissenschaftlichen Betrieb der Hochschulen ist die Einsicht gewachsen, daß aus politisch-ideologischen Gründen bestimmte Wissenschaftsdisziplinen - wie Psychoanalyse und Marxismus - in der Vergangenheit nicht zum Zuge gekommen sind, und daß deshalb wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse über die Probleme des menschlichen Zusammenlebens bei der praktischen Lösung von gesellschaftlichen Problemen auch nicht benutzt werden konnten.
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4) Neu entdeckt wurde die politische und moralische Verantwortung für die Zukurzgekommenen und Benachteiligten, zum Beispiel die Obdachlosen, die Fürsorgezöglinge und die Kriminellen. Noch niemals hat es eine so intensive Diskussion über diejenigen unserer Mitbürger gegeben, die dem kapitalistischen Leistungsprinzip nicht gewachsen sind und deshalb ihre gesellschaftliche Anerkennung und Würde verlieren.
Über solche und andere unleugbare Fortschritte im politischen Bewußtsein und zum Teil schon in der politischen Realität können sich die radikalen linken Gruppen (1) - und nur von denen ist hier die Rede - nicht freuen. Sie deuten sie lediglich als Krisenmanagement des kapitalistischen Systems, dessen Ziel es gerade sei, die revolutionäre Umwandlung des kapitalistischen Systems in ein sozialistisches zu verhindern. Nur die Abschaffung des Kapitalismus könne aber die wirklichen Ursachen der Krisen ein für allemal beseitigen.
Die radikale antikapitalistische Kritik und Praxis der linken Gruppen erstreckte sich sehr bald auch auf die Einrichtungen der Erziehung. Kommunen als Gegeninstitutionen der Familienerziehung, anti-autoritäre Kinderläden als Gegen-Modelle der Kindergarten- und Schulerziehung, sozialpädagogische Wohnkollektive als Gegen-Modelle der kasernierten Fürsorgeerziehung und schließlich proletarische Kinder- und Jugenderziehung außerhalb der Schule unter der Leitidee des Klassenkampfes sind die wichtigsten Beispiele. Mit ihnen und den ihnen zugrunde liegenden pädagogischen Theorien einer sogenannten "Erziehung gegen den Kapitalismus" soll sich dieser Aufsatz auseinandersetzen. Dabei werden, anders als im Bereich der abstrakten politik-ökonomischen Argumentationen, die Stärken und Schwächen des linksradikalen Bewußtseins besonders deutlich zutage treten.
Die Stärken zeigen sich überall dort, wo es um die Kritik der gegenwärtigen Erziehung und ihrer Institutionen geht, um die "Entlarvung" bisher verschleierter Zusammenhänge. Entlarvt wird zum Beispiel die Abhängigkeit des Erziehungswesens von den kapitalistischen Profitinteressen; entlarvt wird auch die Funktion bestimmter Erziehungsstile und Erziehungstechniken, die den Menschen für die spätere kapitalistische Ausbeutung brauchbar machen sollen. Die Stärke liegt also in der radikalen Ideologiekritik der bestehenden Verhältnisse und des von ihnen getragenen falschen Bewußtseins.
Die Schwächen zeigen sich überall dort, wo die Position der akademischen Kritik verlassen wird zugunsten praktischer pädagogischer Maßnahmen. Alle diese Versuche sind nach verhältnismäßig kurzer Zeit gescheitert, und
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zwar weniger an den Widerständen der Gegner als vielmehr an den eigenen Unzulänglichkeiten und Fehlern. In den vorliegenden Berichten über solche Versuche werden diese Unzulänglichkeiten allerdings auch mit einer selbstkritischen Schärfe eingestanden, die im allgemeinen unter Pädagogen nicht üblich ist.
Gemessen an dem eigenen marxistischen Anspruch, daß letzten Endes theoretisch nur richtig sein kann, was sich auch praktisch verwirklichen läßt, muß dieses Scheitern jedoch auch auf die Ansprüche des eigenen theoretischen Bewußtseins wieder als Kritik zurückkommen. Es wird also zu fragen sein, was von einem angeblich marxistischen Bewußtsein zu halten ist, das, wenn es in praktische Realisierung umschlägt, derart schnell und vollständig scheitert. Bevor wir uns diesen praktischen Versuchen zuwenden, wollen wir uns kurz auf ihren theoretischen Hintergrund einlassen Es geht dabei um die Frage, wie sich der Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft näher bestimmen läßt. Die radikalen Linken gehen vor allem von drei Theoremen aus, die Karl Marx entwickelt hat:
1) Erstens von dem Basis-Überbau-Theorem. Es besagt, daß die ökonomischen Verhältnisse die Basis der gesellschaftlichen Entwicklung sind - gleichsam ihr eigentlicher Motor - , während die Gedanken und Ideen der Menschen, die sie sich von ihren Verhältnissen machen, nur den von der Basis abhängigen Überbau darstellen; sie sind insofern falsches Bewußtsein, als sie je nach der Klassenlage durch den Standort im ökonomischen System bedingt sind. Demnach würde die Erziehung in den Überbau gehören, und man könnte die Erziehungsprobleme der Gegenwart eigentlich nur dann verstehen, wenn man die ihr unterliegende ökonomische Basis versteht. Die Wissenschaft, die das vermag, ist die sogenannte "politische Ökonomie". Daraus leiten die linken Gruppen die Forderung ab, daß jeder Pädagoge die Grundlagen dieser politischen Ökonomie studieren muß, um seine Praxis richtig verstehen und handhaben zu können. Ohne Kenntnisse von der politischen Ökonomie könne er nur ein falsches Bewußtsein über seine Praxis haben.
2) Nun betrachtet die auf Karl Marx zurückgehende politische Ökonomie die ökonomische Basis nicht unter irgendwelchen beliebigen Aspekten, sondern unter dem Theorem der Kapitalverwertung. Demnach ist das herrschende Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft das Bestreben, alle Menschen, Stoffe und Güter so zu verwerten, daß für die Besitzer von Kapital ein höchstmöglicher Profit dabei herauskommt. Dieses Prinzip gilt keineswegs nur für die Betriebe, sondern für das ganze gesellschaftliche Leben der Menschen. Die kapitalistische Verwertung menschlicher Gefühle und Bedürfnisse im Konsumbereich ist dafür ebenso ein Beispiel wie das gesellschaftliche "Ausflippen" solcher Menschen, die sich nicht mehr genügend verwerten lassen, etwa der Alten und Kranken, der Obdachlosen, der körperlich und geistig Behinderten. Wenn dieses Theorem richtig ist, dann muß auch die Erziehung als Teil dieses Kapitalverwertungszusammenhanges
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gedeutet werden; die Erziehung der Kinder erfolgt im Kapitalismus so, daß sie später optimal ausbeutbar sind.
3) Die volle Bedeutung der beiden ersten Theoreme wird jedoch erst dann klar, wenn man noch das Revolutions-Theorem hinzunimmt. Es besagt, daß die Kapitalverwertung nur im Interesse jener zahlenmäßig kleinen Klasse vor sich geht, die über Produktionsmittel verfügt, während die große Mehrheit der Arbeitenden diese Möglichkeit gar nicht erst hat. Im Gegenteil: die Kapitalverwertung beruht im wesentlichen darauf, daß die Kapitalisten den Arbeitenden nicht den Lohn zahlen, den ihre Arbeit objektiv wert ist, sondern davon den sogenannten "Mehrwert" für sich selbst einbehalten. Marx nahm nun an, daß dieser Widerspruch von Aneignung und Ausbeutung nur durch Revolution zu ändern sei, das heißt, durch die Sozialisierung aller Produktionsmittel. Mit Revolution ist dabei nicht unbedingt die gewaltsame Auseinandersetzung in der Form von Straßenschlachten und Barrikadenkämpfen gemeint. Theoretisch kann sie auch durch Beschluß einer parlamentarischen Mehrheit erfolgen. Wenn dieses Theorem zutrifft, dann folgt daraus für jede "fortschrittliche" Pädagogik, daß sie antikapitalistisch sein, also auf den Sturz des kapitalistischen Systems hinarbeiten muß. Sie muß diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die für diesen Zweck geeignet sind. Das gilt in verstärktem Maße für die sogenannte "proletarische Erziehung", das heißt für die Erziehung der Arbeiterkinder und Jugendlichen; denn diese müssen aufgrund ihrer Stellung im Kapitalverwertungsprozeß in erster Linie ein Interesse an der Beseitigung des kapitalistischen Systems haben.
4) Mit diesen drei Theoremen ist im wesentlichen der theoretische Hintergrund abgesteckt, vor dem sich die pädagogische Aktivität der Linken zur Zeit bewegt. Nun taucht aber die Frage auf, ob diese Theoreme denn auch richtig sind. Ganz allgemein gestellt, muß die Frage widersprüchlich beantwortet werden: Diese Theoreme sind richtig, insofern sie in der Form von begründeten Hypothesen als Kritik der bestehenden Gesellschaft wichtige Zusammenhänge analysieren können, die sonst unerkannt bleiben würden. Diese Theoreme sind nicht richtig, insofern sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht so vollständig erklären können, daß sich daraus eindeutige Handlungsanweisungen ableiten ließen. Deshalb gibt es in der marxistischen Theorie das sogenannte "Praxis-Kriterium", das wir nun als viertes und letztes Theorem einführen wollen. Es besagt, daß die marxistische ökonomische Theorie zwar die allgemeinen und grundsätzlichen Handlungsperspektiven geben kann, nicht jedoch auch die Voraussagen für das richtige Verhalten im konkreten Einzelfall - sonst wäre ja Politik als spezifisches menschliches Handeln auch überflüssig.
Nun stellt sich sofort die Frage, ob es im Bereich der Erziehung Phänomene gibt, die nicht durch das Kapitalverwertungstheorem erklärbar sind, das ja mit den anderen Theoremen aufs engste zusammenhängt. Auf ein solches Phänomen hat Friedhelm Nyssen hingewiesen. In der Einleitung zu
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dem von ihm herausgegebenen Textband "Schulkritik als Kapitalismuskritik"(2) untersucht Nyssen, wie marxistische Pädagogen der Weimarer Zeit die genannten Theoreme auf die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Erziehung angewendet haben. Dabei zeigen sich wichtige prinzipielle Unterschiede. Während etwa Edwin Hoernle (3), der pädagogische Chefideologe der damaligen kommunistischen Partei, die bürgerliche Erziehung total determiniert sah durch die ökonomische Basis des kapitalistischen Systems, rechnet Otto Kanitz, ein österreichischer Sozialdemokrat, in seinem Buch "Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft"(4) das Erziehungswesen unter der Formel "Lernen ist Arbeit" zum Teil der ökonomischen Basis selber zu. Kanitz schreibt:
"Alle Kinder ... produzieren ihre Arbeitskraft. Sie lernen, um dereinst arbeiten zu können. Diese Lernarbeit, die meist in der Schule geleistet wird, ist durchaus als gesellschaftlich notwendige Arbeit zu werten. Würde diese Arbeit nicht geleistet werden, so müßte unsere gesamte Produktion binnen wenigen Jahren zum Stocken kommen und schließlich zusammenbrechen, unsere moderne Kultur, die auf der kapitalistischen Produktionsweise aufgebaut ist, zusammenstürzen. Die Kinder also leisten, indem sie lernen, gesellschaftlich notwendige Arbeit, und sie müßten eigentlich dafür bezahlt werden. Nun werden sie ja auch dafür bezahlt. Allerdings nicht direkt seitens des Kapitalisten, sondern indirekt - auf dem Wege der Entlohnung ihrer Eltern. Aber sie werden, wie die erwachsenen Arbeiter, herzlich schlecht bezahlt; und von dem geringen Anteil, der auf sie entfällt, eignet sich mancher Vater Fronvogt noch einen übergroßen Teil an" (S. 13).
Nun besteht für Nyssen die Schwierigkeit darin, das Maß der Ausbeutung des kindlichen Lernens exakt zu messen. Für die Ausbeutung der erwachsenen, Ware produzierenden Arbeiter ist das durch die Mehrwerttheorie möglich. Die Ausbeutung des kindlichen Lernens besteht im Unterschied dazu aber darin, daß dem Kinde einerseits die objektiv möglichen Lernmittel vorenthalten werden, und daß andererseits das pädagogisch als richtig Erkannte nicht realisiert wird. In Nyssens eigenen Worten heißt das:
"Akzeptiert man die von Kanitz gegebene Bestimmung von Lernen als gesellschaftlich notwendige, kindliche Arbeit zur Produktion von Arbeitskraft als sinnvoll, akzeptiert man weiterhin als sinnvoll die von mir gegebene Interpretation, daß damit kindliches Lernen als Moment des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses ... angesehen werden kann, so ergibt sich, daß aus der Marxschen politisch-ökonomischen Theorie nicht sämtliche Formen von Ausbeutung, die im gesamten Arbeitsprozeß der Gesellschaft auftreten bestimmt werden können. Ableiten kann man aus dieser Theorie nur jene Ausbeutungsformen, die sich deutlich quantitativ in ökonomischen Wertgrößen beschreiben lassen etwa: Aneignung eines bestimmten - Mehrwert genannten - Wertumfangs durch den Kapitalisten. Man kann jedoch nicht diejenigen im gesamten gesellschaftlichen Arbeitsprozeß auftretenden Ausbeutungsformen ableiten, deren Bestimmung als Ausbeutung eine Vorstellung vom ,Richtigen' voraussetzt, also jene Formen von Ausbeutung, die nicht unmittelbar in Produktion und fremder Aneignung von Mehrwert ihren Ausdruck finden. Zu diesen Formen von Ausbeutung gehört die Ausbeutung ... als Vorenthaltung pädagogisch ,richtiger' Lernbedingungen" (S. 20).
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So kommt Nyssen zu einem Schluß, den in anderen Zusammenhängen schon Siegfried Bernfeld (5), ein marxistischer Pädagoge der Weimarer Zeit, gezogen hat: daß es nämlich pädagogische Konstanten gibt, die sich der Erfassung durch die marxistische Theorie entziehen. Nyssen schreibt:
"Daß es Kinder und Erwachsene gibt, (ist) nicht nur Einbildung, sondern ... Tatsache. Die Ohnmacht von Kindern gegenüber Erwachsenen ist, das behaupte ich, ein kapitalismusunabhängiges Phänomen, eine, mit Bernfeld gesprochen, Konstante aller Erziehung. ... Die Konsequenz daraus ist, daß Erziehung nicht vollständig den Verwertungsgesetzen des Kapitals subsumiert sein kann" (S. 24/25).
Diese Einsicht, daß es nämlich zumindest ein Grundphänomen der Erziehung gibt, nämlich das Generationsproblem, das nicht vollständig durch die marxistische Theorie erklärt werden kann, hat jedoch Folgen für die grundsätzliche Bedeutung der marxistischen Theorie in pädagogischen Zusammenhängen. Diesen Folgen wollen wir uns, über Nyssen hinausgehend, nun zuwenden.
Wenn es so ist, daß die marxistische Theorie wichtige pädagogische Grundphänomene nicht hinreichend erfassen kann, so kann sie auch keinen Absolutheitsanspruch erheben. Es fragt sich nämlich sofort, was denn in diese theoretische Lücke treten soll. Offensichtlich wäre bloßes praktisches Probieren dem wissenschaftlichen Selbstanspruch des Marxismus nicht angemessen. Es bleibt also nur die Schlußfolgerung übrig, daß in diese Lücke andere, nämlich sogenannte "bürgerliche" Einzelwissenschaften treten müssen, die unter anderem die seelische Entwicklung des Kindes, seine altersgemäßen Lernfähigkeiten und Bedürfnisse erforschen. Mit anderen Worten: Wissenschaftlicher Pluralismus, d.h. die konsequente Nutzung der "bürgerlichen" Einzelwissenschaften im Rahmen des eigenen Erkenntnisinteresses, und zwar sowohl in theoretischer wie in methodologischer Hinsicht, müßte gerade für einen Marxisten eine Bedingung seiner praktisch-pädagogischen Vernunft sein.
Diese Konsequenz ergibt sich in Anlehnung an Nyssens Analyse auch noch aus einem weiteren Grunde: Nyssen mißt die Ausbeutung des Kindes, besonders des proletarischen, nicht an quantifizierbaren ökonomischen Größen, sondern durch den Vergleich mit dem, was pädagogisch richtig wäre. Das Richtige wiederum ist eine historisch relative Größe, es ist im Jahre 1870 etwas anderes als im Jahre 1970. Die Frage jedoch, wie dieses Richtige heute bestimmt werden könnte, verfolgt Nyssen nicht weiter; er begnügt sich mit dem Hinweis auf die sogenannte "allgemeine Meinung" in dieser Frage. Wir müssen jedoch weiterfragen: Wie kommt diese allgemeine Meinung vom pädagogisch Richtigen denn zustande? Welche Faktoren sind daran beteiligt? Und wie kann man erkennen, ob das Richtige sich nicht nur richtig dünkt?
Bei der Ermittlung dessen, was pädagogisch richtig ist, ist offenbar erneut die einzelwissenschaftliche Forschung und Kritik unentbehrlich, zum Beispiel
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die Erforschung kindlicher Lern- und Leistungsfähigkeit, kindlicher Motivationen und Bedürfnisse. Und diese Forschungen geschehen nun einmal im Rahmen sogenannter "bürgerlicher" Einzelwissenschaften. Marxisten können solche Forschungsergebnisse, wenn sie vorliegen, zwar im Sinne ihrer Theorie interpretieren, aber sie können sie als Marxisten grundsätzlich nicht produzieren. Und wenn solche Ergebnisse im Rahmen einer bestimmten ökonomischen Theorie wie der marxistischen interpretiert werden, dann muß man sich zumindest auch auf die methodologische Diskussion darüber einlassen, wie die fraglichen Erkenntnisse eigentlich gewonnen worden sind. Das aber heißt nichts anderes, als daß es eine marxistische pädagogische Theorie im strengen Sinne des Wortes überhaupt nicht geben kann. Eine Erziehungstheorie, die im Selbstinduktionskreis der marxistischen Theoreme, isoliert von den als bürgerlich denunzierten Einzelwissenschaften verbliebe, wäre nicht einmal Ideologie, sondern nur blanke Irrationalität - ausgeliefert allen möglichen Affekten und Vorurteilen.
Daß es eine marxistische pädagogische Theorie im strengen Sinne des Wortes nicht gibt, läßt sich auch historisch zeigen. Marx selbst hat nicht einmal in Andeutungen eine Sozialisationstheorie hinterlassen, also eine Theorie über die Prozesse des individuellen Heranwachsens. Erst die Psychoanalyse brachte eine Möglichkeit, diese Lücke zu füllen. Aber deren Theoreme wurden von den Organisationen der Arbeiterbewegung ebenso leidenschaftlich abgewehrt wie von den bürgerlichen Institutionen. Die Versuche einzelner Intellektueller, Marxismus und Psychoanalyse zu integrieren, fanden bis heute keine nennenswerte gesellschaftliche Resonanz (6). Auch in den sozialistischen Ländern gibt es keine spezifisch marxistischen pädagogischen Theorien, sondern nur bürgerlich-technokratische mit spezifischen politischen Zielen. Diesen Zielen sind dort auch die pädagogisch relevanten Einzelwissenschaften untergeordnet, aber in ihren Forschungsprozessen folgen auch sie den Standard-Regeln bürgerlicher Wissenschaften. Offenbar ist die Annahme, es gebe eine undialektische Alternative zur bürgerlichen Wissenschaft und zur bürgerlichen Pädagogik, illusionär.
II.
Diese Erkenntnis erklärt nun auch noch einmal, warum der Marxismus, sofern er Kritik der bestehenden Erziehungsverhältnisse ist, zu wichtigen Ergebnissen kommen kann, sofern er jedoch auf die pädagogische Praxis angewendet wird, notwendig scheitern muß, wenn er lediglich innerhalb seiner Theoreme verbleibt. Die folgende Analyse einiger auf marxistischen
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Theorien basierender praktischer Erziehungsversuche (7) soll das zeigen. Die drei Bände berichten von gescheiterten praktischen Versuchen, und wir wollen nun an einigen Faktoren die Gründe für dieses Scheitern diskutieren. Um den Autoren gerecht zu werden, verbleiben wir dabei soweit wie möglich im Umkreis der marxistischen Theoreme. Wir versuchen also so etwas wie eine "immanente" Kritik. Diese kann sich jedoch, strenggenommen, nur auf diese veröffentlichten Praxis-Beispiele beziehen, und nicht mehr auf die Vorstellungen der sogenannten "radikalen Linken" im ganzen. Abgesehen davon, daß es ohnehin unmöglich ist, die ständig sich spaltenden radikalen Linken eindeutig zu definieren, unterliegen diese Beispiele auch der internen Diskussion. - Das Ergebnis unserer Kritik sei in drei Thesen vorweggenommen:
1. Die politische Ausgangsanalyse war unter anderem deshalb falsch, weil sie mit einem um die historische Dimension amputierten Marxismus betrieben wurde. Zum Marxismus gehört jedoch nicht nur der systematische Zusammenhang der politisch-ökonomischen Theorie, sondern vor allem auch die Forderung, ihn historisch-dialektisch für vernünftiges Handeln zu konkretisieren.
2. Für den pädagogischen Bezug zu proletarischen Kindern beziehungsweise zu Fürsorgezöglingen fehlte jede erziehungswissenschaftliche Theorie und Kenntnis.
3. Die partikularen gesellschaftlichen Interessen der studentischen Akteure blieben unerkannt. In ihrer Einbildung handelten sie im Interesse der Arbeiterklasse, tatsächlich jedoch waren ihre Partner nur das Material, an dem sie ihre eigenen bürgerlichen Klassenprobleme bearbeiteten.
Auffallend ist - um mit der ersten These zu beginnen - allgemein die Unfähigkeit der studentischen Linken zur historischen Analyse. Die sogenannten "pädagogischen Klassiker der Arbeiterbewegung", die von der studentischen Bewegung endlich wieder der Vergessenheit entrissen wurden, werden nicht so herangezogen, daß zugleich auch ihre Zeitbedingtheit deutlich wird, ihre konkrete Position in längst vergangenen konkreten Situationen, sondern so, als ob sie zeitgenössische Autoren seien. Charakteristisch dafür ist, daß sich Lutz von Werder geradezu bedingungslos auf Edwin Hoernle stützt, der von allen sozialistischen Autoren der damaligen Zeit am wenigsten von Pädagogik verstand und sich im Grunde auch am wenigsten dafür interessierte. Es fehlt jeder Versuch, die Thesen Hoernles etwa mit der besonderen Lage der Weimarer KPD in Zusammenhang zu bringen, zum Beispiel die parteipolitische Funktion seiner ideologischen Rechthaberei zu verstehen, die zum Teil auch mit für die damalige Zeit geradezu unsinnigen Argumenten gegen andere sozialistische Autoren durchgehalten wurde. Der
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wichtigste Zweck seines Buches war nicht, eigene, neue Gedanken zur proletarischen Erziehung beizusteuern, sondern der als sozialfaschistisch denunzierten deutschen und österreichischen Sozialdemokratie die proletarischen Kinder und Jugendlichen streitig zu machen, die diese mit großem Erfolg für sich gewonnen hatte. Wie kann man aber aus der Geschichte der Arbeiterbewegung lernen, wenn man keine Kriterien für die Bearbeitung dieser Geschichte hat?
Dieses Problem betrifft erneut die theoretische Reichweite eines "orthodox" verknöcherten Marxismus, während sich an Marx das Gegenteil zeigen ließe. Ohne Hinzuziehung der bürgerlichen Geschichtswissenschaft und ihrer Methoden können solche historischen Analysen nicht befriedigend gelingen, weil es zu den einfachsten Grundsätzen der Geschichtswissenschaft gehört, die Selbstdarstellungen der Akteure nicht einfach für bare Münze zu nehmen, sondernd methodisch gezielt zu analysieren.
Die historische Bewußtlosigkeit führt deshalb zu der Meinung, fortschrittliche politische Ziele oder Klassenkampfstrategien könnten dem spontanen Bewußtsein irgendwelcher Gruppen entspringen. Alle drei Praxis-Beispiele sind zumindest zu Beginn vom Gefühl des historischen Nullpunktes beflügelt, davon, daß nun erst die Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge begänne. Wolfgang Fritz Haug hat in einem Nachwort zum "Schülerladen rote Freiheit" dieses Defizit treffend kritisiert:
"Der Theorielosigkeit, ja Theoriefeindschaft, in der sich der Unwille zur Aufarbeitung theoretischer Vorarbeiten rationalisierte, stand ein irrationaler fetischisierter Begriff von Praxis gegenüber, der sich wiederum im richtungs- und hilflosen Treiben der täglichen Arbeit im Schülerladen fortwährend blamierte" (S. 455).
Diese Theorielosigkeit betrifft mit allem Nachdruck die pädagogische Dimension, also den Umgang mit den proletarischen Kindern, wie in unserer 2. These behauptet wurde. Charakteristisch dafür ist Lutz von Werders Beschreibung vom Beginn des proletarischen Kinderladens. Die Straßenkinder in Kreuzberg kommen in den neueröffneten Laden, lärmen, toben und reagieren ihre Aggressionen ab. Die studentischen Betreuer stehen dem hilflos gegenüber, ohne jede pädagogische Vorstellung außer der, diesen Kindern irgendwie Klassenbewußtsein beizubringen. Zum Glück erinnern sich einige Studenten ihrer eigenen Kindheit und bieten Spiele an. Lutz von Werder schreibt:
"Auf dem Bürgersteig, vor dem Laden, fand auch mehrmals ein Malspiel statt. Eine große Rolle unbedrucktes Zeitungspapier wurde 20 Meter lang ausgerollt, Pinsel und Farbe verteilt. Trauben von Kindern begannen nun ein kollektives Gemälde. Sie verliehen ihren kleinbürgerlichen Wunschträumen Ausdruck. Die Jungen malten zumeist Autos, die Mädchen Häuschen mit Garten. Begeisterten Anklang fand auch ein großes Feuer auf einem Trümmergrundstück hinter dem Haus, in dem der Laden war. Das Herbeischaffen der Brennmaterialien, das Anzünden des Feuers, das Hineinschütten von Benzin, wenn das Holz feucht war, war Quelle allgemeinen Interesses. Als Kartoffeln im Feuer gebraten wurden und viele Kinder mit einer ergatterten Kartoffel herumliefen, kamen vom nahen Spielplatz weitere Kindergrüppchen" (S. 65/66).
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Die ganze Problematik des pädagogischen Verhaltens wird jedoch deutlich, wenn Lutz von Werder fortfährt:
"Diese Arbeit, die Elemente der unpolitischen Betreuung der Arbeiterkinder durch die sozialdemokratischen Falken der Weimarer Zeit aufnahm, war offenbar sehr massenwirksam. Sie knüpfte direkt an die Freizeitinteressen der Kinder an. Sie veränderte das Milieu kaum" (S. 66).
In dieser Kritik zeigt sich exemplarisch nicht nur die Problematik des pädagogischen Umgangs, sondern auch die Unfähigkeit zur pädagogisch-theoretischen Analyse. Erstens wird nämlich die Freude der Kinder als kleinbürgerlich-unpolitisch denunziert, ohne daß überlegt wird, ob es nicht Freuden gibt, die Kinder als Kinder, also unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, haben - was übrigens die alte Arbeiterbewegung durchaus wußte. Zweitens werden die Interessen der Kinder als Freizeitinteressen bemäkelt, als ob Kinder schon produktionsnahe Interessen haben könnten. Drittens wird die pädagogische Arbeit der Betreuer durch den Hinweis darauf schlechtgemacht, daß der ideologische Gegner in der Weimarer Zeit, die sozialdemokratischen Falken, sie genauso betrieben hätten. Dabei läge doch die Überlegung nahe, ob die Arbeit der Falken sich nicht unter anderem dadurch rechtfertigte, daß sie den proletarischen Kindern in ihrer sonst tristen Existenz Angebote zur Freude und zum Vergnügen machte. Viertens gelingt es nicht, die empirisch feststellbaren Interessen und Bedürfnisse der Arbeiterkinder mit den politischen Intentionen des Klassenbewußtseins zu verbinden. Stehen die kleinbürgerlichen Freizeitinteressen der Kinder dem Klassenbewußtsein unausweichlich feindlich gegenüber oder sind sie ein nur verschleierter Teil davon? Wie kann man Lernstrategien entwickeln, die einerseits die vorfindbaren Interessen ernstnehmen, andererseits aber nicht dabei stehenbleiben?
Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als sei ein Zitat hier überinterpretiert worden. Aber die eben bezeichneten Mängel tauchen in den Beschreibungen immer wieder auf. Die pädagogischen Chancen, die entstehen, werden aus denselben Gründen stets wieder verspielt. Die Fehler laufen ständig auf den von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch hinaus, die pädagogischen Probleme und Lösungen unmittelbar aus marxistischen Theoremen zu deduzieren, ohne in eine Auseinandersetzung mit den sogenannten bürgerlichen Erziehungswissenschaften einzutreten.
In der Geschichte der Arbeiterbewegung sieht das übrigens ganz anders aus. Ohne die produktive Aneignung der reformpädagogischen Theoreme hätte es in den zwanziger Jahren überhaupt keine sozialistische Kinder- und Jugendarbeit gegeben. Und auch Edwin Hoernle hat seinerzeit nichts dazuerfunden. Er hat lediglich die kleinbürgerlichen pädagogischen Vorstellungen ideologisch umfunktioniert, ohne dabei deren Kleinbürgerlichkeit zu überschreiten.
Nun wird das Scheitern ja auch eingestanden und sogar ausführlich reflektiert. Aber auch diese Ursachenforschung verbleibt im Ghetto der einmal festgesetzten Theoreme. Nicht die Notwendigkeit der Konfrontation dieser
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Theoreme mit dem Fortschritt der relevanten Einzelwissenschaften wird eingesehen; vielmehr, so heißt es, komme es darauf an, die pädagogische Arbeit fest an die Organisation der Arbeiterklasse zu binden, beziehungsweise solche Organisationen neu zu schaffen. Erst im praktisch-politischen Kampf solcher Organisationen könne sich auch die richtige pädagogische Strategie ergeben.
Auch diese Vorstellungen werden im wesentlichen von den bevorzugten Autoren der zwanziger Jahre übernommen; aber sie hatten damals einen anderen Stellenwert, denn sie konnten sich auf eine Erfahrungskontinuität der Arbeiter und ihrer Organisationen selbst stützen (8). Bei Hoernle war sie zudem in erster Linie als Disziplinierung der eigenen sozialistischen Intellektuellen gemeint. Darin kommt - am Ende der zwanziger Jahre - der geradezu bornierte ideologische Führungsanspruch der KPD zum Ausdruck, dem auch rücksichtslos alle pädagogischen Fortschritte, zum Beispiel eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, zum Opfer fielen. Heute kann jedoch von einem nennenswerten historischen Bewußtsein der Arbeiter nicht mehr die Rede sein. Das kann man bedauern, aber man kann die daraus resultierenden theoretischen Probleme nicht einfach unterschlagen. Wer glaubt, an der subjektiven und objektiven Befindlichkeit des proletarischen Kindes habe sich seither nichts Wesentliches geändert, der betreibt keine historisch-materialistische Analyse, sondern allenfalls unhistorisch-abstrakte Analogie.
Ein immer wieder auftauchendes Beispiel für diesen analytischen Mangel ist die notorische Fehleinschätzung der aus dem Freizeit- und Konsumbereich resultierenden Interessen und Bedürfnisse gerade auch der proletarischen Kinder und Jugendlichen.
Wenn es aber in der Arbeiterschaft überhaupt noch so etwas wie ein historisches Bewußtsein der eigenen Lage gibt, dann bezieht es sich auf den Vergleich mit der wirtschaftlichen und sozialen Situation der beiden zurückliegenden Generationen. In diesem Vergleich schneidet die Gegenwart unbestreitbar besser ab, und den Arbeitern muß jede grundsätzliche Denunziation ihres relativen Wohlstandes zu Recht als Angriff auf ihre vitalen Interessen erscheinen. In kaum einem anderen Punkte wird die Fremdheit zwischen der studentischen Linken und den Arbeitern so deutlich wie in der Ignorierung dessen, was im Vergleich der Generationen die relativen öko-
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nomischen und sozialen Fortschritte für die Arbeiter und ihre Kinder wirklich bedeuten. Eine historisch-materialistische Analyse hätte nicht - wie es in linken Publikationen ganz überwiegend geschieht - diesen Fortschritt undialektisch als bloße Krisenstrategie des Kapitalismus zu denunzieren, sondern dialektisch dessen fortschrittliche Momente von seinen rückschrittlichen zu sortieren, die ersteren zu unterstützen und die letzteren zu bekämpfen. Dann könnte sich zum Beispiel ergeben, daß der Kampf für die materielle Optimalisierung des Freizeit- und Konsumbereiches der abhängig Arbeitenden eine der wichtigsten politischen Aufgaben ist, weil nur in diesem Zusammenhang sich allenfalls so etwas wie Klassenbewußtsein entfalten könnte.
Im pädagogischen Umgang mit den proletarischen Kindern zeigen die Berichte solche Fehleinschätzungen haufenweise. Die Kinder kommen mit der Erwartung in die Kinderläden, dort ihre sonst schlechten Spielbedingungen verbessert zu finden. Sie bieten den Studenten durch ihr spontanes Verhalten eine ganze Fülle von pädagogischen Ansatzpunkten an - auch solche der politischen Aufklärung ihrer Lage. Die Studenten hätten nur zuhören, nur sich unvoreingenommen mit diesen Kindern einlassen müssen, um diese Chancen auch wahrnehmen zu können. Aber wie Lutz von Werder im Detail beschreibt, greifen sie diese Angebote der Kinder nur widerwillig auf. Die Studenten wollen statt dessen diesen Kindern Klassenbewußtsein beibringen, mit ihnen klassenpolitische Aktionen durchführen, sie zum Schulkampf ermuntern und schließlich mit Kinderkadern politische Agitation unter den Kindermassen betreiben. Aber diese Ziele sind nicht einmal den Studenten selbst klar. Jeder neue Mißerfolg setzt zwar immense politisch-ideologische Reflexionen frei, die aber gleichwohl nicht auf das Nächstliegende kommen, sondern sich Zug um Zug in den Netzen der einmal gesetzten Theoreme festspinnen. Es wird trotz dieses intellektuellen Aufwandes nichts dazugelernt - nichts jedenfalls, was die Realitätsblindheit vermindert hätte.
Als der Winter anbricht, bleibt der Kinderladen schlagartig leer. Die Studenten rätseln geraume Zeit über die Ursachen. Da entdeckt einer zufällig, daß die Kinder in der Nachbarschaft ihre Freizeit zum Rodeln benutzen.
Das pädagogische Versagen legt nahe, die Rolle der linken Studenten in den drei Projekten noch einmal genauer zu beschreiben, womit wir die dritte vorhin formulierte These aufgreifen. Es geht darum, die Selbstdeutung der linken Studenten, sie seien die Avantgarde des revolutionären Subjekts, nämlich des Proletariats, und es ginge ihnen um die Remobilisierung der sozialistischen Arbeiterbewegung, kritisch zu untersuchen. Das Ausmaß der Fremdheit zwischen den Studenten und den proletarischen Partnern stellt sich in den Berichten als so groß dar, daß es fast so aussieht, als handele es sich um eine Begegnung mit einer gerade neu entdeckten andersartigen Kultur. - Zu den schwierigsten Problemen der marxistischen politischen Theorie gehört die Frage, aus welchen Gründen und unter welchen Voraus-
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setzungen bürgerliche Intellektuelle sich im Klassenkampf auf die Seite des Proletariats schlagen können, da sie doch eigentlich zur Klasse der Bourgeoisie gehören. Lutz von Werder löst dieses Problem dadurch, daß er im Anschluß an Ernest Mandel den größten Teil der Intelligenz einfach dem Proletariat zurechnet und nun vom sogenannten "Gesamtarbeiter" spricht:
"Als wir einsahen, daß im Spätkapitalismus die Klassenlage großer Teile der Intelligenz sich radikal verändert hat und daß die Proletarisierung auch weite Teile ehemals selbständiger Intelligenz erreicht hat, änderten wir auch unsere Einstellung gegenüber der Reichweite proletarischer Erziehung. 'Die meisten Studenten', erkannten wir, 'sind heute zukünftige Lohnabhängige und Angestellte - abhängig Beschäftigte - die in ihren gesellschaftlichen Funktionen und ihrer Stellung im Produktionsprozeß der Arbeiterschaft näherstanden als dem Mittel- und Großbürgertum' (Ernest Mandel). Wir gelangten nun zur Feststellung, daß nach dem Scheitern der anti-autoritären Erziehung proletarische Erziehung für alle Schichten des Gesamtarbeiters (eingeschlossen der zukünftig angestellten Intelligenz) klassenspezifisch adäquat ist. Die durch die Lohnhierarchie, die Trennung von Kopf- und Handarbeit, die Aufrechterhaltung des Bildungsmonopols hervorgerufenen Spaltungen des Gesamtarbeiters lassen aber in der augenblicklichen Situation der fehlenden Vereinheitlichung der Arbeiterklasse keine gemeinsame, von den sozialistischen Studenten und sozialistischen Arbeitern organisierte Erziehung ihrer Kinder zu. Trotz der für alle Schichten des Gesamtarbeiters gleichen Zielsetzung der proletarischen Erziehung müssen sich heute, gemäß der im Lohnverhältnis eingeschlossenen unterschiedlichen Verfügungsgewalt über ökonomische und kulturelle Ressourcen unterschiedliche Mittel und Institutionen proletarischer Erziehung ergeben". (S. 22/23).
Ob diese These wirklich eine Fortentwicklung der Marxschen Klassentheorie darstellt oder diese nicht vielmehr paralysiert, wäre eine eigene Untersuchung wert. Hier soll uns jedoch nur ihre ideologische Funktion interessieren. Welchen Nutzen bringt diese These für die politische Selbstdarstellung der linken Studenten, vor allem im Hinblick auf ihre pädagogische Aktivität?
1. Da fällt zunächst auf, daß die These vom sogenannten "Gesamtarbeiter" die realen Unterschiede zwischen der Bourgeoisie und den Arbeitern nicht beseitigt. Ein Teil dieser Unterschiede, zum Beispiel der zwischen Kopf- und Handarbeit, galt aber bislang gerade als Merkmal des Klassenunterschieds. Indem nun der Klassencharakter dieser Unterschiede bestritten wird, ergibt sich eine plausible Legitimation dafür, mit der Vertretung des eigenen Interesses auch das Klasseninteresse der anderen, nämlich der Arbeiter, zu verfolgen. Würde dagegen die Identität des gemeinsamen Klasseninteresses nicht gelten können, so müßten die bürgerlichen Intellektuellen als selbsternannte Usurpatoren eines fremden Klasseninteresses angesehen werden.
Nun ist aber das Ansinnen eines mit den Arbeitern gemeinsamen Interesses ein alter Topos der bürgerlichen Anbiederung. Von ihm lebte nicht nur der nationalistische Faschismus, sondern schon die bürgerliche Sozialpolitik. Die Tatsache, daß die ideologische Ausfüllung des angeblich gemeinsamen Interesses sich heute gewandelt hat, sollte gleichwohl die Frage nicht ausklammern, ob sich auch die objektive Funktion solcher Proklamationen geändert hat. Nur eine grobe Verkennung der tatsächlichen ökonomischen und
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sozialen Lage der Arbeiter kann von der Annahme ausgehen, daß etwa die verbeamteten Intellektuellen im pädagogischen Dienstleistungsbereich sich proletarisierten, also sich den Existenzbedingungen der Arbeiter anglichen.
2. Der Begriff vom "Gesamtarbeiter", der die meisten intellektuellen Berufe einschließt, legitimiert ferner einen faktischen Führungsanspruch für die Definition des Klasseninteresses. Solange nämlich die linksradikalen Intellektuellen noch von einem objektiven Klassenunterschied zwischen sich und den Arbeitern ausgingen, mußten sie die aufgrund ihres intellektuellen Vorsprungs übernommenen Führungstätigkeiten immer auch vor den Arbeitern rechtfertigen und verantworten. Diese Notwendigkeit entfällt nun prinzipiell; statt dessen reicht es aus, wenn die bürgerlichen Intellektuellen die Definition des proletarischen Klasseninteresses vor sich selber verantworten.
Auch ein solcher Führungsanspruch gehört zumindest seit dem Beginn der bürgerlichen Sozialpolitik zu den Topoi der bürgerlichen Zuwendung zum Proletariat. Die Geschichte der bürgerlichen Volkspädagogik ist eine einzige große Beispielsammlung dafür, wobei die Austauschbarkeit der ideologischen Begründungen uns nicht weiter irritieren soll, weil sie ideologiekritisch zu erklären wäre. Das gilt auch im Hinblick auf die Denunziation von Gelderwerb und Konsum, während man selbst doch die entsprechenden Privilegien keineswegs in Frage zu stellen gedenkt, im Gegenteil während des Studiums weitgehend von den Steuern der Arbeiterklasse und damit von deren Konsumverzicht existiert.
3. Neu ist jedoch im Vergleich zur Geschichte der Arbeiterbewegung die durchweg feststellbare Kontaktunfähigkeit im Umgang mit proletarischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Wenn überhaupt, kommt Kontakt nur durch die Unterwerfung der anderen unter die politischen Theoreme und Aktionen der Studenten zustande. In den Beschreibungen der pädagogischen Projekte nimmt das stellenweise die Qualität von Verachtung an. Lutz von Werder berichtet ausführlich von den angeblichen Lernprozessen der Studenten, die aus dem stufenweisen Scheitern erwuchsen. Aber er findet kein Wort des Bedauerns darüber, daß die Kinder bloßes Objekt, gleichsam das Material der studentischen Lernprozesse blieben. Die subjektiven Erwartungen der Kinder interessieren vielmehr erst in dem Augenblick, wo die Kinder wegbleiben, sich also dem Führungsanspruch entziehen. Die vielberufene Solidarität mit der Arbeiterklasse bleibt abstrakt, kann sich im persönlichen Bezug nicht konkretisieren.
4. Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, daß die vorliegenden pädagogischen Berichte in erster Linie eine Pathographie, eine Leidensbeschreibung der bürgerlich-studentischen Initiatoren selbst enthalten, eine Leidensbeschreibung, die sich - zumindest zunächst - jedoch nicht auf die kapitalistische Gesellschaft im allgemeinen, sondern auf den Status der bürgerlichen Intelligenz in ihr im besonderen bezieht. Das ist nicht diffamierend gemeint, denn Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen ver-
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dient in jedem Falle Respekt. Aber die Befreiung aus diesem Leiden kann nicht einfach dadurch erfolgen, daß man dafür ein anderes Klasseninteresse usurpiert. Die anti-autoritäre Rebellion gegen die selbsterlittenen Maximen der bürgerlichen Erziehung trieb nach ihrem Scheitern zum Suchen nach neuen Lösungen an, allerdings ohne klares Bewußtsein, was man eigentlich finden wollte. Die zunehmende Abwehr gegen psychoanalytische Kategorien, mit denen man Erziehungsprobleme beschreiben könnte, ist weniger das Ergebnis theoretischer Arbeit, als vielmehr ein Symptom der Unsicherheit.
Würde man sich, wie noch in der anti-autoritären Phase, über die eigenen Motive rückhaltlos Rechenschaft ablegen, so könnte vielleicht das beängstigende Ergebnis unter anderem in der Erkenntnis bestehen, daß es gerade unter den Kriterien der Marxschen Klassentheorie in Wahrheit darum geht, die Privilegien der bürgerlichen Existenz zu verteidigen. Unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen werden diese Privilegien objektiv aber höchstens mittelbar durch das kapitalistische System bedroht, unmittelbar jedoch durch diejenigen, die noch von den Privilegien ausgeschlossen sind: vor allem von den Arbeitern. Würde zum Beispiel die bildungsmäßige Unterprivilegierung der Arbeiterkinder beseitigt, so würden viele der linken Studenten auf den Hochschulen einem Leistungswettbewerb mit Arbeiterkindern ausgesetzt, dem sie nicht gewachsen wären, und als dessen Folge ihnen das Absinken ins Proletariat drohen würde. Die Furcht davor ist bekanntlich ein konstantes Leitmotiv neuzeitlicher gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Wenn diejenigen, die an diesen Privilegien teilhaben, den anderen solche Perspektiven der Eroberung der bürgerlichen Privilegien als bloß individuellen Aufstieg aus der Misere ihrer Klasse ausreden und sie statt dessen auf die ferne Zukunft einer kollektiven, revolutionären Organisation vertrösten wollen, dann nützt dies gegenwärtig nur den bisher Privilegierten.
Es lohnte sich, überhaupt zu prüfen, ob der Neo-Marxismus der studentischen bürgerlichen Jugend, vor allem im Hinblick auf ihre Gefolgschaft, objektiv mehr ist als die Neuformulierung einer alten mittelständischen Abwehrstrategie nach unten. Dafür scheint vieles zu sprechen. Die Zahl der Gruppen, die sich intellektuell und praktisch um eine Aufarbeitung der bisher von der bürgerlichen Wissenschaftstradition verdrängten marxistischen Theoreme und Beiträge bemühen, wird an den Hochschulen sichtbar geringer. Dagegen wächst die Zahl solcher Gruppen und ihrer Gefolgschaft, die mit zu Phrasen heruntergekommenen marxistischen Theorie-Fetzen nur noch die Verantwortung für eine fehlgeschlagene Praxis oder für nicht erbrachte Studienleistungen auf andere bzw. auf das "kapitalistische System" abzuwälzen trachten. Die auf Praxis - und keineswegs immer nur auf revolutionäre Praxis - bezogenen historisch-dialektischen Theoreme des Marxismus werden in eine zeitlos-antithetische Weltanschauung transformiert, mit der sich kleinbürgerliches Ressentiment und Statusängste in
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dogmatische Selbstsicherheit und kognitive Omnipotenz verwandeln lassen. Bürgerlich-kleinbürgerliches Kokettieren mit "Salon-Bolschewismus" hat es zwar auch früher gegeben, aber kaum mit solch intellektueller Dürftigkeit wie im gegenwärtigen kleinbürgerlichen Subkultur-Marxismus. Die kleinbürgerlichen Träger des Neo-Marxismus an den Hochschulen bieten, wenn man marxistische Theoreme einmal auf sie selbst anwendet, den Eindruck einer absterbenden Klasse, die schon zu lange (bildungs)privilegiert war, und die das, was über ihre Existenz hinaus gesellschaftlichen Fortschritt bringen könnte, mit ins Grab nehmen will. Ihre Pervertierung marxistischer Theoreme auf den Horizont des eigenen Ressentiments droht jedenfalls erneut die Legitimierung marxistischer Perspektiven für den Wissenschaftsbetrieb und die öffentliche Meinung und schließlich für die politisch-pädagogische Praxis zu verhindern. Der zur bürgerlich-kleinbürgerlichen Abwehrideologie gerupfte Neo-Marxismus hat längst die Konturen der klassischen Mittelstandsideologie angenommen. Der eigene gefährdete - und zwar durch zunehmende Demokratisierung gefährdete! - Sozialstatus soll nun nicht mehr wie bisher durch den omnipotenten Staat, sondern durch die Arbeiterklasse garantiert werden; die klassische unpolitische Haltung, verbunden mit der Verkündigung allgemeiner realitätsferner Prinzipien kehrt wieder im zur bestehenden Gesellschaft anti-thetischen Ideal einer antikapitalistischen Harmonie-Gesellschaft, für die man jedoch selbst nichts tun kann, weil ja doch alles dem "kapitalistischen System" zugute käme. Sogar der beim radikalisierten Kleinbürgertum immer anzutreffende anti-intellektuelle und anti-wissenschaftliche Affekt feiert fröhliche Urständ. Man braucht nur die alten Untersuchungen über das mittelständische politische Bewußtsein der Lehrer heranzuziehen, um zu erkennen, daß es sich strukturell nach wie vor um das gleiche ideologische Syndrom handelt (9).
Dagegen, und nicht zur Unterstützung derjenigen, die am liebsten alles beim alten ließen und den offensichtlichen politisch-pädagogischen Dilettantismus "linker" Studenten dafür zu gern als Alibi benutzen, wendet sich unsere Argumentation. Uns geht es darum, die Chancen neuer pädagogischer und politischer Strategien von ihrer dilettantischen Diskriminierung durch selbsternannte Chefideologen zu befreien und andererseits die intellektuell und praktisch engagierten "Linken" - zu denen ich auch Lutz von Werder rechne - vor einer zu schnellen Solidarität mit den objektiv reaktionären Massen "linker" Studenten zu warnen; denn bei der not-
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wendigen Rekonstruktion marxistischer Theoreme muß darauf geachtet werden, mit welchem partiellen Interesse sie sich in welcher Variation ideologisch verbinden.
III.
Es kann nämlich gar keinem Zweifel unterliegen, daß neue, den unmittelbaren Bedürfnissen und Interessen der Menschen verpflichtete pädagogische Strategien nur mit Hilfe marxistischer und psychoanalytischer Theoreme entwickelt werden können, also jener theoretischen Systeme, die aus politisch-ideologischen Gründen bis heute planmäßig aus der erziehungswissenschaftlichen Diskussion eliminiert wurden. Und es kann ferner keinen Zweifel daran geben, daß für die Kritik der bestehenden Erziehungsverhältnisse die marxistischen Theoreme unentbehrlich geworden sind. Das kann aber für die Adaption des Marxismus in diesem Zusammenhang eben nicht heißen, daß mit seiner Hilfe das spezifische bürgerlich-studentische Interesse an subkultureller gesellschaftlicher Distanz auf die Arbeiterschaft übertragen wird. Marxismus ist keine Lehre von gesellschaftlichen Subkulturen, sondern ein theoretisches Instrument dafür, jeweils mögliche politische und gesellschaftliche Verbesserungen im Rahmen einer historisch-inhaltlich bestimmten Kontinuität zu erkennen und zu realisieren. Wenn also der Terminus von der sogenannten "antikapitalistischen Erziehung" einen Sinn haben soll, dann kann er nur die dialektisch-fortschrittlichen Momente gegenwärtiger Erziehungspraxis und ihrer möglichen Alternativen bezeichnen.
1. Dann geht es nicht darum, die materiell, sozial und kulturell Unterprivilegierten in diesem Status festzuhalten, weil sie sonst vielleicht später keine Lust zur Revolution aufbringen würden, sondern darum, ihnen ein Optimum an politischen und pädagogischen Chancen zu verschaffen. Es geht um nichts weniger als um die Eroberung der bürgerlichen Privilegien. Wenn dabei Revolution vermieden wird, so ist das für alle Beteiligten nur von Vorteil.
2. Zweitens geht es nicht darum, das Denken und Fühlen der Menschen auf den Produktionssektor festzunageln, wenn sie selbst das Freizeit- und Konsumleben für wichtiger halten; vielmehr geht es darum, ihnen überhaupt optimale materielle, soziale und emotionale Bedingungen für ihre Lebensbedürfnisse zu verschaffen. Sollte dies unter den kapitalistischen Bedingungen nicht möglich sein, so müßte das erst noch zur unbestreitbaren Erfahrung der Massen werden.
3. Drittens geht es nicht darum, sich irgendeine Vorstellung von proletarischer Erziehung aus den Fingern zu saugen, die mit dem real vorhandenen System der Erziehungsdienstleistungen nicht mehr vermittelt werden kann, sondern darum, die vorhandenen institutionellen und didaktischen Möglichkeiten für die bisher Unterprivilegierten optimal nutzbar zu machen und zu verbessern.
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4. Viertens geht es nicht darum, den Kapitalismus pauschal und abstrakt zu bekämpfen - das liefe ohnehin nur wieder auf eine Interpretation der politischen Welt hinaus und nicht auf ihre Veränderung. Man kann den Menschen heute nicht mehr ausreden, daß ihnen der Kapitalismus auch eine Reihe von Vorteilen und Befriedigungen verschafft. Vielmehr kommt es darauf an, den Kapitalismus dort zu bekämpfen, wo er unmittelbar anschaulich die Lebensinteressen von Menschen verletzt.
5. Fünftens schließlich geht es nicht darum, die im politischen System der Bundesrepublik bereits erreichten Freiheiten, Sicherungen und Schutzregelungen, die gerade auch im Interesse der Benachteiligten liegen, durch gedankenlosen Radikalismus zu gefährden; vielmehr kommt es darauf an, die Prinzipien unserer Verfassung gegen reaktionäre Unterwanderung zu schützen und sie für die Interessen der Mehrheit optimal nutzbar zu machen.
Solche politischen Perspektiven decken vielleicht nicht den Bedarf an Aggressionsableitung und an Enthusiasmus, aber sie ergeben sich notwendig, wenn das Eintreten für die Interessen der Arbeiterklasse wirklich ernstgemeint ist. Dann stellen sich auch die pädagogischen Perspektiven sehr viel pragmatischer dar:
1. Die Lernziele für eine so verstandene antikapitalistische Erziehung, die gleichsam mit dem Grundgesetz unter dem Arm anzutreten hätte, lassen sich - wie wir gesehen haben - nicht einfach aus marxistischen Theoremen deduzieren. Zumindest muß dazu der Marxismus mit Sozialisationstheorien kombiniert werden, die er selbst nie besessen hat. Das erfordert eine umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den einschlägigen Theorien und Erkenntnissen. Dabei mag es eine didaktische Hilfe sein, das Bewußtsein durch praktischen Umgang mit proletarischen Kindern und Jugendlichen zu erproben, solange dabei diese Partner selbst hinsichtlich ihrer geäußerten Wünsche und Bedürfnisse voll auf ihre Kosten kommen. Aber der Umgang mit ihnen ist kein Ersatz für systematisches wissenschaftliches Studium ("Praxis-Fetischismus" - Haug), und die Bedürfnisse der Partner setzen den Lerninteressen der Studenten auch klare Grenzen.
2. Die didaktische Konzeption muß in ganz anderem Maße als bisher diese verbal oder nicht-verbal geäußerten Wünsche und Bedürfnisse ernstnehmen und verstehen. Wenn zum Beispiel Arbeitereltern und deren Kinder ihre materiellen Wünsche auf das Eigenheim im Grünen, auf den Fernseher und das Auto konzentrieren, so ist dies sozialgeschichtlich etwas anderes als kleinbürgerliche Raffgier. Es ist die zähe Verteidigung eines kleinen materiellen Glücks, auf das die Eltern und Großeltern noch nicht zu hoffen wagten. Wenn Arbeiter ihre Frauen und Töchter möglichst aus dem Produktionssektor heraushalten wollen, so mag dies dem mittelständischen Bewußtsein radikaler Studenten als autoritäre Unterdrückung der Frau erscheinen. Subjektiv jedoch markiert dies im Kontext der Klassengeschichte auch eine Chance zur Emanzipation; denn die Mütter und Großmütter dieser
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Frauen mußten noch aus unmittelbarer Not jede unterprivilegierte Arbeit annehmen, die sich gerade anbot.
3. Didaktische Strategien müssen also hier wie überall am jeweiligen Selbstverständnis und Interesse der Partner ansetzen. Diese sind nicht nur geprägt vom kapitalistischen Marktmechanismus und durch lebensgeschichtliche Determinanten, sondern auch durch Erfahrungen der Klassengeschichte, die jedoch mehr sind als eine marxistische Ideengeschichte.
4. Die geäußerten Wünsche und Bedürfnisse allein machen aber nur die eine Seite einer didaktischen Perspektive aus. Sie motivieren das Lernen gerade dadurch, daß die Realisierung dieser Wünsche durch die gesellschaftlichen Bedingungen verhindert wird. Erst der Konflikt zwischen den Bedürfnissen und den Chancen ihrer Realisierung kennzeichnet den fundamentalen Ansatz einer didaktischen Strategie. In diesem Konflikt geht es nicht nur darum, die Bedürfnisse gegen die Realität durchzusetzen, sondern auch darum, diese Bedürfnisse klarer zu verstehen, präziser zu fassen und, wenn möglich, zu verändern. In Lernprozessen auch schon von proletarischen Kindern sind die empirisch feststellbaren Bedürfnisse und Wünsche gewiß selbst auch Themen dieser Lernprozesse. Aber auch die mögliche Korrektur der Bedürfnisse kann nur soweit gehen, wie sie den Kindern und Jugendlichen selbst plausibel ist, wobei die Lernreichweite abhängig bleibt von den Determinanten des sozialen Milieus. Was im Milieu nicht mehr "ankommt'', wird in der Regel auch abgewehrt.
5. Auch die Suche nach spezifisch antikapitalistischen pädagogischen Methoden geht notwendig in die Irre. Denn neue Methoden werden nicht spontan ausgedacht, sondern sie entwickeln sich in der historischen Kontinuität der pädagogischen Praxis - als deren Kritik. Auch in den sozialistischen Ländern ist das Repertoire der Methoden nicht über das kapitalistischer Länder hinausgegangen. Es gibt nur unterschiedliche Optionen für bestimmte Methoden, sowie die Möglichkeit ihrer Umfunktionierung. Aber auch das muß gelernt sein. So berichtet Lutz von Werder von einem Monopoly-Spiel, bei dem die Sieger hinterher enteignet wurden. Solange eine solche Idee jedoch nicht so in die Spielregeln eingearbeitet wird, daß sie für alle Mitspieler kalkulierbar ist und vor allem auch scheitern kann, führt sie nur zur Zerstörung des Spieles selbst und zur Frustration der Gewinner.
Je mehr man die pädagogischen Details der sogenannten "antikapitalistischen Erziehung" oder "proletarischen Erziehung" untersucht, und je weniger man sich dabei von ideologischen Maulfechtereien blenden läßt, um so klarer wird, daß diese Erziehung bisher - auch gemessen an ihren eigenen Intentionen - keinerlei didaktische und methodische Fortschritte erbracht hat. Die ständigen ideologischen Abgrenzungsbemühungen gegen die sogenannte "liberale" oder nur "progressive" Pädagogik scheinen eher den Zweck einer Marktaufteilung zu haben:
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Der Umfang dessen, was eigentlich gelernt und bearbeitet werden müßte, schrumpft auf diese Weise erheblich zusammen, und das Ausgestoßene muß nur noch unter einige Phrasen subsumiert werden. Auch die internen Richtungskämpfe scheinen den radikalisierten Regeln bürgerlicher Individualkonkurrenz zu unterliegen: sie erbringen nichts, was praktische Relevanz hätte, aber sie erlauben unbegrenzte Variationen der Selbstinszenierung. Eine antikapitalistische pädagogische Konzeption, die diesen Namen verdiente, würde den Akteuren gerade das abfordern, was sie offenbar nicht leisten wollen: intensives wissenschaftliches Studium, eine sehr lange Zeitperspektive für Erfolgserwartungen, mühsame und regelmäßige pädagogische Kleinarbeit, geduldiges Eingehen auf ihnen fremde Bedürfnisse, realitätsgerechte politische Analysen und Disziplinierung der eigenen Affekte. Die produktive Adaption des Marxismus durch die Erziehungswissenschaft und die Entwicklung pädagogischer Strategien zugunsten benachteiligter Klassen und Gruppen sind eine zu wichtige Sache, als daß man sie weiter durch Dilettantismus öffentlich diskriminieren lassen dürfte. Wenn man eine Vorliebe für große Worte hat, kann man eine Erziehung, die der großen Mehrheit der Lohnabhängigen die im Grundgesetz versprochenen Lebenschancen verschaffen will, eine antikapitalistische nennen. Diese Erziehung würde zweifellos politischen Widerstand hervorrufen, weil sie Privilegien angriffe. Aber zur Debatte stünden dann nicht nur die Privilegien kapitalistischer Entscheidungsträger, sondern auch die bürgerlicher Studenten.
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Anmerkungen:
(1) Eine genauere Definition von "linksradikal" ist in diesem Zusammenhang schon deshalb kaum möglich, weil schon zu klären wäre, ob nicht in vielen Fällen "rechts" ist, was sich "links" einschätzt. Außerdem unterliegen die fraglichen Gruppen dauernden Spaltungsprozessen, so daß sie sich nicht einmal in einer bestimmten Stadt genau bestimmen lassen. Deshalb bezieht sich das folgende auch auf einige Publikationen, deren Kritik erst am Schluß verallgemeinert wird.
(2) Friedhelm Nyssen (Hrsg.): Schulkritik als Kapitalismus-Kritik. Göttingen 1971.
(3) Edwin Hoernle: Grundfragen proletarischer Erziehung. Darmstadt 1969.
(4) Otto F. Kanitz: Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft. Jena 1925 (wieder abgedruckt in: ders.: Kämpfer der Zukunft. Frankfurt 1970).
(5) Siegfried Bernfeld: Antiautoritäre Erziehung und Psychoanalyse, 3 Bände. Frankfurt 1969 - 1970.
(6) Aus den Zwanziger Jahren sind vor allem die Arbeiten von Wilhelm Reich zu nennen sowie die daran sich anschließenden Auseinandersetzungen. Zur jüngeren Diskussion dieses Problems vgl. die ausgezeichnete Arbeit von Helmut Dahmer: Psychoanalyse und historischer Materialismus, in: A. Lorenzer u.a.: Psychoanalyse als Sozialwissenschaft. Frankfurt 1971.
(7) Peter Brosch: Fürsorgeerziehung - Heimterror und Gegenwehr. Frankfurt 1971; Autorenkollektiv: Schülerladen Rote Freiheit. Frankfurt 197; Lutz von Werder: Von der antiautoritären zur proletarischen Erziehung. Ein Bericht aus der Praxis. Frankfurt 1972
(8) Die theoretische Voraussetzung nämlich dafür, den Organisationen der Arbeiterschaft die Entscheidung über politisch-pädagogische Einzelmaßnahmen zu überlassen, die ja aus der marxistischen politischen Theorie nicht einfach deduzierbar sind, war, daß sich in diesen Organisationen das Bewußtsein von der historischen Kontinuität des Klassenkampfes in seiner jeweils fortschrittlichsten Form niedergeschlagen habe. Ohne ein solches Bewußtsein jedoch - wie in der Gegenwart - sind Arbeiterorganisationen genauso blind wie andere gesellschaftliche Organisationen auch. Unter diesen Umständen kann Lutz von Werders Anlehnung an die Arbeiterorganisationen nur zu Pragmatismus oder zu Aktionismus führen. Dieses Problem, daß nämlich die verschwundene historische Kontinuität durch Lehre ersetzt werden müsse, hat Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. 6. völlig überarbeitete Aufl. Frankfurt 1971, deutlich gesehen.
(9) Überhaupt wäre einmal zu prüfen, welcher Zusammenhang zwischen diesem Neo-Marxismus und der gesellschaftlichen Verunsicherung der Lehrer und der Lehrer-Studenten besteht. Einige Publikationen, z.B. Freerk Huisken: Zur Kritik bürgerlicher Didaktik und Bildungsökonomie. München 1972, benutzen neo-marxistische Theoreme auf eigentümliche Weise zur Legitimierung standespolitischer Forderungen der Lehrer. In den letzten Arbeiten von Hans-Jochen Gamm bekommen die Lehrer fast die Funktion eines neuen "revolutionären Subjekts".
85. Pluralistische Sozialisation und das Verhältnis von Schule und Sozialpädagogik (1973)
(In: deusche jugend, H. 8/1973, S. 351-360)
(Auch in: Hermann Giesecke (Hrsg.):Offensive Sozialpädagogik. Göttingen 1973, S. 123-135, H. G.)
Die Bildungsplanung der letzten Jahre ist Schul- bzw. Hochschulplanung geblieben. Das, was man herkömmlich Sozialpädagogik nennt, erscheint dort entweder überhaupt nicht oder nur als etwas, was in die Schulplanung integriert werden müsse: Kindergartenerziehung als "Primarbereich" bzw. "Vorschule", außerschulische Jugendarbeit und sozialpädagogische Beratung als Teil der Ganztagsschule usw. Die Bildungsplanung setzt offenbar auf die Möglichkeit, den ganzen Sozialisationsprozeß der Heranwachsenden zumindest im "Normalfalle" überwiegend in einer einzigen Institution, nämlich in der zu reformierenden Schule, planen zu können. Und der Sozialpädagogik blieben wie bisher vor allem diejenigen Kinder und Jugendlichen überantwortet, die die Schulleistungserwartungen beim besten Willen nicht erfüllen können oder gar für andere gefährden würden. Diese schulische Zuversicht muß überraschen angesichts der Tatsache, daß gerade in den letzten Jahren zunehmend Zweifel daran aufkommen, ob die Schule ihre herkömmlich überragende Bedeutung für die Sozialisation auch in Zukunft noch haben kann.
Daß sich die Bildungsreform so ausschließlich als Schulreform zeigt, hat vor allem folgende Gründe:
1. Es liegt rein verwaltungstechnisch nahe, daß die Kultusverwaltungen sich auf denjenigen Bildungsbereich konzentrieren, den sie fest in der Hand haben. Die Erziehungsreform soweit wie möglich als Schulreform zu realisieren, muß realistischer erscheinen, als sich ohne Not auf die viel schwierigere und kompliziertere Struktur der Sozialpädagogik und ihrer Träger und Kompetenzen einzulassen.
2. Insofern die Schule Berechtigungen erteilt, die für die gesellschaftliche Perspektive der Heranwachsenden von großer Bedeutung sind, kann man hier mit einem unmittelbaren und umfangreichen öffentlichen Interesse rechnen.
3. Die Erziehungswissenschaft, also die fachliche Öffentlichkeit, ist ganz überwiegend Schulwissenschaft; dies in Verbindung mit sozialen und materiellen
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Emanzipationsbestrebungen der Lehrer (vor allem der Volksschullehrer) hat zu einer Art von Monopolisierung der theoretischen und der öffentlichen Diskussion geführt.
4. Dem haben die sozialpädagogischen Träger, herkömmlich untereinander aufgespalten und öffentlich relativ unbeachtet, schon quantitativ wenig entgegenzusetzen. Die in diesem Bereich engagierten Wissenschaftler sind leicht zu zählen, und sie werden im allgemeinen von der Praxis eher als Bedrohung denn als mögliche Verbündete bei der öffentlichen Präsentation ihrer Interessen und ihrer spezifischen Aufgaben empfunden. Jedenfalls herrscht große Unsicherheit über die künftige Aufgabe im Rahmen des reformierten Schulsystems - nicht zuletzt auch bei der außerschulischen Jugendarbeit. Aber auch bei den Trägern der Ersatzerziehung ist zumindest unklar, ob nicht-staatliche Trägerschaften in Zukunft noch eine Bedeutung und Berechtigung haben werden.
Aktuell wird die Frage, in welchem Zusammenhang in Zukunft Schule und Sozialpädagogik stehen sollen, nicht nur durch die Bildungsplanung als Schulplanung, sondern auch durch die Bestrebungen, ein neues Jugendhilferecht zu schaffen. Damit taucht nämlich die Frage auf, ob es gemeinsame Leitgesichtspunkte für die Schulreform einerseits und für die Reform des Jugendhilferechts andererseits gibt, die vielleicht geeignet sind, beide Maßnahmen-Komplexe besser als bisher aufeinander zu beziehen. Ein solcher Leitgesichtspunkt wäre, daß beide sich beziehen auf die Sozialisation, also darauf, daß das Heranwachsen des Nachwuchses so gut wie irgend möglich gelingen soll. Dieser Gedanke und einige wichtige Folgerungen sollen im folgenden etwas genauer entwickelt werden.
Sozialisation als geschichtlicher Prozeß
Es gibt, wenn auch unvollkommen, eine Geschichte der Gedanken über Erziehung, eine Geschichte der Schule und eine Geschichte der Sozialpädagogik, aber es gibt noch keine Geschichte der Sozialisation, die als eine Strukturgeschichte über den Zusammenhang der wichtigsten Faktoren zu konzipieren wäre, die zu bestimmten Zeiten für das Heranwachsen des Nachwuchses relevant gewesen sind. Nur in einem solchen Strukturmodell nämlich könnte dargestellt werden, wie sich die Bedeutung der einzelnen Faktoren im Verhältnis zueinander geändert hat. Ähnlich wie in der Gegenwart Reformüberlegungen nur aus der Perspektive einzelner Sozialisationsinstanzen, z. B. der Schule, angestellt werden, ist auch die historische Perspektive in solche partiellen Gesichtspunkte separiert. Insofern krankt die gegenwärtige Reformdiskussion am Fehlen eines adäquaten historischen Bewußtseins. Das Gesamte der Sozialisation wird infolgedessen gedacht als die bloße Verlängerung eines partiellen gesellschaftlich institutionalisierten Sozialisationsmodus.
Eine auch nur flüchtige historische Reflexion zeigt jedoch, daß diese Perspektive notwendig zu falschen Schlüssen für gegenwärtige Problemstellungen führen muß.
Die materielle und pädagogische Fürsorge für das Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen, also für deren Sozialisation, vollzog sich lange Zeit ausschließlich
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im Bereich der Familie und einer Arbeits- und Sozialverfassung, deren Kern und Muster die Familie war. Erst relativ spät, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert und bedingt vor allem durch ökonomische Veränderungen (z. B. Ausgliederung der Arbeitsstätten aus dem familiären Zusammenhang in Gestalt von Manufakturen und Fabriken) mußte die familiäre durch die schulische Sozialisation ergänzt werden. Vor allem die speziellen Funktionen des neuen Bürgertums bedurften planmäßiger Unterrichtung und eines planmäßigen, systematischen Trainings, weil z. B. die Abstraktheit ökonomischer Abläufe nicht mehr durch das einfache Modell von Zusehen und Nachmachen ins Bewußtsein zu nehmen war: rational-abstrakte Verwaltung und Wirtschaftstätigkeit verlangten ein rational-systematisches Bewußtsein, das Abläufe und Prozesse auch kalkulierend zu antizipieren vermochte. Die moderne Schule ist in diesem Sinne "bürgerliche" Schule - auch insoweit es um die Volksschule ging, also um die Schule für die unteren Schichten. Die "allgemeine Schulpflicht" nämlich, in Deutschland im 18. Jahrhundert von Staats wegen befohlen und erst allmählich und z. B. in einigen ostelbischen Agrargebieten erst zu Beginn unseres Jahrhunderts realisiert, erfolgte im wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens aus ideologischen, weil im Übergang von der feudalistischen zur kapitalistischen Wirtschafts- und Sozialverfassung die tradierte Bindung des Volkes an die Autoritäten brüchig geworden war; das Volk mußte nun in organisierter Weise lernen, alten und neuen Autoritäten teils auf die alte, teils auf eine neue Weise zu gehorchen. Zweitens gab es wichtige ökonomische Gründe: Nach den verheerenden Wirkungen des Dreißigjährigen und auch noch des Siebenjährigen Krieges war die menschliche Arbeitskraft das wichtigste Produktionsmittel; sie mußte nun sowohl die Tugenden der möglichst uneingeschränkten Arbeitsbereitschaft ebenso lernen wie die praktischen Fähigkeiten dafür. Damit wurde zugleich die allgemeine Disponierung für die kapitalistische Form der Arbeit inszeniert und verbreitet. Die bürgerliche Schule, sowohl die für das Bürgertum selbst wie für die unteren Schichten, war also von vornherein eine ideologische und praktische Antwort auf bestimmte gesellschaftlich-ökonomische Veränderungen, und sie blieb eine partielle Sozialisationsinstitution im Kontext familiärer, kirchlicher und gemeindlicher Sozialisationskontexte. Und es ist denkbar, daß sie bei neuen schwerwiegenden gesellschaftlichen Veränderungen ihre Funktionen ändern oder auch weitgehend verlieren kann.
Für die Emanzipation der unteren Klassen bedeutete die Einführung der Schule prinzipiell einen Fortschritt. Dies muß festgehalten werden, auch wenn die Volksschule bis in unsere Gegenwart hinein ideologisch eine Klassenschule geblieben ist, die den Nachwuchs der unteren Schichten nur das lernen ließ, was sie in ihrem unterprivilegierten gesellschaftlichen Status festhielt und zufrieden machte.
Der Fortschritt bestand zunächst darin, daß für die Dauer der Schulzeit der Unterschichten-Nachwuchs aus der Produktion herausgenommen und zu dieser in eine Distanz gebracht wurde. Was das bedeutete, läßt sich am besten an der Geschichte der industriellen Kinderarbeit verdeutlichen. Die gesetzliche Schulpflicht und ihre Durchsetzung, die von Industriellen und Großagrariern nicht zufällig über Jahrzehnte sabotiert wurde (und auch von den Eltern, die die Hungerlöhne ihrer Kinder zum Überleben brauchten), waren im 19. Jahrhundert die einzige praktische Möglichkeit, der physischen und psychischen Vernichtung dieser Kin-
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der zu begegnen. Daß dies erst auf dem Hintergrund einer entsprechend entwickelten ökonomischen Produktivität gelang, versteht sich von selbst
Die eben beschriebene tendenzielle Ausgliederung des proletarischen Nachwuchses aus den Arbeitsprozessen war jedoch nur die Voraussetzung für etwas viel Wichtigeres: Im Unterschied nämlich zur bloß "naturwüchsigen", ausschließlich familiären Sozialisation hat die schulische erst die Möglichkeit zu systematisch-geplanten Lernprozessen geschaffen, die die Reproduktion des traditionell Immergleichen und die unmittelbare Reproduktion des Lebens übersteigen und "bessere" Lebensperspektiven gedanklich antizipieren konnten. Erst die über Jahre gehende Planmäßigkeit des Schulunterrichts konnte für die Individuen "Zukunft" rational verfügbar machen - gerade auch eine solche, die ein Mehr an Emanzipation enthält als die Gegenwart. Ohne Schule könnte es kein auf die Zukunft gerichtetes planmäßiges politisches Handeln geben und erst recht keine Ansätze von kritischem Bewußtsein.
Wer die Geschichte der Schule, insbesondere der Volksschule, kennt, weiß, daß diese Chance, das Bewußtsein in größtmöglicher Distanz zur unmittelbaren ökonomischen Ausbeutung aufzuklären, nicht genutzt worden ist; eben diese Differenz charakterisiert die bisherige Schule als Klassenschule, für deren Aufrechterhaltung es naheliegende - und keineswegs nur ökonomische - Interessen gab. Schlimmer ist jedoch, daß diese Chance auch in den gegenwärtigen Reformdiskussionen kaum zu erkennen ist. Anstatt daß nun endlich, nachdem die verblasenen alten pädagogisch verschleierten anti-wissenschaftlichen Weltanschauungen keine Chance mehr haben, die Schule als wissenschaftsorientierte Aufklärung des Bewußtseins und Denkens etabliert wird, wird erneut auf Sekundäres und Abgeleitetes spekuliert: auf funktionierende Verhaltensweisen und nützliche Fertigkeiten sowie auf kurzgeschlossene "Praxis"; statt dessen werden der Schule Sozialisationsaufgaben zugesprochen, die von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenken und nur unter den ganz anderen Bedingungen anderer Sozialisationsinstitutionen wirklich befriedigend anzubieten wären.
Aber verfolgen wir zunächst erst noch den zweiten Strang der pädagogisch geplanten Sozialisationsinstitutionen: die sozialpädagogischen. Etwas vereinfacht könnte man sagen, daß sich die Schule von oben nach unten sozialisierte, also von den Privilegierten zu den Unterprivilegierten hin, bei den sozialpädagogischen Maßnahmen verlief die Entwicklung umgekehrt. Die Entstehung der neuzeitlichen Sozialpädagogik hängt aufs engste mit der Entstehung des Proletariats zusammen, d. h. damit, daß die Arbeitskraft im Kontext des Kapitalismus zur Ware wurde. Dieser Prozeß hatte nämlich, wie sich wieder am Beispiel der industriellen Kinderarbeit besonders deutlich zeigen läßt, für die nun erst als Klasse entstehende Arbeiterschaft verheerende Folgen. Die familiären und gemeindlichen Sozialkontexte wurden zerstört, ohne daß sie zunächst durch neue Sozialbindungen ersetzt wurden - wenn man absieht vom "freien Verkauf" schon der kindlichen Arbeitskraft und davon, daß das Fabrikleben selbst die einzige Sozialisationsinstanz wurde, während die Familie im wesentlichen zur Schlafstätte schrumpfte. Mit Recht heißt es im Kommunistischen Manifest, daß nicht die Kommunisten die Familie abschaffen wollten, sondern daß die kapitalistische Ausbeutung sie für das Proletariat längst abgeschafft habe. Man kann sich unschwer ausmalen, was die rigorose Reduktion der Sozialisation auf die
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vom kapitalistischen Arbeitsplatz ausgehenden Anreize wirklich bedeutet haben, und die kritischen pädagogischen Zeitgenossen haben das ja auch deutlich gesehen.
Politisch gab es auf diese Situation der Arbeiterklasse bekanntlich zwei entgegengesetzte Antworten: die marxistisch-sozialistische Arbeiterbewegung und die bürgerlich-staatliche Sozialpolitik, welch letztere sich unter Adaption von Impulsen der Arbeiterbewegung historisch durchsetzte. Das pädagogische Pendant zur Sozialpolitik war die Sozialpädagogik. Deren Ausgangspunkt war also die prinzipielle Sozialisations-Defizienz des proletarischen Kindes überhaupt.
Die Durchsetzung der Schulpflicht allein konnte dieses Defizit nicht decken, nötig wurden in zunehmendem Maße außerschulische ergänzende Maßnahmen. Zunächst ging es dabei um defensive Maßnahmen, nämlich darum, die "Verwahrlosung" und "Kriminalität" des in dieser Hinsicht prinzipiell "gefährdeten" proletarischen Kindes unter Kontrolle zu bekommen (z. B. Zwangserziehung bzw. Fürsorgeerziehung). Bald wurden aber auch offensive Maßnahmen ergriffen, die der "Verwahrlosung" vorbeugen sollten: z. B. Iokale Freizeiteinrichtungen, um die Kinder "von der Straße zu holen"; Ferienmaßnahmen, um sie wenigstens für kurze Zeit aus den Slums zur Erholung in die Natur zu bringen und ihnen ausreichend zu essen zu geben, usw. Vom historischen Objekt der Sozialpädagogik her, nämlich der reduzierten Sozialisation des proletarischen Kindes, wäre die vielberufene "Einheit der Jugendhilfe", nämlich die Zusammenfassung der sogenannten "fürsorgerischen" und "jugendpflegerischen" Maßnahmen, immer schon zwingend gewesen. Daß es trotzdem bisher nicht konsequent dazu kam, hat viele Gründe, nicht zuletzt den, daß soziale Abweichung und Kriminalität - übrigens auch von der Arbeiterbewegung selbst - nicht folgerichtig als bloße Variation des unterprivilegierten Status gesehen wurden; auch früher schon schadete es der eigenen Reputation, sich von der kriminellen Abweichung nicht sorgfältig zu distanzieren.
Die neuere Geschichte der Sozialpädagogik, die also Teil der Geschichte des Proletariats und wie diese überhaupt noch ganz ungenügend erforscht und dargestellt ist, ist jedoch nur verständlich, wenn man sieht, daß sie im Kontext der allgemeinen Sozialpolitik gegen die (zumindest verbal) revolutionären Intentionen der Arbeiterbewegung gerichtet waren und auf die Integration der Arbeiterschaft und ihres Nachwuchses in die bestehende bürgerliche Gesellschaft und ihre Normen zielt. Von daher, sowie von den mit diesen politischen Intentionen mannigfach verflochtenen ideologischen Spezialinteressen und Traditionen der Träger her erklären sich ideologische und institutionelle Besonderheiten, die der sozialpädagogischen Arbeit bis heute noch anhaften und vor allem in den letzten Jahren wieder zunehmend kritisiert wurden (z. B. die materielle und pädagogische Rückständigkeit; das im Vergleich zu anderen pädagogischen Einrichtungen geringe Ansehen; der Vorrang disziplinierender vor helfend-emanzipatorischer Maßnahmen und anderes mehr). Wäre Sozialpädagogik von Anfang an nicht eine Antwort auf Probleme der proletarischen Sozialisation gewesen, sondern hätte sie ein Ensemble notwendiger Maßnahmen auch für bürgerliche Kinder sein müssen, dann wäre mit Sicherheit ihre Geschichte anders verlaufen. Das neuentstandene Interesse der Öffentlichkeit an sozialpädagogischen Problemen hängt nämlich nicht zuletzt mit der Ahnung zusammen, daß schon
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heute und in Zukunft immer mehr gerade das Gelingen der bürgerlich-mittelständischen Sozialisation in erheblichem Maße von sozialpädagogischen Angeboten abhängen wird.
Vom historischen Ursprung her sind sozialpädagogische Maßnahmen also speziell für die unteren Schichten eingerichtet worden. Das zeigt sich heute noch in den Statistiken, etwa in der Überrepräsentation von Unterschichtkindern in den Fürsorgeheimen und in den Jugendgefängnissen. Im mittleren und gehobenen Bürgertum gab es zwar auch immer schon sozialpädagogische Probleme, z. B. abweichendes Verhalten und Erziehungsschwierigkeiten, aber dort konnten sie über lange Zeit ohne Inanspruchnahme öffentlicher Erziehungshilfe entweder innerhalb der Familie oder wenigstens durch die finanziellen Mittel der Familie gelöst werden (z. B. durch Bezahlung zusätzlicher, nicht diskriminierender Erziehungspersonen; durch Überweisung in teuere Internate; oder auch durch Übergang in "abweichende Berufe" wie Künstler oder Schauspieler). Selbst das auf dem Prinzip der Erziehung aufgebaute moderne Jugendstrafrecht ist paradoxerweise eher den bürgerlichen Familien zugute gekommen, insofern man - im Unterschied zu Unterschichtfamilien - hier auf die nach wie vor "intakte" Erziehungsfähigkeit der Familie setzen und zumindest Heimeinweisung verhindern konnte.
Pluralistische und widersprüchliche Sozialisation
Mit der allgemeinen Einführung von Schule als Sozialisationsinstanz war der Prozeß des Heranwachsens im Prinzip bereits pluralistisch geworden. Schule konnte auf die Dauer nicht bloß die Fortsetzung der familiären Erziehungserwartungen mit anderen Mitteln, sie mußte auch wesentlich deren Korrektur sein. Erst insofern sich die Schule gegenüber der Begrenztheit familiärer und damit partikularer Erwartungen und Perspektiven autonomisierte, eröffneten sich ihr die vorhin angedeuteten, im systematischen Unterricht liegenden emanzipatorischen Chancen. Schule ist im Prinzip auch die Befreiung der Heranwachsenden aus der Totalität der Familie.
Die tatsächliche Entwicklung ist jedoch entgegen dieser Einsicht verlaufen. Darin drückt sich der enge Zusammenhang von Familienideologie und konservativer Herrschaft sowie in anderer Form noch einmal die Klassenerziehung überhaupt aus. Hartnäckig hielt sich und hält sich zum Teil noch die Vorstellung von der Einheit der schulischen und familiären Erziehung, nämlich daß beide "am gleichen Strang ziehen" müßten. Noch in Details kommt dies zum Ausdruck - etwa daß bei den Hausaufgaben mit der Hilfe der Eltern spekuliert wird, anstatt daß umgekehrt der systematische Unterricht dem Kinde die Erfahrung der Befreiung und die andere von der qualitativ neuen Teilnahme am naturwüchsigen Sozialzusammenhang der Familie vermittelte.
Inzwischen hat sich die Zahl der unmittelbar wirksamen Sozialisationsinstanzen neben Familie und Schule weiter vermehrt:
a) Die Gruppe der Gleichaltrigen ermöglicht Aspekte der Sozialisation, die so weder in der Schule noch in der Familie möglich sind;
b) die Massenmedien bieten in permanenter Wiederholung Informationen und Leitvorstellungen an, die längst - unabhängig von Schule und Familie - eine nur ihnen eigentümliche Wirkung angenommen haben;
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c) das System von Freizeit und Konsum prägt Einstellungen und Verhaltensweisen in starkem Maße;
d) die Erfahrungen am Arbeitsplatz, der der familiären Sphäre entrückt ist und vorrangig nach dem Prinzip der möglichst effektiven Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft organisiert ist, sind in hohem Maße bestimmend für die Selbsteinschätzung des einzelnen und für die Interpretation der ökonomisch-politischen Welt.
Die Sozialisationswirkungen dieser Faktoren sind leider noch ganz ungenügend erforscht, aber man darf schon auf Grund der Lebenserfahrung von der Hypothese ausgehen, daß diese Wirkungen weitgehend widersprüchlich zueinander sind und eben faktisch nicht "am gleichen Strang ziehen". Die menschliche Sozialisation ist also heute von einer ganzen Reihe von Faktoren beeinflußt, und die pädagogisch geplanten Maßnahmen (der Eltern, der Lehrer, der Sozialpädagogen usw.) sind nur ein Teil davon. Aus dem heute vorliegenden pluralistischen und widersprüchlichen Charakter der Sozialisation ergeben sich einige wichtige Konsequenzen:
1. Die Pluralität und innere Widersprüchlichkeit der heutigen Sozialisationsprozesse ist eine wichtige Voraussetzung für weitere Emanzipationsprozesse, insofern die Heranwachsenden auf diese Weise einen Spielraum für Autonomie und eigene Entscheidungen erhalten (sie können gleichsam bis zu einem gewissen Grade die Ansprüche der einen Instanz gegen die andere ausspielen).
2. Es ist nicht mehr möglich, alle für das Heranwachsen wichtigen Lernleistungen noch in ein und derselben Institution (z. B. Schule) zu organisieren. Jeder Versuch in dieser Richtung wäre armseliger als die tatsächlich vorhandene Fülle der Lernanreize, die das gesellschaftliche Leben im ganzen bietet. Pädagogisch geplante Institutionen wie die Schule müssen vielmehr ihre spezifischen pädagogischen Aufgaben im Kontext der anderen Sozialisationsinstanzen bestimmen; nur dann werden sie ihre Aufgabe optimal definieren können. Man kann den pluralistischen Zusammenhang der Sozialisation zwar denken, in Theorie fassen und empirisch weiter erforschen, aber man kann sie unter den gegenwärtigen und absehbaren gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr von einer Stelle aus organisieren. Nur wer da meint, das Denkbare sei immer auch das Organisierbare, und wer umgekehrt nur noch vom Organisierbaren her denkt, kann einem solchen Irrtum unterliegen.
3. Für die Schule ergeben sich daraus vor allem zwei Konsequenzen:
a) Sie ist definiert vor allem durch die Vergabe beruflich-gesellschaftlicher Berechtigungen. Alle Versuche, das Berechtigungswesen aus den schulpädagogischen Überlegungen herauszudefinieren, sind sozialromantisch; sie stellen gleichsam richtige Erwartungen an die falsche Adresse und übersehen, daß in einer Gesellschaft, die einerseits auf realer Ungleichheit beruht, andererseits diese aber auf Grund ihres demokratischen Selbstverständnisses als defizient empfinden muß, die Verteilung von Positionen durch entsprechende Schulabschlüsse die einzige halbwegs befriedigende Möglichkeit ist. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei jedoch sogleich hinzugefügt, daß mit "Berechtigungen" nicht nur berufliche Positionen gemeint sein können, sondern auch politische
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und kulturelle (Freizeit), und daß die beiden letzteren sogar prinzipiell unabhängig von der ersten zu denken sind: Politische und kulturelle Berechtigungen - und was dafür zu lernen ist - sind keine von der beruflichen Qualifikation abhängigen "Belohnungen".
b) Schon oben wurde betont, daß der zentrale Beitrag der Schule zur Sozialisation das systematische, über Jahre gehende Training des Bewußtseins bzw. der "Vorstellungen" (Theodor Wilhelm) durch Unterricht ist. Das Training von "Verhaltensweisen", das heute so in Mode steht und das Training des Bewußtseins längst zu subsumieren droht, hat an der Schule nur insofern einen Ort, als es für das Training des Bewußtseins unerläßlich ist. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit nämlich kann die Schule der Gefahr schichten- und klassenspezifischer Intentionen nur dadurch hinreichend entgehen, daß sie gerade nicht von finalen Verhaltenszielen aus operiert und überhaupt nicht von irgendwelchen vorgestellten Endprodukten der Persönlichkeitsentwicklung, sondern daß sie klassen- und schichtenneutrale Methoden der Bearbeitung des Bewußtseins zu ihrem didaktischen Kernpunkt macht. Das aber können nur wissenschaftliche bzw. wissenschaftsadäquate Methoden sein. Schuldidaktik muß also Wissenschaftsdidaktik sein; nur dann kann die Schule wirklich ihren überlieferten Klassen-Charakter überwinden und wird ihn nicht - wie in den meisten gegenwärtigen Reformvorschlägen - nur modernisieren.
c) In dem Maße jedoch, wie die Schule auf diese Weise sich von den gesellschaftlichen Ungleichheiten distanziert, ohne sie aufheben zu können, werden partikulare "außerschulische" Bildungsmaßnahmen wichtig, die gerade an dieser Ungleichheit anknüpfen und sich an partikularen Emanzipationsperspektiven orientieren. Insofern setzt jene reduzierte Funktionsbestimmung der Schule die Existenz außerschulischer Bildungseinrichtungen geradezu voraus, und zwar solcher, die nicht von staatlichen, sondern von partikularen gesellschaftlichen Trägern verantwortet, gleichwohl aber vom Staat angemessen mitfinanziert werden; denn die Beseitigung bzw. Korrektur historisch verschuldeter Ungleichheit ist Aufgabe nicht nur der davon betroffenen gesellschaftlichen Partikularitäten, sondern auch der demokratischen Prinzipien verpflichteten Gesamtgesellschaft überhaupt. Aus diesen Überlegungen folgt, daß nicht nur die Ganztagsschule (außer in besonders begründeten Fällen), sondern auch die Aufsaugung der Jugendarbeit durch diese Ganztagsschule eine Fehlkonstruktion ist, weil die Schule prinzipiell die Bedingungen für partikulare Bildungsinteressen gar nicht herstellen kann und darf.
4. Angesichts der beschriebenen pluralistischen und widersprüchlichen Sozialisation ergeben sich für die Erziehungswissenschaft, wenn sie als Entscheidungshilfe für Reformen taugen soll, zwei wichtige theoretische Probleme: Erstens muß sie den Gesamtzusammenhang der Sozialisation möglichst genau beschreiben; das läuft hinaus auf eine historisch-dynamische gesamtgesellschaftliche Theorie unter dem Aspekt des Heranwachsens in ihr. Zum anderen muß sie die unterschiedlichen Aufgaben und die unterschiedlichen Bedingungen der einzelnen pädagogischen Institutionen wenigstens prinzipiell und in allgemeinen Leitgesichtspunkten bestimmen können. Zweifellos ist die Erziehungswissenschaft dazu heute noch nicht annähernd in der Lage, teils weil sich ihr Selbstverständnis gegen eine solche Aufgabenstellung von vornherein verwahrt - als ob sich die gesellschaftliche Wirklichkeit nach beliebigen wissen-
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schaftlichen Konstruktionen verhalten würde - teils weil sie als Berufswissenschaft für professionelle Pädagogen - vor allem der Lehrer - aus der Perspektive bestimmter pädagogischer Arbeitsplätze her denkt und kaum umgekehrt aus der Perspektive derer, denen diese Arbeitsplätze letztlich nützen sollen: aus der Perspektive der Sozialisation der Kinder und Jugendlichen. Werden jedoch derlei Überlegungen versäumt, dann besteht die Gefahr, daß Reformen die in sie gesteckten Erwartungen nicht erfüllen oder zu problematischen Nebenwirkungen führen, daß z. B. eine übermäßig auf Leistung getrimmte und zeitlich über Gebühr ausgedehnte Schule, die wichtige Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen unterdrückt, selbst zur Gefährdung der Sozialisation beiträgt und die Einrichtung korrigierender Sozialisationsinstitutionen wie Kindertherapie, Beratung oder Fürsorgeerziehung nötig macht.
Sozialpädagogische Korrektur der Sozialisation
Der pluralistische Charakter der Sozialisation führt aber zu erheblichen Belastungen für den Heranwachsenden selbst; denn wenn die Sozialisation heute institutionell pluralistisch ist, kann sie ihrer Intention und Planung nach auch nicht mehr eine widerspruchslose Einheit sein (etwa im Sinne einer inhaltlich eindeutigen Idee der "Bildung"). Das bedeutet eine Verlagerung der Verantwortung für das Gelingen der Sozialisation von der objektiven auf die subjektive Seite, nämlich auf den Heranwachsenden selbst. Es ist zwar immer noch üblich, bei Schwierigkeiten im Sozialisationsprozeß (z.B. "Verwahrlosung") die Eltern, Lehrer und sonstigen Repräsentanten der Gesellschaft verantwortlich zu machen; aber das ist nur noch insofern richtig, als die Gesellschaft an sich mögliche Hilfen verweigert. In dem Maße jedoch, wie die verschiedenen Sozialisationsinstitutionen widersprüchliche Intentionen und Wirkungen haben und wie der Autonomie-Spielraum des Heranwachsenden dadurch wächst, fällt ihm auch ein neues Stück eigener Verantwortung für das Gelingen seiner Identität zu, weil eben niemand anderes mehr die volle Verantwortung dafür faktisch übernehmen kann. Nicht zuletzt diese Tatsache ist es, die einerseits das Gelingen der Sozialisation (sozusagen die "normale" Entwicklung) prinzipiell jedes Heranwachsenden heute gefährdet, andererseits aber auch eine Reihe zusätzlicher pädagogischer Maßnahmen und Institutionen nötig macht. Dazu gehören vor allem solche, die in Distanz zu den "Erziehungsberechtigten'' und zu den primär der Durchsetzung allgemeiner gesellschaftlicher Normen dienender Institutionen wie der Schule Hilfe für die je subjektiven Identitätsprozesse anbieten, und die so in gewissem Sinne "parteilich" für die Probleme der Heranwachsenden und gegen bestimmte Erwartungen der Gesellschaft vorgehen. Dazu gehören z. B. einige Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit wie die "Jugendberatung" und dazu sollten in viel größerem Maße auch die Einrichtungen der Ersatzerziehung gehören.
Es liegt auf der Hand, daß diese Funktionen nur bei völliger institutioneller Unabhängigkeit von der Schule wirklich wahrgenommen werden können. Auch die Staatlichkeit der außerschulischen Träger wäre aus demselben Grunde problematisch, zumal die nicht-staatlichen Träger sich schneller neuen Aufgaben zuwenden können als staatlich verwaltete Apparate. Nichts spricht jedenfalls dafür, daß
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staatliche Einrichtungen pädagogisch besser arbeiten würden als Einrichtungen nicht-staatlicher Träger. Die in der überlieferten Struktur der nicht-staatlichen Trägerschaft implizierten Probleme sollen damit natürlich nicht heruntergespielt werden; sie interessieren uns hier aber im einzelnen nicht und werden vermutlich eine erheblich verbesserte staatliche Kontrolle nötig machen.
Obwohl es nach wie vor schichtenspezifische Sozialisationsprobleme und Gefährdungen der Sozialisation gibt, hat der eben beschriebene pluralistische Charakter der gegenwärtigen Sozialisation auch für den Nachwuchs der mittleren und höheren Sozialschichten den Charakter massenhafter Gefährdung angenommen. Wie etwa die sprunghafte Zunahme der Kindertherapie und der institutionellen und publizistischen Erziehungsberatung zeigt, ist heute die Sozialisation des Mittelschicht-Kindes nicht weniger - wenn auch nicht unbedingt auf dieselbe Weise - gefährdet wie die des Unterschichtkindes. Und Kindergärten sind längst nicht mehr nur Bewahrungsanstalten für die Kinder arbeitender Eltern, sondern auch notwendige Ergänzungen und Korrekturen der zu begrenzt gewordenen sozialen und emotionalen Lernmöglichkeiten in den Familien selbst. Die Rauschgift-Welle der letzten Jahre hat den Blick nachdrücklich auf das Problem gefährdeter Mittelschicht-Sozialisation gelenkt - ganz zu schweigen von dem Bild, das viele Studenten an den Hochschulen heute bieten, und an denen sich das klassische Syndrom von "manifester Verwahrlosung" verifizieren ließe. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal betont, daß es unter dem Gesichtspunkt sozialpädagogischer "Korrektur" der tatsächlich verlaufenden Sozialisation nicht nur um Anpassung oder gar um Bestrafung und Disziplinierung geht, sondern - und das ist im Begriff der Identität mit impliziert - auch um subjektiv befriedigende Lösungen von Widersprüchen und Problemen.
Es ist zu hoffen, daß diese Erfahrungen der Mittelschicht, daß es nämlich künftig nicht mehr nur wie früher um die "unteren Schichten", sondern auch um den eigenen Nachwuchs geht, der Sozialpädagogik zu einer neuen wissenschaftlichen, praktischen und öffentlichen Qualität verhelfen werden. Aus den sozialpädagogischen Erfahrungen läßt sich jedenfalls folgende Einsicht in die allgemeine Reformdiskussion einbringen: Die in hochindustrialisierten Gesellschaften komplex und widersprüchlich gewordene menschliche Sozialisation muß in dieser Komplexität von den Heranwachsenden bewältigt werden; vollständig planen könnte man sie nur, wenn man alle ihre Variablen und dazu noch in ihrer je individuellen Kombination verfügbar machen könnte. Dies ist wahrscheinlich sogar prinzipiell unmöglich. Planen kann man vielmehr nur Teile, z. B. den systematischen Schulunterricht. Darüber hinaus benötigen wir aber Denkmodelle der Korrektur (und natürlich entsprechende Maßnahmen), deren Planungsreichweite notwendigerweise relativ gering ist und die anknüpfen an objektive Sozialisationsprobleme, insofern diese subjektiv als "Übel" oder "Leiden" empfunden werden, mit dem Ziel, eine subjektiv befriedigende Lösung dieser Probleme zu erreichen. So plausibel dies klingen mag - es hat zur Voraussetzung, daß wir auch in bildungspolitischen Diskussionen wieder zwischen der Strategie der Planung und der Strategie der Korrektur zu unterscheiden lernen; denn beide haben eine unterschiedliche Affinität zu bestimmten logischen und wissenschaftlichen Systemen, zur Ziel-Mittel-Relation, zur Theorie-Praxis-Relation und schließlich zu den möglichen praktischen Handlungsformen selbst.
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86. Die neuen hessischen Rahmenrichtlinien für den Lernbereich "Gesellschaftskunde, Sekundarstufe I" (1973)
(In: Neue Sammlung, H. 2/1973, S. 130-141)
Herkömmlich sind Richtlinien zumal für das Fach Politik eine wenig interessante Lektüre. Die Präambeln enthalten eine Summe von wohlklingenden Leerformeln, gegen die sich kaum etwas einwenden läßt, wenn man sie nicht genau philologisch und ideologiekritisch untersucht. Und die Themen- und Stoffvorschläge lassen meist gerade das vermissen, worauf es ankäme. Richtlinien sind konservativ in dem Sinne, daß sie neue wissenschaftliche Erkenntnisse und politisch-ideologische Entwicklungen wenn überhaupt, dann nur zum Zwecke der Integration mit der Tradition des Schulehaltens aufnehmen. Wie die Schule selbst forcieren Richtlinien nicht den Fortschritt, sie bremsen ihn eher, so gut es geht. In vielen Bundesländern wird politischer Unterricht noch nach völlig veralteten, zudem auf die überlieferten Schultypen spezialisierten Richtlinien erteilt, was die Verantwortlichen nicht zu stören scheint.
Um so interessierter nimmt man die neu erschienenen hessischen Richtlinien für den Lernbereich "Gesellschaftslehre, Sekundarstufe I" zur Kenntnis. An ihnen überrascht zunächst schon der Umfang. Auf 312 Seiten wird alles behandelt, was mit dem politischen Unterricht mittelbar oder unmittelbar zu tun hat: wissenschaftstheoretische Überlegungen, Diskussion der didaktischen Grundlagen, Begründung und Entwurf von Lernzielen, die Rolle der Fächer Sozialkunde, Geschichte und Geographie, Erörterung methodischer Varianten und schließlich Themenentwürfe für die Klassen 5 bis 10. Herausgekommen sind dabei keine Richtlinien im üblichen Sinne, das Ergebnis ist eher ein umfassender eigenständiger Beitrag zur Diskussion der politischen Bildung. Der Umfang ergibt sich daraus, daß die - namentlich genannte - Gruppe der Autoren einen umfassenden Begründungszusammenhang vorlegen wollte, der der weiteren Diskussion unterliegen sollte. Überhaupt verstehen sich die Richtlinien als vorläufige, sie sollen ein Jahr lang ausprobiert werden und möglichst viele Rückmeldungen aus dem Schulbereich einbringen.
Der Umfang des Textes macht es zumindest beim ersten Lesen jedoch nicht leicht, die Struktur der Themen, Lernziele und Lernbereiche zu durchschauen, zumal die Verfasser sich die Argumentation nicht leicht gemacht haben, sondern immer wieder eine Fülle möglicher Einwände und Probleme diskutieren und offen zugeben, wo sie mit ihrer Weisheit am Ende waren und sich für die Zukunft weitere Einsichten und Ergebnisse erhoffen. Sie treten für ihr Lehrplankonzept zwar ein, aber nirgends geschieht das definit, doktrinär oder agitatorisch.
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Das Konzept geht aus vom
"Demokratiegebot des Grundgesetzes. Oberstes Lernziel für eine demokratische Gesellschaft ist demnach die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung. Diese optimale Teilhabe des einzelnen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ist an die Aufhebung ungleicher Lebenschancen geknüpft. Welche Inhalte sich mit diesem Lernziel verbinden, wird erst dann deutlich, wenn man es auf Anwendungssituationen bezieht. Diese situationsbezogene Bestimmung des allgemeinen Lernzieles kann nur in Verbindung mit Angaben darüber erfolgen, was unter den jeweiligen Verhältnissen Selbstbestimmung oder soziale Gerechtigkeit als Postulate des Grundgesetzes bedeuten können. Es muß daher aufgezeigt werden:
- Welches Verhalten in einer bestimmten Situation ein Kennzeichen für Selbst- und Mitbestimmung ist,
- welche Widerstände sich in diesem Fall ihrer Verwirklichung entgegenstellen - unter welchen Bedingungen und für wen diese Widerstände aufhebbar sind,
- welcher Einfluß auf das Maß an Selbst- und Mitbestimmung jeweils die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht/Interessengruppe hat'' (S. 7).
Das Konzept versteht sich also als eine didaktische Ausführung der Prämissen des Grundgesetzes und es impliziert somit, daß politische Bildung selbst eine dem Grundgesetz verpflichtete politische Institution ist, die unter den Bedingungen realer gesellschaftlicher Ungleichheit Konflikte mit solchen gesellschaftlichen Interessen heraufbeschwören muß, die von dieser Ungleichheit profitieren. Es ist abzusehen, daß dieses Konzept entsprechende politische Agitationen hervorrufen und der "Unterwanderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" oder ähnlichen Unsinns beschuldigt werden wird. Tatsächlich jedoch handelt es sich um eine in vielen Passagen eher gründlich-biedere liberale, stellenweise auch links-liberale Position, die zunehmende Selbst- und Mitbestimmung für alle Bürger verlangt, auch und gerade für die große Mehrheit derjenigen, die schon aus ökonomischen Gründen die vom Grundgesetz versprochenen Chancen sehr viel weniger realisieren können.
Das Ziel zunehmender Selbst- und Mitbestimmung aller bliebe abstrakt, so lautet die weitere Argumentation, wenn es nicht auf solche Lebensbereiche hin konkretisiert würde, die den gegenwärtigen und zukünftigen Alltag der Schüler ausmachen. Deshalb wird der gesellschaftskundliche Unterricht in vier "Lernfelder" aufgeteilt, und zwar so, "daß auf jeder Jahrgangsstufe jedes der vier Lernfelder mindestens einmal Ausgangspunkt von Unterricht wird" (S. 36). Diese vier Lernfelder ("Sozialisation"; "Wirtschaft"; "öffentliche Aufgaben"; "intergesellschaftliche Konflikte") sind jeweils in "Lernzielzusammenhänge" aufgegliedert, die wiederum für die einzelnen Jahrgangsstufen in "Lernzielschwerpunkte" differenziert sind, denen dann verschiedene "Themenstichworte" zugeordnet sind. Um dieses Konzept richtig würdigen zu können, ist es nötig, das Gerippe seiner Struktur zunächst einmal herauszulösen und aufzuzeichnen:
Lernfeld 1: Sozialisation
Lernzielzusammenhang 1: Bedingungen und Auswirkungen von Sozialisation
Lernzielzusammenhang 2: Verhalten bei Rollenkonflikten
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5./6. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Einführung in den Rollencharakter von Verhaltensformen
Themenstichworte:
a) Rollenkonformes und nicht-rollenkonformes Verhalten
b) Veränderbarkeit von Erziehungsnormen
Lernzielschwerpunkt 2: Schule als Beispiel für die gesellschaftliche Organisation von Erziehung
Themenstichworte:
a) Gegenwärtige schulische Sozialisationsformen
b) Schule als Institution in historischer Sicht
c) Schule als Institution in sozial-geographischer Sicht
Lernzielschwerpunkt 3: Einführung in die Auswirkung von rollengeprägten Verhaltensweisen
Themenstichworte:
a) Individuell erlebte Konflikte als Rollenkonflikte
b) Vorurteile
c) Minderheitengruppen
7./8. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Schichtenspezifische Sozialisation
Themenstichworte:
a) Schichtgebundene Sozialisationsformen in der Familie
b) Historische Entwicklung der Familie
c) Wohnverhältnisse in ihren Auswirkungen auf die Sozialisation
d) Schichtgebundene Sozialisationsformen in der Schule
Lernzielschwerpunkt 2: Selbst- und Mitbestimmung
Themenstichworte:a) Selbst- und Mitbestimmung in der Schule
b) Selbst- und Mitbestimmungsforderung einer Schicht
c) Entwicklung der Menschenrechte und Formen ihrer Durchsetzung
9./10. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Rollenwechsel
Themenstichworte:
a) Autoritätskonflikte als Ausdruck von Rollenwechsel
b) Einbeziehung der Jugendlichen in den Arbeitsprozeß
c) Probleme horizontaler und vertikaler Mobilität
d) Entwicklung geschlechtsspezifischer Rollen
Lernzielschwerpunkt 2: Autoritätsfixierung
Themenstichworte:
a) Politische Folgen autoritätsfixierender Sozialisationsformen/-inhalte
b) Erklärungsmodelle für die Bedingungen der Autoritätsfixierung
c) Probleme der Anerkennung von Autorität
Lernzielschwerpunkt 3: Abweichungen von Sozialisationsanforderungen Themenstichworte:
a) Politische Formen jugendlichen Protests
b) Kommerzialisierbare Formen jugendlichen Protests
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c) Jugendkriminalität als Protesthandlung
d) Zur Frage nach der verhaltensändernden Wirkung rationaler Argumentation
Lernfeld II: Wirtschaft (Produktion-Distribution-Konsumtion)
Lernzielzusammenhang 1: Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion
Lernzielzusammenhang 2: Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik
Lernzielzusammenhang 3: Konflikte und Krisen
5./6. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Entwicklungsstand und Lebensverhältnissen
Lernzielschwerpunkt2: Konsumverhalten
Lernzielschwerpunkt 3: Schichtenspezifische Lebensverhältnisse und deren Veränderung
7./8. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Grundlagen und Veränderungen feudal-agrarischer Produktionsformen
Themenstichworte:
a) Entwicklung des städtischen Gewerbes (Handel - Handwerk)
Lernzielschwerpunkt 2: Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise
Themenstichworte:
a) Entstehen großer Geldvermögen und ihre Anlage
b) Industrielle Revolution
Lernzielschwerpunkt 3: Zusammenhang zwischen Produktionsformen und Infrastruktur
9./10. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Betrieb
Themenstichworte:
a) Situation am Arbeitsplatz
b) Bilanzen Geschäftsberichte
Lernzielschwerpunkt 2: Entwicklung des Wirtschaftssystems in der BRD
Themenstichworte:
a) Aufbauphase der Wirtschaft in der BRD
b) Vermögens- und Einkommensentwicklung
c) Entwicklung der Mitbestimmungsforderung
d) Wirtschaftliche Konzentration
e) Standortwahl von Produktionsstätten
f) Konjunkturentwicklung
Lernfeld III: Öffentliche Aufgaben
Lernzielzusammenhang 1: Zu welchen Konflikten und Auseinandersetzungen kam und kommt es im Hinblick auf die Organisation und Durchführung bestimmter öffentlicher Aufgaben?
Lernzielzusammenhang 2: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der jeweiligen Organisationsform und Durchführung bestimmter öffentlicher Aufgaben und dem Stand und der Organisation im Produktionsbereich?
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Lernzielzusammenhang 3: Wie sind politische Entscheidungsabläufe organisiert, welche Gruppen, Schichten, Klassen waren sind an ihnen beteiligt bzw. von ihnen ausgeschlossen?
5./6. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Unterprivilegierung in der Industriegesellschaft Themenstichworte:
a) Wohnen an Hauptverkehrsadern
b) Naherholungsräume
c) Schulbauten Schulangebot
d) Elendsviertel
Lernzielschwerpunkt 2: Einführung in die Funktion öffentlicher Institutionen (Umgang mit Behörden) Themenstichworte:
a) Polizei
7./8. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Demokratische Kontrolle öffentlicher Aufgaben und partikulare Interessen
Themenstichworte:
a) Bau/Ausbau von Verkehrswegen
b) Erschließung von Neubaugebieten
c) Stadtteilsanierung
d) Flurbereinigung
e) Mietwucher - Hausbesetzungen
f) Umweltschutzprobleme
Lernzielschwerpunkt 2: Öffentliche Aufgaben und gesellschaftspolitische Ziele Themenstichworte:
a) Naturkatastrophen
Lernzielschwerpunkt 3: Aufbringung und Verteilung öffentlicher Haushaltsmittel
Themenstichworte (nur angedeutet):9,/10. Jahrgangsstufe
(Lernzielschwerpunkte 1 bis 3 noch nicht ausgearbeitet) Lernzielschwerpunkt 4: Raumplanung als öffentliche Aufgabe
Themenstichworte:
a) Raum- und Regionalplanung
Lernfeld IV: Intergesellschaftliche Konflikte und Friedenssicherung
Lernzielzusammenhang 1: Rüstung und Friedenssicherung
Lernzielzusammenhang 2: Konflikte als Ergebnis der ungleichzeitigen Entwicklung verschiedener Gesellschaften
Lernzielzusammenhang3: Probleme und Chancen supranationaler Integration
5./6. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Krieg als Mittel zum Austrag intergesellschaftlicher Konflikte
Themenstichworte:
a) Auseinandersetzung Sparta - Athen
b) Kriege zwischen Rom und Karthago
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Lernzielschwerpunkt 2: Entstehung und Auswirkungen nationaler Vorurteile
Themenstichworte:
a) Fanatismus im Bereich des Sports
b) Leistungssport
c) Gastarbeiter
d) Tourismus
e) Verkehrsmittel/Verkehrswege
7./8. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt l: Koloniale Abhängigkeitsstrukturen
Lernzielschwerpunkt2: Wirtschaftliche Probleme der Entwicklungsländer
Lernzielschwerpunkt 3: Verhältnis zwischen intergesellschaftlichen und innergesellschaftlichen Konflikten
9./10. Jahrgangsstufe
Lernzielschwerpunkt 1: Rüstungsdynamik und Militärapparate
Themenstichworte:
a) Aufwendungen für Rüstung
b) Funktion des Militärs und der Rüstungspotentiale im internationalen Kräftefeld
c) Militär und Innenpolitik
d) Probleme der demokratischen Legitimation für militärische Maßnahmen
e) Rüstung und Wirtschaft
Lernzielschwerpunkt 2: Konflikte zwischen Gesellschaften mit vergleichbarem Entwicklungsstand
Themenstichworte:
a) Konkurrenz zwischen imperialistischen Staaten auf dem Weltmarkt vor dem 1. Weltkrieg
b) Vergleich verschiedener Gesellschaftsordnungen am Beispiel BRD/DDR
Lernzielschwerpunkt 3: Entspannungspolitik und supranationale Zusammenschlüsse
Themenstichworte:
a) Möglichkeiten und Grenzen der Entspannungspolitik
b) Abbau nationaler Grenzen - supranationale Zusammenschlüsse
Jeder Lernzielzusammenhang wird in Lernziele operationalisiert (für das Lernfeld "Sozialisation" ergibt das 24 Lernziele), auf die bei den einzelnen Lernzielschwerpunkten noch einmal verwiesen wird; die Themenstichworte enthalten "unterrichtspraktische Hinweise" sowie "Materialhinweise". Für jedes Lernfeld werden zudem im Hinblick auf jede Jahrgangsklasse "Qualifikationen" beschrieben, die der Unterricht erreichen soll. Das oben rekonstruierte "Gerippe" zeigt jedoch auch, daß die Ausarbeitung unterschiedlich weit gediehen ist und daß vor allem das Lernfeld "öffentliche Aufgaben" noch wenig profiliert werden konnte.
Angesichts des umfassenden Anspruchs, den die Richtlinien schon durch ihren Umfang erheben, könnte man sie natürlich wie jede andere wissenschaftliche Veröffentlichung auch Satz für Satz diskutieren. Es scheint mir jedoch nützlicher zu sein, stattdessen zunächst ihre fortschrittlichen Mo-
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mente zu charakterisieren, um anschließend auf einige problematische Punkte hinzuweisen. Die fortschrittlichen Momente dieser neuen Richtlinien können nur im Vergleich zu den bisherigen ermittelt werden.
1. Die hessischen Richtlinien differenzieren nicht mehr nach Schularten, sondern nach Jahrgangsklassen. Damit wird eine Praxis beendet, die die verschiedenen Schularten als Vorbereitung für verschiedene gesellschaftliche Funktionen ansah und bis in die Richtlinien hinein den Nachwuchs in Führende und Ausführende aufteilte, denen jeweils ein unterschiedliches politisches Bewußtsein zugeschrieben wurde. Die demokratische Forderung, daß vor den Ansprüchen und Chancen des Grundgesetzes alle Bürger wenn nicht gleich sind, so doch gleich sein sollten, liegt nun auch den Richtlinien für den politischen Unterricht zugrunde.
2. Konsequenter als alle bisherigen Richtlinien orientieren sich diese am "Konflikt-Modell" des politischen Lebens, wie es seit Jahren von "liberalen'' Vertretern der Soziologie (z.B. Dahrendorf) vertreten wird. Dies folgt zwingend aus dem vom Sinn des Grundgesetzes ausgehenden Demokratiekonzept, das die vorhandene politische und ökonomische Ungleichheit als einen mit demokratischen Mitteln Stück für Stück aufzuhebenden Widerspruch zum Grundgesetz ansieht. Daraus folgt dann, daß die politische Bildung nicht nur die aus der realen Ungleichheit resultierenden Konflikte thematisiert, als sei sie selbst deren Determinanten enthoben, sondern daß sie selbst auch parteilicher Teil der gesellschaftlichen Widersprüche ist. Die neuen hessischen Richtlinien sind meines Wissens die ersten, die dies ausdrücklich akzeptieren.
3. Konsequenter als bei allen bisherigen Richtlinien werden die Interessen und Bedürfnisse, und zwar auch die unmittelbaren, der Menschen zum Gegenstand des Unterrichts, während die bisher dominierenden Ansprüche staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen relativiert werden bzw. auf diese Interessen und Bedürfnisse rückbezogen werden. Politik wird verstanden als ein Instrument zur Realisierung von Verhältnissen, die möglichst vielen und tendenziell allen Menschen nützen und Befriedigung verschaffen sollen. Darin kommt eine entschiedene Abkehr von der überlieferten, immer noch an den Prämissen des "staatsbürgerlichen Unterrichts" orientierten Praxis zum Ausdruck.
4. Konsequenter als bei allen bisherigen Richtlinien wird die unmittelbare Lebenswelt der Schüler zum politischen Thema. Politik ist endlich nicht mehr nur das, was später kommt, wenn die Schüler die Schule verlassen haben; die Vergrößerung des Spielraums der Selbst- und Mitbestimmung geht vielmehr schon den Schüler als Schüler, als Familienmitglied, als Mitglied einer sozialen Schicht an. Seine Sozialisation wird völlig zu Recht zu einem eigenen politischen Lernfeld erklärt. Im Sinne dieser Richtlinien hat der politische Unterricht (und damit die Schule überhaupt) nicht mehr nur lebensvorbereitende, sondern auch lebensbegleitende Funktionen.
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5. Bei der Explikation der vier Lernfelder versuchen die Richtlinien, dem Fortschritt der sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Diskussion des letzten Jahrzehnts Rechnung zu tragen. Politologie, politische Ökonomie, Soziologie, Sozialpsychologie und gelegentlich auch Psychoanalyse wurden hier zum ersten Mal für den politischen Unterricht und seine fächerübergreifenden Themen nutzbar gemacht.
Von Richtlinien kann man ebensowenig wie von wissenschaftlichen und ideologischen Positionen erwarten, daß sie der Zustimmung aller sicher sind. Die entscheidende Frage kann nur sein, ob sie besser sind als die bisherigen und weiteren Verbesserungen nicht im Wege stehen; für die neuen hessischen Richtlinien muß man diese Frage zweifellos bejahen. Da jedoch die Verfasser der Richtlinien selbst die Öffentlichkeit um Kritik und Verbesserungsvorschläge gebeten haben, sei auf einige Punkte hingewiesen, die bei künftigen Revisionen noch einmal diskutiert werden sollten.
1. Problematisch scheint mir die Rolle der Geschichte zu sein, die in diese neue Gesellschaftskunde zusammen mit der Geographie aufgehen soll. Geschichte wird in den Richtlinien eigentlich nur im Hinblick darauf verstanden, daß sie die Veränderbarkeit der menschlichen Verhältnisse zeigt, also die Schüler selbst zur Veränderung der von ihnen vorgefundenen Verhältnisse animieren kann. Im Kapitel über die Aufgaben der Geschichte im Zusammenhang der Gesellschaftskunde (S. 18 ff.) werden zwar zu Recht die Fehler des überlieferten Geschichtsunterrichts (z.B. Personalisierung; falsches Verständnis historischer Objektivität; fatalistische Tendenzen für die Beurteilung der Gegenwart) benannt; ebenfalls leuchtet das Argument ein, daß politisches Interesse an der Geschichte immer ein von den Problemen der Gegenwart definiertes Interesse sei und daß somit auch die Darstellung der Geschichte (also ihre "Objektivität") sich ändern müsse, je nachdem, auf wessen Gegenwartsinteressen sie sich beziehen soll. Gleichwohl scheint mir das daraus abgeleitete Votum für strukturgeschichtliche Abläufe zu einseitig. "Veränderbarkeit" als Grundkategorie der Geschichte bleibt formal, impliziert noch keine Perspektiven für demokratische Veränderungen; auch Ausbeutungsformen "verändern" sich, und der historische Fortschritt ist keineswegs linear. Emanzipation ist jedoch immer die Emanzipation von historisch hergestellten Verhältnissen und Bedingungen, und diese bleiben in der strukturgeschichtlichen Dimension eigentümlich blaß, können sich nicht in der Kontinuität von Ereignissen und ideologischen Positionen konkretisieren. "Selbst- und Mitbestimmung", die sich bloß formal als Berechtigung, mit abstimmen zu dürfen, etabliert, und nicht auch inhaltlich auf die Korrektur historischer Prozesse aus ist, kann auf die Dauer auch neuen Manipulationen dienen. Wer für Emanzipation aus historisch verschuldeter Unmündigkeit und Unterdrückung votiert, kann auf die Erkenntnis konkreter historischer Emanzipationsprozesse und der diese begleitenden ökonomischen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen nicht verzichten.
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Diese Bedenken stützen sich mehr auf die Ausführungen zu den Themenstichworten als auf die grundsätzliche Argumentation. Das Themenstichwort "Schule als Institution in historischer Sicht" (S.66f.) zum Beispiel hält keineswegs, was es verspricht. Nicht, wie Schüler in früheren Zeiten gelebt haben, ist das entscheidende Problem - ein solcher Vergleich geht übrigens immer zugunsten der Gegenwart aus und bestätigt diese nur als "fortschrittlich"' - , sondern was sie lernen durften und was nicht; wer zu welchen Schulen gehen durfte; wie die Lehrpläne aussahen; wer über die Schule bestimmte und wer nicht; wer mit welchen Gründen gegen die damalige politische Sozialisation der Schule ankämpfte, usw.. Dafür gibt es Material in Fülle. Der historische Rückblick müßte zeigen, daß etwa zu Beginn unseres Jahrhunderts alle Argumente für eine Schulreform und eine Reform der Berufsausbildung bereits auf dem Tisch lagen, daß aber erst heute die politische Macht vorhanden ist, wenigstens Teile davon auch zu realisieren. Historische Reflexion hätte deutlich zu machen, daß Fortschritte an Freiheit und Mitbestimmung nicht kurzfristig möglich sind, daß zäh und Stück für Stück daran gearbeitet werden muß, unter Umständen über Generationen. Sonst wird allzu leicht der politische Fortschritt wie ein Konsumgut betrachtet, das man ohne Umwege zu bekommen hat, wenn das Bedürfnis danach sich regt, und der politische Fortschritt wird als das definiert, wonach einem gerade der Sinn steht. Daß menschliche Verhältnisse als gesellschaftliche Verhältnisse veränderbar sind, ergibt so allgemein höchstens emotionale Bereitschaft zum Engagement, aber noch keine kognitiven Dimensionen für politisches Handeln. Keines der in den Richtlinien ausgeführten Themenstichworte befriedigt wirklich unter diesem Gesichtspunkt. Die Verfasser könnten sich darauf berufen, daß ein Interesse an der Geschichte nach allen empirischen Untersuchungen eben kaum vorhanden sei; aber in wichtigen Fragen muß man die Gegenwart auch einmal gegen den Strich bürsten - ganz abgesehen davon, daß noch nicht ausgemacht ist, ob ein neues Interesse an der Geschichte nicht schon bald erwachen wird, wenn die von der Hand in den Mund lebenden politischen und empirisch-wissenschaftlichen Argumentationen keinen rechten Sinn mehr ergeben.
2. Es ist die Frage, ob das recht komplizierte, an den Forderungen der Curriculum-Konstruktion orientierte Strukturmuster wirklich notwendig und nützlich ist. Was umständlich als "Lernzielzusammenhang", "Lernzielschwerpunkt" und "Themenstichwort" unterschieden wird, enthüllt sich bei näherem Hinsehen einfach als sachliche Gliederung eines Stoffes bzw. Lebensbereiches, für dessen Auswahl und Strukturierung es letzten Endes doch nur wissenschaftliche bzw. lebenspraktisch-pragmatische Argumente gibt. Wenn die Verfasser geglaubt haben, ihre Stoffvorschläge durch die gründliche Lernziel- und Qualifikationsdifferenzierung plausibler zu machen, als sie es auch ohnedem wären, so irren sie. Das gilt auch für eine weitere Referenz an den Curriculum-Jargon: für die Formulierung von Lernzielen als Verhaltenszielen. Die sogenannten Verhaltensziele sind nicht zufällig ganz überwiegend kognitive Ziele, deren Kontrollierung und Über-
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prüfung nicht leichter ist als eh und je. Wenn es aber ohnehin primär um kognitive Ziele geht, deren praktische Bedeutung entweder gar nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar gemessen werden kann, dann läge es nahe, nicht von Lernzielen aus geeignete Stoffe zu ermitteln, sondern umgekehrt die Stoffe nach ihrer objektiven Bedeutung für die Herstellung eines richtigen politischen Bewußtseins zu definieren und zu gliedern und die Lernziele einmal von den situativen Qualifikationen her, andererseits aber auch von der Systematik der Stoffe her zu bestimmen. Die innere Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems z. B. zu begreifen, ist ein Lernziel, das sich seine Dignität nicht erst von irgendeinem "praktischen Verhalten" her ausborgen muß. Im Grunde ist diese Dimension, die man den Anspruch des Objektiven nennen könnte, in den Richtlinien berücksichtigt, aber es wird nicht klar genug, daß es sich dabei um einen eigentümlichen Ansatz für die Lernziel- und Qualifikationsbestimmung handelt.
Solange die curriculare Begrifflichkeit nicht mehr erbracht hat als bisher, sollte man ihren modischen Trends auch nicht ohne weiteres gehorchen. Nichts spricht dagegen, Lernziele so konkret wie möglich zu operationalisieren und dabei auch zu berücksichtigen, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten man in welchen Lebenssituationen braucht. Bedenklich wird die Sache aber dann, wenn die Stoffe keinerlei eigene Bedeutung mehr für die Ordnung des politischen Bewußtseins haben, sondern nur zum Erfüllungsgehilfen für die Einlösung der Lernziele werden; wenn wissenschaftliche Verfahren zwar bei der Formulierung der Lernziele für andere zugelassen werden, nicht jedoch auch von diesen anderen zur systematischen Richtigstellung ihres Bewußtseins benötigt werden sollen. Über weite Strecken besteht die Aufgabe des politischen Unterrichts unter dem Anspruch von Emanzipation und Selbstbestimmung auch darin, die Differenz zwischen dem wissenschaftlich möglichen und dem empirisch vorhandenen Bewußtsein so gering wie möglich zu machen. Das impliziert intellektuell anspruchsvollen systematischen Unterricht durch Lehrer, die selbst hinreichend begriffen haben, was sie da unterrichten, und es impliziert weiter, daß Schüler über weite Strecken sich ganz altmodisch auch jenseits ihrer sogenannten Erfahrungen und Interessen belehren lassen, die im Lichte wissenschaftlicher Theorien über die Gesellschaft ganz einfach falsches Bewußtsein sind, das nicht allein dadurch richtiger wird, daß Lehrer und Schüler darüber ohne wissenschaftliche Kategorien kommunizieren. Die neuen Richtlinien weisen solche Ansprüche zwar nicht zurück - im Gegenteil gehört etwa der richtige Gebrauch soziologischer Termini zu den ausdrücklichen Qualifikationen - , aber bei einer künftigen Revision der Richtlinien sollte deutlicher zum Ausdruck kommen, daß das Begreifen gesellschaftlicher Zusammenhänge eo ipso ein wichtiges Lernziel ist, auch wenn sich daraus nicht unmittelbar ein bestimmtes praktisches Verhalten ableiten läßt.
3. Daß ministerielle Richtlinien so umfangreiche Begründungszusammenhänge enthalten, ist für den Zweck der erprobenden Einführung sicher
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richtig und nützlich. Aus grundsätzlichen Erwägungen jedoch müssen die eigentlichen Richtlinien von den didaktischen, methodischen und wissenschaftstheoretischen Begründungen bald wieder getrennt werden. Die politische Richtlinienkompetenz kann sich nur erstrecken auf bestimmte grundsätzliche Lernziele und Qualifikationen und allenfalls auf den Vorschlag bestimmter Stoffgebiete, keineswegs jedoch darf sie bestimmte wissenschaftliche, didaktische und methodische Positionen sowie detaillierte Lernzielbestimmungen auf Kosten anderer kanonisieren. Das wäre nur möglich, wenn es aus den Bestimmungen des Grundgesetzes eindeutige Ableitungen dafür gäbe. Was also der politischen Kompetenz unterliegt, muß deutlich getrennt werden von dem, was nur der wissenschaftlichen Diskussion nach deren Regeln unterliegen kann. Dies folgt zwingend aus dem Konfliktcharakter der politischen Bildung selbst. Gerade unter dem Anspruch, den die vorliegenden Richtlinien zu ihrem eigenen gemacht haben, nämlich die Chancen des Grundgesetzes nicht nur für wenige, sondern für alle zu realisieren, dürfen Richtlinien auch dann keine Lernverbote enthalten, wenn sie von vornherein auf Revision angelegt werden; denn was revisionsbedürftig ist, muß auch praktisch jederzeit Alternativen ausgesetzt sein können. Auch nach Einführung dieser Richtlinien muß z.B. derjenige Lehrer eine Chance haben, der für systematischen Geschichtsunterricht im oben beschriebenen Sinne ist, oder der die von den Richtlinien favorisierte Projekt-Methode und Gruppenarbeit nicht für ein methodisches Allheilmittel hält.
4. Schließlich werden auch diese Richtlinien nur so gut sein, wie die Lehrer nicht zuletzt in fachlicher Hinsicht ausgebildet sind. Wird dieser Zusammenhang nicht gesehen, so steht zu befürchten, daß der Unterricht doch nur wieder mittelständische Voreingenommenheiten - diesmal angereichert durch eine Reihe soziologischer Termini - reproduzieren wird. In diesem Sinne irritiert in der Vorbemerkung der Satz, daß dem Unterrichtenden nicht zugemutet werde, "daß er, bevor er zu einem der vorgesehenen Lernzielschwerpunkte mit dem Unterricht beginnt, die dazu jeweils angeführte Literatur durchgearbeitet hat" (S.5). Gemeint ist die in den "Materialhinweisen" genannte Literatur, die den Verfassern der Richtlinien in etwa als Hintergrund für ihr eigenes Konzept gedient hat. Eine solche Beschwichtigung wäre jedoch nur dann zu vertreten, wenn man bei den Lehrern ein hinreichendes wissenschaftliches Studium der Sachverhalte voraussetzen könnte. Davon kann aber im allgemeinen nicht die Rede sein, zumal keineswegs alle Lehrer für das Fach überhaupt ausgebildet sind. Die Appelle für einen schülerzentrierten, wesentlich auf Schüleraktivität gegründeten politischen Unterricht dürfen nicht unnötig, das heißt mehr als von der Verständnisfähigkeit der Schüler gefordert ist, auf Kosten des fachlichen Niveaus gehen. Die Richtlinien stellen zu Recht fest, daß die Verständnisfähigkeit der Schüler größer ist, als die überlieferten Phasentheorien das bisher annehmen ließen. Gerade deshalb müssen die Verfasser der Richt-
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linien mit verhindern helfen, daß die fachliche Qualität des Unterrichts weniger durch die Verständnisfähigkeit der Schüler als vielmehr durch die fehlende Kompetenz der Lehrer begrenzt wird.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen bleibt zu hoffen, daß andere Bundesländer die neuen hessischen Richtlinien bei der notwendigen Revision ihrer eigenen sorgfältig beachten werden. Im übrigen wäre es nützlich, wenn die Richtlinien allgemein öffentlich zugänglich gemacht würden, damit sie über ihre Funktion hinaus in die Diskussion der politischen Bildung einbezogen werden können.
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86a. Neue Rahmenrichtlinien für „Gesellschaftslehre" in Hessen
In: Westermanns Pädagogische Beiträge 25 (1973), S.326-328
Im Unterschied zur Hochschule gibt es an den Schulen nicht "die Freiheit der Lehre". Hier beansprucht der Staat seit dem Beginn des modernen Schulwesens das Recht, Lernziele und Lerninhalte zu bestimmen, lediglich in der Wahl der "pädagogischen Methoden" ist der Lehrer seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts frei; allerdings gilt auch dies nur mit Einschränkungen, denn neue pädagogische Methoden sind nicht nur "Techniken", sie entstehen vielmehr - wie sich historisch zeigen ließe - .immer im Rahmen einer inhaltlichen Kritik am bisherigen Unterricht.
Gerade im Fach "Politik" haben bisher die Kultusminister unserer Länder ihre Richtlinienkompetenz sehr zurückhaltend angewendet. Die Richtlinien .enthielten sehr vage formulierte "Präambeln", deren Zielen eigentlich jeder zustimmen konnte, die aber andererseits auch im konkreten Unterricht gar nicht weiter operationalisiert werden konnten. Dazu kamen Stoffvorschläge, die so weitgefaßt waren, daß sich in ihnen sehr verschiedene didaktisch-methodische Konzepte unterbringen ließen - sofern sie nicht im Kollegium und in der Öffentlichkeit auf Widerspruch stießen und dadurch die Kultusbehörden zum Eingreifen zwangen. Im ganzen wurden die bisherigen Richtlinien für den politischen Unterricht zwar von den Fachleuten für rückständig und inhaltsleer gehalten, aber es gab - nicht zuletzt wohl wegen ihrer "Offenheit" - ihretwegen keine nennenswerten innenpolitischen Kontroversen.
Diese entstanden vielmehr zum ersten Mal in voller Schärfe angesichts der jüngst vorgelegten hessischen "Rahmenrichtlinien für Gesellschaftskunde Sekundarstufe I" sowie der dazugehörenden Deutsch-Richtlinien, auf die wir hier aber nicht näher eingehen können. Zieht man von der zum Teil mit Erbitterung geführten Auseinandersetzung die modische Aufgeregtheit ab, die der - hier übrigens gänzlich unbegründete! - Verdacht "linker Manipulation" hervorruft, so bleibt als prinzipieller Kern des Streites eigentlich nur die Frage übrig, in welchem Umfang es für das Fach "Politik" überhaupt noch eine staatliche Richtlinienkompetenz geben kann. Mehr als bei manchen anderen Fächern besteht die Schwierigkeit hier ja gerade darin, daß die Schule als staatliche Monopolinstitution unter demokratischen Prämissen einerseits keine partikulare gesellschaftliche Perspektive (z. B. des Mittelstandes oder der Arbeiterschaft) auf Kosten anderer favorisieren darf, daß sie andererseits aber unter den Bedingungen gesellschaftlicher und vor allem ökonomischer Ungleichheit operieren muß.
Welche Lernziele bzw. Verhaltensziele sie auch immer festsetzt - sie wird damit notwendigerweise "parteilich" für die eine oder andere gesellschaftliche Perspektive. Dies wird um so augenfälliger, je genauer im Zuge moderner Curriculum-Vorstellungen diese Lernziele operationalisiert und konkretisiert werden. Zu lösen wäre diese Schwierigkeit wahrscheinlich nur dadurch, daß die "Freiheit der Lehre" auch auf die Schule sinngemäß angewendet wird und daß es dort primär um Methoden wissenschaftlicher Bearbeitung des je vorhandenen Bewußtseins, der kollektiven Erfahrungen und der realen gesellschaftlichen Probleme geht und weniger um die vorgängige Planung der Endprodukte dieser Bearbeitungen in Form von Kenntnissen, Tugenden, Verhaltensweisen usw. Schuldidaktik als Variation von Wissenschaftsdidaktik zu konzipieren, wäre die eigentliche Überwindung der alten "Klassenschule", aber das steht schulpolitisch noch nicht zur Debatte, Die Diskussion um die hessischen Richtlinien bekäme eine ganz andere politische Bedeutung, wenn nicht alle Beteiligten weiterhin von der staatlichen Richtlinienkompetenz im bisherigen Sinne ausgingen, obwohl doch immer unklarer wird, wie das326
Problem der "Parteilichkeit" aller denkbaren Richtlinien in Zukunft eigentlich gelöst werden soll.
Auch die neuen hessischen Richtlinien bewegen sich daran gemessen noch in traditionellen Gleisen. Sie versuchen, die Kategorien "Demokratisierung" und "Mitbestimmung" verbindlich für den Entwurf der Richtlinien zu machen. "Oberstes Lernziel für eine demokratische Gesellschaft ist ... die Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung. Diese optimale Teilhabe des einzelnen an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ist an die Aufhebung ungleicher Lebenschancen geknüpft."
Welche Inhalte sich mit diesem Lernziel verbinden, wird erst dann deutlich, wenn man es auf Anwendungssituationen bezieht. Diese situationsbezogene Bestimmung des allgemeinen Lernzieles kann nur in Verbindung mit Angaben darüber erfolgen, was unter den jeweiligen Verhältnissen Selbstbestimmung oder soziale Gerechtigkeit als Postulate des Grundgesetzes bedeuten können. Es muß daher aufgezeigt werden:
- welches Verhalten in einer bestimmten Situation ein Kennzeichen für Selbst- und Mitbestimmung ist,
- welche Widerstände sich in diesem Fall ihrer Verwirklichung entgegenstellen,
- unter welchen Bedingungen und für wen diese Widerstände aufhebbar sind,
- welchen Einfluß auf das Maß an Selbst- und Mitbestimmung jeweils die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht/Interessengruppe hat (S. 7).
Bei der Realisierung dieser Leitprinzipien sind die Verfasser der Versuchung, ein geschlossenes Konzept - sozusagen eine "Ideologie" - vorzulegen, in hohem Maße entgangen. Daß dies von den Kritikern nicht recht gesehen wurde, liegt vielleicht daran, daß der Umfang der Richtlinien mit 312 Seiten ganz ungewöhnlich ist. Hinzu kommt, daß die Grundstruktur nicht leicht zu erkennen ist. Im Mittelpunkt stehen vier sogenannte "Lernfelder" ("Sozialisation", "Wirtschaft", "öffentliche Aufgaben", "Intergesellschaftliche Konflikte"), die in jedem Jahrgang wenigstens einmal auftauchen sollen. Diese vier "Lernfelder" sind jeweils in "Lernzielzusammenhänge" aufgelöst, diese wieder in "Lernzielschwerpunkte", denen dann verschiedene "Themenstichworte" zugeordnet sind.
Die "Lernzielzusammenhänge" sind zudem in Lernziele operationalisiert (für das Lernfeld "Sozialisation" ergibt das z. B. 24 Lernziele), auf die bei den "Lernzielschwerpunkten" noch einmal verwiesen wird. Die Themenstichworte enthalten "unterrichtspraktische Hinweise" sowie "Materialhinweise". Für jedes Lernfeld werden zudem im Hinblick auf jede Jahrgangsklasse "Qualifikationen" beschrieben, die der Unterricht erreichen soll. Man sieht also, die Sache ist - wie mir scheint: ganz unnötig - kompliziert. Gleichwohl handelt es sich hier um einen imponierenden, gründlichen und auch sehr selbstkritischen Entwurf, der im ganzen durchaus als selbständiger und interessanter Beitrag zur Didaktik und Methodik des politischen Unterrichts angesehen werden kann. Im Vergleich zur bisherigen Lage bringt er zumindest die folgenden Verbesserungen:
1. Differenziert wird nicht mehr nach Schularten, sondern nach Jahrgangsklassen. Damit wird endlich die nur noch historisch verständliche Praxis beendet, daß für Schüler derselben Jahrgangsklasse, die aber in verschiedenen Schultypen sich befinden, unterschiedliche Richtlinien mit unterschiedlichen Zielen gelten - ein Überbleibsel der traditionellen "Klassenschule". Mögen aus dem Besuch unterschiedlicher Schularten bzw. Schulstufen auch unterschiedliche berufliche Positionen folgen - politische und politisch-didaktische Unterschiede dürfen daraus nicht gefolgert werden.
2. Ausgegangen wird vom "Konflikt-Modell" des politischen Lebens, wie es seit Jahren von "liberalen'' Soziologen vertreten wird. Dies folgt zwingend aus dem vom Sinn des Grundgesetzes ausgehenden Demokratiekonzept, das die vorhandene politische und ökonomische Ungleichheit als ein dem widersprechendes Übel ansieht, das Stück für Stück mit demokratischen Mitteln beseitigt werden muß. Lernen kann man dies nur, indem man sich an den wirklichen politischen Konflikten engagiert oder sich zumindest ein Urteil bildet. Zudem vermag dieses an den konkreten Konflikten und Widersprüchen orientierte Konzept noch am ehesten ideologische Allgemeinplätze bei Schülern und Lehrern in Grenzen zu halten.
3. In den Mittelpunkt sind die unmittelbaren und mittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Menschen gerückt. Die staatlichen und gesellschaftlichen Verfassungen und Institutionen sind nach diesem Konzept in erster Linie dazu da, Interessen und Bedürfnisse von Menschen so gut wie jeweils möglich zu realisieren und zu garantieren - und nicht umgekehrt dazu, sie unter irgendwelche äußeren Zwänge zu subsumieren.327
4. Entsprechend wird die unmittelbare Lebenswelt der Schüler zum politischen Thema: ihre Rollenkonflikte und Sozialisationsprobleme. Politik ist nicht mehr nur das, was erst "später" kommt, sondern etwas, was die Existenz auch schon von Kindern und Jugendlichen unmittelbar betrifft; sie sollen lernen, sich damit auseinanderzusetzen und sich kritisch dazu zu verhalten.
5. Die Richtlinien versuchen, wissenschaftliche Fortschritte der letzten Jahre aufzugreifen. Politologie, politische Ökonomie, Soziologie, Sozialpsychologie und gelegentlich auch Psychoanalyse werden für den politischen Unterricht und seine fächerübergreifenden Themen nutzbar gemacht.
Alles in allem muß man sagen, daß die Richtlinien sich bemühen, den Demokratieauftrag des Grundgesetzes und die reale gesellschaftliche Ungleichheit ernst zu nehmen, ohne zu doktrinären Lösungen zu gelangen. Aus dem Text geht nirgends hervor, daß etwa bestimmte Meinungen und Positionen, die durch das Grundgesetz gedeckt sind, nicht vertreten werden könnten. Trotzdem oder gerade deshalb gibt es natürlich strittige Punkte, die der Diskussion unterliegen müssen, und es wäre nützlich, wenn sich die öffentliche Debatte darauf konzentrieren würde, anstatt mit pauschalen Urteilen zu arbeiten, die sich vom Text her einfach nicht halten lassen.
Zu diesen Punkten gehört zum Beispiel die Rolle, die der Geschichte zugewiesen wurde. Die "Gesellschaftskunde" ist nämlich kein Fach im herkömmlichen Sinne mehr, sondern ein "Lernbereich", in dem die alten Fächer "Geographie", "Geschichte" und "Sozialkunde" aufgegangen sind. Offenbar allzu sehr beeindruckt von den negativen Erfahrungen mit dem herkömmlichen Geschichtsunterricht haben die Richtlinien-Autoren die wichtige Bedeutung eines an demokratischen Perspektiven und Fragestellungen orientierten Geschichtsunterrichts für ihr eigenes Konzept etwas zu gering eingeschätzt.
Der an sich richtige Hinweis, die historische Perspektive solle die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zeigen, ist zu allgemein geblieben. Auch für die jeweiligen Grenzen der Veränderbarkeit gibt nämlich die historische Perspektive Einsichten. Und realistisches politisches Verhalten ist angewiesen auf einigermaßen genaue Kenntnisse über die "historische Lebensgeschichte" aktueller Probleme. Veränderung kann auch Verschlechterung sein, und auch Unterdrückungs- und Ausbeutungsformen verändern sich. Oder es kann geschehen, daß historisch bereits erfolglos durchgespielte Lösungen - wie etwa in der gegenwärtigen "reform-pädagogischen Bewegung" - naiv und eindimensional als Fortschritt und Innovation angesehen werden. Wenn jedoch Emanzipation einen inhaltlichen Sinn und zukunftsbezogenen Handlungsspielraum haben soll, dann ist sie nur zu bestimmen als Befreiung aus historisch hergestellten Unfreiheiten und Benachteilungen.
Aber solche Schwächen des Richtlinienkonzeptes - und darüber sollte man sich ehrlicherweise einig sein - verschlechtern die bisherige Praxis nicht, sie bringen eben nur keine erkennbare Verbesserung.
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87. Überfüllte Seminare und hochschuldidaktische Fetische (1973)
Zur Kritik der anti-wissenschaftlichen Lehrerbildung
(In: H. Giesecke: Bildungsreform und Emanzipation. München 1973, S. 115-135)
Die Klage von der Explosion der Studentenzahlen und der zunehmenden Verschlechterung der Relation von Studenten und Dozenten ist landauf und landab zu hören und wird von der öffentlichen Meinung längst als unbestreitbare Ausgangstatsache für kulturpolitische Polemiken und Forderungen verwendet. Für die einen ist dieser angebliche Zustand nur ein weiterer Beweis für die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems; für die anderen ein willkommener Anlaß für standespolitische Forderungen; wieder andere benutzen ihn als Vorwand für fachegoistische Forderungen, die in den Hochschulen stellenweise die Qualität kleinbürgerlicher Raffgier angenommen haben. Von der neugewählten links-liberalen Koalition fordern einschlägige standespolitische Organisationen in sonst ungewohnter Eintracht mit linksradikalen Studentengruppen eine immense Erhöhung der Personalausgaben im Hochschulbereich. Nur wenige, unter anderem die Jungsozialisten, scheinen erkannt zu haben, daß die eigentliche Misere unseres Bildungssystems woanders liegt, nämlich zum Beispiel im Bereich der Berufsausbildung unterhalb der Abiturienten-Berufe. Um solche Erkenntnisse zu unterstützen und verhindern zu helfen, daß auch künftig die Bildungsausgaben in unangemessener Relation in des Mit-
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telstandes beliebteste Prestige-Quelle, die Hochschulen, und zum Beispiel nicht gleichrangig auch in die Berufsausbildung und in die sozialpädagogische Sanierung gesteckt werden, ist dieser Beitrag geschrieben worden; denn solange die Hochschulmisere wie bisher im Mittelpunkt der öffentlichen Bildungsdiskussion bleibt, droht jenen anderen Bereichen eine zunehmende Proletarisierung. Solange die Nachfrage nach öffentlichen (Bildungs-)Dienstleistungen immer noch größer ist als das Angebot sein kann, besteht die Gefahr, daß die knappen Mittel erneut überwiegend den bisher schon bildungsprivilegierten Schichten zugute kommen; denn die Vermehrung der Studentenzahlen in den letzten Jahren ist keineswegs dem prozentualen Anteil der Arbeiterkinder zugute gekommen. Auf den Hochschulen ist der Mittelstand nach wie vor unter sich.
Nun soll hier nicht schlankweg der Mangel an Hochschullehrern geleugnet werden. In den Massenfächern einiger Universitäten ist er zweifellos vorhanden, und es ist überhaupt keine Frage, daß die Hochschulen weiter ausgebaut werden müssen. Die Frage ist jedoch sehr wohl, woran man Hochschullehrermangel eigentlich messen soll und wie er eigentlich präzise bestimmt werden kann. Am beliebtesten sind einfache Relationszahlen wie etwa: auf je 15 oder 30 Studenten solle ein Hochschullehrer kommen. Aber solche Zahlenspiele sagen solange nichts aus, wie nicht festgestellt wird, welche Dienstleistungen in welchem Umfang ein Student im Interesse eines optimalen Studiums eigentlich von der Hochschule erwarten darf und soll. Am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abt. Göttingen, soll gezeigt werden, welche problematischen Prämissen in das Stereotyp vom katastrophalen Hochschullehrermangel eingehen. Die Abt. Göttingen gilt als die mit der schlechtesten Studenten-Dozenten-Relation innerhalb der gesamten Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, und schon aus diesem Grunde dürften deren Zahlen einigermaßen repräsentativ für andere Pädagogische Hochschulen bzw. deren örtliche Abteilungen sein.
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An der Abt. Göttingen sind im Wintersemester 1972/73 rund 3000 Studenten immatrikuliert. Nach dem Vorlesungsverzeichnis für dieses Semester stehen dafür in den Grundwissenschaften (Pädagogik; Schulpädagogik; Psychologie; Soziologie; Politik; Philosophie) 74 Lehrkräfte (davon 34 Assistenten), und in den Fachwissenschaften/ Fachdidaktiken 89 Lehrkräfte (davon 40 Assistenten) zur Verfügung. Nebenamtliche Lehrkräfte und Lehrbeauftragte wurden nicht mitgezählt. Geht man nun davon aus, daß jeder Student in einem Semester an höchstens vier Seminaren teilnehmen kann, wenn er sich angemessen darauf vorbereiten soll, und daß ferner ein Seminar höchstens 30 Teilnehmer haben soll, so ergibt sich, daß in jedem Semester 3000 mal 4 durch 30 = 400 Seminare angeboten werden müssen. Geht man weiter davon aus, daß ein Student von den 4 Seminaren pro Semester 2 in den Grundwissenschaften und 2 in den Fachwissenschaften/Fachdidaktiken absolvieren soll, dann muß jede Lehrkraft in den Grundwissenschaften 200 Seminare durch 74 Lehrkräfte = 2,7 Seminare anbieten, und in den Fachwissenschaften/Fachdidaktiken sogar nur 200 Seminare durch 89 Lehrkräfte = 2,3 Seminare. Dieser Durchschnitt läge noch unter dem Stundensoll des Hochschullehrers. Legt man für jeden Hochschullehrer (einschließlich Assistenten) drei Seminare pro Semester zugrunde, so könnte die Studentenzahl noch auf 3600 wachsen.
Allerdings müssen einige Einschränkungen dieser Berechnung hinzugefügt werden:
1. Nicht berücksichtigt wurden Vorlesungen und Übungen. Der didaktische Wert von Vorlesungen ist ohnehin umstritten, und Übungen sind dort nötig, wo die materiellen Bedingungen des individuellen häuslichen Arbeitsplatzes nicht ausreichen, sondern kollektive Arbeitsplätze bereitstehen müssen (z. B. Labors, Versuchsräume, Sportplätze usw.). Schränkt man jedoch solche Übungen auf dieses eben definierte Maß ein, so sind sie erstens nur für bestimmte Fächer relevant und zweitens könnten diese Auf-
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gaben wahrscheinlich überwiegend von nebenamtlichen Lehrbeauftragten wahrgenommen werden. Die schulpraktischen Übungen mit ihrem immensen Aufwand klammern wir hier zunächst aus; von ihnen soll später noch die Rede sein.
2. Fast die Hälfte aller Lehrkräfte sind Assistenten, wurden aber in unserer Rechnung als gleichberechtigte Lehrkräfte mitgezählt. Sie dürfen jedoch nicht selbständig prüfen, müssen zwar auch Seminare anbieten, sind aber oft zur selbständigen Lehre noch unzureichend befähigt. Während gerade die Zahl der Assistentenstellen in den letzten Jahren überproportional vermehrt wurde, käme es im Gegenteil darauf an, sie zum Teil in Stellen für selbständig Lehrende umzuwandeln und die verbleibenden Assistentenstellen konsequent für die Weiterqualifikation zum Hochschullehrer zu definieren und damit an die Verpflichtung zur Promotion zu binden. Die Verpflichtung zur selbständigen Lehrtätigkeit sollte aufgehoben werden, eine Mitwirkung in der Lehre nur soweit erfolgen, als dies für den Hauptzweck der Weiterqualifikation nützlich ist. Diesen Grundsätzen trägt die neue Niedersächsische Assistentenordnung auch weitgehend Rechnung. Unter diesem Aspekt müßten allerdings an der Abt. Göttingen schnellstens 74 neue Hochschullehrerstellen eingerichtet werden bzw. Assistentenstellen in Stellen für selbständig Lehrende umgewandelt werden.
Trotzdem weist das Vorlesungsverzeichnis der Abt. Göttingen fast 400 Seminare aus - Übungen, auch schulpraktische, und Kolloquien nicht mitgerechnet - also so viel, wie statistisch fast optimal sein müßte. Gleichwohl fanden zahlreiche Studienanfänger keinen Seminarplatz, sind viele Seminare überfüllt, ohne daß andere entsprechend unterbesetzt wären. Indem wir den Gründen dafür nachgehen, stoßen wir auf jene Prämissen, die man zusammenfassend als die selbstverschuldete Überfüllung bezeichnen kann und die zudem der Funktion eines wissenschaftlichen Studiums strikt zuwiderlaufen.
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Die Prüfungsordnung für das Lehramt an Volksschulen verlangt in sechs Semestern das Studium von sechs Fächern (ein Wahlfach als künftiges Unterrichtsfach; zwei Nachweisfächer mit geringerem Anspruch als künftige Unterrichtsfächer; Pädagogik; Psychologie; ein sogenanntes C-Fach - Soziologie; Philosophie oder Politik). Unter dem Anspruch eines wissenschaftlichen Studiums ist eine solche Forderung natürlich absurd und überhaupt nur historisch erklärbar. Gleichwohl aber schreibt die Prüfungsordnung - außer daß alle Fächer geprüft werden müssen - nichts weiter über den stundenmäßigen Umfang, über die Inhalte und Studiengänge vor. All dies wäre eine Sache der von der Abt. bzw. von der gesamten Pädagogischen Hochschule Niedersachsen zu verabschiedenden Studienordnung. An ihr wird seit Jahren auf beiden Ebenen ohne jeden Erfolg gebastelt. Die einen - vor allem die Studenten und Teile der Assistenten - wollen eine inhaltlich definite Studienordnung, die "praxisbezogen" sein und möglichst auch ideologisch eindeutig sein soll - was beides unrealisierbar ist. Die anderen, vor allem Teile der Hochschullehrer und hier besonders Vertreter einiger Fächer, wollen die fachspezifischen Interessen gewahrt wissen, wobei die Bedeutung des eigenen Faches weniger durch Reflexion über seinen Beitrag für die Herstellung eines richtigen Lehrerbewußtseins als vielmehr durch seine "Überfüllung" mit Studenten nachgewiesen wird. Diese Überfüllung aber ist selbstverschuldet, weil die Studenten - getrieben von sechs Fächern und von "empfohlenen Richtstundenzahlen" zu viele Seminare besuchen, für die sie nicht mehr arbeiten können und wollen. Es gäbe jedoch eine Möglichkeit, unter Berücksichtigung der vorhandenen Prüfungsordnung zu einer vernünftigen Studienregelung zu kommen, deren Inhaltlichkeit gleichwohl nicht vorweggenommen wird, sondern der weiteren gemeinsamen Bearbeitung überlassen bleiben kann. Diese Möglichkeit sei am Beispiel des grundwissenschaftlichen Studienanteils verdeutlicht, auf den fachdidaktischen/fachwissenschaftlichen Anteil ist sie sinngemäß anwendbar.
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1. Die Grundwissenschaften verstehen sich unbeschadet ihrer fachspezifischen Ausgangslage als Fächer, die an den gleichen Problemen arbeiten. Diese Probleme lassen sich grob als interdisziplinäre Themenkomplexe definieren, die für das Lehrerbewußtsein von unleugbarer Bedeutung sind (z. B. Theorie der Schule; Sozialisation und abweichende Sozialisation; Status und Funktion des Lehrers; Lehren und Lernen usw.). Unter der Voraussetzung nun, daß etwa fünf bis sechs solcher Komplexe pragmatisch vereinbart würden, müßten die Studenten nicht mehr drei Fächer in den Grundwissenschaften studieren, sie müßten vielmehr nur im Verlauf ihres Studiums in zwölf Seminaren (zwei pro Semester) jene fünf bis sechs Themenkomplexe studieren, wobei es ihnen freistünde, die ihnen dazu am geeignetsten erscheinende grundwissenschaftliche Disziplin zu wählen.
2. Da jedoch weiterhin in drei grundwissenschaftlichen Fächern geprüft werden müßte, müßten jene Themenkomplexe unter Umständen auch in verschiedenen Fächern unter variierten Aspekten geprüft werden. Oder es müßte vereinbart werden, daß jene fünf bis sechs Themenkomplexe nach Wahl des Studenten auf die grundwissenschaftlichen Prüfungsfächer verteilt werden können. So oder so entstünde jedoch die Notwendigkeit, die Prüfungsanforderungen transparent zu machen und zu objektivieren, und zwar möglichst so, daß der Student schon zu Beginn seines Studiums Klarheit darüber bekommen kann. Die einzige Möglichkeit zur Objektivation einer wissenschaftlichen Prüfung ist, diese an einen bestimmten Umfang von wissenschaftlicher Literatur zu binden. Man könnte also zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen eine Übereinstimmung darüber herstellen, welcher Bewußtseinsstand etwa beim Thema "Sozialisation" - ausgedrückt durch wissenschaftliche Literatur - erreicht werden soll. Um jedoch zu vermeiden, daß dabei nur Auswendiggelerntes repetiert wird, wären weitere Hinweise für die Bearbeitung dieser Literatur zu geben, zum Beispiel: Das Bearbeitete in einem logischen Zusammenhang darstellen
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können; Kontroversen darstellen können; methodologische Unterschiede diskutieren können; politische und pädagogische Konsequenzen erörtern können usw. Um ferner zu verhindern, daß in einem solchen durch Literatur abgesteckten Kanon einseitige wissenschaftliche und ideologische Positionen fixiert werden, könnte man sich auf einen relativ kleinen "Pflicht-Teil" beschränken, der vom Studenten nach seinen eigenen Interessen und Spezialisierungen weiter aufgefüllt werden kann. Entsprechend dem Forschungsfortschritt und der sich ändernden publizistischen Lage müßten solche Listen etwa alle zwei Jahre korrigiert werden.
Dieses Verfahren hätte nicht nur den Vorteil der Transparenz für den Studenten, vielmehr könnten auf dem Hintergrund solcher Themen und Literaturlisten die Fächer auch hinsichtlich ihrer Lehrangebote in die Pflicht genommen werden. Ein weiterer Vorteil bestünde schließlich darin, daß auf diese Weise die Quantitäten von Prüfungsanforderungen veröffentlicht, dadurch erst hochschulöffentlich diskutierbar würden und so auf ein vertretbares Ausmaß begrenzt werden könnten, während gegenwärtig jedes Fach seine eigenen Prüfungsanforderungen entwickelt - oft so, als ob es das einzige Prüfungsfach wäre. Und schließlich würden die Dozenten auf diese Weise gezwungen, sich zumindest mit denjenigen Arbeiten einer anderen Disziplin zu beschäftigen, die in der themenbezogenen Liste aufgeführt sind und über die sie ja unter Umständen auch prüfen müssen.
3. Voraussetzung für ein solches Verfahren ist jedoch, daß mit dem inzwischen herrschend gewordenen Grundsatz gebrochen wird, in Prüfungen dürfe nur verlangt werden, was vorher auch in Lehrveranstaltungen angeboten worden sei. Diese Erwartung verlängert eigentlich nur eine Pennäler-Mentalität, die gerade durch wissenschaftliches Studium überwunden werden sollte. Es gibt eine ganze Reihe von rein informativen Kenntnissen, die mühelos durch private Lektüre erworben werden können oder durch Vorlesungen oder - falls die Literaturlage nicht
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befriedigend erscheint - durch schriftliche Lehr-Texte, die preiswert herzustellen und zu vervielfältigen heute an keiner Hochschule mehr ein Problem ist. Ein Beispiel für die Unsinnigkeit, mit der eine Hochschulbehörde selbst die Überfüllung verschuldet, ist das Verhalten des Akademischen Prüfungsausschusses der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, der für die Diplomprüfungen zuständig ist. Er hat unter anderem vorgeschrieben, daß die in der niedersächsischen Diplomprüfungsordnung skizzierten Studienaspekte (z. B. "Allgemeine Grundlagen der Erziehungswissenschaft; ausgewählte wissenschaftliche Methoden; Voraussetzungen, Aufgaben und Formen der Erziehung und ihrer Erforschung") von den Prüfungskandidaten im einzelnen unter Hinweis auf Lehrveranstaltungen nachgewiesen werden müssen. Nicht nur werden dabei Dimensionen der Erziehungswissenschaft, die jedem praktisch relevanten Thema innewohnen, zu systematischen Einzelteilen separiert, die als solche nun auch gelehrt werden sollen, vielmehr entsteht daraus zwangsläufig eine große Zahl von Lehrveranstaltungen, für die wiederum nicht genügend gearbeitet werden kann. Schon das sogenannte "Furck-Papier", das die Kultusminister bei der Verabschiedung der Diplom-Rahmen-Ordnung akzeptierten, ging von der völlig unrealistischen Annahme von 16 Semesterwochenstunden aus, auf die der Akademische Prüfungsausschuß der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen sich nun beruft.
4. Damit ist eine weitere Prämisse bereits in die Kritik geraten, daß nämlich der Student der Dienstleistungsinstitution Hochschule gegenüber einen Anspruch darauf habe, alle seine Probleme gelöst zu bekommen, ohne daß er selbst verpflichtet wäre, dazu etwas zu investieren. Ist er zum wissenschaftlichen Studium nicht motiviert, muß die Hochschule ihn motivieren; ist er unfähig zur eigenen wissenschaftlichen Arbeit, verlangt er die Umfunktionierung eines wissenschaftlichen Seminars zur gruppendynamischen Sitzung und überhaupt, daß die Hochschule sich etwas dazu einfallen läßt. Nicht die Idee, aber die An-
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ziehungskraft vieler hochschuldidaktischer Reformvorschläge (Projektstudium, forschendes Lernen usw.) beruht nicht zuletzt darauf, daß sie intellektuell diszipliniertes Arbeiten (das auch unter kooperativen Maßstäben letzten Endes immer das Arbeiten von einzelnen ist) durch totale und permanente Kommunikation ersetzen können. Die Hochschule wird auf diese Weise zu einer Ganztagsschule. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß immer mehr Studenten die für ein wissenschaftliches Studium unabdingbaren Fähigkeiten und Motivationen überhaupt nicht mehr aufbringen wollen oder können. Allerdings sind die Gründe dafür unterschiedlich. Ein Teil von ihnen würde zu Recht ein wissenschaftliches Studium gar nicht beginnen, wenn nicht der Prestige- und Status-Druck der bürgerlich-kleinbürgerlichen Herkunftsfamilie dahinterstünde. Ein vermutlich viel größerer Teil wird gerade durch die hochschuldidaktischen Reformansprüche arbeitsunfähig gemacht. Danach sollen die Studenten z. B. "intrinsisch" motiviert sein, sie merken aber, daß sie das nicht sind. Anstatt nun aber diesen Anspruch zurückzuweisen, der selbst ja nur einem realitätsblinden mittelständischen Ich-Ideal entspringt, bleiben sie in der Differenz von Anspruch und Vermögen auf der Strecke. - Sie sollen nun ihre Lernziele selbst festsetzen und sie sich nicht mehr von den Dozenten vorschreiben lassen; aber sie merken, daß dies ohne ein bereits wissenschaftlich durchgeformtes Bewußtsein gar nicht geht, sondern nur bis zu unbefriedigenden Ressentiments reicht. - Sie sollen die Gesellschaft verändern, aber ihr Bewußtsein reicht nicht einmal dazu, ihre alltäglichen privaten Probleme zu organisieren. - Sie sollen von ihren eigenen Erfahrungen und Konflikten ausgehend wissenschaftlich studieren, aber es gibt keinen ungebrochenen, undialektischen Weg von der Subjektivität zur wissenschaftlichen Objektivation. Nur wenn man wenigstens zeitweise seine Subjektivität "vergessen" kann, kann man wissenschaftlich studieren. Der "Leistungsabfall" bei nicht wenigen Studenten beruht nicht zum wenigsten auf einer tragischen Akkumulation von bürger-
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lich-kleinbürgerlicher Disposition zu neurotischem Leistungsverhalten einerseits und den für jüngere Semester zweifellos zu hoch angesetzten und zudem noch auf das Innere der Person gerichteten hochschuldidaktischen Reformhoffnungen andererseits. Der Hut, der da ständig aufgesetzt werden soll, paßt nicht. Das Bild, das diese Studenten bieten, ist das einer bis an die Grenze des psychisch Erträglichen reichenden Radikalisierung bürgerlich-kleinbürgerlicher Ideologien und persönlicher Selbsteinschätzungen. Daran hat selbst der Neo-Marxismus nichts ausrichten können, er ist im Gegenteil in diesen Komplex nur folgerichtig integriert worden. Die Kritik dieses ideologischen Mittelstands-Komplexes und damit auch der leichtfertigen Adaptation jener hochschuldidaktischen Neuerungen ist inzwischen fast zu einer humanitären Pflicht geworden; von ihrer sachlich-didaktischen Relevanz wird später noch die Rede sein.
Trotz dieser Problematik muß aber die These gelten: Ein Student hat zwar das Recht auf Immatrikulation und darauf, zur Prüfung nach den geltenden formalen Bedingungen zugelassen zu werden. Er hat aber weder ein Recht auf Lehrveranstaltungen für alles in der Prüfung Verlangte noch auch auf Teilnahme an jedem beliebigen Seminar. Seminare wären vielmehr als "Mangelware" zu deklarieren, die Teilnahme daran von vorbereitenden Leistungen abhängig zu machen. Die formellen Studienanforderungen wären auf höchstens vier Seminare pro Semester zu begrenzen.
Man muß diese Vorschläge im Zusammenhang sehen. Voraussetzung ist, daß die Studienanforderungen von Anfang an durch Literaturangaben vorliegen, damit der Student sein Studium überhaupt planen kann. Vieles davon kann man dann durch private Lektüre erwerben oder durch Besuch von Vorlesungen, die - möglicherweise in Form von fächerübergreifenden Gemeinschaftsvorlesungen - hier eine neue Funktion bekämen, nämlich die einer ersten Erschließung eines umfangreicheren Themenkomplexes mit Hinweisen für die selbständige Arbeit, eventuell verbun-
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den mit der Edition von Arbeitsmaterial. Beschränkt man die Funktion von Seminaren dann auf die Kommunikation über das vorher Erarbeitete, wären nach allen Erfahrungen vier Seminare pro Semester ausreichend.
Diese Vorschläge mögen auf den ersten Blick restriktiv erscheinen. Jedoch besteht dank der Mitbestimmungsmöglichkeit der Studenten die Gewähr, daß ihre konkrete Realisierung hochschulöffentlich überwacht und kontrolliert werden kann. Zudem spricht einiges dafür, daß für viele Studenten die Verhaltenssicherheit sich angesichts solcher Situation eher stabilisieren würde als im Kontext derart offener Strukturen wie heute, wo zwar immer kollektive Arbeitsorganisation postuliert wird, aber immer nur individualistische Introvertiertheit entstehen kann. So oder so jedoch muß der außersubjektive Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens geltend gemacht werden. Das bedeutet für wissenschaftliche Seminare, daß dort nur über das kommuniziert werden kann, was vorher am eigenen Schreibtisch oder in Bibliotheken, Labors usw. erarbeitet wurde. Darin ist die weitere These impliziert, daß zwar die didaktisch-methodische Verfassung der Seminare weiterhin verbessert werden muß, daß darüber hinaus jedoch der Student selbst dafür verantwortlich ist, daß er in der nötigen Weise mitarbeiten kann. Entweder muß er irgendwann einsehen, daß ein wissenschaftliches Studium nicht seine Sache ist und die beruflichen Konsequenzen ziehen; oder er muß selbst - gemeinsam mit anderen Kommilitonen - für so viel informelle Kommunikation sorgen, wie für die Befriedigung der üblichen emotionalen Bedürfnisse und für die ständige Selbstvergewisserung der formellen Lernprozesse nötig ist. Er kann jedoch nicht länger verlangen - und genau das geschieht heute - daß die Hochschule über den Zweck des wissenschaftlichen Studierens hinaus eine Art von totaler Fürsorgeinstitution wird, die auch die notwendigen informellen Kontakte noch organisiert oder die sogar noch die nötigen Motivationen erst herstellt. Für einen solchen Erwartungshorizont sind Hochschulen unbezahlbar ge-
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worden. In einem Seminar z. B. wird der sachliche Gehalt von Aussagen geprüft, und wer möchte, daß statt dessen die emotional-affektive Bedeutung seiner Aussage zum Thema wird, muß eine therapeutische Gruppe aufsuchen. Beides kann seinen Sinn haben, aber beides kann gewiß nicht in ein und derselben Gruppensituation realisiert werden.
Allerdings liegt es in der Logik unserer Vorschläge, daß die Studienberatung verbessert wird. Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß das allgemeine Angebot, zu diesem Zweck die Sprechstunden der Dozenten aufzusuchen, nur mangelhaft genutzt wird. Wahrscheinlich wäre eine mehr institutionalisierte - und damit für beide Seiten verbindlichere - Form angebrachter. Die einfachste Lösung bestünde darin, die Studenten gleichmäßig auf die Lehrenden zu verteilen; dann hätte jeder Student "seinen" Berater für das ganze Studium. An der Abt. Göttingen kämen dann auf jeden Dozenten (Assistenten können hier guten Gewissens mitgezählt werden) etwa 19 Studenten. Die Beratung selbst könnte teils individuell, teils kollektiv organisiert werden.
Die Hochschule muß sich verstehen als eine partielle, durch ihren Zweck der wissenschaftlichen Bearbeitung des Bewußtseins definierte Dienstleistung. Niemand ist gezwungen, sie in Anspruch zu nehmen, aber wer sie in Anspruch nimmt, sollte sich klarmachen, daß er dort nach wie vor eine privilegierte Qualifikation erwirbt, die ihm immer noch einen Status-Vorsprung vor denjenigen verschafft, die ihm diese Dienstleistung mit ihren Steuern praktisch bezahlen. Dies sollte die mindeste Studienmotivation sein - wenn auch keine "intrinsische". Nur dann jedoch, wenn die für den formellen Lehrbetrieb notwendigen Personalinvestitionen auf dasjenige Maß beschränkt werden, was für den Zweck unerläßlich ist, kann die inzwischen unverhüllte Ausbeutung der öffentlichen Ressourcen durch den mittelständischen Nachwuchs wie auch durch die unrealistischen quantitativen Studienerwartungen vieler Hochschullehrer selbst zugunsten derjenigen öffentlichen
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Bildungs- und Erziehungsaufgaben - von anderen öffentlichen Aufgaben ganz zu schweigen - begrenzt werden, die den wirklich unterprivilegierten Gruppen unserer Gesellschaft zugute kommen können.
Man kann jedoch heute solche Vorschläge nicht vertreten, ohne wenigstens am Rande auf jene hochschuldidaktischen Theoreme etwas gründlicher einzugehen, die die Diskussion der letzten Jahre wesentlich bestimmt haben und denen unsere Vorschläge zumindest auf den ersten Blick widersprechen. Dies soll abschließend durch die Diskussion von drei besonders wichtigen Forderungen versucht werden.
1. Die Reformvorschläge - z. B. Projektstudium und forschendes Lernen - wurden vor allem im Rahmen der alten Bundes-Assistenten-Konferenz von Autoren auf der Grundlage eines ganz bestimmten Erfahrungshintergrundes vertreten. Sie verfügten bereits über eine systematische wissenschaftliche Ausbildung im herkömmlichen Sinne, hatten aber entdeckt, daß in dieser Ausbildung erstens zahlreiche, für die Berufspraxis relevante Themen und Gegenstände ausgespart worden waren und daß zweitens die bloße Addition einzelwissenschaftlicher Studien noch kein praktisch relevantes Bewußtsein ergeben hatte (Vorwurf der "Fachidiotie"). Also mußte es ihnen einleuchtend erscheinen, die Studiengegenstände nicht mehr einfach aus der einzelwissenschaftlichen Systematik abzuleiten, sondern umgekehrt von den fächerübergreifenden Sachverhalten der gesellschaftlichen Praxis ausgehend die Themen des wissenschaftlichen Studiums zu bestimmen. Damit nun dieser Praxisbezug jederzeit gegenwärtig bleiben konnte, wurde vorgeschlagen, das Studium mit praktischen Aspekten zu verbinden (Projekte, d. h. ständiger Kontakt mit einer bestimmten pädagogischen oder sonstigen gesellschaftlichen Wirklichkeit; methodologisches Training durch Beobachten und Messen eben dieser Wirklichkeit usw.). Dabei wurde die Notwendigkeit des Studiums nach den üblichen wissenschaftlichen Regeln vorausgesetzt, ja, dieses
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sollte gerade dadurch eine höhere Qualität gewinnen. Was diese Autoren jedoch übersahen - und was auch für ihren Ausbildungsstand übersehen werden durfte - war, daß sie in Wahrheit ein ungemein kompliziertes Modell entworfen hatten, das sofort verfälscht werden mußte - nämlich in Richtung auf einen theoriefeindlichen Praxisfetischismus - sobald es auf ein weniger qualifiziertes Bewußtsein angewandt wurde. Die Kompliziertheit besteht allgemein gesagt darin, daß nun eine Fülle von Aspekten, Teilschritten und Kommunikationsvarianten ständig gleichzeitig im Blick behalten werden müssen, während organisierte Lernprozesse in einem geplanten zeitlichen Nacheinander ablaufen müssen. Das Modell funktioniert im Grunde nur, wenn die Lernenden nicht nur ihre jeweils geplanten Lernprozesse Schritt für Schritt steuern, sondern immer auch dabei die Fortschritte der Gesamterkenntnis (z. B. die Arbeiten anderer Gruppen) mit vollziehen können. Genau darin liegt die schon früher beschriebene Überforderung für Studenten, bei denen die entsprechende Qualifikation dafür nicht vorausgesetzt werden kann. In allen mir bekannten Fällen sind diese Versuche an denselben Barrieren gescheitert. Die Kompliziertheit des Modells - selten überhaupt bewußt - wurde so simplifiziert, daß die Substanz wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens unmittelbar in Frage stand. Die Notwendigkeit der individuellen wissenschaftlichen Arbeit geriet aus dem Blick; die Notwendigkeit, Kommunikation zu variieren je nach dem jeweiligen Zweck, wurde zurückgedrängt auf totale aber eindimensionale Kommunikation von meist relativ hoher Dauer, wo jeder sagte, was ihm gerade in den Sinn kam. Im besten Falle wurde das falsche und diffuse Ausgangsbewußtsein gegenseitig bestätigt und bekräftigt. Da objektive Ansprüche von außen abgewehrt wurden bzw. von den Dozenten oft gar nicht erst eingebracht wurden, und da andererseits diese Projektgruppen kaum institutionalisierte Vorgaben kannten (z. B. klare Rollendefinitionen), sondern alles und jedes vom Nullpunkt an neu erfinden und regeln wollten, verkamen sie
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meist in einem Wust von gegenseitigen Affekten, bis sie sich irgendwann frustriert auflösten. Aus der Forderung, die Einzelwissenschaften an den praktischen Problemen zu disziplinieren, war dann längst die Abschaffung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und damit jeder wissenschaftlich-methodischen Strukturierung überhaupt geworden.
2. Die Lösung, die hier als gescheiterte vorgestellt wurde, bezieht sich gleichwohl auf ein Problem, das die erziehungswissenschaftliche Ausbildung schon immer gekannt hat: die Vermittlung von theoretischer und praktischer Ausbildung. Angesichts des immensen personellen und materiellen Aufwandes, der immer noch mit Praktika an den Pädagogischen Hochschulen betrieben wird, müssen ihre didaktische und methodische Relevanz neu durchdacht werden, obwohl das mit massiven fachspezifischen Interessen kollidieren wird. Angesichts des herrschenden Praxis-Fetischismus an den Hochschulen wäre daran zu erinnern, daß bisher alle bekannten Versuche, theoretisch-systematische mit praktischen Tätigkeiten zu verbinden, gescheitert sind, und zwar unter anderem an einem immanenten didaktischen Widerspruch. Das gilt für das überlieferte Konzept eines sinnvollen Nacheinanders von allgemeiner und beruflicher Bildung ebenso wie für die Polytechnische Bildung oder das duale System, und es ist schon bezeichnend für das theoretische Defizit der hochschuldidaktischen Diskussion, daß sie diese vorliegenden historischen Erfahrungen nicht aufgearbeitet hat, sondern ihre eigenen Prämissen immer nur postuliert hat. Der didaktische Widerspruch scheint mir darin zu liegen, daß die wissenschaftlich-systematische Bearbeitung des Bewußtseins in dieser Form niemals unmittelbar praktisch brauchbar sein kann, weil dabei die Fülle der situativen Variablen unmöglich antizipiert werden kann. Praktisches, d. h. handlungsorientiertes Bewußtsein dagegen entsteht durch eine entsprechende Umstrukturierung des einzelnen Bewußtseins auf Bedingungen der konkreten Realität. So richtig es also ist, daß die letztere Form des handlungsorientierten Be-
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wußtseins nicht einfach mechanisch aus dem theoretisch-systematischen folgt, vielmehr einer eigentümlichen intellektuellen Aktivität bedarf, so wichtig ist jedoch auch die Umkehrung: Ohne ein systematisches, zunächst handlungsfernes Bewußtsein würde das Potential für die handlungsrelevante Umstrukturierung fehlen. Beide Varianten des Bewußtseins - und der unterschiedlichen Organisation seiner Herstellung - setzen also immer schon einander voraus, kommen einander auch wechselseitig zugute, ohne daß sie einander ersetzen könnten. Das bedeutet also, daß es kein praktisches Bewußtsein über Unterricht geben kann, solange etwa das zu Unterrichtende und die Kommunikationsstrukturen des Unterrichts nicht wissenschaftlich-systematisch im Kopf des Lehrers bearbeitet worden sind.
Für die Organisation von systematischen und handlungsorientierten Lernphasen innerhalb des Studiums folgt daraus, daß diese didaktische Widersprüchlichkeit als notwendige Voraussetzung akzeptiert werden muß. Beide Phasen sind relativ selbständige Prozesse, die organisatorisch nur insoweit aufeinander abgestimmt sein können, als die Bedingungen der Möglichkeit für deren Vermittlung angeboten werden. Inhaltlich vermittelt werden können diese Phasen nur im jeweiligen Einzelbewußtsein - durchaus auch durch Diskussion in Gruppen - nicht jedoch durch planmäßige Organisation der Lernprozesse selbst. Die Vorbereitung auf ein Praktikum kann also nur diese Praxis - einschließlich des dort wünschenswerten Verhaltens, der dort vermutlich auftauchenden Probleme usw. - systematisch zum Thema machen, also das Potential für das handlungsorientierte Bewußtsein aufbauen. Die Nachbereitung an der Hochschule kann wiederum nur darin bestehen, die konkreten Erfahrungen, Beobachtungen usw. systematisch zu thematisieren. Die Hochschule kann also sowohl hinsichtlich der späteren Berufspraxis überhaupt wie hinsichtlich ihrer Praktika immer nur das systematische Training der Vorstellungen betreiben. Der gegenwärtige Praxis-Fetischismus jedoch, der auf dem
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besten Wege ist, die alte reaktionäre, weil weitgehend auf obskuren Weltanschauungen und nicht auf wissenschaftlichen Fächern und ihren Methoden basierende Lehrerbildungsanstalt wieder zu restituieren, schließt auch dieses Spannungsverhältnis einfach kurz und hofft, daß die Praxis nicht nur alle wichtigen Antworten zu geben, sondern auch alle wichtigen Fragen zu stellen vermag. Angesichts der eben skizzierten Problematik muß man sich wirklich die Frage stellen, ob der mit den heutigen Praktika betriebene immense Aufwand an Tutoren und Mentoren didaktisch zu rechtfertigen ist. Für die Studenten wäre ein Praktikum sicher ergiebiger, das über längere Zeit geht (etwa drei Monate), im zweiten Drittel des Studiums liegt und unter der Leitung eines Lehrer-Mentors und ohne einen Tutor von der Hochschule stattfindet, damit eine rückhaltlose Beschäftigung mit der im Vergleich zur Hochschule anderen Wirklichkeit überhaupt möglich wird. Was soll es im Vergleich zum Kostenaufwand schon bringen, wenn der Student bei dieser Gelegenheit auch mit einem Hochschuldozenten sprechen kann, den er sich nicht aussuchen kann und bei dem er möglicherweise hinterher gar nicht mehr studiert? (Nichts wäre dagegen einzuwenden, wenn auch die Dozenten alle paar Jahre einmal wieder in der Schule hospitieren und vielleicht auch unterrichten müßten - etwa in ähnlichen Abständen, wie ihnen ein Forschungssemester zugebilligt wird.)
Anstatt daß die Studenten wenigstens in den ersten Semestern Zeit bekämen, ihre Vorstellungen mit ihnen bisher noch meist unbekannten wissenschaftlichen Methoden systematisch zu bearbeiten und sich in Ruhe in den neuen institutionellen, sozialen und emotionalen Bedingungen zurechtzufinden, werden sie vom ersten Semester an mit "Praxisnähe", "Berufsbezogenheit" und fragwürdigen, weil auf puren Postulaten beruhenden hochschuldidaktischen Experimenten traktiert. Und bis zum Ende ihres Studiums wird sie dieser sinnlose Streß nicht verlassen, der es ihnen nicht erlaubt und sie nicht dazu zwingt, ihr dif-
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fuses und irrationales Bewußtsein und ihre emotional-affektiven Verunsicherungen kontinuierlich wissenschaftlich zu ordnen und zu bearbeiten. Gemessen am Bewußtsein, das heute beim Verlassen der Hochschule vorhanden ist, ist der ganze Aufwand für eine wissenschaftliche Lehrerbildung fast entbehrlich geworden. Derselbe Effekt wäre auch fast dadurch zu erreichen, daß man einen Studenten gleich bei einem amtierenden Lehrer in die Lehre schickt und sein Fachwissen an den üblichen Schulbüchern trainiert.
3. Die anti-wissenschaftliche und anti-intellektuelle Tendenz, für die viele Faktoren verantwortlich sind, zeigt sich jedoch nicht nur im "Praxis-Fetischismus", sondern auch im "Lernziel-Fetischismus". Auch hier kumulieren verschiedene Entwicklungen: einmal die Versuche von Lerntheoretikern, Lernen als Verhaltensänderung zu definieren und überprüfbare Teilziele zu operationalisieren; zum anderen das Bemühen, nichts "umsonst" zu studieren. Für jedes Seminar sollen möglichst nicht nur das Thema, die wissenschaftliche Literatur, sondern auch die Lernziele angegeben werden. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Problematik der Lernzielbestimmung überhaupt auseinanderzusetzen. Jedenfalls hat die Lernzieldebatte zunächst im Rahmen des schulischen Lernens ihren Ort, also für Lernprozesse von Kindern und Jugendlichen, die, so nimmt man jedenfalls an, noch nicht unmittelbar mit wissenschaftlichen Arbeiten konfrontiert werden können. Zumindest für die höheren Klassen der Schule haben jedoch die neuen Lernziele auch die Problematik der alten Bildungsziele geerbt: den Geruch des Nicht-Originären, des bloß Abgeleiteten, des Manipulierten. Das gilt erst recht unter den Bedingungen eines wissenschaftlichen Lehrbetriebs. Zwar ließen sich rein informative Passagen nach dem Muster einer vorausgehenden Lernzielbestimmung organisieren. Aber solche Passagen haben im allgemeinen propädeutische Funktion und gehören insofern gar nicht in wissenschaftliche Seminare, sondern allenfalls in Vorlesungen und vor allem in die private Lektüre.
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Für ein wissenschaftliches Seminar stehen zur Disposition nicht vorausbestimmte Lernziele, sondern das Thema selbst (es kann als mehr oder weniger wichtig angesehen werden), Umfang und Auswahl der zu bearbeitenden wissenschaftlichen Literatur (obwohl auch hier bereits wissenschaftliche Prinzipien gelten wie das der Methodenpluralität und der Pluralität der Positionen), die Art und Weise der zeitlichen Arbeitsorganisation sowie schließlich die Organisation der Arbeitsmethoden (allerdings wieder mit der Einschränkung, daß die methodische Organisation die Begegnung mit den wissenschaftlichen Originalen nicht verhindert oder verfälscht). Zur Disposition stehen aber gerade nicht Lernziele, die dem Thema und nicht erst seiner wissenschaftlichen Bearbeitung bereits vorher entnommen werden könnten. Allenfalls ließe sich von Lernzielen im formalen Sinne sprechen, d. h. so, daß sie für jede wissenschaftliche Bearbeitung gelten, etwa: die bearbeiteten Forschungen und Theorien sollen hinsichtlich ihrer methodologischen Voraussetzungen, ihres immanenten Argumentationszusammenhangs, ihrer praktischen Relevanz, ihrer ideologischen Relevanz, ihrer Widersprüche, ihrer offenen Probleme usw. verstanden werden. Die Lernziele im üblichen Sinne jedoch können sich erst für die Beteiligten im Laufe der Arbeit und der Auseinandersetzung ergeben. Der Dozent kann zwar vorher Vermutungen darüber anstellen, welche Lernziele für die Studenten eine besondere Rolle spielen werden, aber er kann diese Vermutungen nicht vorher fest einprogrammieren, um dadurch die Ergebnisse der gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit bereits zu antizipieren, weil auf diese Weise deren Sinn ins Gegenteil verkehrt würde. Der Sinn des wissenschaftlichen Studiums besteht darin, das vorfindbare empirische Bewußtsein als ein - gemessen am vorhandenen wissenschaftlichen Standard - falsches anzunehmen und durch Konfrontation mit diesem Standard es sich selbst bearbeiten zu lassen.
Auch dieses Problem trägt zur selbstverschuldeten Überfüllung der Seminare bei, insofern nämlich außer dieser
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wissenschaftlichen Arbeit Lernangebote erwartet werden - und das steckt eigentlich in dem Gerede von den Lernzielen - die damit der Sache nach nichts zu tun haben. Wenn man jedoch der Meinung ist, daß auch eine Reihe von sonstigen Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Hochschule gelernt werden sollen (z. B. Kooperationsfähigkeit; richtiges Sprechen; angemessenes Verhalten in Gruppen usw.), dann muß öffentlich klargestellt werden, daß es sich hier um außerwissenschaftliche Lernziele handelt, die dann auch mit einem eigenen spezialisierten Stab von Mitarbeitern zu organisieren wären und natürlich die Personalkosten nicht unerheblich erhöhen würden. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Wie am Beispiel der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abt. Göttingen, gezeigt wurde, läßt sich der Hochschullehrermangel statistisch einigermaßen genau bestimmen, wenn man den Zweck des wissenschaftlichen Studiums im Auge behält. Und er läßt sich ohne allzu großen Aufwand beheben, wenn
a) die Personalpolitik des Ministeriums die richtigen Akzente setzt;
b) Prüfungsordnungen und Studienordnungen realistisch revidiert werden;
c) ein großer Teil der Verantwortung für das Gelingen des Studiums an die Studenten zurückgegeben wird, die ja letztlich auch den Prestige-Gewinn davon haben;
d) Praktika auf das Verhältnis von Investition und Ertrag hin neu durchdacht und organisiert werden;
e) auf den ersten Blick plausible, aber personalintensive hochschuldidaktische Reformvorschläge an ihrer wissenschaftsdidaktischen Leistungsfähigkeit gemessen werden. Anlaß zur Sorge jedoch gibt die unheilige Allianz vieler Faktoren, die die Liquidation der außersubjektiven wissenschaftlichen Ansprüche wenn nicht zum Ziele, so doch bereits weitgehend zum Ergebnis haben. Da aber gerade Volksschullehrer später vor allem Kinder aus den unteren Schichten unterrichten werden, muß schon aus politischen Gründen gefordert werden, daß nicht konfuses und dif-
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fuses Bewußtsein auf diese Kinder losgelassen wird. Der heute mögliche Fortschritt für die Volksschule besteht darin, daß hier endlich wissenschaftlich strukturierter Unterricht anstelle der alten weltanschaulichen Verblasenheiten eingeführt werden kann. Jede Intention jedoch, die für sich selbst und für die Schüler nicht wissenschaftliche Aufklärung anstrebt, ist auch dann zutiefst reaktionär, wenn sie sich mit fortschrittlichem oder gar revolutionärem Gehabe umgibt.
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88. Die Reform, die zur Ideologie erstarrt ist (1973)
(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 9/1973, 4.3.1973)
(Der Beitrag bezieht sich auf Georg Picht, der im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt Nr. 5 und 6/1973 die bildungspolitischen Vorstellungen der Bundesregierung scharf attackiert hatte, H. G.).
Die bildungspolitischen Vorschläge, die Georg Picht im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt gemacht hat, verdienen nicht nur weite Verbreitung, sondern auch - im Sinne seiner eigenen Intentionen - kritische Notizen. Vor allem folgende seiner Argumente scheinen mir Widerspruch herauszufordern.
1.Pichts radikale Forderungen, vor allem die nach Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel einer Bildungskompetenz und darüber hinaus einer Infrastruktur-Kompetenz für den Bund, sind solange nicht zwingend, als nicht mit wenigstens hoher Wahrscheinlichkeit durch ihre Verwirklichung eine Besserung der Misere erwartet werden kann. Man muß ja wohl in Rechnung stellen, daß eine erhebliche Menge politischer Energie für eine Grundgesetzänderung nötig wäre, die der Verbesserung der Bildungs- und Infrastruktur zunächst einmal verlorenginge. Das Problem liegt zumindest gegenwärtig nicht darin, daß vernünftige Konzepte nicht realisiert werden können, sondern darin, daß es solche Konzepte nicht gibt. Das sieht Picht deutlich, aber er bleibt die Begründung für die Hoffnung schuldig, daran werde sich durch größere Bundeskompetenzen etwas ändern.
Die intellektuelle und theoretische Dürftigkeit der bisherigen Reformdiskussionen und die bornierte bürokratische Umsetzung dieser Dürftigkeit in sogenannte "Reformen" gelten ja doch wohl für die bisherigen Bundesinitiativen nicht weniger als für die Ländermaßnahmen. Man braucht nur etwa an den Entwurf eines Hochschulrahmengesetzes zu denken, der beispielsweise die Hochschullehrer zu Dauerunterrichtern macht, obwohl doch jeder Kundige weiß, daß es längst nicht mehr darum geht, Massen von Studierwilligen genügend Lehrveranstaltungen anzubieten, sondern umgekehrt darum, Massen von studierunfähigen beziehungsweise -unwilligen Mittelstands-Zöglingen, die gleichwohl in den Genuß des durch Studium nach wie vor erreichbaren Privilegs kommen wollen, eine Ganztagshochschule möglichst zum intellektuellen Nulltarif zu verschaffen.
Das eigene Geld als Studienmotivation
Was die nötigen Planungen angeht, so spricht vieles dafür, sie in einem oder mehreren relativ unabhängigen, der ganzen Öffentlichkeit verantwortlichen wissenschaftlichen Instituten zu organisieren, um wissenschaftliche Erhebung deutlich von politischer Entscheidung zu trennen; die bisherigen Erfahrungen mit solchen Planungen legen allerdings Skepsis nahe: Solange die Gesamtgesellschaft hinsichtlich ihrer ökonomischen Prozesse irrational-ungeplant bleibt, hängen offenbar bildungspolitische Planungen ebenfalls in der Luft.
2. Pichts Argumentation ist letztlich trotz aller politischen Vorschläge unpolitisch, weil sie die massiven Einzelinteressen nicht ernst nimmt, welche die Bildungsreform überhaupt erst zu dem Problem machen, als das es sich heute darstellt. Sie könnten auch durch erhöhte Bundeskompetenzen nicht listig umgangen werden. Da sind nicht nur die Konservativen der bayerischen CSU zu nennen, sondern auch die Lehrerverbände und die mit ihnen ideologisch verbundenen "linken" studentischen Interessengruppen.
Die von Picht konstatierten unmäßigen (weil ohne Rücksicht auf gesamtgesellschaftliche Möglichkeiten erhobenen) Finanzforderungen haben ihren wirklichen Grund doch darin, daß sie auf partikulare Interessen zurückgehen, die gleichwohl ihre Reformideologien zur Idee des Allgemeinwohls deklariert und - was noch schlimmer ist - die öffentlichen Reformdiskussionen praktisch monopolisiert haben. Der Kern, die objektive Funktion dieser Ideologien: Der durch den Demokratisierungsprozeß der letzten Jahre bedrohte privilegierte Status des Mittelstandes und seines Nachwuchses soll unter allen Umständen aufrechterhalten bleiben. Diesem und keinem anderen Zweck sind die Reformen und finanziellen Investitionen der letzten Jahre zugute gekommen. Der erste Schritt zu einer Bildungsreform unter gesamtgesellschaftlichen Aspekten wäre die Kritik der Reformideologien selbst:
- daß die Gesamtschule die Chancengleichheit wirklich verbessern könne;
- daß die Lehrerbildung "wissenschaftlich" werden müsse, während doch schon minimale Ansprüche von wissenschaftlichem Studium an den Hochschulen kollektive Panik auslösen;
- daß Studium (unter kapitalistischen Bedingungen!) "gesellschaftlich nützliche Arbeit" sei;
- daß es auf eine Erweiterung der schulischen Funktionen ankomme und nicht etwa auf deren Minderung, usw.
3. Wenn Studienabschlüsse nach wie vor gesellschaftliche Privilegien eröffnen und wenn auf absehbare Zeit weiterhin die Mittelschichten aus historischen, nicht über Nacht abschaffbaren Gründen einen privilegierten Zugang zum Hochschulstudium haben werden, dann muß das auch Konsequenzen für die Finanzierung haben. Zunächst die, daß für Studium und Zulassung zu Prüfungen wieder angemessen bezahlt werden muß - nicht weil dadurch die öffentlichen Haushalte wesentlich entlastet würden, sondern weil das eigene Geld eine wichtige Studienmotivation wäre - vor allem dann, wenn bei Wiederholungsprüfungen und Überschreitung der Semesterzahl die Gebühren drastisch erhöht würden. Dieses auch sonst in unserer Gesellschaft übliche Steuerverfahren wäre wirkungsvoller als jene rigiden Studienvorschriften, die doch immer nur Lernverbote und - wie sich schon heute absehen läßt - den Abbau der für ein wissenschaftliches Studium zu stellenden Ansprüche zur Folge hätten. Daß diese Gebühren zum Teil aus Stipendien bezahlt würden spräche nicht dagegen.
Wichtiger noch wäre, alle diejenigen Forderungen zu überprüfen, die Geld kosten und die von den herrschenden Reformideologien als unabdingbar angesehen werden:
- Welche Aufgaben muß die Schule angesichts einer von allen Seiten informierten Gesellschaft wirklich noch wahrnehmen?
- Kann man die Schulzeit nicht im ganzen wie auch täglich verkürzen und dadurch Lehrer einsparen? Vieles, was heute im Rahmen von Schulversuchen gefordert wird, macht etwa das Fernsehen besser und billiger.
- Was muß man - Pichts Hinweis auf das "lebenslange Lernen" aufgreifend - wirklich noch unbedingt im Kindes- und Jugendalter lernen, und was ließe sich sinnvoller später lernen, wenn durch neue Lebenserfahrungen die Motivationen größer sind?
Der Lehrer hat kein Monopol mehr
Die Selbstverständlichkeit jedenfalls, mit der die kindliche und jugendliche Existenz als eine schulische definiert wird, stammt aus anderen gesellschaftlichen Verhältnissen. Der Lehrer hatte da fast eine Art von Informationsmonopol. Heute ist es aber - etwa - ein Unterschied, ob man Ganztagsschulen für sozial randständige Gruppen oder für alle fordert.
Oder ein noch gewichtigeres Beispiel: Je tiefer im Bildungssystem man sich befindet (Kindergarten, Vorschule, Sekundarstufe I), um so personalintensiver müssen die pädagogischen Einrichtungen arbeiten, das heißt, um so kleiner müssen die Relationen von Lehrenden und Lernenden sein. Dies wäre auch gerade wegen der "Chancengleichheit" wichtig, die sich hier weitgehend entscheidet.
Es stimmt einfach nicht, daß in den geisteswissenschaftlichen Fächern (so in der Lehrerbildung) die Dozenten-Studenten-Relationen durchweg katastrophal seien. Würde in den Lehrveranstaltungen nur getan, wozu Studenten ohne Hilfe eines Fachmannes unfähig sind, sähe das Bild ganz anders aus. Dann müßte etwa - um eine Zahl zu nennen - an der als völlig überfüllt geltenden Pädagogischen Hochschule Niedersachsen, Abt. Göttingen, jeder Dozent und Assistent nicht einmal drei Seminare pro Semester mit durchschnittlich 30 Teilnehmern abhalten, falls man davon ausgeht, daß jeder Student pro Semester an höchstens vier Seminaren wirklich mitarbeiten kann.
4. Die durch die Reformideologien selbst verschuldete totale Verschulung und Pädagogisierung der Hochschulen hat die Überfüllung nicht so sehr von den Zahlen als vielmehr von den Studienerwartungen her produziert. Diese Erwartungen haben mit dem für ein wissenschaftliches Studium Notwendigen kaum mehr etwas zu tun. Und die ignoranten und falsch beratenen Kultusbürokratien, die beim pädagogischen Diplomstudium mit 16 Semester-Wochenstunden kalkulieren, agieren in dieselbe Richtung. So paradox es klingen mag: Nicht das (geisteswissenschaftliche) Studium ist für die gegenwärtigen Massen unbezahlbar geworden, sondern gerade seine Abschaffung durch törichte Verschulung und antiwissenschaftliche Überpädagogisierung. In den geisteswissenschaftlichen Massenfächern ist die für ein wissenschaftliches Studium notwendige Literatur fast vollständig im Taschenbuch greifbar. Der wichtigste und billigste Arbeitsplatz ist der eigene Schreibtisch. Durch Funkkollegs und deren Bandaufzeichnungen sowie durch Sendungen der Massenmedien ließen sich früher ungeahnte und dazu billige, individuell differenzierte Studiengänge schaffen, wenn dies nur wirklich gewollt und gefordert würde - von den technisch längst möglichen, aber nicht realisierten Chancen des Fernstudiums ganz zu schweigen. Und warum werden die Lehrerstudenten nicht ein ganzes Semester lang in die Schule geschickt, damit sie die Hochschule entlasten und Erfahrungen und Einsichten gewinnen. die ihnen die Hochschule sowieso nicht bieten kann? Warum soll die Mittelstandsjugend nicht Repetitoren kaufen, wenn sie allein die notwendigen Studienleistungen nicht erbringen kann? Schließlich zwingt sie niemand zum Studium!
5. Diese bewußt provokativ formulierten Andeutungen müssen hier genügen. Zumindest auf absehbare Zeit also richten Änderungen des Grundgesetzes hier gar nichts aus; sie würden nur von den eigentlichen Problemen ablenken. Was einstweilen zu tun ist, kann im Rahmen der gegenwärtigen politischen und Verwaltungsstrukturen durchaus getan werden. Die Diskussion um Ziele, Organisationsmodi und Strukturen der Bildungsreform muß noch einmal ganz von vorn und unter ganz neuen Kriterien beginnen. Eines der wichtigsten Kriterien muß die Tatsache sein, daß wir nach wie vor ein schichten- oder klassenspezifisches Bildungswesen haben, und daß die Investitionen mit Vorrang deshalb dort erfolgen müssen, wo es in erster Linie um den Abbau von Benachteiligungen geht. Die privilegierten Schichten in den höheren Bildungsanstalten, zumal in den Hochschulen, müssen soweit wie möglich auf eigene finanzielle wie leistungsmäßige Kosten angewiesen werden. Hier liegt der eigentliche gesellschaftliche Interessenkonflikt. Von Pichts scheinbar so radikalen Forderungen wird er nicht erreicht.
URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke11.htm
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