Hermann Giesecke
Gesammelte Schriften
Band 12: 1974 - 1975
© Hermann GieseckeInhaltsverzeichnis aller Bände
Register
Zu dieser Edition
Dieser 12. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1974 und 1975. In dieser Zeit war ich (seit 1967) als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien (In dieser Zeit ist erschienen: Anleitung zum pädagogischen Studium, München 1974).
Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von "1" an nummeriert, die vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.
Inhalt von Band 12
89. Pädagogische und politische Funktionen von Richtlinien (1974)
90. Freizeit- und Konsumerziehung (1974)
91. Thesen zum Geschichtsunterricht (1974)
92. Wer macht den politischen Unterricht parteilich? (1974)
93. Der alte Adam und seine Lebensmittel (1974)
94. Wandern sie nach rechts? (1974)
95. Emanzipation, Tradition und praktisches Bewußtsein (1975)
96. Brezinkas gesammelte Ressentiments (1975)
97. Plädoyer für eine praktische und praktikable politische Didaktik (1975)
98. Abschied von der Vergangenheit? (1975)
99. Sozialwissenschaft für die Schule (1975)
89. Pädagogische und politische Funktionen von Richtlinien (1974)
Eine Diskussion über die neuen nordrhein-westfälischen "Richtlinien für den politischen Unterricht" zwischen Hermann Giesecke und den Mitgliedern der Richtlinienkommission Walter Gagel, Herbert Knepper, Dieter Menne und Rolf Schörken
(In: Neue Sammlung, H. 2/1974, S. 84-132)
Vorbemerkung: Der folgende Beitrag ist dadurch entstanden, daß Hermann Giesecke seine Stellungnahme zu den neuen Richtlinien in einem Aufsatz von elf Thesen formulierte und diesen den genannten Mitgliedern der Richtlinienkommission mit der Bitte um Kritik zusandte. Die Kommissionsmitglieder Walter Gagel, Herbert Knepper (zuständiger Referent im Kultusministerium), Dieter Menne und Rolf Schörken haben den Aufsatz in fünf Teile aufgeteilt, auf die jeweils die Antwort erfolgt. So ergibt sich die Form eines Dialogs. Von ihm erhoffen sich die Autoren den Beginn einer politisch-didaktischen Grundsatzdebatte und vor allem auch eine Versachlichung der oft allzu grobschlächtigen politischen Auseinandersetzungen um die neuen Richtlinien.
(Im folgenden können aus urheberrechtlichen Gründen nur meine ursprünglichen Thesen wiedergegeben werden, nicht auch die Beiträge der anderen Autoren (H. G.)
Einleitung
Nach den neuen hessischen Richtlinien für "Gesellschaftslehre" (vgl. Neue Sammlung Heft 2/1973) wurden im Sommer 1973 auch in Nordrhein-Westfalen neue "Richtlinien für den politischen Unterricht" veröffentlicht. Im Unterschied zu den hessischen erfassen die nordrhein-westfälischen den Geschichts- und Erdkundeunterricht nicht mit; zudem sind sie wesentlich knapper gehalten und begründet (34 DIN-A4-Seiten), und die zugehörigen didaktisch-methodischen Hinweise sind in selbständigen "Planungsmateralien" veröffentlicht. Ihr Leitmotiv ist die Spannung von individueller Autonomie und Mündigkeit einerseits und gesellschaftlichen Zwängen andererseits:
"Ein Unterricht, der politisches Verhalten zum Ziel hat, fördert die Entwicklung des politisch mündigen Bürgers, der seine Freiheitschancen wahrnehmen, Steuerungstendenzen durchschauen und sie entweder bewußt annehmen oder ablehnen kann; eines Bürgers, wie ihn das Grundgesetz zu seiner Verwirklichung braucht" (S. 5).
Kern der Richtlinien, die "weder auf bestimmte Schulformen noch auf Schulstufen beschränkt sind" (S.5), bilden die folgenden zehn "Qualifikationen", definiert als "Verhaltensdispositionen, die es dem Bürger ermöglichen, gesellschaftlich-politische Lebenssituationen zu bewältigen" (S. 9).
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"1. Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Zwänge und Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzunehmen, sondern sie auf ihre Zwecke und Notwendigkeiten hin zu befragen und die ihnen zugrundeliegenden Interessen, Normen und Wertvorstellungen kritisch zu überprüfen.
2. Fähigkeit und Bereitschaft, die Chancen zur Einflußnahme auf gesellschaftliche Vorgänge und Herrschaftsverhältnisse zu erkennen, zu nutzen und zu erweitern.
3. Fähigkeit und Bereitschaft, sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation auf ihren ideologischen Hintergrund hin zu durchschauen.
4. Fähigkeit und Bereitschaft, in politischen Alternativen zu denken, Partei zu ergreifen und gegebenenfalls auch unter dem Druck von Sanktionen zu versuchen, Entscheidungen zu realisieren.
5. Fähigkeit, die eigene Rechts- und Interessenlage zu reflektieren, und Bereitschaft, Ansprüche auch in Solidarität mit anderen durchzusetzen, sowie Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Bedürfnisse als eigene zu erkennen und ihnen gegebenenfalls Priorität vor der Befriedigung privater Interessen zu geben.
6. Fähigkeit, die gesellschaftliche Funktion von Konflikten zu erkennen, und die Bereitschaft, sich durch Wahl geeigneter Konzeptionen an der Austragung von Konflikten zu beteiligen.
7. Fähigkeit, eigene Glücksansprüche vor Verfälschungen zu bewahren und durchzusetzen, sofern dies nicht zu Lasten anderer geht, sowie Fähigkeit und Bereitschaft, dies auch anderen zuzugestehen und zu ermöglichen.
8. Fähigkeit und Bereitschaft, angesichts von persönlichen oder gesellschaftlichen Problemen Eigeninitiativen zu entwickeln und - unter ständiger Prüfung der Realisierbarkeit - geeignete Wege zu ihrer Verwirklichung zu gehen.
9. Fähigkeit und Bereitschaft, als Mitglied in verschiedenen sozialen Gruppen mitzuarbeiten, gegenüber ihren Anforderungen und Zumutungen offen zu sein und Belastungen des Ich-Bildes (Identitätskrisen) auszuhalten sowie Möglichkeiten zur Veränderung und Erweiterung des Ich-Bildes auszunutzen wie auch anderen zuzugestehen und zu erleichtern.
10. Fähigkeit und Bereitschaft, Vorurteile gegenüber anderen Gesellschaften abzubauen, die Bedingungen ihrer Andersartigkeit zu erkennen, gegebenenfalls für die Interessen der Unterprivilegierten zu optieren sowie Strukturveränderungen in der eigenen Gesellschaft um einer gerechten Friedensordnung willen zu akzeptieren."
Die Qualifikationen sind jeweils knapp erläutert und begründet. Aus ihnen wurden jeweils eine Reihe "Lernziele erster und zweiter Ordnung" entwickelt, die "einzelne Elemente der jeweiligen Qualifikation darstellen sollen" (S.9). In der Kombination dieser Lernziele mit dem jeweiligen Unterrichtsstoff entstehen durch didaktische Analyse dann die "konkretisierten Lernziele". Zunächst nur für die Klassen 9 und 10 sind Themenkataloge beigefügt, die jedoch nicht verbindlich sind; verbindlich ist lediglich die Berücksichtigung der Qualifikationen und der Lernziele erster und zweiter Ordnung. Die Themen sind so ausgewählt, daß alle Qualifikationen sowie die "Handlungsfelder" berücksichtigt sind, auf die sich die Qualifikationen beziehen sollen (Schule; Familie; Beruf; Freizeit; Öffentlichkeit; internationale Beziehungen).
Es handelt sich also bis hierhin um ein einfaches logisches Grundmodell, das verhältnismäßig leicht durchschaubar ist und von daher eine erhebliche
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Chance hätte, realisiert zu werden. Kompliziert wird es jedoch dadurch, daß für die Bestimmung der Unterrichtsthemen dann ein neues Verfahren eingeführt wird, nämlich eine Matrix, bestehend einerseits aus den "Situationsfeldern" (Schule, Familie usw.), andererseits aus sogenannten "Handlungsintentionen" (Interaktion; Kommunikation; Vorsorge; Konsum; Produktion; Mitbestimmung; Organisation). Diese "Handlungsintentionen" sind nun weder genauer definiert noch mit den "Qualifikationen" und "übergeordneten Lernzielen" in irgendeiner erkennbaren Weise verbunden. Gesagt wird lediglich, daß es sich bei der Operationalisierung der "konkretisierten Lernziele" und bei der Bestimmung der Unterrichtsthemen für den Lehrer "um zwei einander bedingende Arbeitsvorgänge (handelt)" (S.26). Man fragt sich, in welcher logischen Beziehung diese "Handlungsintentionen" zu den "Qualifikationen" stehen und warum man sich nicht klar für eines der beiden Modelle entschieden hat.
Ohne Zweifel bringen die neuen Richtlinien im Vergleich zu den alten einen erheblichen Fortschritt für einen demokratischen politischen Unterricht. Die Qualifikationen und Lernziele - wohltuend sachlich und ohne falsche utopische oder ideologische Zungenschläge formuliert - skizzieren eine "politische Persönlichkeit", die wir uns als Ergebnis des politischen Unterrichts im Grunde nur wünschen können. Wenn trotz dieses Einverständnisses im folgenden einige kritische Anmerkungen gemacht werden, so richten sie sich nicht gegen die Grundintentionen dieses Konzeptes, sondern versuchen sich gerade zu deren Anwalt zu machen. Insofern können meine Einwände also auch nicht von den politischen Gegnern der Richtlinien in Anspruch genommen werden. Meine Frage ist nämlich erstens, ob das hier verwendete curriculare Modell den Intentionen nicht letzten Endes im Wege steht, und zweitens, ob nicht wenigstens ein Teil dessen, was in den Richtlinien steht, in die Interpretationskompetenz der pädagogischen Basis selber gehört.
Zum Verständnis meiner Einwände ist jedoch noch der Hinweis erforderlich, daß ich dabei den inzwischen von den Verfassern der Richtlinien vorgelegten "Theorie-Band" weitgehend unberücksichtigt lasse. In diesem Band (R. Schörken [Hrsg.]: Curriculum "Politik". Von der Curriculum-Theorie zur Unterrichtspraxis. Opladen 1974), der eine eigene ausführliche Würdigung verdient, werden die theoretischen Begründungszusammenhänge offengelegt, die bei der Formulierung der Richtlinien leitend waren. Da dieser Band jedoch selbst nicht Bestandteil dieser Richtlinien ist, steht er auch in einem ganz anderen Legitimierungs- und Begründungszusammenhang: Er unterliegt den Regeln der wissenschaftlichen Produktion und der dieser angemessenen Diskussion und Kritik, während es sich bei den Richtlinien um einen - wie auch immer wissenschaftlich fundierten - politischen Entscheidungszusammenhang handelt, der unter anderem die Fülle wissenschaftlich-didaktischer Möglichkeiten reduziert. Mein Problem ist also im folgenden nicht in erster Linie die wissenschaftliche Plausibilität
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der den Richtlinien zugrundeliegenden Argumentationen, sondern der Text der Richtlinien selbst, weil dieser als politischer Text sich jederzeit von den nicht in ihm selbst enthaltenen Begründungszusammenhängen zu lösen vermag.
Zum Zwecke der Diskussion mit den Kollegen aus Nordrhein-Westfalen habe ich meine Überlegungen als Thesen gegliedert. Während die Thesen 1 bis 4 die Richtlinien unmittelbar kritisieren, dienen die Thesen 5 bis 11 dazu, meine eigene Position zu einigen durch die Richtlinien angesprochenen prinzipiellen Fragen zu skizzieren, um so meinen Kollegen die Gelegenheit zu geben, aus der Rolle der Kritisierten in die der Kritiker zu wechseln. Das heißt aber auch, daß die Thesen 5 bis 11 sich nicht generell gegen die neuen Richtlinien wenden, sondern nur insofern dies ausdrücklich zur Sprache kommt.
Zur Frage der Legitimation von Richtlinien für den politischen Unterricht
1. Zunächst fällt auf, daß in dem beigefügten Themenkatalog für die Klassen 9 bis 10 einige dieser Qualifikationen nur ein einziges Mal in zwei Jahren vorkommen. Wie groß kann schon von daher die Chance sein, daß die entsprechenden "Dispositionen" wirklich gelernt werden - von den zehn bis fünfzehn Lernzielen pro Qualifikation einmal ganz zu schweigen, von denen manche ein eigenes Unterrichtsprojekt nötig machen (z. B. Lernziel II. Ordnung 1.1.3: "Kenntnis der wichtigsten politischen Institutionen und ihrer Herrschaftsfunktionen"). Bei der Lektüre dieses umfangreichen Programms muß man den Eindruck gewinnen, daß künftig wenigstens ein Drittel der Schulstunden für den politischen Unterricht zur Verfügung stehen solle. Da dies jedoch nicht beabsichtigt ist: Welche Folgen wird dann der Widerspruch zwischen Anspruch und Realität für die Schulpraxis haben? Wird der politische Unterricht wirklich - wie es ja dem Anspruch des curricularen Verfahrens entspricht - rationaler und zielstrebiger werden, oder werden nicht eher umgekehrt auch die neuen Ziele schnell zu Leerformeln, auf die sich wie früher auch schon die Lehrer im Schulalltag ihren eigenen Vers machen müssen? Schon hier taucht also die Frage auf, ob der in den Richtlinien zum Ausdruck kommende argumentative und verfahrenstechnische Aufwand noch in einem vernünftigen Verhältnis zur Unterrichtspraxis steht, oder ob dieser Aufwand nicht zweckmäßiger an ganz anderen Stellen zu investieren wäre.
2. So plausibel die Qualifikationen und die Lernziele an sich auch sind, und so sehr man sich wünscht, daß sie für eine ganze Generation auch verwirklicht werden: sie sind im Stile des klassischen Lehrplans als poli-
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tische Entscheidung und mit keiner anderen Legitimation als eben dieser verfaßt. Nirgends ist ein stringenter anderer Beweiszusammenhang erkennbar Die "Qualifikationen" sind an die Stelle der alten vagen Präambeln getreten, allerdings präzisiert, konkreter und im Zusammenhang mit den Lernzielen auch wesentlich verbindlicher. Geändert, nämlich erheblich verstärkt, hat sich unter diesem Aspekt also zunächst einmal der Einfluß des Staates auf die Inhalte des politischen Unterrichts. Ob dies wirklich ein Fortschritt ist, muß ganz unabhängig davon diskutiert werden, ob man in diesem Falle den inhaltlichen Intentionen dieses Einflusses zustimmt; denn das kann sich mit jeder politischen Wahl ändern. Daß nach 1918 die inhaltlichen Einflüsse des Staates auf den Unterricht zurückgenommen wurden, war seinerzeit eine Bedingung der Möglichkeit für die Demokratisierung von Schule und Unterricht. Daß heute eine Verstärkung des staatlichen Einflusses demselben Zweck zugute käme, ist nicht erkennbar.
Das differenzierte Curriculummodell verschleiert den politischen Entscheidungscharakter der Richtlinien und verdrängt somit die Frage, welche Funktionen staatliche Richtlinien - insonderheit solche des Faches Politik - heute überhaupt noch haben können und wie und in welchem Umfang sie sich überhaupt noch legitimieren lassen.
"Die Qualifikationen, welche die Ziele des politischen Unterrichts beschreiben, sind in einem curricularen Verfahren aus dem Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland entwickelt worden. Sie sind daher im Verständnis unserer Verfassung zu interpretieren; die Qualifikationen und der Katalog der Lernziele enthalten die Grundnormen unserer politischen Ordnung als Aufgaben, die zu verwirklichen sind" (S. 5).
Aber wie ist diese "Entwicklung" erfolgt? Durch eine logische Deduktion aus dem Grundgesetz? Und kann man wirklich solche Qualifikationen und Lernziele - die ja als Operationalisierung der Qualifikationen verstanden werden und deshalb relativ zahlreich sein müssen - ohne Rücksicht auf die in einer Gesellschaft der Ungleichheit notwendigerweise gegebenen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangspunkte, Chancen und Perspektiven so ohne weiteres allgemein verbindlich machen? Sind wirklich alle Qualifikationen und Lernziele für alle, für das Obdachlosenkind wie für privilegierte Kinder, von gleichem Sinn und gleicher Bedeutung? Und wenn nicht: Drücken sie dann noch das gleiche aus? Ein Grundtenor der Richtlinien ist z. B. die Spannung zwischen individueller Selbstbehauptung und Anpassung an gesellschaftliche Zwänge. Das aber ist so für Unterschichtkinder, wie man weiß, ein sekundäres, um nicht zu sagen: völlig abstraktes Problem und im übrigen eine mittelständische Lieblingsvorstellung, über deren Realitätsgehalt sich trefflich streiten läßt. Wer keinen ökonomischen Spielraum hat, für den ist die Vorstellung, er solle "Steuerungstendenzen durchschauen und sie entweder bewußt annehmen oder ablehnen'' (S. 5), doch wohl einigermaßen unrealistisch. Es fehlt der Gesichtspunkt, daß je nach der realen gesellschaftlichen Perspektive sich auch Lernziel-Hierarchien modifizieren müssen.
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Die hier angedeutete Schwierigkeit geht prinzipiell darauf zurück, daß die Qualifikationen und die aus ihnen abgeleiteten Lernziele zwar den Intentionen des Grundgesetzes entsprechen und insofern auch aus ihm entwickelt wurden, daß aber der Nachweis nicht erbracht werden kann, daß damit eine vollständige Deduktion gelungen ist. Die Unvollständigkeit vergrößert sich nun noch dadurch, daß erklärtermaßen die Operationalisierung der Qualifikationen in Lernziele erster und zweiter Ordnung ebenfalls unvollständig ist. Allenfalls dann jedoch, wenn eine solche Vollständigkeit erreichbar wäre, könnte sich die politische Entscheidung als überflüssig erweisen und durch curriculare Ableitungen ersetzt werden. Da aber das Grundgesetz gar nicht "als solches", also losgelöst von den es interpretierenden politischen, ökonomischen und ideologischen Interessen, gegeben ist, wäre ein solches Verfahren auch prinzipiell unmöglich.
Das dem curricularen Verfahren innewohnende ahistorisch-logische Denkmodell verfehlt also a priori die politische Wirklichkeit, aus der es Ableitungen vornehmen will. Weiter käme man nur dann, wenn man statt dessen historisch-analytisch vorginge. Dann könnte man - ohne einen solchen Anspruch auf Vollständigkeit - die in den alten Richtlinien zum Ausdruck kommende konservative "Parteilichkeit" korrigieren, z. B. die früher vernachlässigten Kategorien "Selbstbestimmung" und "Mitbestimmung" nun zur Geltung bringen. Wird in einem solchen Zusammenhang das Grundgesetz in Anspruch genommen, so ist das ein ganz anderer Begründungszusammenhang - —nämlich ein politischer und somit derselbe, der etwa in wirtschafts- und sozialpolitischen Reformdiskussionen üblich ist. Jedenfalls bleibt es dabei, daß kein curriculares Verfahren den politischen Entscheidungscharakter von Richtlinien aufzuheben, sondern ihn allenfalls zu rationalisieren und aufzuklären vermag, was im "Theorie-Band" auch eingeräumt wird. Die Legitimierungsproblematik für Richtlinien, Lehrpläne und Lernziele bleibt nicht nur unvermindert bestehen, sie verschärft sich sogar noch, je genauer die staatlichen Anweisungen werden. Insofern kann man sagen, daß Curricula die Probleme, die sie lösen sollen, erst richtig herstellen.
3. Bei der Verstärkung seines Einflusses bedient sich der Staat curricularer Begriffe und Modelle. Man muß dies deutlich sehen, auch wenn man curriculare Verfahren prinzipiell für einen erziehungswissenschaftlichen Fortschritt hält. Es ist nämlich ein Unterschied, ob mit Hilfe solcher Verfahren Lehrpläne oder - möglichst unter Mitbeteiligung der Schüler - intellektuelle Arbeitsstrategien für den konkreten Unterricht entwickelt werden. Auch wenn die Konstruktion von Qualifikationen und Lernzielen stringenter als in den vorliegenden Richtlinien ausgewiesen wäre, würde sich an dem Problem prinzipiell nichts ändern. Es besteht nämlich darin, daß "Verhaltensweisen" angestrebt werden, denen die Stoffe, die kulturellen Objektivationen und die gesellschaftlichen Probleme, untergeordnet
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werden, und die somit auf die Identität der Person und deren Herstellung bzw. Änderung unmittelbar zielen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß diese Verhaltensweisen vielleicht gar nicht erreicht werden, und daß es sich bei Licht besehen doch meist nur um intellektuell-kognitive Fähigkeiten handelt (etwas erkennen können, etwas analysieren können usw.), der Anspruch geht ja weiter, auch wenn er gegenwärtig technologisch noch nicht eingelöst werden kann:
"Allerdings muß gesagt werden, daß wichtige Zielbereiche der politischen Bildung - z. B. Handlungsbereitschaft und Werthaltungen - derzeit nicht zu operationalisieren sind" (S. 9).
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(Hier folgt eine Stellungnahme von Walter Gagel bis S. 98, H. G.)
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Ist der technologische Aufwand der didaktischen Analyse gerechtfertigt?
4. Die Skepsis gegen einen solchen Ansatz verstärkt sich noch erheblich, wenn man die beiden veröffentlichten "Planungsmaterialien" für die Themen "Über meine Freizeit bestimme ich allein" und "Nur ein Mädchen" hinzuzieht, die bereits erprobt wurden und denen weitere folgen sollen. Das Planungsmaterial besteht aus drei Teilen: aus der "didaktischen Analyse", einer "Lernsequenz", in der ein Unterrichtsentwurf mit Alternativen vorgeführt wird, und einer "Einführung in den Sachbereich". Charakteristisch ist, daß der letztere Teil z. B. beim Freizeitthema aus ganzen zweieinhalb Seiten einschließlich Literaturverzeichnis besteht und sechs kurze Textauszüge aus Veröffentlichungen enthält. Sachliche Aspekte kommen in der "didaktischen Analyse" noch einmal auf zwei Seiten zur Sprache. Das übrige ist der Versuch, die übergeordneten Lernziele am Stoff zu konkretisieren, oder besser: durch Anlegen der Lernziele an einen nicht näher definierten Stoff sowie an das, was man für die Voreinstellung der Schüler dem Stoff gegenüber hält, ihn überhaupt erst herzustellen. Was dabei herauskommt, ist ein Sammelsurium von Einzelaspekten, die jeden inneren Zusammenhangs entbehren. Weder kann sich den Schülern dabei eine einigermaßen systematische Information über das auftun, was man weiß und was auch für sie wichtig zu wissen wäre, noch kommen die im Thema implizierten gesellschaftlichen Probleme, wie sie in den Massenmedien täglich angesprochen werden, wirklich heraus. Würde man statt dessen auch nur ein einziges dieser Probleme, z. B. das des Verhältnisses von "privatem Reichtum und öffentlicher Armut", im Unterricht behandeln, so wäre das - auch im Hinblick auf die Qualifikationen und Lernziele - ergiebiger, und die Schüler wüßten wenigstens, wovon die Rede ist. Jedoch ist dies kein Mangel der allzu perfekten Ausführung, sondern des Konzeptes selber. Da nämlich die Qualifikationen und Lernziele erster und zweiter Ordnung durch die Richtlinien verbindlich gemacht wurden, bleibt konsequenterweise nichts anderes übrig, als sie notfalls mit Gewalt auch anzuwenden; zwar ist nicht daran gedacht, daß sie alle in jedem Unterrichtsprojekt angewendet werden, aber immerhin lebt dieses Modell davon, daß sie im ganzen gleichmäßig zur Geltung kommen.
Das Ergebnis ist jene gar nicht neue "Einsichten-Pädagogik", die alles nur noch auf "Bildungsgehalte" bzw. nun auf "Verhaltensweisen" hin abmelkt; die sich vor die Originale stellt, obwohl diese unverstümmelt vielleicht zu nicht-domestizierten Reaktionen und Erfahrungen führen könnten; die unmittelbar nach der Identität der Schüler greift, anstatt sich als Service für deren Möglichkeit zu verstehen; die in der Zunft auch nur insofern auf Resonanz rechnen kann, als die Lehrer selbst zu wenig von den Sachverhalten verstehen. Wenn nämlich ein Lehrer, statt sich auf solche
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Art von aufwendiger didaktischer Analyse einzulassen, sich die Zeit nimmt, das Thema selbst noch einmal zu studieren, dann wird ihm auch, wenn er nicht gerade frisch von der Hochschule kommt, eine vernünftige Auswahl von - subjektiv wie objektiv relevanten - Problemen einfallen, für die er dann auch geeignetes Bearbeitungsmaterial findet. Verfügt er außerdem über die Kenntnis curricularer Verfahrensweisen, so kann das der Präzisierung der intellektuellen Arbeit im Unterricht nur zugutekommen. Versteht er jedoch von der Sache nicht genug, so sollte er sie auch nicht unterrichten. Es gibt eine Reihe von Problemen, wie das Verhältnis von privatem Reichtum und öffentlicher Armut; die innere Logik und Widersprüchlichkeit des kapitalistischen Produktions- und Verteilungssystems; das Arbeitsverhältnis; die Prozesse und Regeln der politischen Willensbildung und anderes mehr, die große Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft haben und materialiter begriffen sein müssen, wenn sogenanntes "Verhalten'' heute und morgen überhaupt einen inhaltlichen Kontext haben soll.
Das Problem dieser curricularen Richtlinien-Konstruktion besteht also darin, daß sie zwar die gewünschten (kognitiven) Verhaltensweisen durch eine Mischung aus politischer Setzung der Qualifikationen und logischer Operationalisierung der Lernziele plausibel entwerfen kann, daß sie aber für die Verknüpfung des konkreten Unterrichts mit diesen Lernzielen und für die Definition des diesem angemessenen Stoffes keine überzeugenden Gesichtspunkte und Verfahren bietet. Ein Blick in die beiden Planungsmaterialien zeigt nämlich sehr schnell, daß diese Verknüpfungen mehr oder weniger zufällig sind, sozusagen auf dem "gesunden Menschenverstand" beruhen, und daß man mühelos und nicht weniger plausibel auch ganz andere Zuordnungen vornehmen könnte. Der curriculare Anspruch wird also keineswegs eingelöst.
Das scheint auch ohne weiteres gar nicht möglich zu sein. Entweder nämlich sind die Qualifikationen und Lernziele der didaktische Kern des ganzen Unterrichts; dann braucht man keine "Stoffe" mehr, die für die außersubjektive Realität der politischen Welt stehen, sondern nur noch "Material", an dem die Lernziele der Reihe nach verdeutlicht und trainiert werden und das dann nur noch streng nach dieser Funktion ausgesucht und begrenzt wird. Oder aber die ausgesuchten Qualifikationsfelder (Schule, Beruf, Freizeit usw.) sind der didaktische Kern; dann aber müssen die Qualifikationen und vor allem die Lernziele wenigstens zum großen Teil aus der Analyse dieser Qualifikationsfelder selbst erwachsen und können nicht nur abstrakt von außen an diese herangetragen werden.
Natürlich wird das Problem in den Richtlinien gesehen. Die Vorstellung ist die, daß die Qualifikationen und ihre Operationalisierungen gleichsam konfrontiert werden mit den Qualifikationsfeldern (Wirklichkeitsbereichen), und daß es nun Aufgabe der didaktischen Analyse ist, die Vermittlung durch "konkretisierte Lernziele" herzustellen. Jedoch steckt hier ein neuralgischer Punkt der ganzen Konstruktion; denn nun hängt alles davon ab,
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wie diese Wirklichkeitsbereiche eigentlich definiert, wie sie also als "Stoff" bzw. "Thema" strukturiert werden. Hier verweisen die Richtlinien auf jene schon erwähnte "Matrix", die die Sachverhalte nun wieder vorweg von "Handlungs-Intentionen" her strukturieren soll. Abgesehen nun davon, daß dieses Modell mir ungemein abstrakt erscheint und ich beim besten Willen nicht sehe, wie damit konkrete Stoffe nach hinreichend rationalen Kriterien strukturiert werden können, scheint mir hier eine gefährliche und auch didaktisch völlig überflüssige pädagogische Mediatisierung der politischen Realität vorzuliegen. Wenn etwa - um ein Beispiel zu nehmen - im Unterricht überprüft werden soll, wie die Qualifikation "Selbstbestimmung" im Situationsfeld der Schule realisiert ist bzw. realisiert werden sollte und könnte, dann geht es stofflich doch um so etwas wie "Schultheorie", also um politische, juristisch-verwaltungsmäßige und pädagogische Funktionen der Institution Schule, die zwar nicht in allen Details, aber doch in ihrem prinzipiellen Kern begriffen sein müssen, wenn eine solche Qualifikation vernünftig diskutiert und realisiert werden soll, und es ist mir unerfindlich, warum die Stoffe den Schülern nicht in derjenigen Struktur präsentiert werden sollen, die die politische Realität ihnen selber gibt - was ja, wie wir alle wissen, didaktische und methodische Reflexionen und Theorien keineswegs überflüssig machen würde.
Die Erläuterungen zu diesem Komplex im "Theorie-Band" sind noch abstrakter und in ihrer Systematik so weit entfernt von den Denk- und Argumentationsmustern des politischen Alltags, daß man nicht nur ernsthaft um ihre praktische Relevanz fürchten muß, sondern auch darum, daß sich hier eine didaktische Theorie einerseits "überpädagogisierend'' vor die Realität schiebt und andererseits die meisten Lehrer und erst recht die Schüler wegen ihrer Kompliziertheit zur Unterwerfung zwingen wird. Didaktische Konzepte aber, die die komplizierten Analysen der Sozialwissenschaften nicht vereinfachen, sondern eher noch weiter komplizieren, um dann Fragestellungen auszuwerfen, auf die die einfache Lebenserfahrung auch auf direktem Wege kommen würde, scheinen mir überflüssig zu sein. Sie können objektiv nur dazu dienen, die Wichtigkeit des Lehrers im Unterricht an der falschen Stelle zu beweisen und die Schüler von vornherein in eine irreversible intellektuelle Ohnmacht diesem gegenüber zu versetzen.
Mein Rat wäre, in den Richtlinien lediglich einerseits die - möglicherweise mit gründlichen Erläuterungen versehenen - Qualifikationen, andererseits die Qualifikationsfelder vorzugeben, und die ganze dann daraus resultierende Vermittlungs- und Interpretationsarbeit der pädagogischen Basis bzw. dem Wettbewerb didaktisch-methodischer Konzepte freizugeben. Geschieht das nicht, dann werden die Richtlinien faktisch - das zeigen die Planungsmaterialien deutlich - den Unterricht auf ganz bestimmte didaktisch-methodische Konzepte festlegen; das aber kann nicht ihre Aufgabe sein.
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(Hier folgt eine Stellungnahme von Dieter Menne bis S. 106, H. G.)
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Lernen als Verhalten - Unzumutbare Steuerung oder Chance neuer Lehrplanentwicklung?
Ich komme nun zu jenen Thesen, die die Richtlinien zum Anlaß nehmen, meine eigenen Vorstellungen im Zusammenhang zu skizzieren, und die sich nur noch teilweise kritisch zu jenen verhalten; es geht mir nun vor allem darum, mein Unbehagen am curricularen Leitbegriff des "Verhaltens'' und an seiner Rolle innerhalb staatlicher Richtlinien prinzipiell zu artikulieren.
5. Das Verhalten der Schüler, ihr künftiges und gegenwärtiges, geht im ganzen weder den Staat noch die Schule etwas an, sofern es sich nicht um Verhalten innerhalb der schulischen Arbeitskommunikationen handelt. Zu einem bestimmten außerschulischen (z. B. politischen) Verhalten zu erziehen, sind nur politische Partikularitäten befugt, denen man sich freiwillig anschließen kann.
6. Auch das intellektuell-kognitive Verhalten geht die Schule nur insofern etwas an, als es zwingend aus dem Zweck der Arbeitskommunikationen folgt und als für entsprechende Leistungen Zensuren erteilt werden sollen, die künftige Sozialchancen eröffnen oder verbauen. In dieser Hinsicht muß es darauf ankommen, die Leistungserwartungen für alle Beteiligten (also auch für die Schüler und Eltern) transparent und kalkulierbar zu machen, und dazu können Lernzieldefinitionen und ihre Operationalisierungen zweckmäßig sein. Dasjenige jedoch, was darüber hinaus für den einzelnen Schüler bei der intellektuellen Arbeit herauskommt, gehört ihm selbst, und er darf es auch für ganz andere Ziele als die angesonnenen verwenden. In diesem Punkte geht die Schule und damit die Gesellschaft ein Risiko ein, das jeder intellektuellen Arbeit innewohnt: Nur eine Politik, die die Interessen der Menschen halbwegs befriedigt, und nicht eine antizipierende Spekulation auf deren künftiges "Verhalten" kann davor schützen, daß sich die im politischen Unterricht erfahrbare Aufklärung eines Tages gegen die Grundlagen der Gesellschaft richtet. Wenn es so ist, daß nur in Verhaltensweisen ausdrückbare Leistungen einigermaßen "objektiv" und vergleichbar beurteilt werden können, so folgt daraus noch lange nicht, daß dieser Gesichtspunkt den Unterricht konstituieren muß, sondern einzig, daß eben nur bestimmte Aspekte des Unterrichts einer solchen Beurteilung zugänglich sind.
7. Die Schule hat hinsichtlich der Unterrichtsorganisation nicht aufs Verhalten zu spekulieren, sondern den Schülern für die Verbesserung (im Sinne einer "Berichtigung") ihres Bewußtseins und ihrer Vorstellungen optimale Bedingungen und Möglichkeiten anzubieten. Insofern hat sie sich streng zu konzentrieren auf den kognitiven Bereich. Das heißt aber nicht, daß die anderen Dimensionen menschlichen Verhaltens und Lernens nicht
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auch wichtig wären für ein angemessenes politisches Denken und Verhalten; es heißt nur, daß die Schule sich darum aus grundsätzlichen wie aus praktischen Gründen gar nicht kümmern kann, es sei denn, solche Dimensionen ergäben sich als "Abfallprodukt" aus den intellektuellen Arbeitsorganisationen des Unterrichts bzw. wären diesen implizit. Es gibt eine Fülle von sozialen und emotionalen Dispositionen, die für eine optimale intellektuelle Arbeitsorganisation unentbehrlich sind, und die beachtet und geübt werden müssen. Und vielfach werden die Arbeitskommunikationen durch soziale und emotionale Konflikte für jedermann evident behindert. Ohne Frage ist es wichtig, solche Probleme stärker als bisher in die Unterrichtstheorie mit einzubeziehen. Aber sollen im Unterricht manifest werdende Konflikte und Widersprüche nicht nur vordergründig geregelt werden (was natürlich nicht unwichtig ist), sondern auch verstanden werden, dann muß es auch hier um systematischen Unterricht gehen; die unmittelbar erfahrenen Verhaltensschwierigkeiten werden zum Anlaß für Unterricht, zu seinem Thema. Ein solcher Unterricht zielt dann aber eben nicht primär darauf, das Verhalten dieser oder jener Schüler unmittelbar zu ändern, sondern in Distanz zur Unmittelbarkeit aufzuklären, z. B. als "Fall von Rollenkonflikten überhaupt" - in der Hoffnung, daß durch eine solche Bearbeitung des Bewußtseins bzw. der Vorstellungen künftig ein größerer Spielraum für Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung steht. Wird jedoch Verhaltensänderung unmittelbar angestrebt, so ist dies - wenn der Betreffende dem nicht ausdrücklich zustimmt - immer eine Form der Sanktionierung und Disziplinierung.
Entweder also ist innerschulisches Sozialverhalten Anlaß von Unterricht, und dann wird es so behandelt, wie jedes andere Unterrichtsthema auch, nämlich als generalisierende Erschließung objektiver Sachverhalte; oder es soll - z. B. als "Störung des Unterrichts" - nur geregelt oder gar geahndet werden, aber dann richtet sich dies nicht nach von außen kommenden formalen Lernzielen, sondern nach den Bedürfnissen der Arbeitskommunikation selbst: Insofern erscheint es mir bedenklich, wenn es etwa im Planungsmaterial "Freizeit" heißt: "Für die Schüler ist es schwer, auf Ziele hinzuplanen, von denen sie selbst unmittelbar betroffen sind. Besonders ist in der Planung darauf zu achten, daß die Schüler nicht das Problem völlig versachlichen und damit von ihrer eigenen Person abheben...'' (S.16). Auf eben diese "Versachlichung" und auf die Distanz von der eigenen Person käme es jedoch in hohem Maße an. Zwischen intellektuellen Einsichten einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits zu unterscheiden, ist schon deshalb prinzipiell nötig, weil vernünftiges, zweckmäßiges und erfolgreiches Verhalten sich nach den einmalig-besonderen Bedingungen einer bestimmten Situation richten muß, die im Unterricht überhaupt nicht antizipiert werden können. Was der Unterricht allenfalls erreichen kann, ist eine Erweiterung der Vorstellungskraft, die als künftiges Verhaltenspotential bestimmtes Verhalten in bestimmten Situationen
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möglich machen könnte. Aber der Sprung vom Bewußtsein zum konkreten Verhalten in konkreten Situationen ist für alle Beteiligten (also auch für die Schüler) unkalkulierbar und somit auch unplanbar, und wäre er planbar, dann hätte die Schule dazu nicht die geringste Legitimation. Außerdem wäre eine solche Spekulation auch unrealistisch. Wenn nämlich die Schule neben kognitiven auch soziale und emotionale Verhaltensweisen trainieren will, dann muß sie auch entsprechende Sozialsituationen herstellen können, z. B. gruppendynamische Diskussionen mit ihren spezifischen Regeln; oder sie muß etwa in Form eines Internats Alternativen zum üblichen Freizeitverhalten arrangieren können. Sonst können in der Schule nur solche Verhaltensweisen gelernt werden, die in der schulischen Sozial-Konstellation impliziert sind, und das sind überwiegend besondere und im Vergleich zu den üblichen Lebenssituationen in dem Maße beschränkte, wie "Schule" eben nicht "Leben" ist. Selbst intellektuelle Verhaltensweisen kann sie nicht als solche operationalisieren und kontrollieren, sondern nur insofern sie unter schulischen Bedingungen auch beobachtbar sind, d. h. z. B. unter den Bedingungen von Klassenarbeiten.
8. Die Schule kann die politische Sozialisation ihrer Schüler nicht machen und auch nur in sehr begrenztem Maße ändern; sie verfügt so gut wie gar nicht über die Bedingungen und Voraussetzungen, die eine politische Sozialisation tatsächlich konstituieren. Will sie im Rahmen einer solchen Sozialisation einen optimalen Beitrag leisten, so muß sie sich auf ihre eigentümlichen Chancen im Kontext der übrigen Sozialisationsinstanzen besinnen, wie es überhaupt bei diesem ganzen Komplex wichtig ist zu unterscheiden zwischen dem, was an sich wünschenswert und nötig wäre für die politische Sozialisation, und dem, was davon die Schule bei realistischer Einschätzung ihrer institutionellen und finanziellen Möglichkeiten leisten kann. Der der Curriculum-Konstruktion innewohnende Perfektionsdrang droht die schulischen Möglichkeiten weit zu überschätzen und die wirklichen Chancen zu unterschätzen.
Diese Chancen bestehen im systematischen Unterricht, in dem die bisher gewonnenen, biographisch-sozial bedingten Erfahrungen sowie die Lebensperspektiven einerseits (= subjektive Seite) konfrontiert werden mit objektivierten gesellschaftlichen Realitäten und intellektuell bearbeiteten (z. B. wissenschaftlichen) Erfahrungen über diese Realitäten andererseits (= objektive Aspekte). Indem diese Differenz bearbeitet wird, vermag sich das Bewußtsein vielleicht von seinen bisherigen Erfahrungen zu emanzipieren und so neue zu machen oder alte auf neuem Niveau zu bestätigen und damit möglicherweise auch zu neuen Handlungsstrategien zu kommen. Ob und in welchem Maße diese Chance jeweils wahrgenommen wird, ist prinzipiell nicht kalkulierbar, die Wahrscheinlichkeit kann jedoch durch geeignete didaktische und curriculare Strategien erhöht werden. "Stoff" des politischen Unterrichts sind also erstens die bisherigen Erfahrungen;
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zweitens die Erfahrungen anderer, z. B. anderer Schüler oder des Lehrers, aber auch solche, die sich literarisch niedergeschlagen haben; drittens die außersubjektive politische Realität, die sich in Institutionen, politischen Verfahren und Regeln, aber auch in Ideologien und wissenschaftlichen Theorien objektiviert hat. Wenn aber die didaktische Strategie darin besteht, die vorliegenden subjektiven Erfahrungen mit den anderen genannten Aspekten zu konfrontieren und diese Differenz auf Grund von Kategorien, d. h. von bewußten Fragen bearbeiten zu lassen, dann setzt das voraus, daß diese anderen Erfahrungen und Objektivationen in ihrem eigentümlichen, den eigenen Dispositionen vielleicht fremden Zusammenhang verstanden und nicht vorweg unter bereits festgelegte Aspekte subsumiert werden.
Nirgends aber kommt es den neuen Richtlinien im Lernzielkatalog darauf an, den eigenen Erfahrungen Fremdes wirklich zu verstehen; es soll nur als faktisch Vorhandenes toleriert werden. Insofern einseitig auf Verhalten abgehoben wird, wird auch die Außenwelt nur als Verhalten zugänglich gemacht. Intellektuelle Auseinandersetzungen mit fremden Interessen, Bedürfnissen und Vorstellungen sind jedenfalls nicht ausdrücklich vorgesehen, obwohl sie doch die eigenen werden oder gar zu einer neuen Identität anregen könnten. Damit aber zerfällt die deutliche Betonung der individuellen Interessen und Bedürfnisse und ihrer Realisierung in formale Bedeutungslosigkeit: Wenn die Erklärungen anderer nur interessenbedingte Ideologie sind, die meinen Interessen widersprechen und die ich um des lieben gesellschaftlichen Friedens willen nur tolerieren soll, dann gibt es auch keinen Grund, sie intellektuell, d. h. in ihrem inneren Argumentationszusammenhang, also als ideelle Produkte ernst zu nehmen, dann sind sie ein bloß äußerliches Attribut von Verhalten wie die Automarke oder die Kleidung. Die Suche nach dem, was trotz des Ideologiecharakters und trotz der verschiedenen Sprach- und Kommunikationsstile die gemeinsame "Wahrheit" sein könnte, die auf gemeinsamen Erfahrungen unter denselben historisch-gesamtgesellschaftlichen Bedingungen beruht, wird gar nicht erst erprobt. Wer so verfährt, übernimmt von der Ideologiekritik nur deren Relativismus ("sie haben alle recht"), dessen ideologische Funktion angesichts einer Gesellschaft der Ungleichheit nur allzu offensichtlich ist. Die Reduktion der politischen Welt auf (beobachtbares!) Verhalten führt notwendig dazu, so etwas wie "gesellschaftliches Bewußtsein" oder "gesamtgesellschaftliche Theorie", d. h. überhaupt jeden Versuch, den historischen-gesellschaftlichen Prozeß in seiner Gesamtheit zu begreifen, von vornherein auszusparen. Derartige Erklärungsmodelle wie das marxistische, das systemtheoretische oder das funktionale sollen offenbar nicht Gegenstand des Unterrichts sein. Da aber andererseits die Menschen, wie jeder an sich selbst mühelos nachprüfen kann, sich die Gesamtgesellschaft irgendwie erklären müssen (als antisemitischen Dualismus; als Dichotomie von "oben" und "unten", oder wie immer), weil sie sich sonst offenbar gar nicht "verhalten" können, läuft die Reduktion der politischen
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Welt auf Verhalten darauf hinaus, jene unaufgeklärten Gesamtvorstellungen auf sich beruhen zu lassen, die ja z. B. nicht unwichtig für die Definition der eigenen Interessen und Bedürfnisse sind und deren Borniertheit daher durchaus nützlich für andere ist.
Behandelt aber die Schule die Interessen und Bedürfnisse der Schüler anders als geschwätzige Verkäufer, die aus naheliegenden Gründen dem Kunden recht geben, wenn sie keine Chance zur Emanzipation von den für die eigenen gehaltenen Interessen anbietet, indem sie diese ernsthaft auf die Probe stellt?
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(Hier folgt eine Stellungnahme von Rolf Schörken bis S. 120, H. G.)
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Curriculum "Politik" - eine Geheimwissenschaft für Lehrer?
9. Methodisch geht es um die Organisation von systematischer intellektueller Arbeit, was schülerzentrierte Unterrichtsformen keineswegs ausschließt (vgl. dazu meine "Methodik des politischen Unterrichts". München 1973). Die Regeln systematischer intellektueller Arbeit sind aber immer wenigstens in elementarisierter Form auch die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens (z. B. Präzisierung der Begriffe, logische Argumentation und Schlußfolgerung, Genauigkeit im Detail, angemessene Relation von Frage [Hypothese] und Antwort usw.). Wenn es dem politischen Unterricht nicht gelingt, solche Formen systematischen Denkens und
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Bearbeitens einzuüben, verdoppelt er nur die intellektuelle Konfusion der Massenmedien und ist somit überflüssig. Man wende nicht ein, dies sei zu anspruchsvoll und dafür könne man die Schüler nicht interessieren! Schuld am Desinteresse der Schüler war in der Vergangenheit nicht zuletzt die fachliche Inkompetenz vieler Lehrer, von denen eben auch wenig Interessantes zu lernen war, was nicht das häusliche Fernsehen besser gemacht hätte. Curriculare Verfahrensweisen und die methodischen und lernpsychologischen Erkenntnisse überhaupt haben nicht länger eine Geheimwissenschaft für Lehrer zu sein, mit der die Manipulation der Schüler besser gelingen soll, vielmehr sind sie den gemeinsamen Planungen und Überprüfungen der intellektuellen Arbeit von Lehrern und Schülern nutzbar zu machen. Der wirkliche Gewinn der curricularen Techniken besteht nicht darin, daß nun die einen die anderen noch besser manipulieren können als vorher, sondern in der rationaleren Arbeitsorganisation durch die pädagogische Basis selbst.
Daraus folgt aber auch: Didaktische und methodische Konzepte müssen prinzipiell auch für die Schüler durchschaubar sein.
Hinsichtlich der kognitiven Lernziele muß z. B. unterschieden werden zwischen solchen, die auf definite inhaltliche Einsichten und Erkenntnisse abzielen (z. B.: "erkennen können, daß ... "), und solchen, die lediglich eine strategische Arbeitsanweisung enthalten, ohne das Ergebnis vorwegzunehmen (z. B.: "etwas analysieren können; den ideologischen Gehalt einer politischen Position ermitteln können"). Ich halte gerade im politischen Unterricht diese zweite Gruppe von Lernzielen für viel wichtiger, weil sie den politischen Sachverhalten und den unterschiedlichen Interessenpositionen diesen gegenüber angemessener ist. Inhaltliche Lernziele von der Art "erkennen können, daß..." oder: "den Begriff X erklären können", haben nur dort einen Sinn, wo es um einen wichtigen, aber eben nur um einen Teil des politischen Unterrichts geht: nämlich um systematisches Orientierungswissen über politische Realitäten (um die Grundlagen der Rollentheorie, der politischen Willensbildung usw.). Aber gerade bei denjenigen Partien des politischen Unterrichts, um die es den Richtlinien vor allem geht: bei der Analyse von politischen Konflikten, Kontroversen, Problemen - da verfälschen vorweg fixierte Lernziele die Unterrichtskommunikation, je eindeutiger sie formuliert werden. Hier geht es um eine von Lehrern und Schülern für wichtig gehaltene Problemkonstellation, die gemeinsam nach den Regeln intellektuellen Arbeitens bearbeitet wird, wobei die inhaltlichen Ergebnisse auch für den Lehrer von vornherein "offen" sein müssen. Als "Lernziele" kann man hier vernünftigerweise nur die formalen Regeln gemeinsamen intellektuellen Arbeitens bezeichnen, die anderen, inhaltlich bestimmten Lernziele wären hier von Lehrern und Schülern im Sinne einer bewußten Arbeitsstrategie ("was wollen wir warum und wie mit welchem Ziel tun?") gemeinsam zu definieren und zu operationalisieren.
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(Hier folgt eine Stellungnahme von Dieter Menne bis S. 124, H. G.)
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Das staatliche Curriculum zwischen Neutralität und Totalität
10. Die staatlichen Richtlinien haben in erster Linie die Bedingungen der Möglichkeit für eine solche Bearbeitung politischer Probleme zu garantieren und die Schule vor Lehr- und Lernverboten und entsprechenden Pressionen zu schützen. "Fortschrittlich" wären Richtlinien erst dann, wenn sie die "Freiheit der Lehre", kombiniert mit einer "Freiheit des Lernens", von den Hochschulen auf die Schulen sinngemäß übertragen und damit bereits die Grundelemente des "Studierens" in den Schulen zulassen würden. Das würde nicht ausschließen, daß im Sinne einer pragmatischen Übereinkunft im Hinblick auf die "Lebenssituationen" der Schüler bestimmte Stoffe und Probleme für wichtiger gehalten werden als bestimmte andere. Und auch gegen eine Begründung des politischen Unterrichts und seiner allgemeinen Ziele und gegen eine Bestimmung dessen, was nicht erlaubt ist (Verfassungsfeindlichkeit; Diskriminierung partikularer gesellschaftlicher Interessen und Perspektiven; Völkerverhetzung; Diffamierung von Minderheiten; Verherrlichung von Gewalt; gesetzwidriges politisches Verhalten und anderes mehr) wäre nichts einzuwenden. Der Staat hat aber nicht das Recht, das Denken seiner Bürger (auch nicht seiner jungen) inhaltlich zu reglementieren. Aber er hat in seinem eigenen Interesse wie im Interesse optimaler politischer Partizipation seiner Bürger die Pflicht, in seinen Schulen die Aufklärung über die politische Realität sowie über ihre Tendenzen und Probleme, so gut es (didaktisch und curricular) geht, zu ermöglichen, weil die unmittelbare Erfahrung dazu keinen bzw. nur einen vielfach gebrochenen Zugang hat. Dieser Realität kann man sich nur noch durch wissenschaftliche Forschungen bzw. durch diese transzendierende gesellschaftliche Theorien einigermaßen adäquat versichern. Die einzige Legitimation von Schule besteht darin, zu diesen Zugang zu verschaffen. Alles andere macht die politische Sozialisation außerhalb der Schule und die Massenkommunikation besser. Es ist endlich an der Zeit, ein Schulfach wie "Politik" aus seiner Tradition als "Gesinnungsfach" zu befreien und es mit jenen sachlich-fachlichen Ansprüchen zu konzipieren, wie sie inzwischen etwa für die Naturwissenschaften Gott sei Dank Geltung gewinnen.
11. Wie schon über die hessischen, so hat es auch über die nordrhein-westfälischen Richtlinien zum Teil erbitterte politische Auseinandersetzungen gegeben. Diejenigen, die früher, als ihre Gesinnung an der Macht war, keinerlei Skrupel hatten, ihre meist konservativ bis reaktionären politischen Vorstellungen in die Richtlinien einzubringen, sprechen nun von "Politisierung", wenn andere Auffassungen zum Zuge kommen wollen. Gleichwohl kann die Lösung nicht darin bestehen, die politischen Implikationen je nach Machtlage einfach auszuwechseln. Die staatlich monopolisierte Schule kann sich keinerlei vorgängige Diskriminierung politischer Gruppen
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leisten. Zwar drückt sich in den meisten politischen Anwürfen gegen die neuen Richtlinien vor allem der Wunsch nach Aufrechterhaltung des alten ideologischen Monopols aus; gleichwohl aber bleibt das Problem, wie die Schule im politischen Unterricht jenen Interpretationsspielraum ermöglichen kann, der wenigstens annähernd der faktischen Pluralität von Interessen und Positionen in unserer Gesellschaft entspricht. Indem die Richtlinien bei den "Verhaltensweisen", also den "Endprodukten" des politischen Bildungsprozesses, ansetzten, haben sie den Eindruck erweckt, als sollten künftig bestimmte Positionen und ideologische Interessen nicht mehr zugelassen werden. Insofern aber solche Verhaltensweisen normativen und nicht nur technisch-instrumentellen Charakters sind, sind sie nur dann "überparteilich", wenn sie sich auf den für alle unbestrittenen Konsensus beziehen; das aber ist wenig - zu wenig, als daß sich darauf allein Unterricht gründen ließe. Zu lösen ist dieses Problem nur dadurch, daß eben auf die Verfügung über die "Endprodukte" verzichtet wird, und daß die Richtlinien statt dessen den Unterricht als "Studieren" von Sachverhalten und Problemen nach allgemein bekannten Regeln und Kategorien definieren und damit Spielräume von Interpretationen zulassen, und sich im übrigen beschränken auf die Beschreibung der dafür nötigen Bedingungen sowie allenfalls noch auf die Benennung von Sachverhalten, die mit Vorrang bearbeitet werden sollen. Auf diese Weise werden die Norm- und Sinn-Aporien nicht beseitigt, aber an die pädagogische Basis übergeben, wo sie trotz aller Gefahr des Mißbrauchs hingehören.
So oder so steht spätestens seit den neuesten Richtlinien nicht nur eine bestimmte Konzeption für den politischen Unterricht zur öffentlichen Debatte, sondern die Funktion und Legitimation von staatlichen Richtlinien und - was fast noch wichtiger ist - die Funktion des staatlich monopolisierten Schulwesens in diesem Zusammenhang überhaupt:
Was ist eigentlich unter den Bedingungen der modernen Verflechtungen von Staat und Gesellschaft, der nicht nur faktischen, sondern auch verfassungsmäßig legitimierten Pluralität gesellschaftlicher Interessen und Perspektiven, eines dichten und differenzierten Netzes von Sozialisationsfaktoren und nicht zuletzt einer ubiquitären, aber unsystematischen und kategorial nicht durchstrukturierten Information die Aufgabe der Schule und was nicht (mehr)?
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(Hier folgt eine Stellungnahme von Herbert Knepper bis zum Ende des Textes S. 132)
90. Freizeit- und Konsumerziehung (1974)
(In: Ch. Wulf (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung. München 1974, S. 212-215)
1. Definition
Unter dem Begriff Freizeit- und Konsumerziehung werden drei unterscheidbare Bedeutungen zusammengefaßt: a) pädagogische Angebote, die den Menschen in ihrer Freizeit gemacht werden (z.B. Jugendarbeit); b) die Sozialisationswirkungen, die vom gesellschaftlichen System von Freizeit und Konsum selbst ausgehen (und die die Menschen z. B. "Konsumverhalten" lehren); c) die didaktisch-methodischen Kon-
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zepte, die das Ziel haben, eine bestimmte Qualität im Umgang mit den Angeboten von Freizeit und Konsum zu lehren. Pädagogische Angebote in der Freizeit sind an sich nicht weiter inhaltlich festgelegt (im Unterschied z.B. zur Berufsausbildung), tatsächlich jedoch werden berufsnahe (z. B. Berufsfortbildung) bzw. prestigenahe (z. B. Nachholen von "Allgemeinbildung") Angebote bevorzugt. Dies zeigt die immer noch vorhandene Abhängigkeit der Freizeit von den Determinanten der Berufsarbeit, die sich im übrigen auch in den schichtspezifischen Freizeittätigkeiten nachweisen läßt. Über die tatsächlichen Sozialisationswirkungen gibt es nach wie vor wenig präzise Untersuchungen und dafür um so mehr kulturkritische Pauschalurteile.
II. Historische Entwicklung
Das moderne Freizeitproblem entstand als Folge der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung und der dadurch bedingten extensiven Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft, die u. a. durch Einführung der Nachtarbeit und durch die Abschaffung zahlreicher Feiertage möglich wurde. Historische Vergleichsberechnungen scheinen zu zeigen, daß erst in der Gegenwart das Maß an Freizeit wieder erreicht wird, das etwa in der vorindustriellen Zeit gegeben war. Die Forderung der organisierten Arbeiterbewegung nach höheren Löhnen und mehr Freizeit zeigt den engen Zusammenhang von Freizeit und Konsum. Mehr Freizeit im Sinne von mehr arbeitsfreier Zeit hat nur Sinn, wenn genügend finanzielle Mittel für die Bedürfnisbefriedigung in der Freizeit zur Verfügung stehen, bzw. wenn die Freizeit nicht für zusätzlichen Gelderwerb genutzt werden muß. Dies ist jedoch auch heute noch in hohem Umfang der Fall (Schwarzarbeit; Eigenarbeit am eigenen Haus, das vom Arbeitslohn nicht bezahlt werden könnte usw.), und zeigt, daß die vorherrschende Definition von Freizeit im Sinne der von unselbständiger Erwerbsarbeit freien Zeit problematisch ist. Abgesehen davon, daß bei vielen selbständigen Tätigkeiten eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit nicht möglich ist, würden die auf dieser Definition basierenden Berechnungen über den Umfang der Freizeit erheblich ungünstiger ausfallen, wenn man etwa alle der ökonomischen Sicherung der Familie dienenden Tätigkeiten abzöge. Für pädagogische Überlegungen interessant konnte die Freizeit erst werden, als ihr allgemeines Ausmaß über die für die Rekreation und für die unmittelbaren sozialen Verpflichtungen (z. B. Kindererziehung) nötige Zeit hinausging und zu einem Zeitanteil von "verhaltensbeliebiger Zeit" führte. Ferner mußte das Einkommen ein "Freizeitbudget" über das Existenzminimum hinaus zulassen. Beide Entwicklungen setzten wenn auch zögernd in den 20er Jahren ein - nicht zuletzt als Folge einer stärker auf den "inneren Markt" gerichteten Wirtschaftsauffassung und des verstärkten Übergangs von der extensiven zur intensiven Ausnutzung der Arbeitskraft. Sie führten in Deutschland zu einem Höhepunkt im Zusammenhang mit dem "Wirtschaftswunder" seit Ende der 50er Jahre. Auch der inzwischen ins öffentliche Bewußtsein gedrungene Widerspruch von "privatem Reichtum" und "öffentlicher Armut" dürfte diesen Trend nach mehr Freizeit und mehr Konsum kaum stoppen, sondern eher umleiten (z. B. in mehr und bessere öffentliche Dienstleistungen).
III. Emanzipation
Die früheren pädagogischen Freizeitkonzepte (z. B. Klatt) standen noch im Banne jener alten arbeitsorientierten, konsumfeindlichen, am ökonomischen Mangel und der dafür nötigen Disziplin orientierten Vorstellung, die durch die ökonomische Ent-
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wicklung selbst gerade überwunden wurde. Auch zahlreiche kulturkritische Positionen betrachten z. T. bis heute die allgemeine Freizeit- und Konsumentwicklung als Symptom, sei es für den Untergang der abendländischen Werte oder für die Verderbnis des kapitalistischen Systems. Emanzipatorische pädagogische Strategien müssen jedoch an solchen Möglichkeiten ansetzen, die das System von Freizeit und Konsum in sich enthält, z. B.: a) die Emanzipation von der Totalität der Berufsrolle und damit von der dadurch bedingten Begrenzung politischer, sozialer und kultureller Erfahrungen; b) die Emanzipation vom Existenzminimum und damit von entsprechenden politischen, sozialen und kulturellen Fixierungen aufs unbedingt Notwendige. Es ist zu erwarten und teilweise bereits erkennbar, daß die Erfahrungen aus vermehrter Freizeit und vermehrtem Konsum auch zu neuen Interessen gegenüber politischen Instanzen und dem Arbeitsverhältnis führen werden. Aufgabe einer Freizeit- und Konsumerziehung wäre also hier wie überall, den Chancen zunehmender Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Mitbestimmung durch entsprechende Lernangebote zum Bewußtsein und zum realen Durchbruch zu verhelfen. Allerdings dürfen die gegenläufigen Tendenzen nicht übersehen werden, z.B. die aus ökonomischen Interessen resultierenden Manipulationen durch die Freizeit-Industrie oder auch anti-rationale Fluchttendenzen in Subkulturen (z. B. Drogen-Subkultur).
IV. Probleme
a) Die immer noch überwältigende kulturkritische Voreingenommenheit hat die Entwicklung plausibler Lernziele für die Teilnahme an Freizeit und Konsum verhindert. So wird etwa die Konsumwerbung einseitig als "Verführer" identifiziert, obwohl sie zwar fundamentale menschliche Bedürfnisse "verdinglichen", aber weder herstellen noch abschaffen kann, sondern sogar zur Durchsetzung ihrer eigenen Zwecke legitimieren muß. Erste Lernziel-Entwürfe von W. Schulz (in: Giesecke 1968) sind noch kaum weiterentwickelt worden. Anzustreben wären etwa unmittelbar lebenspraktische Fähigkeiten wie die, optimale Kauf- und Kreditvorteile zu erlangen; ferner soziale Verhaltensfähigkeiten wie die Fähigkeit zum Rollenwechsel und zur Frustrationstoleranz sowie schließlich Fähigkeiten zur Sinnbestimmung des eigenen Verhaltens, wozu auch die politisch-gesellschaftliche Reflexion mit zu rechnen wäre. b) Die technokratische und an formalisierten Leistungen orientierte Wendung der öffentlichen Bildungsdiskussion droht unter einem reduzierten Begriff von "Praxis", der die Freizeit-Praxis nicht mit umgreift, freizeitorientierte pädagogische Leitvorstellungen wieder zurückzudrängen. So wird etwa die Einführung des "Bildungsurlaubs" für Arbeitnehmer überwiegend mit berufsbezogenen Argumenten begründet, und die Bedeutung des formellen Bildungswesens als Teil des Freizeitsystems und nicht nur des Systems der Berufsqualifizierung bleibt noch weitgehend unerkannt. c) Das gilt auch für die Diskussion über die Funktion der Schulfächer. Das traditionelle Problem der "Allgemeinbildung" erhält (z.B. hinsichtlich der literarisch-ästhetischen Fächer) unter dem Gesichtspunkt zunehmender Freizeit neue Perspektiven. d) Freizeitpolitische Planungen, deren Ziel die Erhöhung des Freizeitwertes der unmittelbaren Lebensumwelt ist und die entsprechende öffentliche Dienstleistungen sowie Raum- und Umweltplanungen zu integrieren hätten, befinden sich erst noch in den Anfängen. Wie jedoch die politische Zielformel "bessere Lebensqualität" zeigt, wächst das allgemeine Interesse an optimalen Freizeit- und Konsumbedingungen, während gleichzeitig die Identifikation mit den Maximen der fremdbestimmten Arbeit zurückzugehen scheint.
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e) In diesem Zusammenhang wird auch die bisherige Definition des Konsums als eines bloß privaten und privatwirtschaftlich hergestellten problematisch, weil wichtige Freizeitdienstleistungen (z. B. Verkehr; Bildung) nur als öffentliche hinreichend angeboten werden können. Daß diese (z. B. über Steuern) vom Konsumbudget des Bürgers mitgezahlt werden müssen, muß jedoch erst noch zur allgemeinen Einsicht werden.
Literatur
Andreae, C. A.: (Ökonomik der Freizeit. Reinbek: Rowohlt I970. Dichter, E.: Strategie im Reich der Wünsche. München: Dt. Taschenbuch Verl. I964. = dtv-Taschenbücher 229/230. Galbraith, J. K.: Gesellschaft im Überfluß. München, Zürich: Droemer/Knaur I963. = Knaur-Taschenbücher 23. Giesecke, H./A. Keil,/U. Perle: Pädagogik des Jugendreisens. München: Juventa Verl. I967. Giesecke, H. (Hrsg.): Freizeit- und Konsumerziehung. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht I968. Kentler, H./Th. Leithäuser/H. Lessing: Jugend im Urlaub. Bd 1.2. Weinheim: Beltz I969. = Pädagogisches Zentrum. Veröffentlichungen. R. E. 1O. Klatt, F.: Freizeitgestaltung. Stuttgart: Verl. Silberburg I929. Nahrstedt, W.: Die Entstehung der Freizeit. Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht I972. Opaschowski, H. W. (Hrsg.): Freizeitpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1970. Opaschowsti, H. W.: Im Brennpunkt: Der Freizeitberater. Dusseldorf: Rau I973. Riesman, D.: Die einsame Masse. Hamburg: Rowohlt I958. Scheuch, E. K: Soziologie der Freizeit. In: König, R. (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd 2. Stuttgart: Enke I969, S. 735-862. Scheuch, E. K./R. Meyersohn (Hrsg.): Soziologie der Freizeit. Köln: Kiepenheuer & Witsch I972 = Neue Wiss. Bibl. 46. Strzelewicz, W.: Jugend in ihrer freien Zeit. München: Juventa Verl. 1965. Veblen, Th.: Theorie der feinen Leute, (I899). München: Dt. Taschenbuch-Verl. I97I. = dtv-Taschenbücher 762. Weber, E.: Das Freizeitproblem. München: Reinhardt I963. Zahn, E.: Soziologie der Prosperität. München: Dt. Taschenbuch-Verl. I964. = dtv-Taschenbücher 208.
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91. Thesen zum Geschichtsunterricht (1974)
(In: Neue Sammlung, H. 1/1974, S. 53-65)
Der Geschichtsunterricht steckt in einer tiefen Krise. "Geschichte" ist von allen gegenwärtigen Schulfächern wohl dasjenige mit dem größten Nachholbedarf an didaktischer und methodischer Reflexion. Bildungspolitisch befindet sich das Fach spätestens seit der sogenannten "Saarbrücker Rahmenvereinbarung" von 1961 in der Defensive, und die neuen hessischen Rahmenrichtlinien für "Gesellschaftslehre" haben ihm nur noch eine Randposition zugewiesen (1). Die Vorwürfe, die gegen den überlieferten Geschichtsunterricht erhoben werden, sind schwer zu widerlegen. Jedoch führt diese berechtigte Kritik immer mehr dazu, die Notwendigkeit und Funktion eines historischen Unterrichts überhaupt in Frage zu stellen und damit neuen Konzepten die Perspektive zu nehmen. Neue Theorien und Konzepte liegen allerdings erst in Ansätzen vor, die Diskussion befindet sich noch in der Phase der Kritik an den überlieferten Vorstellungen und Intentionen (2).
Die folgenden Thesen setzen bei dieser Diskussion an und versuchen, einen ersten Strukturzusammenhang für eine revidierte historische Didaktik zu beschreiben. Sie greifen Überlegungen auf, die ich schon früher im
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thematischen Zusammenhang meiner "Didaktik der politischen Bildung" (3) vorgetragen habe und die selbstverständlich einer in Aussicht genommenen gründlicheren Bearbeitung bedürfen und in der vorliegenden Fassung nur als Diskussionsbeitrag angesehen werden können. Für die weitere Demokratisierung unserer Gesellschaft und für die damit verbundene Überprüfung ihrer gegenwärtigen Realität und Ideologie scheinen mir aber angemessene historische Vorstellungen möglichst aller Bürger so bedeutsam zu sein, daß eine möglichst umfassende und gründliche Diskussion des Geschichtsunterrichts sich mehr als rechtfertigt.
1. Der historische Schulunterricht unterscheidet sich vor allem dadurch vom wissenschaftlichen Studium der Geschichte, daß er nicht auf Forschung zielt, sondern darauf, vorliegende historische Forschungen und Theorien für das Bewußtsein der Bürger und damit für ihre gesellschaftliche Praxis im weitesten Sinne nutzbar zu machen, um so die Differenz zwischen dem Niveau der professionellen wissenschaftlichen Forschung über historische Sachverhalte einerseits und dem nicht-professionellen, aber politisch gleichwohl wirksamen historischen Bewußtsein der Bürger andererseits so gering wie möglich zu halten. Aufgabe der historischen Forschung ist die Vermehrung und Verbesserung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über historische Sachverhalte und Zusammenhänge und das Bemühen, sie durch Veröffentlichung der Gesellschaft verfügbar zu machen; zu diesem Zweck braucht sie ein gewisses Maß an Spezialisierung und vor allem die Freiheit, ihren Gegenstand und ihre Forschungsmethoden frei zu wählen. Aufgabe des historischen Unterrichts ist dagegen in formaler Hinsicht die Vermittlung grundlegender historischer Erfahrungs- und Interpretationsmethoden (= intellektuell-historischer Arbeitsmethoden), in materialer Hinsicht die Vermittlung eines historischen Bewußtseins über die jeweils gegenwärtige individuelle und gesellschaftliche Existenz. Daran gemessen hat die Geschichtswissenschaft instrumentale, Mittelfunktion. Nichtprofessionelles historisches Bewußtsein wäre auch möglich - und ist weitgehend auch so vorhanden - als ein nicht-wissenschaftliches, irrationales, gedanklich nicht durchstrukturiertes. Daß es schon in den Schulen ein wissenschaftlich durchstrukturiertes sein soll, das heißt sich in wenn auch elementarisierter Form historisch-wissenschaftlicher Verfahren bedienen und sich mit einschlägigen wissenschaftlichen Ergebnissen konfrontieren soll, ergibt sich - wie in anderen Schulfächern auch - aus der Tatsache, daß ein Bewußtsein über gesellschaftliche Verhältnisse nur in dem Maße sich aus ideologischer Befangenheit und damit aus der Verkennung individueller und kollektiver Interessen und Bedürfnisse befreien kann, wie es sich wissenschaftlicher Verfahren und Ergebnisse bedient. Auch nicht-wissenschaftliches oder antiwissenschaftliches Bewußtsein (wie das der nazistischen Rassenlehre) kann soziale Funktionen haben, z.B. soziale Identitäten stiften; aber es hält eben auch gefangen in kollektiven Ressentiments, die sowohl den eigenen Inter-
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essen und Bedürfnissen wie auch der Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse entgegenstehen. Falsches Bewußtsein ist immer für andere Interessen nützliches Bewußtsein.
2. Über eine ganze Reihe von für die Gegenwart bedeutsamen historischen Zusammenhängen gibt es immer schon eine Vor-Einstellung, ein mehr oder weniger diffuses Konglomerat von Vorstellungen. Ganz falsch ist die Annahme, historisches Bewußtsein müsse vom Nullpunkt an erst aufgebaut und hergestellt werden. Historische Voreinstellungen sind vielmehr - sei es in verbalisierbarer Form, sei es in Form kollektiv-bewußter oder kollektiv-unbewußter Vorstellungen und Einstellungen - immer schon vorhanden und werden im Verlauf der Sozialisation mitgelernt. Aufgabe der historisch didaktischen Grundlagenforschung wäre u. a., solche vorhandenen Einstellungen und Vorstellungen genauer zu untersuchen, denn sie müssen ein wichtiger didaktischer Ausgangspunkt sein: Geschichtsunterricht besteht in der Konfrontation dieser Vor-Einstellungen mit historisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Dazu reichen jedoch solche Untersuchungen, die sich mit verbalisierbaren historischen Kenntnissen und Vorstellungen befassen, nicht mehr aus. Während es nämlich etwa in den fünfziger Jahren noch darum ging, durch den Nationalsozialismus geprägte, aber eben in hohem Maße verbalisierbare und deshalb auch argumentierbare falsche historische Vorstellungen zu korrigieren, hat es heute mehr und mehr den Anschein, als ob überhaupt keine historischen Vorstellungen, Interessen und Kenntnisse bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung und vor allem der heranwachsenden Generation mehr vorhanden seien. Bis in die mittelständische Studentenschaft hinein ist dieser historische Bewußtseinsschwund festzustellen.
Jedoch wäre es ein Irrtum anzunehmen, historisches Bewußtsein und historische Vorstellungen könnten einfach ersatzlos ausfallen. Wo früher verbalisierbares historisches Bewußtsein saß, ist nun keineswegs eine Leerstelle. Das Problem ist vielmehr gerade, daß diese scheinbare Leerstelle nun ausgefüllt ist durch der rationalen Argumentation nicht mehr ohne weiteres zugängliche "Selbstverständlichkeiten". Zu diesen gehört z.B. die Vorstellung vom eindimensionalen "Fortschritt", wonach das Frühere eben auch das Schlechtere ist - eine Vorstellung, die durch einen unhistorisch-technologischen Wissenschaftsbetrieb ja auch fleißig genährt und geradezu offiziös gemacht wird. Ferner gehören dazu eine Reihe kollektiver Ressentiments und Anteile der herrschenden Ideologien, die überhaupt nur als eine Art von abgesunkenem historischen Bewußtsein erklärt werden können: z.B. anti-kommunistische, anti-gewerkschaftliche Komplexe, tiefsitzendes Mißtrauen gegen die Arbeiterbewegung und gegen deren Funktionäre sowie gegen die Fähigkeit und Ziele organisierter Arbeitnehmerinteressen; gegen räte-ähnliche politische Organisationsmuster und die "Politik der Straße". Jede politische Kontroverse in der Gegenwart enthält solche und andere Anteile von "abgesunkenen historischen Erfahrungen",
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die das Verhalten bestimmen und als unaufgeklärte der privaten und gesellschaftlichen Vernunft im Wege stehen. Sie haben eher die Qualität von kollektiven Ängsten angenommen, als daß sie sich wie früher in verbalisierbaren "Geschichtsbildern" artikulieren könnten. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch die Analyse von solchen Produkten der Unterhaltungsindustrie, die auf historischen Stoffen beruhen, und deren Beliebtheit ja nicht zuletzt darauf beruht, daß sie beim Publikum eine bestimmte Vorstellungswelt ansprechen.
Historischer Unterricht kann also nicht nur "historische Wissenschaft" zum Thema haben, sondern muß auch diese immer schon vorhandenen Vorstellungs-Komplexe mit thematisieren, und aus der Differenz beider ergibt sich überhaupt erst die Möglichkeit intellektueller Bearbeitung.
3. Die Hauptschwierigkeit des gegenwärtigen Geschichtsunterrichts besteht darin, daß er seine frühere Position als dasjenige Fach, was in erster Linie die politische Identifizierung mit der Gegenwart - und das hieß: mit den in der Gegenwart herrschenden Mächten und Ideologien - herstellte, verloren hat; gesellschaftliche Identitäten werden heute wenn überhaupt durch ganz andere Fächer und Vorstellungsmodelle gestiftet: durch funktionale soziologische Modelle z. B. oder durch naturwissenschaftlich-technologische, die ihrerseits an der Herstellung kollektiver historischer Ahnungslosigkeit nicht unmaßgeblich beteiligt sind, oder auch einfach durch Konsumleitbilder. Historischer Unterricht ist nicht mehr wie früher die Reproduktion des "Zeitgeistes", er könnte nur gegen ihn betrieben werden, als dessen Kritik und Aufklärung. Insofern hat sich - etwa im Vergleich zu den fünfziger Jahren - die öffentliche Einschätzung des politischen Unterrichts einerseits und des historischen Unterrichts andererseits gründlich verändert. Galt nämlich früher der politische Unterricht als kritischer Störenfried des auf Identifizierung mit den konservativen Mächten und Traditionen bedachten historischen Unterrichts, so ist heute der politische Unterricht sehr viel selbstverständlicher gesellschaftlich integriert und anerkannt als der Geschichtsunterricht. In dem Maße jedoch, wie der politische Unterricht sich von der historischen Dimension getrennt hat - und diese Tendenz scheint sich zu verstärken - müssen sich auch die Zweifel an seiner kritisch-emanzipatorischen Tendenz und Wirkung anmelden. Die didaktischen Konzepte für den Geschichtsunterricht andererseits sind alle noch mehr oder weniger auf dessen alte führende Position bezogen; aber ihre einzige Chance bestünde darin, diese Position zu verlassen und sich als Kritik zu artikulieren. Ein solcher Positionswechsel ist jedoch in den didaktischen Konzepten kaum zu erkennen. Eine solche kritische Funktion wäre für die Geschichtswissenschaft keineswegs neu und erstmalig. Als sie sich zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft etablierte, war Kritik überlieferter "vorwissenschaftlicher'' historischer Selbstverständlichkeiten und mächtiger Traditionen schon einmal ein wichtiges Motiv. In welche Nähe oder Distanz eine wissenschaftliche Disziplin zu gesellschaftlichen Entwick-
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lungsprozessen und Ideologien gerät, hängt nicht nur von ihr selbst ab, und ihr gesellschaftlicher Wert kann auch darin bestehen, daß ihre Funktion wenig gefragt ist; denn insofern sie sich den jeweils dominanten gesellschaftlichen Funktionen und Zielen nicht einfügt, ist sie schon durch ihre pure Existenz deren Kritik.
Historischer Unterricht künftig als Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Leitbilder, Normen und Programme; als ständiger Hinweis auf Alternativen; auf die Gemachtheit der gesellschaftlichen Realität und damit auf ihre Veränderbarkeit; auf die Kontinuität und zugleich Wandelbarkeit herrschender Ideologien; auf die gleichbleibenden und sich verändernden Formen menschlicher Unterdrückung und Ausbeutung; auf die Nicht-Selbstverständlichkeit des scheinbar Selbstverständlichen, usw.: Eine solche Wendung des historischen Unterrichts, die aus der zunehmenden gesellschaftlichen Unterprivilegierung des Faches eine Tugend machen würde, hätte jedoch nicht die wenigsten Schwierigkeiten in den eigenen Reihen zu erwarten. Die konservativ-defensiven Positionen, in der Zeitschrift "Geschichte in Wissenschaft und Unterricht" seit langem fast monopolisiert, dürften sich da schwertun. Nicht unberechtigt wäre die Befürchtung, daß diese Positionen, um vom Zeitgeist nicht abgedrängt zu werden, sich diesem künftig erneut willfährig machen: durch reaktionäre Bekämpfung eines fortschrittlichen politischen Unterrichts z. B., die aber dem historischen Unterricht am wenigsten zugute käme; oder durch Anpassung an technokratische Ideologien.
4. Wo aber läge die Legitimation für einen so verstandenen "kritischen Geschichtsunterricht"? Läge nicht die Schlußfolgerung näher, ihn abzuschaffen, wenn er den "herrschenden" gesellschaftlichen Zielen nicht mehr nützlich ist?
Über die Frage nach dem Begründungszusammenhang für das Schulfach "Geschichte" ist in der Vergangenheit eine Menge didaktischen Pulvers verschossen worden. Geschichtliches Bewußtsein gehöre zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen, ohne das man nicht leben könne; politische Verantwortung könne man nur im Rahmen historischer Überlieferungen und von ihr gesetzter Spielräume wahrnehmen; man könne seine eigene Persönlichkeit bilden, wenn man Leben, Erfolge und Scheitern historischer Personen verfolge usw. Solche Begründungsversuche sind nicht an sich falsch, aber nicht spezifisch für den Geschichtsunterricht. So kann man offensichtlich durchaus ohne gedanklich durchgeformte historische Vorstellungen leben, wie man überhaupt ja auch in anderen Bereichen mit vorwissenschaftlichen oder gar magischen Vorstellungen durchaus auskommt, solange die "Qualität des Lebens" nicht genauer definiert wird. Und ebenso offensichtlich kann man politische Verantwortung auch vom funktionalen Interessenausgleich und dessen Regelung, also gleichsam ahistorisch-pragmatisch bestimmen. Und schließlich kann die Persönlichkeitsbildung sicherlich auch von der Teilnahme an menschlichen Schicksalen
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in Spielfilmen, sozialen Dokumentationen usw. profitieren und nicht nur von historischen Figuren, von denen zudem selten die Details bekannt genug sind und die in der Regel der Lebenswelt der meisten Menschen verhältnismäßig fern stehen.
5. Die erste Legitimation für einen historischen Unterricht auch gegen den Zeitgeist ergibt sich aus der schon erwähnten Tatsache, daß historische Vorstellungen ja tatsächlich vorhanden sind und daß sie ohne einen historischen Unterricht eben unaufgeklärt wirksam bleiben - ähnlich wie es auch politische Vorstellungen gibt, ohne daß sie erst durch Unterricht hergestellt werden müßten. Wenn jedoch die wissenschaftliche Aufklärung gesellschaftlicher und privater Praxis im allgemeinen angestrebt wird, so ist nicht einzusehen, warum gerade dieser historische Aspekt ausgespart werden soll.
6. Selbst wenn es jedoch solche unaufgeklärten historischen Vorstellungen nicht oder nicht in genügendem Maße gäbe, müßte sich historischer Unterricht aus den Essentials eines demokratischen politisch-gesellschaftlichen Bewußtseins selbst legitimieren. Dieser Bezug ist in der bisherigen didaktischen Diskussion kaum hergestellt worden, gesprochen wurde meist nur allgemein vom Zusammenhang zwischen historischem Bewußtsein und "politischer Verantwortung" - wie es ja überhaupt einer der größten Mängel des überlieferten Geschichtsunterrichts war, daß er von den Prinzipien der demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung so gut wie gar nicht sich hat beeindrucken lassen. Es wäre jedoch nötig, den Sinn des Geschichtsunterrichts nicht nur politisch-formal und nicht nur abstrakt-anthropologisch und nicht nur von einer bestimmten historisch-wissenschaftlichen Position her zu definieren, sondern auch von den spezifischen Normen, Regeln und Problemen der demokratischen Staats- und Gesellschaftsverfassung selbst her. Eine so begründete Leitvorstellung für den historischen Unterricht müßte in der Frage münden, wie diese Gesellschaft, ihre verfassungsmäßigen Prinzipien, ihre charakteristischen Institutionen und Regelungen entstanden sind; welche Ursachen ihrer Entstehung und Entwicklung zugrunde liegen, welche Probleme sie gelöst und welche sie neu geschaffen hat; wer aus welchen Gründen die Gegner des Demokratisierungsprozesses waren und welche entscheidenden Krisen sie wie überstanden hat. Es geht also um die historische Selbstvergewisserung dieser demokratischen Gesellschaft, um ihre bisherige "politische Biographie" und nicht um "irgendeine" Ansammlung von Kenntnissen; und eine solche Selbstvergewisserung - um dies gleich zu betonen - wird nicht länger als mehr oder weniger definitives "Geschichtsbild" zu haben sein, sondern ist ebenso "offen" wie das Selbstverständnis unserer gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt. "Geschichtsbilder" im traditionellen Sinne kann man nur anfertigen, wenn man die unterschiedlichen historischen Ausgangspunkte und Interessenlagen (z. B. Verteidigung historisch entstandener Privilegien und Chancenvorteile einerseits; deren Eroberung andererseits) unterdrückt
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und nur eine bzw. einige davon zur Geltung kommen läßt. Ganz ohne Zweifel hat der traditionelle Geschichtsunterricht so ein "Bild" für den Schulunterricht produziert, in dem sich konservative (z. B. wirtschaftliche; kirchliche) Selbstverständnisse ausdrückten, kaum aber z.B das der Arbeiterbewegung. Nicht zuletzt dieser inzwischen hinreichend erwiesene ideologische Charakter des überlieferten Geschichtsunterrichts hat diesen in seine gegenwärtige Krise gebracht.
Historischer Unterricht jedoch, der an der "Biographie" der gegenwärtigen demokratischen Gesellschaft orientiert ist und der damit seinen Gegenwartsbezug gleich mitsetzt und ihn nicht durch alle möglichen Spekulationen zusätzlich einführen muß, erklärt nicht nur positiv, "wie es gekommen ist" - was bereits wieder in die Nähe des "Geschichtsbildes" gelangen würde - sondern auch kritisch, "warum es nicht anders gekommen ist" bzw. "warum und wodurch eine bestimmte Intention oder Bewegung nicht zum Erfolg gekommen ist". Die letztere, kritische Erklärungsabsicht ergibt sich aus der Tatsache, daß der Demokratisierungsprozeß, wie er etwa zur Formulierung unseres Grundgesetzes geführt hat, nicht linear-fortschrittlich verlaufen ist, sondern auch in Krisen und (teilweise barbarischen) Rückschritten, und aus der weiteren Tatsache, daß der Demokratisierungsprozeß teilweise erheblich verzögert worden und heute noch nicht zu seinem Ende gekommen ist.
Da jedoch andererseits die Leitvorstellung "Demokratisierung", als deren sozio-ökonomischer Kern die neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen anzusehen wären, selbst keineswegs etwas eindeutig Definiertes sein kann, sondern bis in die Gegenwart hinein unterschiedlichen, z. B. klassen- und schichtspezifischen Erfahrungen und Interpretationen unterliegt, kann nur ein entsprechender historischer Unterricht dieses wie andere Fundamentalien unseres gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstverständnisses überhaupt aufklären und zur bewußten Konvention machen. Würde man die historischen Prozesse, die zu unserer gegenwärtigen staatlich-gesellschaftlichen Verfassung geführt haben, unaufgeklärt auf sich beruhen lassen, so würden die spezifisch demokratischen Kriterien unserer Verfassung zusammenschrumpfen auf formale Regeln für die Bildung und Kontrolle von Macht und für die Austragung von Konflikten. Angesichts der historisch überkommenen sozio-ökonomischen Ungleichheit, die nicht auf persönlichen Leistungsunterschieden, sondern auf der "Vererbung" unterschiedlicher Ausgangschancen beruht, erhielte eine derart reduzierte Vorstellung von Demokratie die Funktion einer diese Ungleichheiten stabilisierenden Ideologie. Auf seinen Kern reduziert heißt das: Ohne historisches Bewußtsein müssen über kurz oder lang demokratische Normen und Prinzipien zum Verschwinden kommen.
7. Jedoch muß diese These hinsichtlich des dabei verwendeten Begriffs von "historischem Bewußtsein" präzisiert werden, um plausibel zu erscheinen. Es gäbe, wie schon betont wurde, keine überzeugende Möglichkeit,
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definite "Geschichtsbilder" für die Schulen verbindlich zu machen. Das Verhältnis demokratischer Gesellschaftsverfassungen zu ihrer eigenen Tradition und damit zu ihrer historischen Begründung unterscheidet sich gerade dadurch von anderen Verfassungen, daß sie ihre Tradition nicht tabuisiert oder mythologisiert, sondern zur Disposition und damit zur öffentlichen Diskussion stellt. Auch der Schulunterricht hätte sich daran zu halten, daß es nicht um Rezeption irgendwelcher "Geschichtsbilder" gehen kann, sondern um die gemeinsame Bearbeitung historischer Prozesse, Zusammenhänge, Hintergründe und Determinanten. Dafür ist die Geschichtswissenschaft unentbehrlich, nicht, weil sie ihrerseits den Schulen ein Geschichtsbild als Abstraktion oder Popularisierung ihres jeweiligen Forschungsstandes geben könnte, sondern weil sie als eine Art von Service allein in der Lage ist, für vernünftige, rationaler Argumentation unterworfene Bearbeitungen gedanklich geordnetes Material und geeignete Methoden anzubieten. Die Frage ist also nicht, wie und aus welchen Gründen man "die Geschichtswissenschaft" unters Volk bringen könne, sondern welchen Service die Geschichtswissenschaft der gesellschaftlichen Praxis zu ihrer eigenen Aufklärung anbieten kann.
8. Schon vom Sinn eines historischen Unterrichts her, das Bewußtsein der in den gesellschaftlichen Kontexten praktisch Tätigen sich selbst aufklären zu lassen, ergibt sich die materiale Begrenztheit solcher Bemühungen; es gibt keine Möglichkeit, z.B. Stoffkataloge für den historischen Unterricht nach irgendwelchen Kriterien unangreifbar zu definieren. Jeder - auch curriculare - Versuch in dieser Richtung wäre mit guten Gründen bestreitbar und kritisierbar. Möglich sind lediglich begründete Vereinbarungen, die jedoch an der pädagogischen Basis auch selbständig modifiziert werden müssen. Es gibt auch keine überzeugenden Kriterien für die Rangfolge von Stoffen, etwa daß man erst dieses lernen müsse, um dann jenes verstehen zu können; auch für den politischen Unterricht sind solche Sequenzen allesamt unbefriedigend geblieben. Ferner hat sich herumgesprochen, daß die Altersstufen-Psychologie weniger für derartige Entscheidungen hergibt, als man lange angenommen hat; und auch die moderne Lernpsychologie kann dafür allenfalls allgemeine Hinweise geben. Selbst die Spekulation auf die Motivationen der Schüler und auf ihre jeweiligen Lerninteressen bringt nicht viel ein, weil erstens "Motivationen" und "Interessen" sehr plastische und daher anpassungsfähige Persönlichkeits-Variablen sind, und weil zweitens die Aufgabe des Schulunterrichts nicht nur ist, vorhandene Motivationen und Interessen zu befriedigen, sondern auch, durch Konfrontation mit diesen neue bzw. präzisierte entstehen zu lassen. Die für historische Bearbeitung nötigen intellektuellen Fähigkeiten sind zumindest nicht größer, als sie für die mathematische Mengenlehre benötigt werden, die man bekanntlich schon mit Grundschülern betreiben kann. Würde man sich für den historischen Unterricht von der Vorstellung lösen, es komme dabei wesentlich auch auf "Gesin-
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nungsbildung" oder "Gemütsbildung" oder auf ein bestimmtes "Verhalten" an, dann fiele es auch leichter, die kognitiven Chancen eines neuen historischen Unterrichts deutlicher zu machen.
9. Ausgangspunkte für den historischen Unterricht sind also einerseits die wie auch immer konfusen und unaufgeklärten historischen Vorstellungen der im Unterricht agierenden Lehrer und Schüler, andererseits die Biographie unserer staatlich-gesellschaftlichen Verfassung selbst, soweit sie jedenfalls die gegenwärtigen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen ausgesprochen oder unausgesprochen mitbestimmen. Solche Vorstellungen werden durch Konfrontation mit historisch-wissenschaftlichen Forschungen und Ergebnissen bearbeitet; die Lernchancen sind also in der Differenz zwischen den subjektiven Vorannahmen und Voreinstellungen einerseits und den einschlägigen objektiven wissenschaftlichen Produktionen andererseits angelegt. So früh wie möglich, d.h. wie es der Bildungsgang erlaubt, sollte dies sich auch durch die "Begegnung mit den Originalen" ausdrücken. In früheren Bildungsphasen hat der Lehrer wie eh und je den objektiven Aspekt in geeigneter Weise zu repräsentieren und zu vermitteln, aber dies ist keine Tugend, sondern eine Not, d.h. Didaktik, die sich gegenüber dieser Vermittlung von Subjektivität und Objektivität verselbständigt, verfehlt ihre Aufgabe prinzipiell. Im Rahmen theoretischer Begründungszusammenhänge gibt es keine Möglichkeit, Stoffe und Gegenstände zu begrenzen, vielmehr kann dies nur pragmatisch geschehen. Überhaupt ist ja die Erwartung, in unseren Schulen müsse überall in denselben Jahrgängen das gleiche gelernt werden, eine fixe Idee der Schulverwaltungen. Nur im Sinne einer zweckmäßigen pragmatischen Vereinbarung, und nicht als Deduktion aus einer unbestreitbaren Theorie, läßt sich die an sich unbegrenzte Vielfalt von Möglichkeiten und Variationen für einen historischen Unterricht auf vier miteinander zusammenhängende didaktische Leitgesichtspunkte eingrenzen, die man etwa als ein allgemeines didaktisches Strukturmuster ansehen kann:
den wissenschaftlich-formalen Aspekt;
den ereignisgeschichtlich-analytischen Aspekt;
den strukturgeschichtlich-synthetischen und schließlich
den aktuell-genetischen Aspekt.10. Aus einer Konzeption, die wie diese die wissenschaftlich-professionelle Aufklärung als Service für eine allgemein-gesellschaftliche versteht, folgt zwingend das Eintreten dafür, schon Schüler, in wenn auch verdichteter und elementarer Weise mit den Methoden und Problemen der einschlägigen Wissenschaften bekannt zu machen. Unterschiedliche Aussagequalität von Quellen und die Gründe für kontroverse Beurteilungen derselben Sachverhalte sind das mindeste, was in diesem Zusammenhang zu fordern ist. Schulunterricht in einer Demokratie hat sich in höchstmöglichem Maße auf die Grundsätze des Studierens zu verpflichten.
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11. Im Hinblick auf die "Biographie" unserer staatlich-gesellschaftlichen Verfassung lassen sich eine Reihe von historischen "Schlüsselereignissen" als besonders relevant für die Bearbeitung im Unterricht vereinbaren, und zwar solche, die einerseits für die gegenwärtige historische Lage wichtig gewesen sind, und die andererseits deutlich die allgemeine Konfliktlage zwischen demokratischen und anti-demokratischen Tendenzen und Interessen bzw. - falls diese Entgegensetzung als zu problematisch erscheint - zwischen unterschiedlichen Interessenlagen und Konzeptionen überhaupt widerspiegeln. Zu einem solchen "Ereignis-Kanon" können etwa gehören: die französische Revolution; die Stein-Hardenbergschen Reformen; das Jahr 1848; das Sozialistengesetz; die Bismarcksche Sozialpolitik; der Erste Weltkrieg; die russische Revolution; die deutsche Revolution 1918/19 und die Entstehung der Weimarer Republik; die Weltwirtschaftskrise; die nationalsozialistische Machtergreifung; die Nürnberger Gesetze; der Zweite Weltkrieg; das Potsdamer Abkommen. Manches spräche dafür, auch noch Ereignisse vor der französischen Revolution mit einzubeziehen, z.B. die Reformation, die Bauernkriege, den 30jährigen Krieg usw. Auch solche Ereignisse könnten mit guten Gründen als wichtig für die "Biographie" unserer demokratischen Verfassung angesehen werden. Jedoch ist noch einmal zu betonen, daß es für die Auswahl einer solchen Ereignis-Kette kein hinreichend konkretisierbares Prinzip gibt. Nicht nur die Zahl solcher Schlüsselereignisse ließe sich vermehren, sofern die begrenzte Zahl der dafür zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden dies zuläßt; vielmehr wären auch andere "Klassen" von Ereignissen nicht weniger plausibel, z.B. schulpolitische wie die preußischen Regulative und das preußische Volksschulunterhaltungsgesetz von 1906, sowie weitere Daten aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Je nachdem, welche Position jemand im historischen Kontext des Demokratisierungsprozesses und in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen einnimmt, wird er auch eine bestimmte Ereignis-Reihe favorisieren. Solche unterschiedlichen Konzeptionen lassen sich zwar rational diskutieren, spiegeln sie doch nur aktuelle ideologische Kontroversen wider, aber es hätte wenig Sinn, für den Schulunterricht auf Durchsetzung dieser oder jener Position zu setzen. Vielmehr muß der Schulunterricht der Pluralität einander widerstreitender, im Rahmen des Grundgesetzes zulässiger demokratischer Konzeptionen und Interessenlagen Rechnung tragen. Daraus folgt, daß durch Richtlinien nur ein Teil der Ereignisse zur Behandlung im Unterricht vorgeschrieben werden kann, daß weitere zur Disposition der "pädagogischen Basis" gestellt werden müssen. Mit anderen Worten: Staatliche Richtlinien können nur Kompromisse anbieten, und sie sollten sich davor hüten, sich darüber hinaus eine prinzipielle inhaltliche Legitimation zu geben.
Nun sind "Ereignisse" in der eben beschriebenen Form in zweierlei Hinsicht noch unscharf definiert. Erstens hinsichtlich ihres Umfanges, denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß es sich immer schon um einen Komplex bzw. um eine Sequenz von Ereignissen handelt. Diese Schwierigkeit gilt
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jedoch für die Bearbeitung politischer Konflikte im Unterricht genauso und kann nur im konkreten Unterricht selbst definitorisch gelöst werden, im Sinne einer genauen Bestimmung der gemeinsamen Aufgabe. Zweitens ist noch unklar, was "Bearbeitung" dieser Ereignisse eigentlich heißen soll. "Bearbeiten" heißt, begründete Fragen stellen an einen Sachverhalt bzw. an seine Interpretation. Sind solche Fragen prinzipieller Art, d.h können sie sinnvoll immer wieder an Gegenstände mit gemeinsamen Merkmalen, z. B. an historische Ereignisse, gestellt werden, so handelt es sich um Kategorien. Welche Fragen man stellen will, hängt von dem Interesse ab, das man einem bestimmten Gegenstand gegenüber hat. Insofern kann die Auswahl von Kategorien mit einer gewissen Beliebigkeit erfolgen. Sehr viel weniger beliebig - weil auf den Spielraum der formalen methodischen Regeln festgelegt - ist die Beziehung von Frage (Kategorie) und Antwort Die Beliebigkeit der Kategorien-Wahl wird jedoch weiter eingeschränkt und zugleich genauer determiniert durch die für den historischen Unterricht angenommenen Interessen (Bearbeitung der individuellen historischen Vorstellungen einerseits und Bearbeitung der historischen "Biographie" unserer demokratischen Verfassung mit dem Ziel ihrer weiteren Realisierung andererseits). Unter diesem Aspekt müssen nämlich im Prinzip die gleichen Kategorien auch für historische Ereignisse relevant sein, wie sie für die Analyse gegenwärtiger politischer Konflikte Geltung beanspruchen können. Unter der Voraussetzung also, daß die in meiner "Didaktik der politischen Bildung" entwickelten politisch-didaktischen Kategorien als hinreichend begründet erscheinen, sind sie identisch mit den historisch-didaktischen Kategorien für die Analyse historischer Ereignisse - mit Ausnahme der Kategorie des subjektiven "Interesses", die angesichts historischer Ereignisse keinen Sinn ergäbe.
Die These von der Identität der Kategorien muß hier als plausibel unterstellt werden, für eine ausführlichere Begründung wie auch für eine genauere Beschreibung dieser Kategorien im einzelnen (Macht; Recht; Solidarität; Ideologie; Konkretheit; Konflikt; Mitbestimmung; Funktionszusammenhang; Geschichtlichkeit; Menschenwürde) fehlt hier der Raum, und ich muß dazu auf die Neufassung meiner "Didaktik der politischen Bildung" verweisen. Zu beachten ist jedoch, daß diese Kategorien nicht unbedingt identisch sind mit denen historischer Forschung und Theoriebildung, sondern aus einem nicht-professionellen praktischen Interesse erwachsen - was für die politisch-didaktischen Kategorien im Verhältnis zu den politikwissenschaftlichen ebenfalls gilt.
12. Die bisherige historisch-didaktische Diskussion hat jedoch hinlänglich gezeigt, daß eine ereignisgeschichtliche Chronologie allein zu kurz greift, ja, daß sie in Versuchung gerät (und bisher immer auch geraten ist), gegenwärtige Handlungsintentionen bloß zu legitimieren. So wie es vielmehr notwendig ist, die Analyse gegenwärtiger politischer Konflikte in einem größeren Zusammenhang von "gesamtgesellschaftlichen Vorstellun-
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gen" zu beschreiben, so gilt dies auch für die Analyse historischer Ereignisse. Die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise hat dafür inzwischen Modelle geliefert. Solche Modelle sind natürlich nicht unproblematisch, weil sie die Faszination des definit und knapp und bündig Erkannten auszustrahlen vermögen, während sie tatsächlich jedoch nur idealtypische Konstrukte und Abstraktionen sein und sich erst durch die Analyse von Ereignissen mit Leben füllen können. Strukturgeschichtliche Verständnismodelle sind nicht nur nützlich für den Komplex "Gesamtgesellschaft" (z.B. Feudalismus; Frühkapitalismus; Spätkapitalismus), sondern auch für die Entwicklung gesellschaftlicher Teilbereiche (z.B. "Familie" vom "ganzen Haus" bis zur gegenwärtigen Kleinfamilie). Nur in Kombination und wechselseitiger Ergänzung von ereignisgeschichtlichen und strukturgeschichtlichen Betrachtungen kann sich ein angemessener historischer Vorstellungszusammenhang aufbauen.
13. Schließlich werden unter der politisch-didaktischen Kategorie der "Geschichtlichkeit" die aktuellen politischen Konflikte in ihrer historischen Genese rekonstruiert. Dieser aktuell-genetische Aspekt scheint auf den ersten Blick der einzig notwendige zu sein, weil er doch auf lange Sicht erweisen könnte, welche historischen Fakten und Traditionen für die Einsicht in gegenwärtige und zukünftige Probleme benötigt werden. Jedoch würden auf diese Weise allein die historischen Rekonstruktionen keine Tiefe gewinnen, keinen eigenständigen Argumentationszusammenhang abgeben können. Historische Informationen würden einseitig in Dienst genommen für aktuelle Erkenntniszwecke, ohne daß sie auch zu deren kritischer Gegen-Instanz werden könnten.
14. Die Frage, ob der historische Unterricht als selbständiges Fach in den Schulen verbleiben oder mit anderen Fächern integriert werden soll, mag hier auf sich beruhen bleiben, obwohl sie keineswegs unwichtig ist. Zu bedenken ist, daß auch andere Schulfächer eine historische Dimension haben, so daß historischer Unterricht auch "Unterrichtsprinzip" sein kann. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist jedoch, daß an die historisch-wissenschaftliche Qualifikation der Lehrenden höchste Ansprüche gestellt werden müssen. Wer selbst nicht gründlich Geschichtswissenschaft betrieben hat, sollte Geschichte auch nicht unterrichten; was sonst dabei herauskommen könnte, lohnt den Aufwand nicht.
15. Die unterrichtsmethodischen Überlegungen müssen sich lösen von der Vorstellung, als ginge es nur um die optimale Vermittlung historischer Stoffe. Vielmehr geht es immer auch um die Bearbeitung individueller und kollektiver, d. h. ideologisch gewordener gegenwärtiger Vorstellungen über historische Ereignisse und Zusammenhänge. Z.B. steht nicht nur zur Debatte, wie die nationalsozialistische Machtergreifung wirklich gewesen ist, sondern auch, wie sie in der nicht-professionellen öffentlichen Diskussion, in programmatischen politischen Erklärungen etwa oder in aktuellen politischen Begründungszusammenhängen, erscheint.
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Weitet man den Gegenstand des historischen Unterrichts derart aus, dann bieten sich auch neue unterrichtsmethodische Variationen an (z. B. für recherchierende Kleingruppen) und neue Funktionen für den Lehrer, so daß der historische Unterricht sich auch methodisch dem politischen Unterricht weitgehend annähern würde (vgl. dazu meine "Methodik des politischen Unterrichts", München 1973). Der Lehrer müßte nicht mehr nur der Geschichte Erzählende, der frontal Unterrichtende sein.
16. Die hier vorgeschlagene Mehrdimensionalität von ereignisgeschichtlich-analytischen, strukturgeschichtlich-synthetischen und aktuell-genetischen Aspekten einerseits und von individuellen bzw. kollektiven gegenwärtigen Vorstellungszusammenhängen andererseits mag zunächst deshalb unbefriedigend erscheinen, weil sie nicht zu einer überzeugenden "Theorie des Geschichtsunterrichts" integriert sind. In der Tat steht hinter unserem Vorschlag die Überzeugung, daß ein in sich zusammenhängendes "Geschichtsbild'' im staatlich monopolisierten Schulwesen nicht meht verbindlich gemacht werden kann; lediglich gesellschaftliche Partikularitäten wie Kirchen oder Gewerkschaften können ihren Anhängern noch eine solche Gesamtinterpretation in ihren eigenen außerschulischen Bildungsveranstaltungen anbieten. Die Schule jedoch hat es mit parteilich-konkurrierenden Interpretationen zu tun. Daraus folgt, daß sich die didaktischen Überlegungen auf die Modalitäten der intellektuellen Bearbeitungen, also auf die subjektive Seite der Lern- und Studierprozesse, verlagern müssen. Die Organisation intellektueller Arbeitsprozesse hat Vorrang vor der Planung der Endergebnisse, das "Geschichtsbild" als Inbegriff der in sich plausibel strukturierten historischen Vorstellungen kann nur das Ergebnis der je subjektiven Lern- und Studierprozesse selbst sein und kann und darf nicht curricular antizipiert werden. Ein moderner Geschichtsunterricht kann nicht "einheitlicher" sein, als es die moderne internationale Geschichtswissenschaft selbst ist, und man sollte sich endlich - und nicht nur im Fach Geschichte - von der Vorstellung befreien, in die Schule dürfe nur das Unumstrittene Einzug halten. Das Umstrittene als eben dieses im Unterricht zu behandeln ist eines demokratischen Staates und vor allem einer staatlich monopolisierten Schule durchaus würdig.
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Anmerkungen:
(1) Vgl.: Der Hessische Kultusminister: Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I: Gesellschaftslehre. Wiesbaden o. J. (1972). Dazu auch meine Kritik in der "Neuen Sammlung" Heft 2/1973.
(2) Eine brauchbare Edition der wichtigsten traditionellen Positionen sowie einiger Neuansätze der letzten Jahre findet sich in: H. Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? 2 Bde. Stuttgart 1972. = Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung, hrsg. von Friedrich J. Lucas. In derselben Reihe sind auch Untersuchungen zu Einzelproblemen des Geschichtsunterrichts erschienen: Klaus Bergmann: Personalisierung im Geschichtsunterricht - Erziehung zur Demokratie?; W. Marienfeld: Geschichte im Lehrbuch der Hauptschule; H. Müller: Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts; G. Wiesenmüller: Unbewältigte Vergangenheit - überwältigende Gegenwart? Vgl. auch den neuen, wenn auch teilweise nur erst skizzierten historisch-didaktischen Entwurf von J. Rohlfes: Umrisse einer Didaktik der Geschichte. Göttingen 1971. Ferner: Geschichte und Sozialwissenschaften. Ihr Verhältnis im Lehrangebot der Universität und der Schule. Diskussionsbeiträge einer Tagung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, = 6. Sonderheft der "neuen sammlung". Göttingen 1972, und: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Historischer Unterricht im Lernfeld Politik. = Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Heft 96. Bonn 1973. Von "linker" Seite sind zu nennen: H. Hoffacker/K. Hildebrandt: Bestandsaufnahme Geschichtsunterricht. Stuttgart 1973, und R. Kühnl (Hrsg.): Geschichte und Ideologie: Reinbek 1973.
(3) Vgl. H. Giesecke: Didaktik der politischen Bildung. Neue Ausgabe München 1972.
92. Wer macht den politischen Unterricht parteilich? (1974)
Eine Antwort auf Bernhard Sutors Kritik
In: Materialien zur politischen Bildung, H. 4/1974, S. 91-97
(Bernhard Sutor hatte im selben Heft, S. 85-91, meine didaktische Konzeption unter dem Titel "Parteilichkeit politischer Bildung. Ein Diskussionsbeitrag in Auseinandersetzung mit Hermann Gieseckes 'Didaktik der politischen Bildung'" einer Kritik unterzogen, H. G.).
Bernhard Sutor ist vielleicht erstaunt darüber, daß ich seinen Schlußthesen weitgehend zustimme, jedenfalls keine so gravierenden Einwände habe, daß sich darüber eine öffentliche Diskussion lohnte. Nur meine ich, daß sie das Problem nicht treffen, sondern eher verdrängen, um das es hier geht. Deshalb will ich meine eigene Sicht des Problems noch einmal knapp darstellen und dabei auf Sutors Überlegungen eingehen. Ich bitte ihn jedoch um Verständnis dafür, daß ich dabei die gegenwärtige innenpolitische Szene mit einbeziehe; denn unsere Diskussion ist natürlich Teil einer viel grundsätzlicheren innen- und verfassungspolitischen Auseinandersetzung, wie sie sich etwa an den neuen Richtlinien in Hessen entzündet hat.
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Das Problem der Parteilichkeit des politischen Unterrichts ist nicht von Autoren der "kritischen Theorie" oder der ''emanzipatorischen Pädagogik" erfunden worden, sondern nur von ihnen aufgedeckt worden. Abgesehen von einigen linksradikalen Autoren, mit deren Vorstellungen ich mich an anderer Stelle auseinandergesetzt habe (1), treten die vom "erkenntnisleitenden Interesse" an "zunehmender Emanzipation" ausgehenden Autoren gerade nicht dafür ein, daß die einen die anderen parteilich belehren. "Erkenntnisleitendes Interesse" ist bei Habermas eine erkenntniskritische Kategorie und soll nichts weniger leisten als derartige Manipulationen. Wenn es sich hier überhaupt um eine pädagogische Kategorie handelt, dann nur insofern, als sie der Selbstreflexion von Lernenden dient. Im Begriff des "Diskurses" (Habermas) geht diese Zurückhaltung sogar bis zu einem nicht unproblematischen Gruppen-Subjektivismus. Ich bin erstaunt darüber, daß Sutor dies offenbar nicht weiß und so vieles in einen Topf wirft. Deshalb muß ganz klargestellt werden: Unter dem Begriff der Emanzipation wurde gerade gegen die Parteilichkeit des bisherigen politischen Unterrichts Front gemacht - allerdings gegen eine konservative.
Wenn heute konservative Politiker und Autoren - etwa im Streit um die neuen Richtlinien in Hessen und Nordrhein-Westfalen - nicht nur das Fehlen von Verfassungswidrigkeit von Schulrichtlinien verlangen, sondern auch, daß sie darüber hinaus dem großen liberalen Spielraum des Grundgesetzes Rechnung tragen ("Toleranzgebot"), so ist das ja verhältnismäßig neuen Datums und überhaupt erst durch emanzipatorische Konzepte provoziert worden. Die konservativ-parteiliche Auslegung von Verfassungsgrundsätzen, des Staatsverständnisses und eben auch der Ziele und Aufgaben des politischen Unterrichts war seit den fünfziger Jahren so eklatant, daß man sie kaum noch beweisen muß. Deshalb nur einige Stichworte:
Es hat sehr lange gedauert, bis neben das "Recht auf Eigentum" (an Produktionsmitteln) auch das Prinzip seiner "Sozialpflichtigkeit" treten konnte, wobei entsprechende politische Konsequenzen nach wie vor ausstehen. Und wenn Sutor heute davor warnt, das Sozialstaatsprinzip der Verfassung im politischen Unterricht auf Kosten anderer Verfassungsprinzipien überzubetonen, so muß daran erinnert werden, daß noch vor wenigen Jahren von diesem Prinzip allenfalls im Sinne sozialpolitischer Fürsorge die Rede war. Dabei hat sich doch inzwischen rumgesprochen, daß die klassischen Prinzipien der Grundrechte - vor allem die, die das private Eigentum betreffen - schon von ihrem historischen Ursprung her bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft auf Kosten anderer favorisiert haben. Der bundesrepublikanische Konservatismus hat seine Liebe zur "Pluralität" des verfassungsmäßigen Spielraums erst entdeckt, als eine einseitige Auslegung im Sinne seiner partikularen - und mitnichten am Gemeinwohl orientierten - Interessen politisch nicht mehr möglich war. Und die ganze aufgeputschte Aufgeregtheit etwa, die von "rechts" gegen die hessischen Richtlinien mobilisiert wurde, beruhte doch nicht auf der Befürchtung, die Schüler könnten hier etwas Falsches lernen (wann haben sie denn in den Schulen etwas Richtiges gelernt?), sondern auf der Gefährdung des bisherigen parteilichen ideologischen Monopols. Gemessen an dem heute von Konservativen vorgebrachten Verfassungsverständnis wäre die bisherige politische Bildung in den Schulen durchweg verfassungswidrig gewesen.
II
Die Parteilichkeit des politischen Unterrichts ist in einer Gesellschaft der ökonomischen und kulturellen Ungleichheit, der Chancenungleichheit und damit der Ungleichheit schichtenspezifischer gesellschaftlicher Perspektiven einerseits und der dem entgegenstehenden demokratischen Postulate andererseits prinzi-
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piell unvermeidlich. Wer dies leugnet, verficht nur eine besonders raffinierte Variante von Parteilichkeit.
Sie äußerte sich im politischen Unterricht in mannigfaltiger Weise. Einmal im Ensemble der politischen Einstellungen und Haltungen des Lehrers, die, wie wir aus Untersuchungen längst wissen, nicht nur individuell-persönlich sind, sondern auch auf ein allgemeines "mittelständisches" ideologisches Syndrom zurückgehen. Sutors Appell an den Lehrer, hier das "Toleranzgebot" zu wahren, zielt zu kurz, wenn er nur das je individuelle Verhalten meint. Dieses ist zwar wichtig für die kommunikativen Bedingungen im Unterricht, aber parteilich ist es erst als Exempel bestimmter inhaltlich-ideologischer Strukturen, die eben nur partikulare Aspekte des nach dem Grundgesetz Zulässigen repräsentieren und nicht dessen ganze "Pluralität".
Parteilichkeit zeigt sich ferner in der Auswahl des Lehrstoffes und seiner Bearbeitungsperspektiven. Soziologische, sozialpsychologische, ökonomische und sozialgeschichtliche Stoffe und Perspektiven fehlten fast völlig, das sind aber gerade die, die für die partikulare gesellschaftliche "Standortbestimmung" der unteren Sozialschichten besonders wichtig sind. Die bisher vorliegenden Lehrer- und Schulbuchuntersuchungen haben hinreichend all diese konservativen Parteilichkeiten bewiesen, nicht zuletzt hinsichtlich sehr pointierter anti-gewerkschaftlicher Affekte. Und wie lange hat es denn gedauert, bis innenpolitische Konflikte im Unterricht ernstgenommen wurden, Konflikte, die immer etwas damit zu tun haben, daß die einen die Chancen des Grundgesetzes besser für sich nutzen können als die anderen?
Parteilichkeit ist z. B. auch, wenn Schülern zwar die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit erklärt werden, wenn ihnen aber nicht erklärt wird, welche Rechte sie als künftige Lehrlinge haben und wie sie diese gegebenenfalls durchsetzen können. Weder von den Unterrichtsstoffen her, noch von irgendwelchen für alle gültigen, curricular ermittelten Verhaltensweisen her ist eine innenpolitische Unparteilich keit des politischen Unterrichts zu garantieren.
Das Problem der Parteilichkeit hat mit Marxismus und Neomarxismus nichts zu tun - ganz abgesehen davon, daß es reichlich abwegig ist, die "kritische Theorie" (also Autoren wie Adorno, Horkheimer und Habermas) als Neo-Marxismus zu etikettieren. Die Gründe für Parteilichkeit lassen sich ohne Rückgriff auf marxistische Theoreme nennen, es sind vor allem zwei: Erstens geht es, was die ökonomischen und sonstigen gesellschaftlichen Ressourcen angeht, immer noch um die Verteilung eines Mangels - was meines Wissens eine Binsenwahrheit aller Nationalökonomie ist. Und zweitens haben aus historischen Gründen verschiedene Schichten und Klassen von vornherein einen ungleichen Zugang zu dieser Verteilung, was sich ebenfalls ohne Marxismus erklären läßt, nämlich z. B. dadurch, daß gesellschaftliche Positionen zu einem großen Teil über den Standard der Familie vererbt werden. Was darüber hinaus marxistische Theoreme erklären können, ist ausschließlich eine Frage der methodologischen und inhaltlichen Diskussion.
So habe ich in der Neufassung meiner "Didaktik" die "kritische Theorie" nur unter ganz bestimmten Aspekten für die "fortschrittlichste" Theorie gehalten, nämlich im Kontext der Grundlagendiskussion Oetinger-Litt-Habermas und unter dem Aspekt, daß die "kritische Theorie" bis dahin die einzig brauchbare historisch-inhaltliche Fassung des Demokratiebegriffs geliefert habe. Zugleich war bei mir damit verbunden eine nicht unerhebliche pädagogische Kritik der "kritischen Theorie". Möglicherweise ist diese meine Einschätzung der "kritischen Theorie" falsch, aber dann muß das inhaltlich, an der Sache selbst diskutiert werden. Sutor aber macht offenbar aus der Entscheidung für oder gegen die "kri-
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tische Theorie" eine prinzipielle weltanschauliche Positionsfrage; nur dann nämlich kann ihm mein angeblicher "Versuch" "unmöglich" erscheinen, den "liberalen Glauben an Offenheit, Mehrdeutigkeit und Unvollendbarkeit von Geschichte und Gesellschaft mit dem Neo-Marxismus in der Gestalt der 'kritischen Theorie'" zu verbinden.
Mich jedenfalls interessieren Kritische Theorie und Marxismus genau wie andere theoretische und wissenschaftliche Ansätze nur unter dem Aspekt, ob und inwieweit sie die Probleme erklären können, an denen ich arbeite - was mir von anderer Seite längst den Vorwurf des Eklektizismus eingetragen hat, mit dem Unterton, ein anständiger Mensch müsse doch eine für jedermann klare Gesinnung haben und dürfe sich nicht allein aufs Denken und Argumentieren verlassen. Vielleicht liegt es auch daran, daß Sutor meine "Position" "nicht ganz eindeutig bestimmen" kann und sie ihm "schwankend und schillernd" erscheint.
Man muß z. B. nicht gleich von marxistischen Vorstellungen über die Rolle des Staates und über antagonistische Widersprüche ausgehen, vielmehr genügen die Erkenntnisse der Organisationssoziologie, um zu erklären, warum es Widersprüche zwischen den Interessen bürokratischer Organisationen und ihrer Klientel gibt. Und wer die unumgängliche innenpolitische Parteilichkeit des politischen Unterrichts diagnostiziert, muß nicht auch deshalb schon für "utopische" Generallösungen votieren, er kann vielmehr auch der Meinung sein, daß bestimmte gesellschaftliche Probleme sich nicht lösen, sondern nur besser regeln lassen.
Angesichts einer zunehmend konservativ-reaktionären öffentlichen Agitation, die alles, was ihre Privilegien nicht verteidigt, als verfassungswidrig und marxistisch-kommunistisch denunziert, ist es nötig, auf solchen Unterscheidungen nachdrücklich zu bestehen.
III
Die entscheidende Frage ist also nicht, wie man Parteilichkeit in den Schulen abschaffen könnte, sondern wie man das Problem der Parteilichkeit im Unterricht transparent machen und möglichst pluralistisch offenhalten kann. Ich stimme mit Sutor darin überein, daß es aus einer ganzen Reihe von Gründen unzulässig wäre, wenn die Parteilichkeit in den staatlich monopolisierten Schulen von den Kultusministern je nach Wahlausgang immer wieder neu in Richtlinien akzentuiert würde.
Was die Ebene des konkreten Unterrichts angeht, so habe ich in der Neufassung meiner "Didaktik" zu zeigen versucht, daß die Anwendung der von mir vorgeschlagenen Kategorien bei der Analyse politischer Probleme die unterschiedlichen Parteilichkeiten transparent macht und damit einer auf Argumentation beruhenden Beurteilung zugänglich zu machen vermag. Vielleicht sind bessere didaktische Lösungen des Problems denkbar, obwohl sie mir bisher nicht bekanntgeworden sind, aber in jedem Fall muß das Problem der Parteilichkeit in der Unterrichtskonstruktion selbst angegangen werden und nicht erst auf der Ebene des persönlichen Werturteils des Lehrers. Die persönliche Toleranz des Lehrers ist selbstverständliche Voraussetzung eines jeden politischen Unterrichts, aber nicht hinreichend für die Regelung dieses Problems. An dieser Forderung, wie sie nämlich das Problem der Parteilichkeit strukturell behandeln, werden sich in Zukunft didaktische Konstruktionen und Curricula messen lassen müssen. Dazu gehört auch, wie unverfälscht unterschiedliche politische Auffassungen - auch marxistische - im Unterricht präsentiert werden. (Was z. B. in den bisherigen Schulbüchern über Marxismus gestanden hat, war durchweg hanebüchener Unsinn).
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Noch heikler wird das Problem der Parteilichkeit im Hinblick auf staatliche Richtlinien und Curricula. Je genauer nämlich staatlich sanktionierte "Lernziele" vorgegeben - und damit ja alle anderen, sonst noch denkbaren abgelehnt werden, umso parteilicher wird der politische Unterricht von Staats wegen organisiert sein. Es ist bemerkenswert, daß bei all den heftigen Auseinandersetzungen um die neuen Richtlinien die Legitimations- und Kompetenzreichweite staatlicher Richtlinien und Curricula so gut wie gar nicht diskutiert wurde. Das scheint mir zu zeigen, daß die verschiedenen politischen Gruppen die Parteilichkeit des politischen Unterrichts nicht "bändigen" und regeln, sondern nur optimal für ihre eigenen Interessen ausnutzen wollen.
Die rheinland-pfälzischen Richtlinien, an denen Sutor mitgearbeitet hat, sind nicht weniger parteilich als die hessischen - nur eben mit anderem Akzent. Befriedigende Regelungen sind nicht durch das Durchsetzen der einen Politik- und Demokratietheorie gegen die andere möglich, nicht dadurch, daß die einen mit Aristoteles und die anderen mit Habermas argumentieren, sondern nur durch einen pragmatischen Kompromiß - etwa zwischen dem hessischen und dem rheinland-pfälzischen Modell.
IV
Es gehört zum klassischen konservativen ideologischen Syndrom, die Normativität von Verfassungsgrundsätzen nicht als Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und als deren zeitweiligen Friedensschluß zu sehen, sondern als eine Art von abstraktem geschichtslosem Numinosum. Ich will Sutor diese Position nicht ausreden, aber auf ihre Parteilichkeit hinweisen. Denn sicherlich gibt es auch eine nicht geringe Gemeinsamkeit der Ungleichen angesichts der gemeinsamen staatlichen Verfassung, wobei es eine terminologische Frage ist, wie man diese bezeichnen soll (in der Terminologie der Kategorien meiner Didaktik ist "Solidarität" für die gemeinsamen Partikularinteressen von Gruppen reserviert, das allen Staatsbürgern Gemeinsame kommt in den Kategorien "Menschenwürde" "Recht" und "Funktionszusammenhang" zum Ausdruck). Wie jedoch die jahrzehntelange Diskussion über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zeigt, gibt es über Sinn, Funktion und Ursache dieses Konsenses ganz verschiedene - verfassungsmäßig zulässige! - Grundpositionen.
Interessant ist nun, daß Sutor entsprechende Einwände von Hans-Hermann Hartwich gegen die rheinisch-pfälzischen Richtlinien zurückweist, und zwar mit Argumenten, die ganz einfach aus einer anderen Position stammen (2). Das wäre in Ordnung, wenn es sich hier lediglich um eine Kontroverse zweier wissenschaftlicher Autoren handelte. Tatsächlich geht es jedoch darum, daß die Position von Sutor in Rheinland-Pfalz "an die Macht gekommen" ist, also auch jenseits aller Argumente Gehorsam von den Vertretern anderer Positionen verlangen darf. Wenn wir einmal unterstellen, was hier nicht im einzelnen erörtert werden kann, daß Hartwichs Einwände zutreffend sind und die rheinisch-pfälzischen Richtlinien sich in der Tat nur an eine von mehreren möglichen Demokratiekonzeptionen angelehnt haben, dann hätten wir es hier mit einem eklatanten Beispiel parteilicher Richtlinien zu tun. Die Frage ist nämlich, wie man in solchen Punkten zu einem Konsens kommen kann, ob lediglich durch einen pragmatischen Kompromiß - wie ich meine-, oder durch eine bestimmte Staatstheorie, wie Sutor offenbar meint. Vielleicht ist auch dies möglich, aber dann dürfte Sutor nicht derart prinzipiell gegen die "emanzipatorische" Position argumentieren, er müßte sie vielmehr in einer Art von "Kompromiß-Theorie" "aufheben".
Um es noch einmal zu betonen: Es geht gerade nicht darum, den politischen Unterricht in dieser oder jener Richtung parteilich zu machen, sondern darum, das Problem der Parteilichkeit didaktisch und curricular zu thematisieren und
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entsprechend zu organisieren. Forciert wird die Parteilichkeit des politischen Unterrichts gerade nicht von den "emanzipatorischen" oder reformistischen Gruppen - von den sogenannten "Linksradikalen" abgesehen -, sondern in der Vergangenheit wie heute von solchen Konservativen, die mit allen Mitteln die Relativierung (um mehr handelt es sich ja noch gar nicht!) ihrer Privilegien verhindern wollen. Die Strategie der ideologischen Agitation besteht u. a. darin, entgegenstehende reformistische Konzepte soweit mißzuverstehen, daß man sie als marxistisch oder linksradikal diffamieren kann, um dann mit eigenen Vorstellungen aufzuwarten, die abstrakt und allgemein genug sind, daß jedermann ihnen zustimmen kann, die aber auf die konkreten Probleme, die die kritisierten vorbringen und zu lösen versuchen, gar nicht erst eingehen. Allerdings gilt dies oft auch umgekehrt, daß nämlich auch konservative Argumentations- und Begründungszusammenhänge nicht mit dem Ziel des Verstehens aufgenommen, sondern vorweg unter ideologische Klischees subsumiert werden.
Dies ist deshalb bedenklich, weil dadurch ideologische Schein-Gefechte ausgetragen werden, die der Findung vernünftiger Kompromisse im Wege sind. Denn der Staat würde seine Aufgabe, den inneren Frieden zu sichern, verfehlen, wenn er im politischen Unterricht über Gebühr parteilich und das heißt immer: für eine gesellschaftliche Partikularität parteilich würde, anstatt zwischen den Parteiungen vernünftige und für jedermann tragbare Kompromisse anzustreben. Dieses Problem ist bei allen neuen Richtlinien für den politischen Unterricht - auch bei den rheinland-pfälzischen - unterschätzt worden.
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Anmerkungen:
(1) Vgl. H. Giesecke: Erziehung gegen den Kapitalismus? Neo-Marxistische Pädagogik in der Bundesrepublik. In: neue Sammlung H. 1/1973, wieder abgedruckt in: H. Giesecke: Bildungsreform und Emanzipation. München 1973.
(2) Vgl. Bernhard Sutor: Grundgesetz und Politikverständnis. Politiktheoretische Grundlagen der rheinland-pfälzischen Curriculum-Entwürfe politischer Bildung. In: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 29/74.
Hans-Hermann Hartwich: Demokratieverständnis und Curriculumrevision. In: Gegenwartskunde, Heft 2/1973.
(Hier folgen kurze "Klarstellungen" von Bernhard Sutor bis S. 97, H. G.).
93. Der alte Adam und seine Lebensmittel (1974)
(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 33 v. 18.8.1974)
Horst Eberhard Richter: Lernziel Solidarität. Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg 1974, 320 S., 18,80 DM.
Die Basis unserer gesellschaftlichen Verfassung ist die Konkurrenz von Individuen. Sie rivalisieren um gesellschaftlich erwünschte "Leistungen", die mit Ansehen, Erfolg und Verdienst belohnt werden. Soziales Gegeneinander ist der vorherrschende Verhaltenstypus, Miteinander gibt es nur als höhere Organisation des Gegeneinanders. Diese kapitalistische Sozialität hat ihre Spuren in den Menschen hinterlassen, zwingt sie ständig zu einem Verhalten, das sie eigentlich gar nicht wollen. Männer etwa müssen sich stark und fit präsentieren, auch wenn es ihnen elend geht, Frauen haben sich schwach zu zeigen und den Streß der Männer emotional auszugleichen.
Einsam und voll Sehnsucht
Aber es mehren sich auch die Widerstände. Eine Sehnsucht nach Befreiung aus der aufgezwungenen individuellen Vereinsamung und hin zu neuer Solidarität und Gemeinsamkeit ist zu spüren. Sie zeigt sich vor allem in der Entstehung verschiedenartiger Gruppen, besonders auch Selbsterfahrungsgruppen, die zugleich innerhalb gesellschaftlicher Randgruppen arbeiten. Viele dieser Versuche scheitern und enden mit Enttäuschung. Es zeigt sich nämlich, daß man Solidarität nicht nur wollen, daß man sie vielmehr auch lernen muß. Der alte "Adam", jene in der bisherigen Erziehung angelernte Strategie des konkurrierenden Leistungsverhaltens, erweist sich dabei als hartnäckiger Widersacher.
Das etwa ist die Quintessenz des neuen Buches von Richter. Es versteht sich als Lernhilfe für diejenigen, die nach der neuen Solidarität suchen. Wie schon in seinen früheren Arbeiten (zum Beispiel Die Gruppe; Patient Familie) erweist sich Richter, Psychotherapeut und Chef einer entsprechenden Klinik in Gießen, erneut als hervorragender Wissenschaftspublizist.
Ihm ist es in erster Linie mit zu verdanken, daß bei uns wichtige psychosoziale Erkenntnisse unter die Leute gebracht worden sind. Was zu sagen ist wird durchweg auch an Fällen entwickelt, an denen jeder Leser beteiligt gewesen sein könnte, auch wenn er niemals Mitglied einer Selbsterfahrungsgruppe, einer Eltern-Kind-Gruppe oder gar einer Initiativgruppe mit Obdachlosen gewesen ist.
Es geht Richter um den Nachweis, daß bei all diesen verschiedenen Gruppenzwecken die Bedürfnisse und Wünsche, die Konflikte und Schwierigkeiten, vor allem auch die Verhaltensfehler grundsätzlich die gleichen sind. Solidarität kann man nur lernen, wenn man die eigenen und fremden Bedürfnisse wirklich erfährt, und dafür sind Gruppen besonders geeignet.
Es fällt nicht leicht, gegen die fesselnde Plausibilität dieses Buches Bedenken vorzubringen. Man traut sich etwa kaum zu fragen, ob der "alte Adam", der in Richters Beispielen und Analysen immer wieder als Wille zur individuellen Abgrenzung gegenüber anderen, zur Verteidigung eines Stücks individueller Autonomie und letztlich auch zu Konkurrenz und Rivalität durchschlägt, wirklich nur eine Folge der anerzogenen Konkurrenz- und Leistungsstrategie ist. Könnte es nicht auch sein, daß unsere Wünsche nach wichtigen "Lebensmitteln" (etwa nach Reichtum und dessen Genuß einerseits und nach Liebe und emotionaler Zuwendung andererseits) im Grunde unersättlich sind, daß ihre Befriedigung dort eine Grenze haben muß, wo es schlicht um die Verwaltung und "gerechte" Verteilung eines Mangels geht, wodurch notwendigerweise Rivalität und Konkurrenz entstehen müssen?
Bei der Verteilung des Reichtums leuchtet dies jedem sicher ein. Aber gilt es nicht auch in übertragenem Sinne für die emotionalen Bedürfnisse? Wie vielen Menschen kann man denn tatsächlich aufrichtige, liebevolle und freundschaftliche Zuwendung entgegenbringen? Setzt das Gruppenerlebnis die Teilnehmer nicht auf eine falsche Fährte, insofern es ihnen die Illusion nahelegt, so wie in der Gruppe könne man überhaupt miteinander umgehen? Nicht Solidarität, sondern psychische Unterdrückung und undurchschaubare Manipulation kämen heraus, wenn wir in all jenen beruflichen und politischen Kommunikationen, die wir uns nicht aussuchen können, einander in der Totalität unserer Wünsche und Bedürfnisse darstellten, etwa nach dem Motto: Eigentlich sollen wir jetzt einen Lehrstuhl besetzen, aber zuvor will ich thematisieren, daß der Kollege X. sich hier so verhält, daß ich mir immer ganz klein und schwach vorkomme. Der eigentliche Zweck der Zusammenkunft könnte dann weitergehen, nachdem der Kollege X. auch seinerseits versichert hat, daß er sich klein und schwach vorkomme und darüber erfreut sei, das bei dieser Gelegenheit einmal aussprechen zu können. Aufklären - zum Beispiel in Selbsterfahrungsgruppen - über die emotionalen Anteile angeblich sachlicher Entscheidungen ist die eine, und zwar sehr vernünftige Sache; alle menschlichen Kommunikationen aber zu einer Selbsterfahrungsgruppe mit therapeutischen Anteilen zu machen, wäre eine ganz andere Sache.
Die Sache mit den Obdachlosen
Richter berichtet von einem Beispiel, wo es ähnlich zugegangen ist. Da will eine Studentengruppe eine Arbeit mit Obdachlosen beginnen und lädt zu diesem Zweck eine andere Gruppe ein, die damit bereits Erfahrungen hat. Nun sollte man annehmen, daß die eine Gruppe erst einmal begierig zuhört, was die andere ihr zu sagen hat. Aber weit gefehlt: Die eine traut sich kaum etwas zu sagen, um nicht als wissend und damit als autoritär zu erscheinen, und die andere macht zunächst einmal alles runter, was die einen sagen, bis man sich darauf geeinigt hat, daß alle gleich dumm und hilfsbedürftig sind. Anschließend geht es dann zur Sache.
Liest man Richters Beispiele und Analysen einmal aus einer anderen Perspektive, so stellt sich die Frage, ob "Solidarität" nicht gerade voraussetzt, daß man die totale Fülle seiner Bedürfnisse auf bestimmte Rollen und Zwecke, auf verschiedene Personen und gesellschaftliche Funktionen aufzuteilen gelernt hat. Dann würden viele der Beispiele, die Richter bringt, nicht auf mehr oder weniger gelungene Solidarisierung hinweisen, sondern eher auf so etwas wie politisches Unerwachsensein.
Im Gegensatz jedenfalls zu der hier vorliegenden radikalen Subjektivierung des politischen Begriffs der Solidarität hat die deutsche Arbeiterbewegung, die uns den Begriff ja überliefert hat, zu unterscheiden gewußt. Solidarität war nie total, sondern auf wirtschaftliche und politische Ziele begrenzt; genau dies aber machte ihre globale politische Kraft aus. Es schadete ihr nicht, wenn man den anderen privat für einen Strolch hielt, dem man nie seine Tochter zur Frau gegeben hätte. Wichtiger war der Gegner, gegen den die Solidarität sich richtete, und auch bei dem interessierte nicht das Ensemble seiner Bedürfnisse, sondern seine Funktion.
Aber gegen wen wollen sich die Gruppen in Richters Buch eigentlich solidarisieren? Gegen "die Gesellschaft", "den Kapitalismus", den "Leistungszwang", gegen lauter abstrakte, gesellschaftlich funktional nicht festzumachende Größen? Die soziale Schwärmerei vieler Gruppen ist offenbar darin begründet, daß sie nur das Miteinander haben wollen, ohne auch das Gegeneinander zu definieren. Sonst wären sie nämlich gezwungen, gesellschaftliche Tatbestände wie Rollenaufteilung, arbeitsteilige Funktionalität und Bürokratie, gegen die Richter nahezu uneingeschränkt polemisiert, in einem etwas anderen Licht zu sehen. Schließlich wären so wichtige demokratische Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung ohne Bürokratisierung, Funktions- und Kompetenzaufteilung ganz undenkbar. Es ist zum Beispiel nicht einfach "inhuman", wie Richter meint, wenn ein Sozialbürokrat einer Obdachloseninitiative den Vorschlag macht, einmal zu berechnen, wieviel billiger den Staat das Konzept dieser Gruppen im Vergleich zur gegenwärtigen Lage käme. Damit bietet er vielmehr auf eine sehr vernünftige Weise seine "Solidarität" an; denn ein großer Teil der sozialpädagogischen Probleme unserer Zeit ließe sich tatsächlich lösen, wenn aus der Erkenntnis Ernst gemacht würde, daß die gegenwärtige, meist erfolglose Sozialarbeit eine große Verschwendung öffentlicher Mittel ist. Daß sich solche Überlegungen bei uns nicht durchsetzen konnten, liegt nicht zuletzt daran, daß es hier immer zu viele Leute gab, die mit ihren Gefühlsbedürfnissen an der falschen Stelle und mit den falschen Partnern operiert haben, und zum Teil setzen die Initiativgruppen diese schlechte Tradition nur fort.
Das Buch des Individualisten
Was den Reiz und Wert des Buches ausmacht, ist zugleich seine Grenze. Der Psychoanalytiker Richter nimmt die Subjektivität der Gruppen ernst und verhilft ihnen zu einem Selbstverständnis; aber er problematisiert deren Prämissen nicht und lehrt sie trotz aller subtilen Analysen zu wenig, ihre Bedürfnisse nicht nur auszudrücken, sondern auch gesellschaftlich angemessen zu ordnen und zu organisieren.
Der etablierte Klinikchef hat sich ohne Vorbehalte eingelassen auf Interaktionen mit den Gruppen und ist dabei eingestandenermaßen tief beeindruckt worden, aber das hat ihn auch ein wenig unkritisch gemacht. Mit einem politisch angemessenen Begriff von Solidarität hat das, was er beschreibt, wenig zu tun, um so mehr aber mit einer ideologisch nicht ungefährlichen Neuauflage bürgerlicher Sozialschwärmerei - durchaus mit antiintellektuellen, antiindividuellen und antizivilisatorischen Zügen. Eine gute und vernünftige Sache kann auch daran scheitern, daß man ihren gesamtgesellschaftlichen und pädagogischen Stellenwert überzieht. Dazu gehört auch, daß Richter seinen individuellen Anteil an der Sache - gemäß der Ideologie seiner Gruppen - mit liebenswürdiger, aber sachlich nicht gerechtfertigter Bescheidenheit erheblich untertreibt. Es ist ja wohl kein Zufall, daß er dieses Buch geschrieben hat und nicht eine seiner Gruppen.
94. Wandern sie nach rechts? (1974)
Die Erfahrung der Erfolglosigkeit macht die Jugend anfällig für politische Verführung
(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 21 v. 26.5.1974)
Die Vorzeichen für ein konservatives "rol-back" in unserem Lande mehren sich. Manches kommt dabei zusammen: eine zunehmende, von der Opposition geschickt genutzte Angst vor der künftigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung; Müdigkeit und Resignation gegenüber den notwendigen, aber sich verschließenden Reformvorhaben vor allem im Bildungsbereich; wachsende Abwehr gegenüber "linker" Agitation und Politik, nicht nur von "rechts", sondern auch von potentiellen Sympathisanten, die die Chancen realistischer linker Politik inzwischen durch Dogmatisierung, wirklichkeitsferne Forderungen, vor allem aber dadurch für verspielt halten, daß es nicht gelungen ist, eine "Massenbasis" zu gewinnen.
Gelten diese Tendenzen auch für die junge Generation, die ja seit 1967 die linke Protestbewegung in all ihren Spielarten getragen hat? Oder genauer: Sind ihr inzwischen neue Jahrgänge mit anderen Einstellungen und Erwartungen gefolgt?
Nimmt man die Hochschulszene als exemplarisch, so ist ein Wandel in der Tat unverkennbar. In den Hochschulorganen setzen sich mehr und mehr konservative Gruppen durch (zum Beispiel der Ring Christlich-Demokratischer Studenten, RCDS), die bestimmte Errungenschaften der linken Bewegung, wie die Mitbestimmung der Studenten oder die Studienreform, meist selbstverständlich übernehmen, aber mit einer sachlichen Einstellung zu den Betriebszwecken der Hochschule zu verbinden trachten. An manchen Orten ist der RCDS eher "liberal" als "rechts" einzustufen, wobei allerdings noch unklar ist, ob es sich dabei um Überzeugung oder um Taktik handelt. Ferner wird eine Entfremdung spürbar zwischen den noch "linken" studentischen Funktionären und der großen Mehrheit der Studenten, die zwar kaum offen gegen jene Stellung beziehen, aber in erster Linie an einem möglichst effektiven Ablauf des Studiums interessiert sind. Möglicherweise wirkt sich hier bereits der unheilvolle Druck der Schulnoten im Blick auf den Numerus clausus aus.
Ähnliche Tendenzen meldet auch die andere Protestfront: die der Lehrlinge. Ohnehin droht die Bildungsreform gerade in dem Augenblick zu erlahmen, da sie denjenigen zugute kommen soll, die sie am nötigsten hätten. Der Kampf der Lehrlinge gegen die Bedingungen und das Niveau ihrer Ausbildung und gegen ihre Rechtslage findet offenbar nur noch in wenigen Gruppen statt. Er wurde und wird allzuoft gerade durch ihre intellektuellen studentischen Fürsprecher behindert, weil diese dabei nur ihre eigene Massenbasis suchen.
Auch hier ist die Resignation größer geworden, und massive Bedrohungen wie die Verknappung von Lehrstellen und mögliche Arbeitslosigkeit helfen hier sicher nach. Geblieben ist vor allem die Hoffnung, daß ein neues Berufsausbildungsgesetz wenigstens einige Fortschritte bringen werde.
Bei allen solchen Beobachtungen ist jedoch zu bedenken, daß sogar auf dem Höhepunkt der Protestbewegung - wie etwa Untersuchungen von Walter Jaide zeigten - die Mehrheit der jugendlichen Lehrlinge und Oberschüler in ihren Einstellungen und Erwartungen konservativ geblieben ist. Selbst bei vielen "linken" Gruppen - vor allem an den Hochschulen - hatte man immer den Eindruck, daß es ihnen auch ein wenig um "rechte" Interessen ging, nämlich um die Verteidigung von Privilegien nach unten.
Man kann schließlich nicht erwarten, daß im großen und ganzen die politischen Einstellungsmuster der Jugend sich radikal von denen der Väter unterscheiden. So schnell und so gründlich können sich nur wenige von dem lösen, was ihre Erziehung und Sozialisation bisher geprägt hat. Daß man nur in Grenzen aus den Einflüssen der Geschichte und der eigenen Erziehung ausbrechen kann, wenn man nicht seine Identität verlieren will, haben viele Studenten der Protestbewegung sensibel und oft mit Bitterkeit an sich selbst registrieren müssen.
Es wäre also zweifellos übertrieben, jetzt von einem "Rechtsruck" in der jungen Generation zu sprechen. Neu ist nicht das konservative Potential in der Jugend, sondern die Tatsache, daß linke Gruppen nicht mehr mit jener öffentlichen Aufmerksamkeit und Zustimmung rechnen können, die sie noch vor einigen Jahren erwarten durften. Der offenkundig gewordene Stimmungswandel ist weniger eine neue politische Überzeugung als vielmehr eine Flucht in Apathie und Resignation unter dem Eindruck der Erfahrung von individueller und kollektiver Ohnmacht gegenüber der Macht der Verhältnisse. Dieser Trend scheint international zu sein. Auch in anderen Industrieländern, etwa in den USA, hat sich der politische Impuls der Protestbewegung vermindert zugunsten einer zunehmenden Flucht in alle möglichen privatistischen Subkulturen, deren Attraktivität zu wechseln scheint wie die Damenmode.
Befriedigung scheint indessen fehl am Platz, wenn die kommenden Jahrgänge in einem Klima von Resignation, politischer Apathie und innerer Distanz zu öffentlichen Fragen aufwüchsen. Auch die Konservativen müßte eine solche Entwicklung beunruhigen, selbst wenn sie ihnen kurzfristig zugute käme; denn für den demokratischen Staat ist es nicht wichtig, ob die Jungwähler bei einer Wahl mehr "rechte" oder "linke" demokratische Parteien bevorzugen. Viel wichtiger ist es, zu verhindern, daß aus der massenhaften Erfahrung von Resignation und Apathie ein Sammelbecken für den Rechtsradikalismus entsteht, der auf solchem Nährboden stets gedeiht.
Die allgemeine Neigung, wieder konservativ zu tragen, und die Enttäuschung der linken Gruppen an sich und an der politischen Welt könnten sich gegenseitig bei zunehmendem Druck im Studien- und Ausbildungsbereich zu einem gefährlichen Stimmungsgemisch verdichten. Es kommt jetzt darauf an, die Errungenschaften der "linken" Bewegung von den vielleicht unvermeidbaren Übertreibungen zu trennen, nicht aber darauf, sie den nachwachsenden Jahrgängen wieder auszutreiben. Zu diesen Errungenschaften gehören: die moralische Sensibilität für das eigene und fremde Leiden; die Entdeckung der "Basis" als notwendige Korrektur der abstrakten politischen Bürokratisierung; die Kritik inhumaner Arbeits- und Freizeitbedingungen, und schließlich der Kampf für den Abbau überflüssiger Herrschaft und für mehr Mitbestimmung.
Immerhin handelt es sich dabei ja nicht nur um wichtige Grundsätze für die Weiterentwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens, sondern auch um wichtige Bedürfnisse der Menschen, die man zwar eine Weile verdrängen und unterdrücken, aber nicht einfach beseitigen kann. Wenn eine Gesellschaft die junge Generation nicht die Erfahrung machen läßt, daß man mit Erfolg, wenn auch nur im Rahmen gewisser historisch gesetzter Grenzen, an diesen Aufgaben weiterarbeiten kann, dann werden jene Bedürfnisse nur in den Untergrund gedrängt, dort deformiert und damit anfällig für politische Verführung. Derartige Entwicklungen waren in den letzten Jahren schon mannigfach zu beobachten, zum Beispiel in der Drogenszene aber auch in gruppenpolitisch-gewalttätiger Sektiererei.
Man wird sehen, ob die jetzt heranwachsende Generation solche demokratischen Forderungen und Bedürfnisse mit etwas mehr Realitätssinn und Gelassenheit weiterverfolgt, oder ob sie sie bald vergißt zugunsten eines brav-angepaßten, wieder ausschließlich der privaten Karriere dienenden Verhaltens. Das eine wäre in einem guten und vielleicht sogar notwendigen Sinne konservativ, das andere reaktionär.
95. Emanzipation, Tradition und praktisches Bewußtsein (1975)
(In: Peter Biehl/ Hans-Bernhard Kaufmann (Hrsg.): Zum Verhältnis von Emanzipation und Tradition. Elemente einer religionspädagogischen Theorie, Frankfurt 1975, S. 76-79)
Auf den ersten Blick lassen sich kaum unversöhnlichere Gegensätze denken, als sie in den landläufigen Begriffen von "Emanzipation" und "Tradition" zum Ausdruck kommen. Emanzipation meint ja gerade die Befreiung aus historisch hergestellter Unmündigkeit und Unterprivilegierung und damit aus normativen und faktischen Kontexten von Traditionen; sie scheint nur möglich, insofern derartige Traditionen gestrichen, für ungültig erklärt werden. In der seit geraumer Zeit sich abzeichnenden Auseinandersetzung um die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Brauchbarkeit dieses Begriffes führen Verfechter wie Gegner die scheinbare Logik dieser Argumentation konsequent zu Ende. In bestimmten neo-marxistischen Positionen z. B., die sich nicht mehr historisch-dialektisch vermittelt zum gegenwärtigen gesellschaftlichen System begreifen, sondern sich ihm nur noch antithetisch entgegensetzen, erscheint Emanzipation als ahistorisch-logische Negation des Bestehenden: sie sei im gegenwärtigen System nicht möglich, möglich sei lediglich der Kampf gegen die systemimmanenten Verhinderungen von Emanzipation. Auf merkwürdige Weise verwandt sind derartige Positionen mit solchen, die aus technologischem Erkenntnisinteresse die Unschärfe, Mehrdeutigkeit und Nicht-Operationalisierbarkeit des Begriffes Emanzipation zutreffend, wenn auch mit falschen Schlußfolgerungen beklagen. Indem hier nämlich versucht wird, Eindeutigkeit anzustreben, geht der politische Charakter des Begriffes notwendig verloren. Denn die Mehrdeutigkeit drückt u. a. das Maß an Tradition aus, das dem Begriff anhaftet, gewissermaßen die Tatsache, daß verschiedene historische "Zeiten", Interessen und Interpretationen in ihn eingegangen sind. Es ist ja kein Zufall, daß politische Alltagsbegriffe, insbesondere solche mit hohem normativem Gehalt, mehrdeutig und unscharf sind, dies gehört zur "Sache", die sie ausdrücken. Mit anderen Worten: Eindeutigkeit ist nur zu haben, wenn Tradition gestrichen wird.
Die letzten Überlegungen deuten schon an, daß die bei vielen Wortführern wie Kritikern des Begriffs Emanzipation vorherrschende Ansicht, Emanzipation sei nur zu haben durch die Liquidierung oder zumindest Ignorierung der bisherigen Traditionen, allenfalls die halbe Wahrheit sein kann. Tatsächlich geht es bei der Präzisierung des Begriffes in mindestens demselben Maße um die Wiederherstellung von Traditionen (1), um deren Rekonstruktion.
Man muß sich klarmachen, daß wir, wenn wir von "Tradition" sprechen, in der Regel nur das meinen, was sich real im geschichtlichen Prozeß durchgesetzt hat, also das Mächtigere im Unterschied zum weniger Mächtigen, das Siegreiche im Unterschied zum Unterlegenen. Geschichtliche Realitäten - auch solche der Geistesgeschichte - haben aber, sobald sie sich durchsetzten, andere Möglichkeiten ausgeschaltet oder zum Schweigen gebracht. Gleichwohl enthalten selbst Revolutionen und Revolten in der bisherigen Geschichte ein mehr oder weniger starkes Moment an Traditionsbindung - sei es, daß auf die Wiederherstellung alten und unterdrückten Rechtes gepocht wurde; sei es, daß - wie noch in der historisch-materialistischen Dialektik - die revolutionär angestrebte neue historische Verfassung als wenn auch qualitativ neuartige Wiederherstellung ursprünglicher gesellschaftlicher Prinzipien angesehen wurde; oder sei es, daß für Minderheiten bereits erreichte Rechte und Bedürfnisbefriedigungen auch für diejenigen realisiert werden sollen, die bisher davon ausgeschlossen waren.
Emanzipation ist nur möglich von historisch hergestellten Abhängigkeiten, nicht von natürlichen Determinanten der menschlichen Existenz. Eine genaue Trennung zwischen beiden ist nicht leicht, weil uns natürliche Determinanten immer nur unter bestimmten historischen Bedingungen gegeben sind, und weil die Geschichte zeigt, daß unter veränderten historischen Bedingungen lange Zeit als naturhaft angesehene Determinanten sich als historisch relative erweisen. Schon aus diesem Grunde können emanzipatorische Konkretisierungen nicht einfach vom "historischen Nullpunkt" her definiert werden, wie dies heute oft geschieht. Das Denkmuster, das dem Bestreben nach Emanzipation zugrunde liegt, ist ein historisch-prozessuales, nicht ein logisch-systematisches. Insofern kann immer nur von "mehr" oder "weniger" Emanzipation gesprochen werden, nicht von Emanzipation schlechthin. Die Strategie geht auf Korrektur historisch vorfindbarer Verhältnisse, nicht auf deren Neuschöpfung und Neuerfindung. Und die Fähigkeit zur Korrektur setzt notwendigerweise ein hinreichend
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genaues Bewußtsein vom bisherigen historischen Prozeß voraus. Das entscheidende Problem besteht darin zu erkennen, im Rahmen welcher traditioneller Kontinuitäten derartige Korrekturen vorzunehmen sind. Zukunft als Korrektur von Vergangenheit, nicht als deren Streichung, das ist der charakteristische Ansatz emanzipatorischen Denkens.
Wer also von Tradition spricht, von der die Menschen sich emanzipieren sollen, der muß sagen, welche er meint: die der Unternehmer oder der Arbeiter; die der zentralen Bürokratie oder der gemeindlichen Selbstverwaltung; die der offiziellen Kirchen oder der ihr sich widersetzenden Minderheiten von Gläubigen usw.
Jedoch sind dies nur Stichworte; denn erstens ist das, was sie meinen, im historischen Kontext nicht klar voneinander zu trennen, und zweitens ist keineswegs ausgemacht, was davon im Namen der Emanzipation als Tradition taugt. Selbst wer z. B. in der neueren Geschichte den Klassengegensatz für konstitutiv hält, muß immer noch die Geschichte der Arbeiterbewegung unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation sortieren, denn sie enthält, - verhaftet der Notwendigkeit ihres Kampfes und der Borniertheit und Macht ihrer Gegner, die sie sich nicht aussuchen konnte - ebenfalls viel Borniertes, Kleinbürgerliches und somit Gegen-Emanzipatorisches - von ihren unterschiedlichen offiziellen Strömungen (christlich; sozialdemokratisch, kommunistisch) ganz zu schweigen. Es ist also nicht so, daß die Tradition deren Emanzipation bedarf, gleichsam aufs Stichwort hin abfragbar bereitläge; sie muß erarbeitet, im wörtlichen Sinne rekonstruiert werden.
Die vom Wortsinne her naheliegende Annahme, Emanzipation sei die Streichung bisheriger Traditionen, ist also nur dann richtig, wenn man die Implikationen mitsieht. In dem wachsenden Widerstand gegen Wachstumsfetischismus und entfremdete Rationalität der Arbeit deutet sich z. B. nicht nur die Streichung von Traditionen an, sondern auch das Wiederanknüpfen an vorkapitalistische Normen. Und in vielen gegenwärtigen Reformprogrammen geht es ebenfalls weniger um Streichung von Traditionen, als vielmehr um die Sozialisierung von Lebensqualitäten, die für Minderheiten bereits erreicht wurden. Nur wenn diese Mehrdimensionalität des Verhältnisses von Emanzipation und Tradition gesehen wird, lassen sich emanzipatorische Handlungsstrategien mit Vernunft diskutieren und begründen. In dieser Sicht der Tradition steckt die Prämisse, daß "Fortschritt" allenfalls im Sinne der technischen Mittel, jedoch nicht unbedingt im Sinne gesellschaftlicher Qualität ein linearer sei. Und pädagogisch folgt daraus, daß für Emanzipation kaum etwas so wichtig ist wie ein hinreichend genaues historisches Bewußtsein.
Vor einer derartigen Rekonstruktion der Tradition ist Emanzipation nicht mehr als ein Begriff, der ein erkenntnisleitendes Interesse zum Ausdruck bringt: das Interesse an der zum jeweiligen historischen Zeitpunkt höchstmöglichen Befreiung von den Zwängen der Natur und der gesellschaftlichen Organisation, und zwar - wie Wolfgang Lempert mit Recht hinzugefügt hat(2) - zum Zwecke der optimalen Bedürfnisartikulation und Bedürfnisbefriedigung für alle Menschen. Das letztere ist besonders wichtig: Solange ein historischer Zustand fortbesteht, indem die einen ihre Bedürfnisse einseitig auf Kosten der anderen besser erfüllen können (die Oberschüler auf Kosten der Lehrlinge; die Männer auf Kosten der Frauen und - je nach Gesichtspunkt - auch umgekehrt; das Unternehmensmanagement auf Kosten der Lohnabhängigen; die Industrienationen auf Kosten der Dritten Welt, usw.), und solange diese Tatsache immer nur durch individuellen sozialen Aufstieg modifiziert wird, solange gibt es keine vollendete Emanzipation, nicht einmal für die, die "es besser haben".
Angesichts dieser Erkenntnis hat der Gedanke große Verführungskraft, daß man sich nun eben den Endzustand einer emanzipierten Weltgesellschaft systematisch ausdenken, daraus die notwendigen Verhaltensweisen und institutionellen Regelungen ableiten und beides gegen die gegenwärtigen politischen Systeme wenden müsse. Diese scheinbar logische Schlußfolgerung ist aber schon deshalb unbrauchbar, weil sie keine strategischen Hinweise dafür enthält, wie, in welchen Schritten und in welchen Zeiträumen der Prozeß vom Ist-Zustand in den Soll-Zustand zu erfolgen habe. Die Konsequenz dieser Logik ist nicht zufällig oft blinder Aktionismus. Und doch ist sie nötig für das Verständnis der Sache. Zwar sind die Vorstellungen von Emanzipation zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entstanden -
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zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft - , konnten aber nur auf dem Hintergrund eines gegen die damals gültige historische Erfahrung gerichteten Prinzips - des Naturrechts - formuliert werden. Beides ist also nötig: Als praxisbezogene Theorie ist Emanzipation gebunden an die historische Kontinuität; im Sinne einer systematischen Begründung muß sie sich davon emanzipieren.
Dieser Widerspruch von Utopie und Praxis ist konstitutiv für den Begriff der Emanzipation und setzt ihn so vielen Verwirrungen aus, wie wir in den letzten Jahren erlebt haben. Nur im Kontext von immer wieder zu rekonstruierender Tradition kann der Begriff der Emanzipation praktisch verwendet werden. Er ist nämlich kein wissenschaftlicher Begriff, was Kritiker immer wieder unterstellen. Sein Sinn ist nicht "beweisbar", ist nicht deduziert aus wissenschaftlichen Theorien, sondern diesen als "erkenntnisleitendes Interesse" vorgegeben. Jenes Mißverständnis verrät viel über die historische Ahnungslosigkeit mancher Kritiker; denn wie sollte es möglich sein, in der nach wie vor offenen menschlichen Geschichte eine unbestreitbare wissenschaftliche Theorie über deren Verlauf zu haben, solange ihr Ende unbekannt ist? Nicht einmal die marxistische Geschichtstheorie hat dies so angenommen, obwohl es immer wieder behauptet wird. Emanzipation ist der Versuch, die bisherige Geschichte, die ja nicht mehr zu ändern ist, in ihrer Faktizität und Kausalität zu begreifen und vom jeweiligen historischen Standort aus in die Zukunft Stück für Stück im Sinne jenes "erkenntnisleitenden Interesses" weiterzuentwickeln. Das Bewußtsein hat dabei die Einsicht der Veränderbarkeit der menschlichen Verhältnisse, aber auch die andere, daß die historische Faktizität den Spielraum derartiger Intentionen eingrenzt und nicht beliebig werden läßt.
Die Wissenschaft - und zwar nicht nur eine bestimmte "Schule", sondern prinzipiell in allen ihren theoretischen und wissenschaftstheoretischen Ansätzen - hat dabei instrumentale Mittelfunktion. Sie beweist nicht Emanzipation und rechtfertigt sie nicht, sie kann sie nur erklären, bearbeiten, Fehleinschätzungen ausräumen, Bedingungen analysieren, unerwünschte Folgen antizipieren usw. Sie hat im Zusammenhang von Emanzipation eine ähnliche Funktion wie die wissenschaftliche Beratung in der Politik, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Es geht nicht um die wissenschaftliche Aufklärung von politischen Experten, sondern um die aller Bürger. Emanzipation läßt zwar das Handeln spezieller Experten im Sinne von Arbeitsteilung, nicht jedoch im Sinne eines stellvertretenden Bewußtseins gegenüber unaufgeklärten Bürgern zu. Insofern ist das Niveau der allgemeinen wissenschaftlichen Aufklärung in den Schulen ein wichtiges Indiz für den Umfang der Emanzipation in einer Gesellschaft.
Daß emanzipatorische Teilziele unbedingt der historisch-kritischen Reflexion bedürfen, zeigt sich, wenn man die in den letzten Jahren mit Emanzipation legitimierten Vorstellungen und Maßnahmen im einzelnen kritisch würdigt. Schon seit einigen Jahren drängt sich ja die Frage auf, ob alle jene in Umlauf gesetzten reformpädagogischen, antiautoritären und subjektivistischen Konzepte wirklich einen Fortschritt an Emanzipation bedeuten oder nicht eher einer Gegenreformation ideologisch zuzuordnen sind. Bei den meisten, mit ebenso affektiver Vehemenz wie historischer Ahnungslosigkeit vertretenen politischen Organisations- und Handlungskonzepten einerseits und pädagogisch-reformerischen Konzepten andererseits, wurden die vorliegenden historischen Erfahrungen kaum ernsthaft aufgearbeitet. Es erschien nicht nötig, die emanzipatorische Relevanz solcher Ideen im historischen Prozeß zu verfolgen, den Wandel ihrer Bedeutung zu erkennen, aus Fehlentwicklungen bzw. unerwünschten Folgen zu lernen usw. Im Gegenteil scheint, je mehr Emanzipation in Mode kam, das Bedürfnis nach historischer Reflexion nachzulassen. Unleugbar ist, daß auf diese Weise emanzipatorische Zielsetzungen kaum einen theoretischen Begründungszusammenhang erhielten sondern eher wie Konsumverhaltensweisen in Mode kamen und ebenso schnell wieder aufgegeben wurden.
Emanzipation ist also kein wissenschaftlicher, sondern nur ein wissenschaftlich bearbeitbarer Begriff, mag er auch in einigen wissenschaftlichen Theorien eine Rolle spielen. Er ist die Formel für den Versuch, eine aufgeklärte Existenz in einer noch nicht aufgeklärten Geschichte zu führen. Kritische Einwände, die auf seine unzulängliche wissenschaftliche Begründung abheben, gehen also an der Sache vorbei. Eine solche Kritik wäre viel
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eher an die Wissenschaftstheorie zu richten, insofern diese zu erklären hat, warum die gesellschaftliche Praxis der Menschen noch nicht voll wissenschaftlich aufgeklärt ist und möglicherweise nie ganz aufklärbar sein wird. Das erkenntnisleitende Interesse an zunehmender Emanzipation ist zwar im Unterschied zu vielen anderen bloßen politischen Willenserklärungen im besonderen Maße auf wissenschaftliche Forschung, Diskussion und Kritik angewiesen, weil es gegen diese durchgehalten nur eine historisch-relative Leerformel wäre; aber Emanzipation bleibt dennoch eine politische Zielvorstellung, die nicht deshalb in den Köpfen vieler Menschen steckt, weil sie wissenschaftlich unbestreitbar deduziert wäre, sondern weil sie fundamentale - sei es "natürliche", sei es historisch erworbene - Bedürfnisse dieser Menschen zum Ausdruck bringt. Praktische, d. h. ihre Handlungen sinnvoll anleitende politische und pädagogische Vorstellungen benötigen die Menschen in jedem Falle, und sie haben diese auch ohne emanzipatorische Vorstellungen. Das erkenntnisleitende Interesse an Emanzipation stellt ein derartiges Bewußtsein nicht her, es sucht ihm nur eine bestimmte Richtung zu geben. Die inhaltliche Konkretion ist jedoch - da nicht aus irgendwelchen Theorien eindeutig deduzierbar - auch nicht einfach positiv lehrbar. Es handelt sich vielmehr um eine Suchleistung, die mit jeder neuen Generation wieder neu einsetzen muß, und bei der es darum geht, einen Sinn herzustellen zwischen emanzipatorischer und gegen-emanzipatorischer Tradition, den bewußt gewordenen Bedürfnissen und der jeweils möglichen wissenschaftlichen Aufklärung beider. Insofern ist Emanzipation ein "kommunikativer Begriff" (Mollenhauer), der nicht operationalisierbar ist, aus dem allenfalls bestimmte verhaltenstechnische und kognitive Aspekte zum Zwecke der Operationalisierung ausgegliedert werden können.
Das eigentümliche erkenntnisleitende Interesse, das sich in Emanzipation ausdrückt, steht durchaus in Konkurrenz zu anderen: zu dem der Aufrechterhaltung historisch erworbener Herrschaft und Privilegien; zu dem der Profitmaximierung bzw. des optimalen Wachstums. Wissenschaftliche Aufklärung läßt sich ebenso wie die Tradition genauso gut auch für solche Leitvorstellungen mobilisieren. Die "Parteilichkeit" des Begriffes Emanzipation ergibt sich folgerichtig aus dem schon erwähnten historischen Widerspruch von herrschender und wiederzuentdeckender Tradition. Die eigentliche politische Schwierigkeit des Begriffes besteht also darin, daß er keinen politischen Konsens zum Ausdruck zu bringen vermag; dafür wären andere Leitvorstellungen nötig. Für die politische Auseinandersetzung über Richtlinien und Curricula wäre es zweckmäßig, diese Tatsache wieder ernst zu nehmen und nicht zu hoffen, daß sichemanzipatorische Leitvorstellungen in der gegenwärtigen historischen Situation rein durchsetzen ließen. Nicht ihre Durchsetzung steht historisch auf der Tagesordnung, sondern erst einmal ihre Zulassung im gesellschaftlichen Wettbewerb politischer und pädagogischer Zielvorstellungen, und diese ist nicht nur durch politisch-ideologische Gegner gefährdet, sondern in mindestens demselben Maße auch durch ahnungslose Verfechter.
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Anmerkungen:
(1) Vgl. Martin Greiffenhagen (Hrsg.), Emanzipation, Hamburg 1973, und Ludwig Kerstiens, Modelle emanzipatorischer Erziehung, Bad Heilbrunn 1974.
(2) Wolfgang Lempert, Zum Begriff der Emanzipation, in: Neue Sammlung Heft 1/1973, wieder abgedruckt in: Martin Greiffenhagen, a. a. O.
96. Brezinkas gesammelte Ressentiments (1975)
Anmerkungen zu "Erziehung und Kulturrevolution"
(In: Neue Sammlung, H. 6/1975, S. 585-591)
Wolfgang Brezinka: Erziehung und Kulturrevolution. Die Pädagogik der Neuen Linken. 267 S., Ernst Reinhardt Verlag München-Basel 1974.
Es war vorauszusehen, daß sich im Rahmen der kulturpolitischen "Tendenzwende" auch in der Erziehungswissenschaft eine konservative Position formulieren würde. Das ist auch wünschenswert, weil die kulturpolitischen und pädagogischen "Reformen" der letzten Jahre unbedingt einer nicht nur finanziellen Bilanzierung bedürfen, und wer wäre für eine derartige kritische Bilanz geeigneter als ein Konservativer?
Doch sofort erhebt sich die Frage, wer denn eigentlich wieso konservativ sei: Ist es die Vergnügungsindustrie oder Adorno, der sie kritisiert? Sind es die bürokratischen Zwänge, oder ist es Hartmut von Hentig, der dagegen den Spielraum für "Selbstbestimmung" verteidigt? Sind es die linken "Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" oder ist es der Soziologe Scheuch, von dem diese Charakteristik stammt? Ist es die "Kritische Theorie", die einerseits "links" steht, andererseits aber im Kontext bewußter und ihr gefährdet erscheinender Traditionen argumentiert, oder ist es die z. B. von Brezinka vertretene positivistische Erfahrungswissenschaft, die historische Verbindlichkeit nicht akzeptiert, sondern zeitlose Zweck-Mitte - Technologien favorisiert?
Beneidenswerterweise läßt sich Brezinka auf solche komplizierten Überlegungen gar nicht erst ein. Er bezeichnet sich vorweg als einen "liberalen Konservativen", der "in wissenschaftstheoretischer Hinsicht vom Standpunkt der empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft aus" (S. 6) zum Verriß alles dessen ansetzt, was er für die "Neue Linke" hält. Und das ist eine ganze Menge, nämlich fast die ganze gegenwärtige Erziehungswissenschaft; außer Brezinka selbst bleibt da kaum jemand übrig.
Die Story des Buches - von einem "Gedankengang" kann man beim besten Willen nicht sprechen - ist folgende: Die "Lebensbedingungen in der Massengesellschaft", "Rationalismus, kulturelle Zersetzung und Sinnverlust" führen überall in der Welt zu einer "destruktiven Gesellschaftskritik", die von den untereinander konkurrierenden Intellektuellen angeheizt wird. Nutznießer ist der immer noch auf Weltherrschaft bedachte Kommunismus, ihm arbeitet die Neue Linke politisch-ideologisch planmäßig oder unwissend in die Hände.
In der Bundesrepublik beginnt die Neue Linke keineswegs erst mit der
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Studentenbewegung, sondern schon mit dem Jahr 1945, als die Amerikaner die deutschen Emigranten wieder zurückbrachten, die mit ihren Thesen vom autoritären und faschistischen Charakter der Deutschen den Siegermächten als "Umerzieher" halfen, "die Teilung Deutschlands und seine außenpolitische Entmachtung ideologisch abzusichern" (S.36). Zug um Zug eroberten sie und ihre Anhänger dann die kulturellen Machtpositionen im Erziehungsbereich und in den Massenmedien. "Das linksliberale oder 'progressistische' Glaubensbekenntnis wurde den deutschen Intellektuellen unter dem täuschenden Namen ,Demokratie' einzuprägen versucht. Es wurde ihnen suggeriert, daß ,Demokratie' und linksliberale Ideologie zusammengehörten. ,Demokratie' sei nicht bloß eine bestimmte Form der Staatsverfassung, die den Mißbrauch der Macht durch die Regierung verhindern soll, sondern vor allem ,eine Art zu leben', eine Weltanschauung, eine bestimmte moralische Gesinnung. Durch diese betrügerische Umdefinition des Wortes ,Demokratie' wurde der Aberglaube verbreitet, nur wer linksliberal gesinnt sei, stehe voll auf dem Boden der Demokratie" (S. 36/37)
Zu den Pädagogen der "Neuen Linken" gehören demnach nicht nur die ausgesprochen "sozialistischen Pädagogen" (z. B. Gamm, Heydorn, Negt, Rolff), sondern auch die linksliberalen "emanzipatorischen" (z.B. Adorno, Blankertz, Giesecke, Hentig, Klafki, Mollenhauer); diese sind sogar gefährlicher, weil sie meist ohne es selbst zu wissen und ohne daß die Anhänger es merken, letzten Endes dem Weltkommunismus in die Hand arbeiten.
Das Buch endet mit Vorschlägen zu einer Doppelstrategie der "wehrhaften Demokratie": Einmal appelliert es an die Hochschulbehörden, die Pädagogik der Neuen Linken (also auch die von Blankertz, Hentig, Klafki, Mollenhauer usw.) nicht als wissenschaftliche Theorie, sondern als Weltanschauungslehre zu betrachten und sie an den Hochschulen zwar als "Gegenstand kritischer Analyse", "aber auf keinen Fall als theoretische Grundlage und zentralen Inhalt erziehungswissenschaftlicher Ausbildungsgänge (zuzulassen)" (S.225).
Andererseits fordert Brezinka die eigenen Anhänger dazu auf, "die Unterscheidung der Geister" zu üben, nicht jede Kritik zu denunzieren, sondern die Notwendigkeit von Verbesserungen zu akzeptieren. Es komme darauf an, diejenigen Anhänger der Neuen Linken (vor allem der emanzipatorischen Pädagogik), die sich über die Folgen ihrer Ansichten nicht im klaren sind, sondern naiv an das glauben, was sie vertreten, zu überzeugen, um "im Gegner von heute den möglichen Verbündeten von morgen" zu sehen (S. 228).
Spätestens an diesem Finale mit seinen unverhüllten, wenn auch durch das Angebot von Konversion versüßten Drohungen erweist sich die Pflicht zur Auseinandersetzung, zur Kritik an einer Machart von öffentlicher Polemik, die man einem Autor mit der Position Brezinkas auf keinen Fall nachsehen darf. Dazu einige Gesichtspunkte:
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1. Das Buch ist in einem erschreckenden Maße un-wissenschaftlich. Den gegenteiligen Anspruch hat der Verfasser selbst sich auferlegt. Aber schon die Kriterien für den Ansatz der Argumentation bleiben unklar: Was heißt hier "konservativ"? Nach Meinung des Autors offenbar nicht, daß unbedingt alles beim alten zu bleiben habe. Aber was ist "konservative" Veränderung im Unterschied zur "neuen linken"? Darauf erhält man nur Gemeinplätze zur Antwort: Es gehe darum, "das Erprobte dem Unerprobten", "das Brauchbare dem Vollkommenen und die Fröhlichkeit einem utopischen Glück" vorzuziehen (S.6). Die vage und ungenaue Definition des eigenen Standpunktes läßt das Buch von Anfang an zur puren Willkür in der Argumentation ausarten.
Ebenso bleibt von Anfang an unklar, mit welchen Fragestellungen, Operationalisierungen, Kategorien die eigene wissenschaftstheoretische Position an die Sachverhalte angelegt werden soll.
Und weiter: Wenn man schon die "Verschwörer-Theorie" von der Infiltration der neuen Linken durch die Emigranten nach 1945 und von deren planmäßiger kultureller Machtergreifung ins Feld führt, sollte man um den Leser wenigstens mit einigen Belegen werben. Soviel sollte Brezinka von Konservativismus wissen, daß immer derjenige die Beweislast hat, der gegen die herrschende Meinung in einer Sache anargumentiert. Ich habe jedenfalls bisher immer gehört, daß die kommerzielle Massenpresse nicht in der Hand von Sozialisten ist. Und die empirischen Untersuchungen, die ich aus den fünfziger und sechziger Jahren über die politische Einstellung von Lehrern und Hochschullehrern kenne, deuteten nicht darauf hin, daß sich hier eine "Neue Linke" in großem Stil zu etablieren begann. Schade, daß Brezinka uns seine offenbar ganz anderen Erkenntnisse nicht näher mitteilt. Allerdings könnte es natürlich schon so sein, daß die alten Nazis sich nach 1945 in Politik, Wirtschaft und Verwaltung, weniger jedoch im kulturellen Bereich niedergelassen haben, weil sie hier zu sehr aufgefallen wären und wohl auch zu wenig zu sagen gehabt hätten.
Jedenfalls ist der ideologische Nutzen dieser Verschwörer-Theorie einleuchtend: Sie enthebt den Verfasser der Verpflichtung, über die Ursachen des explosionsartigen "Linksrutsches" Ende der sechziger Jahre nachzudenken, z.B. über den Anteil konservativer Borniertheit daran in den Jahren davor. Die allgemeine und vage Behauptung, das Übel liege an den (nach "notwendig" und "überflüssig" nicht weiter unterschiedenen) Bedingungen der modernen Massengesellschaft und an der Verführung durch böse Intellektuelle, verursacht einer "konservativen" Reflexion jedenfalls nicht die geringsten geistigen Unkosten.
Am schlimmsten aber wirkt sich die begriffliche Unklarheit hinsichtlich der Definition der "Neuen Linken" aus. Die Neue Linke "ist sehr vielgestaltig und schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Sie ist keine politische Partei, keine Organisation, keine ideologisch geschlossene Gruppe. Es handelt sich um eine breite weltanschauliche Sammelbewegung, zu der Personen und Gruppen mit sehr verschiedenen Interessen und Zielen
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gehören. Sie läßt sich vielleicht am besten als eine lose Glaubensgemeinschaft kennzeichnen, deren Anhänger zwei Merkmale miteinander gemeinsam haben: Eine radikal-kritische Einstellung zur liberalen Wohlstandsgesellschaft und den Glauben an die Heilslehre des utopischen Sozialismus" (S.26). Sie "ist an stückweisen Reformen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung wenig interessiert, sondern sie möchte diese Gesellschaftsordnung als Ganzes überwinden" (S.28). "Ebensowenig wie die Neue Linke eine einheitliche Organisation ist, verfügt sie über eine einheitliche Weltanschauung. Es finden sich neben naiv-fortschrittsgläubigen auch sehr pessimistische Aussagen über die Natur und die Zukunftsmöglichkeiten des Menschen" (S.44).
Solche vagen Definitionen führen denn auch schlicht zu falschen Aussagen: Manche Behauptungen des Buches treffen für einige "linksradikale" Autoren zu, manche für einige "sozialistische", manche für einige "linksliberale". Geradezu groteske Fehler schleichen sich ein, wenn Brezinka die unterschiedlichen Autoren unter gemeinsame pädagogische Prinzipien subsumieren will. Im Kapitel über "Die Pädagogik der Neuen Linken" (S.66ff.) werden als anthropologische "Grundannahmen" der neuen Linken genannt:
1. "Die Menschen sind von Natur aus gut, aber sie werden durch die schlechte Gesellschaft, in der sie leben müssen, verdorben'' (S. 106).
2. "Es ist möglich, jedem Menschen jene Persönlichkeitsverfassung zu geben, die man ihm geben will" (S. 107).
Eine solche Unterstellung ist schon für diejenigen sozialistischen Autoren, die etwas von Marxismus verstehen, blanker Unsinn, und gilt zumindest für einen großen Teil der "emanzipatorischen" Autoren ebenfalls nicht. Das ist jedem Kundigen so klar, daß man darauf nicht weiter eingehen muß. Hier funktioniert ein klassischer Mechanismus aller Demagogie: die gegnerische Argumentation so zu entdifferenzieren, bis sie jedermann als Unsinn plausibel ist.
3. Diese Beispiele, die sich erheblich vermehren ließen, zeigen schon, daß es Brezinka gar nicht um argumentative Auseinandersetzungen geht, sondern um Diffamierung. Der vorgefaßten Absicht, alles, was er in irgendeiner Weise "links" von sich wähnt, unter allen Umständen in einen Topf zu werfen, wird jede Logik und jede sinnvolle Argumentation geopfert. Zitate dienen nur der Illustration der vorgefaßten Absicht, nicht der Argumentation.
Es hätte ja auch die Möglichkeit gegeben, sich jeweils exemplarisch mit einzelnen Autoren bzw. ihren Texten auseinanderzusetzen, angefangen von der Kritik der Fragestellung bis hin zur Aufdeckung ihrer Prämissen, ihrer falschen Schlüsse, ihrer empirischen Defizite usw.
Oder es hätte die Möglichkeit ideologiekritischer Vergleiche gegeben, möglicherweise wäre dann der unstrukturierte Haufen der Neuen Linken doch noch auf einen Begriff zu bringen gewesen. So aber wird er durch nichts anderes konstruiert als durch das Ressentiment des Verfassers,
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der da eine großangelegte und von langer Hand angesetzte Verschwörung sieht: Da gibt es eine Menge Leute, die vielfach nichts voneinander wissen, die sich untereinander zum Teil bis zur Erschöpfung ideologisch bekämpfen, die in vielen miteinander rivalisierenden Gruppen und Organisationen oder überhaupt nicht organisiert sind, Individualisten und Leute aus kommunistischen Kadern, autoritäre und antiautoritäre - aber Brezinka bringt sie alle in ein Boot, und zwar durch die pure Behauptung, sie seien eben drin. Da ist mit Argumenten ebensowenig zu machen wie seinerzeit gegen die "Verschwörung des Weltjudentums". Akzeptabel wäre das nur, wenn Brezinka begrifflich klar abgrenzen würde zwischen Veränderungen im Rahmen unserer Verfassung und solchen, die diesen Rahmen sprengen; einige Urteile des Bundesverfassungsgerichts und durchaus seriöse "konservative" staatstheoretische Literatur hätten ihm da behilflich sein können. Aber dann hätte er eben nicht die Linksradikalen, vor allem die von ihm offenbar leidenschaftlich gehaßten Vertreter der "Kritischen Theorie" politisch diffamieren können.
Nur durch die Denunziation der Gesinnung wird dieser unstrukturierte Haufen der "Neuen Linken" bei Brezinka zusammengehalten. Da ist dann ganz unwichtig, was die Autoren im einzelnen denken und tun; wenn es etwas Vernünftiges ist, ist es eben Taktik. So heißt es über den ehemaligen hessischen Kultusminister Ludwig von Friedeburg: "Auch Kultusminister von Friedeburg hält es für notwendig, ,wesentliche Teile der Entscheidungsfunktion von der höheren Ebene der Verwaltung auf die unteren' zu verlagern. Statt Aufsicht auszuüben wäre es dann die ,Aufgabe der höheren Verwaltungsebenen, konkrete Hilfe und Unterstützung für die Ausübung der Tätigkeit auf der unteren Ebene bereitzustellen'.
Das klingt demokratisch, freiheitsliebend und harmlos. Es stimmt überein mit dem seit langem von vielen vorgebrachten Wunsch, Schulen und Lehrern mehr Unabhängigkeit von Verwaltungsvorschriften zu geben, welche die Initiative lähmen. Man muß bei der Beurteilung solcher Forderungen jedoch berücksichtigen, daß der Begriff der ,Demokratisierung' von der Neuen Linken lediglich ,als strategische Konzeption' benutzt wird. Das bedeutet, daß sie im Zusammenhang mit der Absicht gesehen werden müssen, die Schule zu einem Instrument für die Überwindung der nichtsozialistischen Gesellschaftsordnung zu machen". Und dann folgt die Begründung: "Unter den gegenwärtigen Umständen würde der Abbau der Kontrollmöglichkeiten des Staates über die Schulen diese zu ,Freiräumen' werden lassen, in denen politisch radikale Lehrergruppen weitgehende Freiheit zur Erziehung für die sozialistische ,Gegengesellschaft' erhalten" (S. 197). Wieso würden eigentlich nur sie eine solche Gelegenheit erhalten?
Das Kollegstufenprojekt von Blankertz wird als besonders raffiniert, weil durch wissenschaftliche Täuschung inszenierte Machenschaft vom Tisch diffamiert: "Die Kollegstufe nach dem Plan von Blankertz ist derzeit jenes Schulvorhaben des linksliberal-gesellschaftsutopischen linken Flügels
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der Neuen Linken, welches theoretisch durch den Anschein einer quasiwissenschaftlichen Begründung relativ am besten abgesichert ist" (S.195). Dazu erfolgt keine weitere Begründung, keine Analyse, keine Argumentation. Lieber spekuliert Brezinka auf seinesgleichen als Leser, wenn er sich durch Zitieren einiger aus dem Zusammenhang gerissener Sätze über Adornos "sprachliche Unklarheit" als Beispiel sprachlicher Schlamperei der Linken mokiert (S. 101). Auch hier wird dann nur schlicht behauptet, daß die Sprache dem Gedanken nicht angemessen sei.
Keine Polemik ist ihm zu billig, seinen Gegnern die intellektuelle Ehre abzuschneiden: "Hinsichtlich ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlagen unterscheiden sich die ,emanzipatorische' oder ,kritische' und die ,sozialistische Pädagogik' weder von der Pädagogik des Nationalsozialismus noch von der des Marxismus-Leninismus, für die das Prinzip der Parteilichkeit zum Wesen der ,Wissenschaft' gehört" (S. 74). Erstens ist das schlicht falsch, insofern der Faschismus sich nirgends durch Wissenschaft legitimiert hat, die war ihm - außer im technologischen Sinne, und darüber sollte Brezinka vielleicht einmal hinsichtlich seiner eigenen Position nachdenken! - gleichgültig; zweitens ist das Problem der "Wertfreiheit" der Wissenschaft in der Wissenschaftstheorie selbst nach wie vor umstritten also als wissenschaftliche Frage ungeklärt; und drittens ist die Selbstverständlichkeit, mit der Brezinka selbst eine wissenschaftstheoretische Position zur Legitimierung seiner politisch-ideologischen Ressentiments benutzt, einigermaßen beispiellos.
3. Als Gesamteindruck ergibt sich, daß der Verfasser von dem, worüber er schreibt, nur unzureichende Kenntnisse hat, daß er dafür einfach zu wenig kompetent ist. Ein an sich berechtigtes Anliegen und eine mehr oder weniger diffuse Feindbestimmung reichen eben nicht aus für einen ernstzunehmenden Beitrag - sie reichen allenfalls als Auslöser für rechtsradikale Ressentiments.
Brezinka hat z.B. keine Ahnung von dem, was die "Kritische Theorie" wirklich macht (sie setzt eben keine Utopien gegen die reale Gesellschaft, sondern mißt deren Realität an ihren eigenen Ansprüchen, z.B. an denen des Grundgesetzes); wenn die Kritische Theorie von der Reflexion der Parteilichkeit ("erkenntnisleitendes Interesse") spricht, hört er nur "Parteilichkeit" heraus.
Er hat den historisch-relativen Grundansatz der marxistischen Anthropologie nicht verstanden, nach der der Mensch sich in Auseinandersetzung mit seiner konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Umwelt produziert, und derzufolge es keinen Sinn hat, allgemein-abstrakte Sätze über das "Menschenbild" bzw. das "Wesen des Menschen" zu formulieren.
Mangels zureichender Vorstellungen über historische Prozesse, Widersprüche, Konflikte gelingen ihm weder eine plausible Positionsbestimmung des Konservatismus in der Gegenwart (spätestens seit Karl Mannheims Arbeit über "Das konservative Denken" weiß man, daß konservative Vorstellungen ohne historische Gegenwartsanalysen nicht möglich sind),
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noch plausible Erklärungen über die Ursachen des von ihm Kritisierten. Wo Kenntnisse zur argumentativen Auseinandersetzung fehlen, muß sich das Ressentiment einschleichen - das in diesem Falle eine stattliche Anzahl von Fußnoten hat.
Es sei zugestanden, daß das Buch auch eine Reihe von kompetenten Passagen hat, so etwa die Auseinandersetzung mit der "anti-autoritären Erziehung". Zudem enthält es zahlreiche Ansätze, die einer systematischen Behandlung wert gewesen wären, und die sich zweifellos vor allem dem besonderen "erkenntnisleitenden Interesse" des Autors erschließen. Dazu gehört etwa der Versuch, die explosionsartige Verbreitung linker pädagogischer Literatur in Beziehung zu setzen zur Einrichtung von Gesamt- und Fachhochschulen und damit zur Vermehrung von Lehrstühlen, die vielfach von jüngeren Kollegen ohne ausgeprägte wissenschaftliche Biographie eingenommen werden mußten. Für deren Statusunsicherheit und Identitätsproblematik habe sich die "linke" Vorstellungswelt möglicherweise besonders angeboten. Leider wird aber auch ein solcher Ansatz, der vielleicht wichtige Aspekte der "linken Szene" (und auch ihres Niedergangs!) hätte klären können, nur polemisch gewendet ("Gernegroße unter den Professoren"), auch sofort wieder überspielt von Brezinkas missionarischer Eiferei.
Es ist kein konservatives Buch, sondern ein hilflos-reaktionäres, nicht nur ein anti-kommunistisches, sondern auch ein anti-liberales, vielleicht dafür geeignet, kenntnisarme Stimmungen aufzuputschen, aber nicht dazu, in der Erziehungswissenschaft eine ernstzunehmende Position einzunehmen. Man hat den Eindruck, daß Brezinka seine wissenschaftstheoretische Position der "Wertfreiheit der Wissenschaft" nun so interpretiert, als sei er an keine rationalen Regeln mehr gebunden, wenn er sich über politische oder gesellschaftliche Fragen äußert. Das mag er so halten, wenn er es für richtig hält, solange er seine Kontrahenten nicht politisch diffamiert und mit Berufsverbot bedroht.
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97. Plädoyer für eine praktische und praktikable politische Didaktik(1975)
(In: Kurt Gerhard Fischer (Hrsg.): Zum aktuellen Stand der Theorie und Didaktik der Politischen Bildung. Stuttgart 1975, S. 53-61)
(Der Sammelband erschien in mehreren Auflagen, in denen der vorliegende Text leicht verändert wurde. Hier ist die Originalfassung wiedergegeben, H. G.)
Die folgenden Überlegungen sollen einige wesentliche Momente meiner didaktischen Konzeption beschreiben und begründen. Das kann nur knapp geschehen, an ausführlicheren Darlegungen Interessierte muß ich auf meine Arbeiten "Didaktik der politischen Bildung" und "Methodik des politischen Unterrichts" (beide Juventa-Verlag München) verweisen. Auch für eine gründliche Auseinandersetzung mit anderen didaktischen Positionen fehlt hier der Raum; möglich sind nur einige Hinweise, die meine Skepsis gegen allzu perfekte didaktische Konzepte artikulieren. Die wichtigen Grundentscheidungen lassen sich nach meiner Meinung ohnehin nicht wissenschaftlich eindeutig ableiten und rechtfertigen, sondern nur im Rahmen pragmatischer Vereinbarungen treffen, weil es für jede denkbare Entscheidung eine ganze Reihe gleich vernünftiger Alternativen gäbe. Das gilt sowohl für die Ebene der staatlichen Lehrpläne wie auch für die Unterrichtspraxis in den Schulen selbst.
1. Nach meiner Überzeugung müssen didaktische Konzepte für den politischen Unterricht davon ausgehen, wie die Menschen "sowieso" über Politik denken, wie sie zu Urteilen kommen und wie von daher ihr Verhalten bestimmt wird. Diese Form des "praktischen" Denkens über Politik beruht zunächst auf verhältnismäßig wenigen fundamentalen Einstellungen und Fragehaltungen, z.B. : Geht mich ein bestimmter politischer Sachverhalt überhaupt etwas an? Oder: Wird durch diesen Sachverhalt meine Lage besser oder schlechter? Oder: Kann ich in dieser Sache selbst etwas ausrichten? Oder: Kann ich diesem Politiker Glauben schenken? Oder: Ist dieser Staat (dieser Politiker, diese Partei usw.) mein "Freund" oder mein "Feind"?
Solche fundamentalen Grundhaltungen sind selbstverständlich nicht "angeboren", sie werden durch Lebenserfahrung erworben, nämlich dadurch, daß man im Umgang mit anderen, mit Behörden, mit Gruppen, mit Institutionen (z.B. Schulen) Erfahrungen macht. Diese praktische Grundhaltung, die sowohl inhaltliche wie auch schichtspezifische Modifikationen kennt, äußert sich in einem charakteristischen "Denkmodell" (in der wissenschaftstheoretischen Terminologie könnte man von einem "Paradigma" sprechen), das im Prinzip im Laufe des Lebens beibehalten wird und erst in höheren Phasen des wissenschaftlichen Studiums grundlegend geändert werden könnte (dann aber vermutlich auch seine unmittelbare praktische Relevanz einbüßen würde).
Wissenschaftliche Theorien können nämlich verhältnismäßig beliebig konstruiert werden, weil die Erkenntnisziele verhältnis-
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mäßig beliebig gesetzt werden können; für das praktische politische Denken dagegen können die Ziele nicht beliebig sein, sie sind bezogen auf bestimmte Bedürfnisse und Interessen. So wie Politiker im Wahlkampf diese Interessen und Bedürfnisse ansprechen müssen (und nicht etwa irgendwelche beliebigen Welterklärungs-Muster ansprechen können), so muß auch der politische Unterricht dieses praktische Denkmuster als vorgegeben betrachten; er kann es weder herstellen noch fundamental ändern, sondern nur korrigieren, erweitern, differenzieren. Wissenschaftliche Theorien können dieses Denkmuster nicht außer Kraft setzen, sie können es nur aufklären helfen und die daraus resultierenden didaktischen Konzepte kritisieren.
Es ist wichtig, sich diese durch das praktische Denkmodell jeder didaktischen Konzeption gesetzten Grenzen klarzumachen; denn in den letzten Jahren ist ein erheblicher wissenschaftlicher Aufwand in Lernzieltheorien und in Curriculum-Projekte gesteckt worden, bei denen zum großen Teil unklar bleibt, wie sie wieder in den praktischen Denktypus zurückübersetzt werden können. Ein Beispiel für solche problematischen Theoriebildungen ist etwa das "didaktische Strukturgitter" von Gösta Thoma, das bei der Neuformulierung der nordrhein-westfälischen Richtlinien eine besondere Rolle gespielt hat (1). So wie in diesem Strukturgitter gefordert denkt niemand "normalerweise" über Politik - außer z.B. im wissenschaftlichen Oberseminar. Ebenso schaffen auch die logisch-systematischen Lernziel-Sequenzen notwendigerweise Denkmuster, die anders sind als diejenigen, mit denen Bürger "normalerweise" sich mit Politik befassen.
Leider hat sich die Forschung der letzten Zeit allzu einseitig damit beschäftigt, was die Menschen können und wissen sollten, kaum aber damit, wie sie wirklich politisch denken, urteilen und handeln und woraus das resultiert. Mit ein wenig Boshaftigkeit könnte man daraus schließen, daß sich die didaktische Forschung primär an den (politischen; beruflichen) Interessen der Lehrenden orientiert und allenfalls sekundär auch an denen der Lernenden.
2. An die üblichen "vorwissenschaftlichen" Fragehaltungen und Einstellungen nicht so unmittelbar wie möglich anzuknüpfen, wäre auch politisch höchst bedenklich. In ihnen nämlich und nicht erst in wissenschaftlichen Theorien drücken sich fundamentale Bedeutungen des Politischen selber aus. So wichtige Fragen wie die nach Freund und Feind; nach Recht und Unrecht; nach Macht
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und Ohnmacht usw. dürfen durch didaktische Theorien nicht verunklart oder gar zum Verschwinden gebracht werden; die Folge wäre ein unpolitischer Unterricht über Politik.
3. In meiner "Didaktik der politischen Bildung" habe ich versucht, solche fundamentalen politischen Fragen als "didaktische Kategorien" zu formulieren: Konflikt; Konkretheit; Macht; Recht; Interesse; Solidarität; Mitbestimmung; Funktionszusammenhang; Ideologie; Geschichtlichkeit; Menschenwürde. Es handelt sich dabei um Fragehaltungen gegenüber politischen Sachverhalten und Ereignissen, die zu einem angemessenen (keineswegs "vollständigen" oder gar "objektiven") Verständnis führen können. Wie man an sich selbst und anderen beobachten kann, werden einige solcher Fragen spontan immer gestellt, andere nicht; diese anderen mit Begründung und Einsicht stellen zu lernen, ist bereits ein wichtiger Lernfortschritt - wichtiger sicherlich, als die krampfhafte Suche nach immer perfekteren "inhaltlichen" Lernzielen. Der Katalog dieser Kategorien ist pragmatisch zusammengestellt, ohne jeden Anspruch auf eine innere theoretische Einheitlichkeit; es könnten auch weniger oder mehr oder teilweise sicher auch andere sein. "Wissenschaftlich" daran ist eigentlich nur die Tatsache, daß sie in den politischen und sozialen Wissenschaften ebenfalls eine mehr oder weniger zentrale Rolle spielen. Wichtig ist nur, daß die schon vorhandenen Fragehaltungen der Menschen ernstgenommen werden, daß sie möglichst auf andere wichtige ausgedehnt werden können, und daß die Menschen lernen, darauf einigermaßen vernünftige Antworten zu finden. Die Bedeutung des Lehrers liegt vor allem bei diesem letzten Punkt: Er ist insbesondere beim Suchen nach Antworten unentbehrlich; er muß das, was man dazu wissen könnte in den Unterricht einbringen und deshalb die "Sache" Politik gründlich genug studiert haben. Nach meinen Beobachtungen wird jedoch heute unter dem Einfluß hochkomplizierter Curriculum-Konzepte in der Lehrerbildung zuviel intellektuelle Energie in die sogenannte "didaktische Analyse" gesteckt und zu wenig in das Studium der Sachverhalte selbst.
4. Die ebengenannten didaktischen Kategorien eignen sich vor allem für die Analyse von politischen Konflikten, die in meiner didaktischen Konzeption eine wichtige Rolle spielen. Auch dafür gibt es einen praktischen Grund: Konflikte (im privaten wie im öffentlichen Bereich) führen im allgemeinen zu einer besonders hohen Lernmotivation. Solange das Leben einigermaßen
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problemlos abläuft, haben die Menschen, die ja zumindest außerhalb von Schule und Hochschule auch noch anderes zu tun haben, als ständig an Politik zu denken, wenig Grund darüber nachzudenken, warum es so und nicht anders abläuft; das gehört einfach zur Ökonomie der Lebensführung. Erst im Falle von Konflikten, die als solche wahrgenommen werden, ändert sich das.
Zumindest einen Teil des politischen Unterrichts der Analyse solcher Konflikte zu widmen, ist aber auch aus politischen Gründen zweckmäßig. Konflikte nämlich (sowohl innerhalb von Staaten und Gesellschaften wie zwischen ihnen) zeigen immer die neuralgischen Punkte der Politik an: Sie können wichtige und notwendige Veränderungen zur Folge haben, aber auch zu einer revolutionären oder militärischen Zuspitzung führen. Wenn man also lernt, sich in politischen Konflikten realitätsgerecht und vernünftig im Sinne seiner Interessen zu verhalten, so lernt man damit ein sehr wichtiges Stück politischer Aufklärung.
Selbstverständlich bedeutet diese Option für den politischen Konflikt nicht, daß das Politische überhaupt nur aus Konflikten bestünde oder daß von Konflikten her ganze Staats- und Gesellschaftsstrukturen allein erklärt werden könnten. Wichtig sind z. B. auch alle politischen Institutionen, die einen "sachlichen" Ablauf des alltäglichen, immer komplizierter werdenden Lebens garantieren und dem Ausgleich von Interessen und Widersprüchen dienen. Aber wann treten sie denn in den Interessenhorizont des "normalen" Bürgers, also desjenigen, der nicht beruflich wie Gesellschaftswissenschaftler oder Politiker mit Politik zu tun hat? Im allgemeinen doch nur dann, wenn sie im Rahmen eines Konfliktes oder einer Auseinandersetzung auf einmal Bedeutung erlangen.
Allerdings wäre es ganz abwegig, wenn die Pädagogik von sich aus Konflikte "erfinden" oder selbst etwa in der Schule "herstellen" würde. In meiner Vorstellung geht es um Konflikte und Widersprüche, die außerhalb der Schule und unbeeinflußt von ihr entstehen und ausgetragen werden. Das ist einfach eine Frage der Rangordnung der Probleme. Zwar sollten auch solche Konflikte, die die Schüler als Schüler betreffen (z.B. numerus clausus; Berufsausbildung usw.) Thema des Unterrichts werden, aber "politisch" sind sie nur dann, wenn sie auch außerhalb der Schule Bedeutung bzw. dort ihre eigentliche Ursache haben.
Aufgabe der Didaktik ist also nicht, sich an die Stelle anderer wissenschaftlicher Theorien über die politisch-gesellschaftliche Realität zu setzen, sondern diese Realität zugänglich zu machen.
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5. Deshalb wäre es auch nicht zweckmäßig, den Konflikt-Ansatz zu verabsolutieren. Zwar liegt es nahe, etwa beim Konfliktbeispiel "Reform des § 218" die Funktion des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesrats zu erklären; das gehört zur Analyse dieses Konflikts einfach dazu. Würden solche Informationen jedoch nur "von Fall zu Fall" (d. h. von Konfliktanalyse zu Konfliktanalyse) gegeben, so blieben sie unsystematisch. Nur das aber, was systematisch begriffen wurde, ist auch transferierbar auf neue Fälle und Konflikte; zudem haben die Menschen auch immer "irgendwelche" systematischen Vorstellungen über Staat und Gesellschaft, weil sie sie für die Einordnung und für das Verständnis von Einzelheiten und neuen Situationen brauchen. Auch diese müssen korrigiert, verbessert und erweitert werden. Deshalb ist es nötig, auch zusammenhängendes Orientierungswissen über gewisse fundamentale Zusammenhänge von Staat und Gesellschaft zu lehren, und es ist eine Frage des didaktischen Geschickes, wie man beide Aspekte miteinander verbindet.
6. Noch ein weiterer praktischer Gesichtspunkt ist zu beachten: Der politische Unterricht muß sich orientieren an den realen politischen Partizipationsmöglichkeiten, die die Menschen in unserer Staats- und Gesellschaftsverfassung haben. Bis Mitte der sechziger Jahre ging man im allgemeinen davon aus, daß die wichtigste politische Partizipation in der Teilnahme an den politischen Wahlen und für Minderheiten auch an der Arbeit der Parteien und Verbände bestehe; seit Ende der sechziger Jahre - nämlich mit der Protestbewegung - wurde demgegenüber die "Mobilisierung der Basis" propagiert, also die Teilnahme an unmittelbaren politischen Tätigkeiten etwa in der Schule, in den Betrieben und in "Bürger-Initiativen".
Seitdem neigen manche didaktischen Konzepte dazu, diese unmittelbaren Teilnahmemöglichkeiten gerade auch in der Festsetzung der Lernziele überzubetonen. Aus mancherlei Gründen jedoch, die hier nicht alle analysiert werden können, werden unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen diese unmittelbaren Beteiligungen die Ausnahme sein müssen. Zwei Gründe dafür seien wenigstens angedeutet: Einmal verlangen solche Tätigkeiten an der Basis ein ständiges Engagement, was auf Kosten anderer Freizeitmöglichkeiten gehen würde. Zum anderen ist unsere hochkomplizierte Gesellschaft auf Institutionen angewiesen, die dauerhaft funktionieren müssen und nicht durch spontane Aktivitäten von der Basis her ständig verändert werden können. Unmittelbare Aktionen können sich also entweder nur in dem Spiel-
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raum bewegen, den institutionelle Regelungen offen gelassen haben, oder sie können für eine Erweiterung dieses Spielraums oder auch für eine Verbesserung vorhandener institutioneller Regelungen eintreten. In jedem Falle aber setzen unmittelbare Aktivitäten institutionelle Regelungen voraus.
Daraus folgt, daß der politische Unterricht in erster Linie auf die in unserer Gesellschaft vorgesehenen institutionalisierten Partizipationsmöglichkeiten vorbereiten muß. Das sind für die meisten Menschen vor allem drei: Teilnahme an politischen Wahlen; an der beruflich-wirtschaftlichen Interessenvertretung (Gewerkschaften); an der politischen Publizistik. Es ist erstaunlich, wie wenig Bedeutung in manchen didaktischen Konzeptionen die politische Publizistik hat. Dabei ist doch ganz offensichtlich, daß die Menschen ihr Leben lang auf deren regelmäßige Informationen und Meinungsbildungen angewiesen sein werden. Was läge also näher, als das politische Urteil an den Produkten dieser Publizistik zu schulen, sie also nicht nur als Unterrichtsmittel (Lehrmittel), sondern auch als Unterrichtsgegenstand zu verwenden?
7. Didaktische Konzeptionen stehen immer in der Gefahr, sich gegenüber dem, was sie eigentlich leisten sollten, zu entfremden. Diese Gefahr wächst, je größer der wissenschaftliche Aufwand für Unterrichtstheorien und Curricula wird; je größer der Anspruch der Ziele wird (nicht nur kognitive, sondern auch affektive und soziale Lernziele; bestimmte Verhaltensweisen in bestimmten Situationen usw.); je mehr sich Prestige- und Statusprobleme bestimmter Intellektuellengruppen damit verbinden (Fachdidaktiker contra Fachwissenschaftler; pädagogische Hochschule contra Universität; Volksschullehrer contra Gymnasiallehrer; empirische "Positivisten" contra "kritische Theorie", usw.). Anstatt die politische Wirklichkeit bearbeiten zu lehren, gerät die Schule leicht in Versuchung, sie "nach ihrem Bilde" umzukrempeln. Anstatt das zu tun, was ihr am ehesten möglich wäre, nämlich die Menschen nach politischen Kategorien denken zu lehren unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Erfahrungen, erliegt sie nicht selten der Faszination perfekter und lückenloser "Menschenbilder", für die es (noch) gar keine Gesellschaft gibt.
8. Die Schule hat nicht die geringste Legitimation, als Schule innerhalb der Bandbreite des Grundgesetzes bestimmte politische Überzeugungen auf Kosten anderer zu vertreten. Das verbietet sich schon durch die einfache Tatsache, daß in unseren Schulen alle Klassen, Schichten und Weltanschauungen und damit auch
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alle gesellschaftlichen Interessenpositionen gemeinsam unterrichtet werden. (Bei den Bildungsveranstaltungen der Verbände, z.B. der Kirchen und Gewerkschaften, wäre das anders; deren Spielraum für parteiliche Interessen ist viel größer). Didaktische Konzepte dürfen deshalb Unterrichtsergebnisse so wenig wie möglich vorentscheiden, weder durch Lernzielsequenzen noch durch andere, unnötige parteiliche Festlegungen. Selbstverständlich kommt kein didaktisches Konzept ohne Vorentscheidung aus; es ist jedoch ein Unterschied, ob ein Konzept von vornherein einer bestimmten politischen Position (sozialistisch; kirchlich; konservativ) folgt, oder ob es eine gewisse Offenheit und Toleranzbreite anbietet. Didaktische Konzepte sind wenig geeignet für eindeutige politische Bekenntnisse. Die Alternative wäre sonst, daß jede politische Teilgruppe "ihre" Didaktik formuliert, das aber wäre weder schwierig noch nützlich.
9. Die Diskussion über die sehr detailliert ausformulierten hessischen Rahmenrichtlinien hat u. a. gezeigt, daß man mit guten Gründen immer auch ganz andere Lernziele für wichtig halten kann, als sie selbst in einem so umfangreichen Werk erarbeitet wurden. Das liegt daran, daß die Summe dessen, was zu kennen und zu wissen wichtig wäre, immer erheblich größer ist, als schon aus zeitlichen Gründen im Unterricht behandelt werden kann. Dieses Problem wäre nur dann allgemeinverbindlich zu lösen, wenn die Didaktik in dieser grenzenlosen Summe des Wichtigen wissenschaftlich überzeugend dasjenige herausfinden könnte, was für das Übrige "fundamental" oder "grundlegend" ist. An diesem Problem ist aber schon die alte Bildungstheorie und auch - soweit ich sehen kann - die moderne Curriculumtheorie bisher gescheitert; das Problem ist offenbar wissenschaftlich unentscheidbar.
Wenn das aber so ist, dann sollte man sich stärker hinsichtlich der Lehrpläne und Lehrstoffe auf pragmatische Vereinbarungen verlassen, die als solche auch vernünftig öffentlich diskutiert werden können. Und dann wäre es auch nicht so wichtig, daß an allen Schulen auch dasselbe mit denselben Lernzielen unterrichtet würde; viel wichtiger wäre, den Schülern zusammenhängende Informationen über Staat und Gesellschaft anzubieten und sie zu lehren, an den großen politischen Kontroversen und Auseinandersetzungen ihre Denk-, Argumentations- und Urteilsfähigkeit zu schulen. Dazu brauchen sie Lehrer, die das selbst können, weil sie es gründlich studiert haben, und von und mit denen zu lernen sich deshalb auch lohnt.
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Anmerkungen:
(1) Gösta Thoma: Zur Entwicklung eines "didaktischen Strukturgitters" für den politischen Unterricht. In: Herwig Blankertz: Curriculumforschung. Strategien, Strukturierung, Konstruktion. Essen 1971.
98. Abschied von der Vergangenheit? (1975)
Anmerkungen zur Krise des Geschichtsunterrichts
(In: Vorgänge. Zeitschrift für Gesellschaftspolitik, H. 2/1975, S. 88-98)
(Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht geänderte und gekürzte Fassung eines Manuskripts, das am 22. März 1974 im Dritten Programm des NDR gesendet wurde. Die Zwischenüberschriften und Fettdrucke wurden von der Redaktion vorgenommen, H. G.)
Der Geschichtsunterricht in unseren Schulen befindet sich in einer Krise. In den umstrittenen neuen Hessischen Rahmenrichtlinien zum Beispiel wird er als gesondertes Schulfach abgeschafft und mit den Fächern Geographie und Sozialkunde zu dem neuen Fach "Gesellschaftslehre" vereinigt. Ähnlich verfuhren schon im Jahre 1961 die Kultusminister, als sie in einer Rahmenvereinbarung für die Oberstufe des Gymnasiums die Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde zu einem neuen Fach "Gemeinschaftskunde" zusammenlegten. Nur hofften damals viele Historiker, daß in dieser neuen Fächerkombination die Geschichte das Übergewicht behalten werde, zumal die Lehrerausbildung im Fach Geschichte fest etabliert war, während es eine politikwissenschaftliche Lehrerausbildung erst in Anfängen gab. Die Hoffnung auf eine Dominanz des Geschichtsunterrichts entsprach durchaus der Tradition, denn das Schulfach "Geschichte" und nicht etwa ein Fach "Politik" oder "Staatsbürgerkunde" sollte die heranwachsende Generation durch Identifizierung mit den bedeutenden historischen Persönlichkeiten und den überlieferten Werten zur eigenen politischen Identität führen. Aber die Lehrerstudenten, die später politischen Unterricht erteilen sollten, wandten sich seit Beginn der sechziger Jahre immer mehr von der Geschichte ab und der Soziologie und politischen Ökonomie zu, und auch bei den Schülern wurde der Geschichtsunterricht immer unbeliebter.
Das Verhältnis von Geschichtsunterricht und politischem Unterricht hatte sich umgekehrt: In den fünfziger Jahren bereitete es den Vertretern des politischen Unterrichts noch große Mühe, sich gegen den Geschichtsunterricht mit der Forderung nach gegenwartsbezogenem politischen Unterricht durchzusetzen; heute scheint sich der Geschichtsunterricht in der Defensive zu befinden und wenig Chancen zu haben, sich gegen einen politikwissenschaftlichen und soziologischen Unterricht zu behaupten. Jedoch mehren sich in den letzten Jahren die Stimmen, die erhebliche Bedenken gegen einen seiner historischen Dimension derart beraubten politischen Unterricht anmelden. Interessanterweise sind es keineswegs nur die konservativen Kritiker der neuen Richtlinien, sondern auch viele von denen, die ihnen im Prinzip zustimmen.
Ursachen der Krise
Vor allem drei Ursachen sind für die Krise des Geschichtsunterrichts verantwortlich:
Erstens scheinen Geschichtswissenschaft und geschichtliche Vorstellungen für die Erkenntnis und Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme einigermaßen nutzlos zu sein.
Zweitens drückt die Krise des Geschichtsunterrichts - mit einer gewissen Verspätung - nur die Krise der deutschen Geschichtswissenschaft selbst aus.
Drittens schließlich sind die überlieferten didaktischen Theorien für den Geschichtsunterricht sowohl politisch als auch wissenschaftlich unzureichend geworden.
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Warum historische Kenntnisse?
Zumindest auf den ersten Blick scheinen historische Kenntnisse und Vorstellungen für die Beseitigung aktueller und künftiger Probleme wenig Nutzen zu haben. Oder benötigen wir etwa historische Kenntnisse für die Verbesserung von Produktionstechniken, für den Umweltschutz, für die Bekämpfung des Hungers in den Entwicklungsländern, für die Hochschulreform? Ist das Frühere nicht immer das Schlechtere, das durch Verbesserungen überflüssig wird? Vielleicht braucht die moderne, auf Technik und Planung beruhende Gesellschaft wirklich kein historisches Bewußtsein mehr, weil zum Beispiel die Erhöhung der Produktion und die Verbesserung des Lebensstandards genug Sinn in sich selber tragen.
Was von der Lebenserfahrung her so naheliegend zu sein scheint, entspricht durchaus auch dem theoretischen Selbstverständnis der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft verstand sich von vornherein in dem Sinne als geschichtslos, als sie ihre eigene Durchsetzung für das Ende der menschlichen Geschichte überhaupt hielt (1).
Das positivistische Wissenschaftsverständnis und sein Geschichtsbegriff
Dem entspricht durchaus noch das gegenwärtig herrschende Selbstverständnis des positivistischen Wissenschaftsbetriebes. So wie im Bereich der Produktion und des Marktes die Ziele und Prinzipien wie "optimales Wachstum" und "maximaler Profit" undiskutiert, geradezu als "natürliche" Konstante, vorgegeben sind, und die Handlungen sich auf die optimale Verwirklichung konzentrieren, so konzentriert sich das wissenschaftliche Interesse des Positivismus auf die technologischen Aspekte der Verwirklichung von vorgegebenen Zielen im systemimmanenten Zusammenhang. Die Ziele selbst sind, da darüber nur in Form von Werturteilen gesprochen werden kann, nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion oder allenfalls wieder nur im Hinblick auf ihre Realisierbarkeit. Historische Argumentation schrumpft in diesem Verständnis zusammen auf die Perspektive eines linear verstandenen bürgerlich-kapitalistischen Fortschritts.
Für ein solches Wissenschaftsverständnis, dessen wichtigstes Kriterium die Voraussagbarkeit von Ereignissen ist, sind historische Kenntnisse und Perspektiven nicht nur an sich uninteressant; vielmehr muß es den wissenschaftlichen Charakter der Beschäftigung mit der Geschichte, also die Möglichkeit einer historischen Wissenschaft überhaupt leugnen, jedenfalls solange sie keine Gesetzmäßigkeiten erforschen und somit Ereignisse voraussagen kann.
Der sogenannte "gesunde Menschenverstand" einerseits und das positivistisch-technologische Wissenschaftsverständnis andererseits befinden sich also gleichsam in einem Bündnis, wenn es um die Einschätzung historischen Wissens geht; denn in einem reduzierten technischen Sinne gibt es in der Tat so etwas wie einen linearen historischen Fortschritt: Frühere Produktions- und Forschungstechniken sind in der Regel tatsächlich die schlechteren, werden durch neue überholt und somit uninteressant. Doch für alle normativ-praktischen Fragen ist das, wie die niemals abgerissene Kulturkritik zeigt, immer noch höchst fraglich.
Die Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft
Aber nicht nur vor den Maßstäben eines neopositivistischen Wissenschaftsbegriffes, sondern auch vor den Maßstäben der eigenen Tradition ist das Selbstverständnis der deutschen Geschichtswissenschaft fragwürdig geworden. Und das ist vielleicht wichtiger, denn der Positivismus ist ja selbst immer noch heftig umstritten. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat zwar nie beansprucht, die Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Prozesses erforschen und somit Ereignisse unter angebbaren Bedingungen voraussagen zu können. Aber immerhin hat sie sich für eine Wissenschaft gehalten, die mit methodischer Genauigkeit und quellenkritischer Disziplin historische Ereignisse und Prozesse beschreiben und ohne Vorurteile nach der Wahrheit der Tatsachen und Zusammenhänge fragen will. Daß die deutsche Geschichtswissenschaft jedoch spätestens nach 1871, also nach der Reichsgründung, diese Grundsätze immer weniger befolgte und stattdessen konservativ-nationalstaatliche Positionen vertrat, haben in der Weimarer Zeit schon marxistische Kritiker dargelegt. Die deutsche Geschichte wurde auf 1871 hin geschrieben; die Geschichtswissenschaft produzierte die Ideologie des konservativen deutschen Nationalstaates, und als dieser 1945 unterging, schien sie keinen Gegenstand und damit auch keinen Sinn mehr zu haben.
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Bürgerliche Klassenideologie
Daß die deutsche Geschichtswissenschaft für den deutschen Nationalstaat die leitenden Vorstellungen, Gedanken und sogar Mythen lieferte, war nicht deshalb problematisch, weil sie damit eine politische Funktion erfüllte; die Problematik lag vielmehr darin, daß sie nicht das politische Selbstverständnis des ganzen Volkes zum Ausdruck brachte, sondern nur das seiner bürgerlichen Klassen und Schichten. Daher auch die Konzentration auf das Interesse auf die großen Persönlichkeiten, mit denen sich der deutsche Bürger selbst identifizieren konnte; daher die Identifikation mit den Mächtigen und Erfolgreichen, die Rebellionen, Aufruhr und Revolution der kleinen Leute wieder "in Ordnung brachten". Es war eine Geschichte der Sieger, nicht der Opfer.
Was dagegen für die deutsche Arbeiterbewegung entscheidend war: Der Kampf der Armen gegen die Reichen, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter; die Erfahrung von der Kraft solidarischen Handelns; der Mut namenloser kleiner Leute; die Hoffnung auf eine gerechte Gesellschaft; die marxistische Kritik der entfremdeten bürgerlichen Waren- und Konkurrenzgesellschaft - all das kam in der deutschen Geschichtswissenschaft nicht zum Zuge, wurde nicht mit den bürgerlichen politischen Leitvorstellungen integriert (2).
Die traditionelle Didaktik des deutschen Geschichtsunterrichts
Die Krise des gegenwärtigen Geschichtsunterrichts ist also nicht zuletzt eine Krise der deutschen Geschichtswissenschaft selbst. Nun ist der Geschichtsunterricht in den Schulen nie einfach nur die Popularisierung geschichtswissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse gewesen; das wäre schon aus rein praktischen Gründen gar nicht möglich, weil man ja zumindest entscheiden müßte, was aus dem riesigen Angebot der Geschichtswissenschaft in ein oder zwei Schulstunden pro Woche gelehrt werden soll und was davon Kinder und Jugendliche in einem bestimmten Alter überhaupt lernen und verstehen können. Mit solchen Problemen befassen sich spezielle wissenschaftliche Forschungen und Theorien, die wir als "Didaktik" zusammenfassen. Die Didaktik des Geschichtsunterrichts, die uns hier interessiert, ist nun allerdings bis auf den heutigen Tag von den prinzipiellen ideologischen Prämissen der konservativ-nationalstaatlich orientierten deutschen Geschichtswissenschaft geprägt gewesen. Nicht die einzelnen Forschungsergebnisse, wohl aber die Ideologie der deutschen Geschichtswissenschaft bestimmte auch den Geschichtsunterricht.
Die didaktische Theorie Erich Wenigers
Es gibt bis heute überhaupt nur eine einzige, systematisch ausgeführte didaktische Theorie des Geschichtsunterrichts. Der Pädagoge Erich Weniger hat sie bereits in den zwanziger Jahren formuliert und auch nach 1945 im Prinzip unverändert vertreten. Andere, in der Öffentlichkeit heute bekanntere Konzepte wie das sogenannte "exemplarische Prinzip" sind nie zu einer systematischen Theorie ausgearbeitet worden und befassen sich nur mit Einzelaspekten, etwa mit der Frage, wie man der Fülle des Stoffes besser Herr werden könne. Um die Krise des schulischen Geschichtsunterrichts zu verstehen, ist es also nützlich, die didaktische Konzeption Erich Wenigers in Erinnerung zu rufen:
Wenigers Überlegungen zum Geschichtsunterricht stehen im größeren Zusammenhang seiner Bemühungen, eine Theorie für den Lehrplan der Schule überhaupt zu entwickeln. Warum gibt es in den Schulen eigentlich bestimmte Fächer und andere nicht? Und aus welchen Gründen werden irgendwann neue Fächer eingeführt? Weniger suchte die Antwort auf diese Fragen, indem er die Entstehung der Fächer historisch zurückverfolgte. Und dabei zeigte sich ihm, daß neue Schulfächer immer dann eingeführt wurden, wenn eine sogenannte "Bildungsmacht" im politisch-gesellschaftlichen Leben so mächtig geworden war, daß sie vor den Heranwachsenden in der Schule repräsentiert sein wollte. Zu diesen Bildungsmächten gehörten nach Weniger unter anderem der Staat, die Kirchen und die Wirtschaft. Sie alle wollen also in pädagogisch-didaktisch geeigneter Form ihre Ansprüche in die Schule einbringen und damit der heranwachsenden Generation präsentieren.
Im Geschichtsunterricht nun wendet sich der Staat mit seinen Ansprüchen an die junge Generation, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß die nachwachsende Generation ja künftig die Verantwortung für diesen Staat wird übernehmen müssen (3). In dem Maße nun, wie im geschichtlichen Prozeß immer mehr Schichten, Klassen und Gruppen und schließlich alle Bürger für den Staat verantwortlich werden, wird auch Ge-
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schichtsunterricht für immer mehr und schließlich für alle Heranwachsenden nötig: zunächst nur für die Fürstenkinder, dann für die gesamte adelige Jugend, dann für die künftigen Beamten. Im 19. Jahrhundert dehnte sich der Kreis auf das akademisch gebildete und besitzende Bürgertum aus und im 20. Jahrhundert schließlich auch auf die Arbeiter, Bauern und Frauen.
Weniger meinte also, daß eine heranwachsende Generation nur dann in der Lage sein könne, konkrete politische Verantwortung zu übernehmen, wenn man ihre eigenen Bestrebungen und Intentionen konfrontiere mit dem Zusammenhang der bis dahin geschehenen Geschichte. Die politische Verantwortung war für Weniger nur denkbar als die - wenn auch modifizierte - Fortsetzung von Traditionen.
Welche Rolle spielt in diesem Konzept nun die Geschichtswissenschaft? Für sie galt ja nicht, was Weniger gerade vom Geschichtsunterricht forderte; sie war nicht Ausdruck des staatlichen Selbsterhaltungswillens. Auch nach ihrem eigenen konservativen Selbstverständnis war sie einzig dem Ziel der Wahrheit um ihrer selbst willen verpflichtet. Die Geschichtswissenschaft hatte nach Wenigers Vorstellungen für den Geschichtsunterricht in der Tat nur eine instrumentale, keineswegs eine konstituierende Bedeutung. Zwar dürfe der Lehrer im Unterricht nicht gegen die von der Geschichtswissenschaft ermittelte historische Wahrheit verstoßen, gleichwohl aber dürfe er im Unterricht bis zur Oberprima hin auch keine wissenschaftlichen Seminare abhalten und Studium an den Quellen betreiben; er müsse die Geschichte des Volkes und des eigenen Staates vielmehr im Zusammenhang erzählen, um so in der nachwachsenden Generation auch emotional die Bereitschaft zur politischen Verantwortung in der Kontinuität der Geschichte zu erwecken.
Prämissen und Grenzen der Konzeption Wenigers
An der hier kurz skizzierten Konzeption Erich Wenigers für den Geschichtsunterricht läßt sich noch einmal der konservativ-nationalstaatliche Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht zeigen. Denn die gegenüber der Geschichtswissenschaft eigenständige pädagogische Funktion des Geschichtsunterrichts, wie sie hier formuliert war, war tatsächlich so eigenständig nicht. Vielmehr hat - wie wir sahen - die konservative deutsche Geschichtswissenschaft sich in erheblichem Maße volkspädagogisch verstanden. Es läßt sich darüber hinaus zeigen, daß Wenigers Konzept auf ganz bestimmten konservativen politischen Prämissen beruhte, ohne die es nicht haltbar gewesen wäre, und die im Prinzip auch charakteristisch für die deutsche Geschichtswissenschaft waren.
Eine dieser Prämissen ist die charakteristische konservative Trennung von Staat und Gesellschaft. Ohne diese Trennung ergäbe es keinen Sinn, von der Repräsentanz des Staates in einem bestimmten Schulfach im Unterschied zu anderen zu sprechen. Ferner fällt auf, daß Weniger den Prozeß der Demokratisierung beschränkt sieht auf den Prozeß der zunehmenden Teilnahme bisher davon ausgeschlossener Gruppen an der staatlichen Verantwortung, wie sie sich etwa in der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ausdrückt. Damit aber bleibt der ganze Komplex der gesellschaftlichen Demokratisierung zunächst insoweit ausgespart, wie er sich nicht in Konflikten auf der unmittelbaren staatlichen Ebene ausdrückt. Sozialgeschichte, die Geschichte der Klassenkämpfe, die Geschichte der Gewerkschafts- und der Arbeiterbewegung blieben daher weitgehend - sowohl im Geschichtsunterricht als auch in der Geschichtswissenschaft - ausgeklammert. Weniger verwendete also einen charakteristischen, konservativ reduzierten Demokratiebegriff, der das, was man "Fundamentaldemokratisierung" nennt und was sich zum Beispiel in den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung in der Wirtschaft äußert, nicht mit einschloß.
Ausgespart bleiben erst recht jene politischen Theorien und Theoreme, die die Arbeiterbewegung im Kampf um ihre Emanzipation formulierte, beziehungsweise übernahm, zum Beispiel die marxistischen. Interessanterweise hat Weniger zwar die sogenannte kulturgeschichtliche Konzeption des Geschichtsunterrichts, die in den zwanziger Jahren eine große Verbreitung gefunden hatte, als eine typisch oppositionelle Konzeption angesehen, die darauf beruhte, daß das Bürgertum noch von der staatlichen Mitverantwortung ausgeschlossen war. Mit der Einführung des demokratischen Staatsbegriffes nach 1918 hielt er diese oppositionelle Position jedoch für überflüssig. Aber er hat diesen prozessualen Gedanken keineswegs auf die Arbeiterbewegung und ihre marxistischen oppositionellen Vorstellungen ausgedehnt, was eigentlich nahegelegen hätte. Sieht man jedoch, mit welch wütendem Widerstand selbst heute noch vorsichtige Hereinnahmen
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marxistischer Theoreme in Schulrichtlinien zu rechnen haben, kann man nur allzu gut verstehen, daß Weniger sein eigenes Konzept in diesem Punkt nicht folgerichtig zu Ende gedacht hat: ein besonders charakteristisches Beispiel für die selbstgesetzte Grenze konservativ-bürgerlichen Denkens.
Schließlich bleibt das Problem, nach welchen Maßstäben und Kriterien das Erzählen des geschichtlichen Zusammenhanges, wie Weniger es forderte, eigentlich zu geschehen habe. Sein Hinweis darauf, daß dieses Erzählen nicht gegen die wissenschaftlich ermittelte Wahrheit verstoßen dürfe, grenzt ja den Spielraum des Möglichen nur negativ ein. Strenggenommen kann sich diese Vorschrift nur auf die Richtigkeit von Tatsachenbehauptungen beziehen, aber erzählende Gesamtdarstellungen haben es ja mit Interpretationen der historischen Tatsachen zu tun, die sich nicht ohne weiteres nach den Begriffen "richtig" und "falsch" sortieren lassen, sondern abhängig von Erkenntnisinteressen sind, die von außen an die historischen Tatsachen herangetragen werden. Es ist also zu erwarten, daß diese erzählenden Darstellungen sich nicht nach irgendwelchen eigenständigen pädagogisch-didaktischen Maßstäben richten, sondern die in der Geschichtswissenschaft herrschenden Vorstellungen weitgehend abbilden; und das waren eben konservativ-nationalstaatliche Vorstellungen.
Anthropologisierung - Personalisierung - ldealisierung
Nun ließe sich mit Recht einwenden, daß der tatsächliche Geschichtsunterricht ja nicht einfach eine Anwendung des eben dargestellten didaktischen Konzeptes von Weniger gewesen ist. Es hat auch andere Ansätze wie das schon erwähnte "exemplarische Prinzip" gegeben, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann (4). Es ließe sich aber zeigen, daß auch diese Ansätze jenen konservativen bürgerlich-politischen Prinzipien verpflichtet geblieben sind. Untersuchungen über die im Geschichtsunterricht verwendeten Schulbücher, wie sie zum Beispiel Ludwig von Friedeburg und Peter Hübner 1964 und Reinhard Kühnl 1973 angestellt haben, zeigen noch einmal unter einem neuen Aspekt jenen konservativen ideologischen Vorstellungszusammenhang auf, der sich vor allem durch die Begriffe "Anthropologisierung", "Personalisierung" und "Idealisierung" charakterisieren läßt (5).
Geschichtliche Zusammenhänge werden überwiegend anthropologisch erklärt, das heißt, als Folge menschlicher Eigenschaften, Triebe und Charaktermerkmale, die im wesentlichen als übergeschichtliche Konstanten der menschlichen Existenz angesehen werden und nicht als etwas, was zumindest auch durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse und Zwänge mit hergestellt und deshalb mit diesen grundsätzlich auch veränderbar ist.
Ferner werden geschichtliche Ereignisse und Prozesse überwiegend personalisierend erklärt, also so, daß sie als Folge des erfolgreichen oder erfolglosen Verhaltens bestimmter Personen, insbesondere bedeutender Politiker oder Militärs, erscheinen. Die Konzentration der Betrachtung auf das Verhalten solcher "guten" oder "bösen" Persönlichkeiten bringt einerseits das pädagogische Bedürfnis nach Identifikation, beziehungsweise Nicht-Identifikation mit derartigen Vorbildern zum Ausdruck, andererseits aber auch die allgemeine Selbsteinschätzung der bürgerlichen Konkurrenz-Gesellschaft, die als das Resultat individueller Leistungen und Fehlschläge begriffen wird. Prozesse und Bewegungen jedoch, die sich nicht so personalisieren lassen, wie ökonomische Veränderungen und objektive gesellschaftlich-institutionelle Zwänge, bleiben bei einer derartigen Betrachtungsweise weitgehend auf der Strecke.
Schließlich ist charakteristisch die Idealisierung historischer Ereignisse und Prozesse. Gemeint ist damit nicht, daß die Geschichte schönfärberisch betrachtet wird, sondern daß als ihr hauptsächlicher Motor die Wirkung alter oder neuer Ideen gilt, die die handelnden Persönlichkeiten aufgreifen oder verwerfen, denen sie sich verpflichtet fühlen oder die sie nur für ihre Zwecke in Dienst nehmen. Die materiellen historischen Prozesse jedoch, die ökonomisch-technischen Entwicklungen, die Entstehung neuer Mächte, Tendenzen wie Imperialismus und Kolonialismus bleiben auf diese Weise entweder überhaupt unerwähnt oder können zumindest nicht angemessen erfaßt werden. Ein Gesichtspunkt wie die planmäßige ökonomische Ausbeutung ganzer Klassen und Völker hat in der Systematik dieses Denkens keinen Platz.
Geschichtsunterricht und Geschichtswissenschaft
Die bisherige Betrachtung zeigt, daß der Geschichtsunterricht in Deutschland gebunden war an ein bestimmtes, konservatives ideologisches
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Syndrom, das jedoch nicht etwa nur aus pädagogischen Gründen für die Schüler erfunden worden war, sondern der traditionellen deutschen Geschichtswissenschaft selbst schon eigentümlich war. Man darf daraus vielleicht die Schlußfolgerung ziehen, daß der schulische Geschichtsunterricht offenbar nicht besser sein kann, als der Standard der Geschichtswissenschaft, auf den er sich so oder so stützen muß. Eine Revision des Geschichtsunterrichts wäre ohne eine Revision des Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaft nicht möglich. Diese ist jedoch - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - seit einigen Jahren im Gange. Vor allem eine jüngere Generation von Historikern hat begonnen, die vorhin mit den Begriffen Personalisierung, Idealisierung und Anthropologisierung bezeichneten Mängel zu korrigieren; wirtschafts- , sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Aspekte erhalten eine zunehmende Bedeutung, die wissenschaftstheoretischen Probleme treten schärfer zutage.
Ob das neue Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft auch dem schulischen Geschichtsunterricht neue Impulse geben und ihm damit wieder einen festen Platz im Kanon der Schulfächer verschaffen wird, ist noch nicht abzusehen. Viel wird aber davon abhängen, ob es gelingt, für einen künftigen historischen Schulunterricht eine überzeugende Begründung zu liefern.
Warum auch in Zukunft Geschichtsunterricht in unseren Schulen? Kann man angesichts des umfangreichen anderen Stoffes, den die Schulen unseren Schülern aufzwingen und den diese zum großen Teil für ihre künftige Lebensbewältigung ja auch brauchen, nicht auf Geschichtsunterricht verzichten?
Die neue kritische Funktion des Geschichtsunterrichts
Eines scheint sicher zu sein: Die alte Funktion des Geschichtsunterrichts, ausschließlich oder über wiegend der heranwachsenden Generation zur politischen Identität zu verhelfen, scheint endgültig hinfällig geworden zu sein. Sie war gebunden an eine bestimmte historische Phase, die ihrerseits von konservativen politischen Leitbildern geprägt war. Geschichtsunterricht in der Zukunft wird niemals wieder das Fach für die politische Bildung sein, sondern nur noch eines unter mehreren, dessen Funktion und Grenzen noch genauer zu bestimmen wären.
Der künftige Geschichtsunterricht kann offenbar nicht mehr vom Wohlwollen des sogenannten "Zeitgeistes" getragen sein; er kann vielmehr umgekehrt nur gegen diesen betrieben werden: als Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Leitbilder, Normen und Programme; als ständiger Hinweis auf Alternativen; auf die Tatsache hin, daß gesellschaftliche Realität gemacht worden ist und damit veränderbar ist; auf die Kontinuität und zugleich Wandelbarkeit herrschender Ideologien; auf die gleichbleibenden und sich verändernden Formen menschlicher Unterdrückung und Ausbeutung; auf das Nicht-Selbstverständliche des scheinbar Selbstverständlichen und so weiter. Wie aber müßten dann die dafür geeigneten didaktischen Ansätze näher bestimmt werden?
Verdrängtes historisches Bewußtsein
Wissenschaftliche Untersuchungen und auch die Lebenserfahrung zeigen, daß wir alle irgendwelche historischen Vorstellungen haben. Wir haben sie im Rahmen unserer Sozialisation erworben, und sie bestimmen gewollt oder ungewollt unser Handeln mit. Warum besetzt man Worte wie "radikal", "Revolution", "Funktionär", "Kommunist" mit negativen Gefühlen? Offenbar verbinden wir damit Vorstellungen, die sich irgendwie auf Vergangenheit, also auf geschichtliche Erfahrungen beziehen. Bei jeder öffentlichen politischen Diskussion, bei allen gegenwärtigen politischen Konflikten spielen auf dem Weg über die Sprache Vorstellungen eine Rolle, die man als eine Art abgesunkenes oder auch verdrängtes historisches Bewußtsein bezeichnen könnte.
Zwar trifft es zu, daß nach allen Untersuchungen das Interesse an der Geschichte abnimmt. Aber das heißt eben noch keineswegs, daß die Menschen nicht dennoch weiterhin in ihrer Lebenspraxis mit historischen Vorstellungen operieren müssen. Dort, wo früher historisches Bewußtsein lokalisierbar war, befindet sich nun keineswegs eine leere Stelle. Vielmehr ist es so, daß an die Stelle verbalisierbarer und somit abfragbarer "Geschichtsbilder" immer mehr unbewußte Vorstellungen getreten sind, die das politische Verhalten zwar nach wie vor bestimmen, aber der Kontrolle des eigenen Bewußtseins immer weniger zugänglich sind.
Verzicht auf historische Bildung und auf historisches Bewußtsein würde demnach bedeuten, diese unaufgeklärten, aber politisch höchst wirksamen historischen Vorstellungen auf sich beruhen zu lassen. Diese aber sind ja nicht beliebig,
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subjektiv zufällig, sondern in ihnen entdecken wir erneut jene schon mehrfach erwähnten konservativen Vorstellungsmuster. So paradox es klingen mag: Historischer Unterricht ist gerade deshalb nötig, um die Ideologie des herkömmlichen Geschichtsunterrichts im allgemeinen gesellschaftlichen Bewußtsein korrigieren zu können.
Erhellung der politischen Biographie unserer Gesellschaft
Dieser subjektive Begründungszusammenhang hat aber auch eine objektive Seite. Unsere staatlich-gesellschaftliche Verfassung präsentiert sich einmal in den Vorschriften des Grundgesetzes und der Länderverfassungen, zum anderen in den Institutionen. Das Grundgesetz ist ohne Frage ein historisches Produkt; es ist Teil eines historischen Prozesses, den es einerseits abschließt, andererseits aber auch für die Aufgaben der Zukunft neu öffnet und legalisiert. Ohne Kenntnis der historischen Erfahrungen, aber auch bestimmter politischer Grundpositionen kann sein Text überhaupt nicht verstanden und also auch nicht als Regulativ künftigen politischen Handelns sinnvoll angewendet werden.
Es geht also darum, die nachwachsende Generation in den Stand zu versetzen, den Sinn unserer demokratischen Verfassung zu verstehen und ihre politischen Prinzipien zu praktizieren. Dafür ist offensichtlich der Geschichtsunterricht unentbehrlich. Wie und warum sind diese Gesellschaft und ihre verfassungsmäßigen Prinzipien, ihre charakteristischen Institutionen und Regelungen entstanden? Welche Probleme wurden dadurch gelöst und welche nicht, und welche entstanden neu? Welche Krisen sind warum in ihrer "politischen Biographie" entstanden und wie und mit welchen Folgen wurden sie gelöst? Wer waren die Gegner des neuzeitlichen Demokratisierungsprozesses und inwiefern haben sie ihren Einfluß behalten, beziehungsweise verloren?
Bleiben solche Fragen im öffentlichen Bewußtsein nicht gegenwärtig und werden sie nicht immer wieder öffentlich - also nicht nur von einer Handvoll Experten - bearbeitet, so wird die demokratische Substanz von Staat und Gesellschaft in nur noch systemimmanenten Mechanismen je nach der Verteilung von Macht und Ohnmacht zerrieben. Das politische Verhalten könnte sozusagen nur noch "von der Hand in den Mund" leben.
Kein geschlossenes Geschichtsbild mehr
Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß eine solche "Biographie" von Staat und Gesellschaft nicht mehr in Form eines sogenannten in sich geschlossenen "Geschichtsbildes" zu haben ist, das, wie Weniger noch meinte, der heranwachsenden Generation im Zusammenhang erzählt werden müsse. Weder wissenschaftlich noch politisch wäre ein solches Geschichtsbild noch zu legitimieren. Wissenschaftlich gesehen gehört die unterschiedliche Interpretierbarkeit des historischen Materials je nach dem "erkenntnisleitenden Interesse" inzwischen zum methodischen Selbstverständnis. Politisch drückt sich die unterschiedliche Interessenlage, also der sogenannte "politische Pluralismus", auch durch unterschiedliche Affinitäten zu bestimmten historischen Ereignissen und ihrer Interpretation aus. Jede größere Parlamentsdebatte belegt dies aufs neue. Es gehört zu den demokratischen Prinzipien unserer Gesellschaft, daß sie auch ihre politische Biographie zur Disposition stellt - und nicht etwa nur die Vernünftigkeit aktueller politischer Entscheidungen.
Jede historische Darstellung - und keineswegs nur solche von neo-marxistischen Autoren - enthält zwar wenigstens Elemente eines solchen "Geschichtsbildes", weil sonst ein kausal einleuchtender Sinn- und Vorstellungszusammenhang gar nicht zu formulieren wäre. Aber keine kann mehr per se im staatlich monopolisierten Schulunterricht ein Monopol beanspruchen. Lediglich Träger der außerschulischen Bildung, etwa die Gewerkschaften, sind zur Favorisierung eines bestimmten Geschichtsbildes autorisiert, weil sie kein bildungspolitisches Monopol haben und deshalb ihr partikulares Interesse auch ungeniert vertreten können.
Wenn es nun aber nicht mehr möglich ist, für die demokratische Staatsschule ein bestimmtes Geschichtsbild, also eine Art von autorisierter politischer Biographie unserer Demokratie, verbindlich zu machen, dann verschärft sich die alte didaktische Grundfrage, was man eigentlich aus welchem Grunde in den Schulen lehren solle. Gibt es dann überhaupt noch eine vernünftige Möglichkeit, diese Frage zu entscheiden?
Drei Ansatzpunkte
In der Tat ist diese Frage nicht mehr systematisch, also im Rahmen einer bestimmten, allgemein anerkannten Theorie entscheidbar, weil es eben für
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eine solche Theorie keine allgemein akzeptierten Prämissen mehr geben kann. Stoffkataloge und Unterrichtsinhalte können also nur noch pragmatisch vereinbart werden, wobei es immer mehrere, an sich vernünftige Lösungen gibt. So wäre es etwa denkbar, eine Kette von historischen "Schlüsselereignissen" für den Unterricht vorzusehen, die für die Biographie unserer politischen Verfassung eine besondere Bedeutung gehabt haben: die Französische Revolution, das Jahr 1848, die Reichsgründung, die Sozialistengesetze, der Erste Weltkrieg und so fort.
Eine weitere Möglichkeit läge in strukturgeschichtlichen Betrachtungsweisen: Was war zum Beispiel das strukturell Neue an der frühkapitalistischen Gesellschaft im Vergleich zu älteren gesellschaftlichen Formationen? Und wie hat sich diese kapitalistische Gesellschaft bis heute weiterentwickelt?
Ferner böte sich an, von aktuellen Konflikten aus zurückzufragen, also deren Genese zu rekonstruieren: Wie ist zum Beispiel die Polarisierung von Kapital und Arbeit entstanden? Wie hat sie sich modifiziert und welche historischen Zwischenlösungen hat es gegeben?
Das wären schon drei verschiedene Ausgangspunkte für den Geschichtsunterricht, die alle einen partiellen Sinn hätten, das heißt, bei denen sinnvolle historische Zusammenhänge gelernt werden können. Sie haben, zusammen mit weiteren, im bisher praktizierten Unterricht auch schon eine gewisse Rolle gespielt. Dabei hat sich gezeigt, daß jeder Ansatz Vor- und Nachteile hat, die die anderen teilweise wieder kompensieren können.
Man kann aus dieser Erfahrung die Schlußfolgerung ziehen, daß man einem vernünftigen Unterrichtsergebnis am nächsten kommt, wenn man möglichst mehrere solcher didaktisch-methodischen Ansätze anwendet. Wo man jedoch - wie in einigen der neuen Richtlinien - darüber hinaus versucht hat, für das Gemeinsame dieser Ansätze eine zusammenhängende didaktische Theorie, beziehungsweise einen theoretisch begründeten obersten Lernziel-Zusammenhang zu formulieren, da führte das entweder zu abstrakten Leerformeln oder doch wieder nur zu problematischen Geschichtsbildern.
Keine "demokratische Ideologie"
Der Abschied vom alten, konservativ-nationalen Geschichtsunterricht, so zeigt sich immer deutlicher, ist mehr als nur ein Abschied von einer alten politischen Ideologie, beziehungsweise von einer rückständigen wissenschaftlichen Position. Nicht zuletzt die Diskussionen um neue Richtlinien haben gezeigt, daß es nicht darum gehen kann, die alte Ideologie durch eine neue, fortschrittlich-demokratische zu ersetzen, wie manche Richtlinienmacher offenbar angenommen haben. Es gibt nämlich keine sogenannte "demokratische Ideologie", die sich nicht schon von ihrem Begriff her ständig zur Disposition stellen müßte. Zur Debatte stehen vielmehr durch die Krise des Geschichtsunterrichts auch alle didaktischen Konstruktionen, die darauf beruhen, daß die Lehrer den Schülern bestimmte historische Interpretationen beizubringen hätten. Wie immer man solche didaktischen Konzepte konstruieren mag: ihre Legitimation bleibt prinzipiell unentscheidbar. Nur solche didaktische Theorien für den Geschichtsunterricht - und übrigens auch für den politischen Unterricht - können in Zukunft noch Anerkennung finden, die diese Tatsache in sich aufgenommen haben. Aus dieser Sachlage ergeben sich zwei weitere wichtige Konsequenzen.
Studium - nicht mehr Belehrung
Erstens fällt das, was die nun nicht mehr autorisierbaren Geschichtsbilder früher vorgegeben hatten, nun als Suchleistung auf die Subjekte, also auf die Schüler, aber mittelbar auch auf die Lehrer zurück. Es kann nun nicht mehr darum gehen, daß die Schüler im Unterricht die vom Lehrer erzählte Geschichte einfach aufnehmen und reproduzieren. Sie müssen vielmehr angeleitet werden, durch die Konfrontation mit historischen Tatsachen und Deutungen selbständig Sinn und Zusammenhänge herauszuarbeiten, ihr Geschichtsbild also im Verlauf der Schulzeit selbst zu produzieren. Nicht das Endergebnis des Lernprozesses wäre also zu planen und zu programmieren, sondern die Modalitäten des Prozesses selbst. Oder anders ausgedrückt: Der künftige Geschichtsunterricht auch in der Schule kann nur als eine Art von Studium gedacht werden, nicht mehr als einseitige, vom Lehrer kommende Belehrung. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß wir alle eine durch unsere Lebenspraxis erworbene historische Vorstellung haben. Geschichtsunterricht hätte demnach die Aufgabe, diesen immer schon vorhandenen Vorstellungskomplex bewußt zu machen, ihn bearbeiten und erweitern zu lassen. Bearbeiten aber kann nur geschehen durch die Konfrontation des vor-
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liegenden Bewußtseins mit davon abweichenden Tatsachen und Deutungen.
Geschichtsunterricht als wissenschaftlicher Unterricht
Damit aber kommen wir zu einer weiteren Schlußfolgerung, die die Rolle der Geschichtswissenschaft betrifft.
Zwar ist es richtig, daß die Geschichtswissenschaft auch in Zukunft für den Geschichtsunterricht nur eine Mittelfunktion, eine instrumentale Funktion haben kann. Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist die Vermehrung und Verbesserung der objektiv möglichen Erkenntnisse über historische Zusammenhänge. Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist es, solche Erkenntnisse soweit wie möglich in die Praxis des gesellschaftlichen Lebens zu übersetzen - mit dem Ziel, die Differenz zwischen dem objektiv möglichen historischen Bewußtsein einerseits und dem tatsächlichen Bewußtsein der Bürger andererseits so gering wie möglich zu halten.
Wenn es aber um "richtiges" Bewußtsein geht, beziehungsweise um die Berichtigung des vorhandenen Bewußtseins, dann müssen auch die Wissenschaften selbst eine neue inhaltliche Rolle dabei spielen, dann ist Geschichtsunterricht im Prinzip ein - wenn auch elementarisierter - wissenschaftlicher Unterricht. Das würde heißen, daß wenigstens im Prinzip auch schon im Schulunterricht die Methoden vorgestellt werden müssen, auf denen historische Erkenntnisse beruhen und durch die sie zugleich relativiert werden. Und es würde weiter heißen, daß der Unterricht, soweit dies nach der Verständnisfähigkeit der Schüler irgendwie zu vertreten ist, zu den Originalen hinführen soll, vor allem zu den Quellen.
Wird das akzeptiert, dann setzen die didaktischen und methodischen Schwierigkeiten allerdings erst richtig ein. Für die Oberstufe des Gymnasiums mag die Forderung nach einem wissenschaftlichen historischen Unterricht realistisch erscheinen. Aber wie steht es mit jüngeren Jahrgängen, etwa mit der Oberstufe der Volksschule? Kann man nach allen Erfahrungen hier die nötigen intellektuellen Fähigkeiten und auch das nötige Interesse erwarten?
Solche Fragen sind ohne entsprechende Versuche und Untersuchungen kaum hinreichend zu beantworten. Sicher ist jedoch, daß die intellektuellen Fähigkeiten bei entsprechender Motivierung sehr viel höher sind, als der herkömmliche erzählende und dabei immer auch idyllisch-moralisierende Geschichtsunterricht sie herausgefordert hat. Entscheidend wird sein, in welcher Weise und in welchem Maße man die bisherigen Lebenserfahrungen der Schüler mit ins Spiel bringen kann und will.
Die Trennung zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht - wie wir sie in der Theorie Erich Wenigers gefunden haben - hat mit zur Folge gehabt, daß sich die Historiker wenig um den Schulunterricht gekümmert haben. Meist haben sie sich erst dann engagiert, wenn das Schulfach gefährdet war und sie gleichsam in ihrer Berufsehre getroffen waren. In der Lücke zwischen Wissenschaft und Schulpraxis siedelte sich ein Vermittler an, die Didaktik. Die Didaktiker setzten nach eigenen Maßstäben fest, was von den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien in den Schulen gelernt werden sollte und was nicht. Sie funktionierten so diese Erkenntnisse und Theorien für sogenannte "pädagogische Zwecke" um, die aber notwendigerweise immer auch politisch-ideologische Zwecke sind. Nicht nur für den Geschichtsunterricht ist es jedoch an der Zeit, aus der Not didaktischer Konstruktionen, die für alle organisierten Lernprozesse unentbehrlich sind, keine Tugend werden zu lassen, die sich anmaßend zwischen die Schüler und die wissenschaftlichen Originale schiebt. Voraussetzung dafür ist, daß sich die Wissenschaftler mehr als bisher für den Schulunterricht verantwortlich fühlen, also etwa ihre Texte nicht nur für kundige Kollegen oder für den Bestsellermarkt, sondern auch für Schüler schreiben.
Reduktion auf den unmittelbaren praktischen Nutzen?
Unsere Argumentation beruhte bisher auf dem politisch-aufklärerischen Aspekt der neuzeitlichen Geschichte. Darin kommt das politisch-historische Interesse an zunehmender Emanzipation zum Ausdruck. Aber die Geschichte des Mittelalters oder der Antike wäre von daher als Schulstoff kaum zu begründen. Gegen diese Reduktion des Geschichtsunterrichts auf den unmittelbaren Nutzen für praktisches politisches Handeln, wie es auch in den neuen Richtlinien zum Ausdruck kommt, sind erhebliche Einwände geltend gemacht worden - besonders leidenschaftlich von Golo Mann auf dem letzten Deutschen Historiker-Tag:
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"Als Historiker weigere ich mich, ausschließlich der Emanzipation zu dienen, in diesem Sinne praxisbezogen zu sein, in diesem Sinn den Schlüssel zum wissenschaftlichen Verstehen aller Vergangenheit zu suchen ... Geschichtswissenschaft und so auch der Geschichtsunterricht bedürfen ... nicht des Nachweises einer speziellen Nützlichkeit, so wenig die Kunst oder die Literatur seiner bedarf. Das große und gefährliche Abenteuer des Menschen kennenzulernen, wenn nicht ganz, so doch in einzelnen zeitlichen und örtlichen Umgrenzungen; von der Fülle menschlicher Möglichkeiten und Verwirklichungen einen anschaulichen Begriff zu erarbeiten ... ; die Entwicklung und Bedingtheiten von Institutionen zu verfolgen; die Vermittlungen, Überraschungen und Zwänge zu erfassen, die zu einem von niemandem gewünschten Resultat führen; wenigstens eines der großen Dramen der Geschichte gründlich zu studieren ... - der Sinn solcher Studien, solchen Unterrichts liegt nicht in irgendwelchen mühselig gesuchten praktischen Nutzen, sondern in sich selber, in seinem eigenen Schwergewicht" (6).
Nun würde sicher auch Golo Mann nicht leugnen, daß auch dies eine praktische Auffassung vom Nutzen geschichtlicher Kenntnisse und Vorstellungen ist; denn sie signalisiert Muster für eine Kommunikationsgemeinschaft, die früher mit einem großen Teil des sogenannten Bildungsbürgertums identisch war und heute auf einen kleinen Kreis von Gelehrten zusammengeschrumpft ist. Die von Golo Mann kritisierten Richtlinien vertreten nur eine andere praktisch-kommunikative Konzeption, worin ein revidierter Geschichtsunterricht seinen Platz haben soll. Trotzdem sollte sorgfältig geprüft werden, ob der Begriff des praktischen Nutzens nicht tatsächlich weiter gefaßt werden müßte. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß der Schulunterricht im Fach Geschichte notwendig begrenzt sein wird und man deshalb so oder so Schwerpunkte wird setzen müssen. Aber gibt es denn wirklich nur "Praxis" in einem unmittelbar politischen oder beruflichen Sinne und nicht auch im Sinne der kulturellen Teilnahme?
Was heißt "Praxis"?
Die nicht unmittelbar zur politischen Praxis gehörende historische Tradition begegnet uns ja auf die mannigfaltigste Weise: Der Tourismus zum Beispiel schafft Begegnungen mit den Zeugnissen verschiedener Kulturen und gesellschaftlicher Formationen und mit Lebensauffassungen, die sich von den unseren unterscheiden. Das Fernsehen berichtet über Minderheiten, die früheren und uns auf Anhieb völlig unverständlichen Kulturen angehören. Und selbst das Verständnis für die Gastarbeiter in unserem Lande wäre größer, wenn wir wenigstens eine Ahnung von deren spezifischen gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen hätten. Wäre es etwa nicht "praktisch", wenn wir lernen würden, uns zu all dem verständnisvoller und kenntnisreicher zu verhalten?
Ist es nicht überhaupt ein Widerspruch, daß wir einerseits in einer Gesellschaft mit zunehmender Freizeit leben, die uns immer mehr von der Beschäftigung mit dem bloß Notwendigen zu befreien vermag, daß wir andererseits aber gerade jetzt unseren Schulunterricht auf eben dieses Notwendige zu beschränken trachten? Bei genauerem Hinsehen scheint das Problem also nicht darin zu liegen, daß die einen den Geschichtsunterricht praktisch relevant machen wollen und die anderen nicht, sondern daß der Begriff der Praxis hier unterschiedlich weit gefaßt wird, oder daß die einen alle menschliche Praxis unter die im engeren Sinne politische subsumieren und die anderen - wie Golo Mann - den Sinn eines solchen Verfahrens mit guten Gründen bestreiten.
Wird das akzeptiert, dann wären die didaktischen Überlegungen über Sinn und Methoden des historischen Schulunterrichts weiter zu differenzieren, dann gäbe es neben dem politischen Zugang zu dieser Frage, den wir vorhin etwas ausführlicher skizziert haben, noch andere, die von der kulturellen Teilhabe der Menschen ausgehen und unter jenen nicht subsumiert werden dürfen. Gemeinsam wäre beiden Zugängen nur die Forderung nach wissenschaftlichem Schulunterricht, also nach Authentizität und Begegnung mit den Originalen, sowie nach der Schulung des historischen Denkens.
Dazu brauchen wir eine Art von "open-end-Didaktik", die zum Begriff des Bearbeitens und Studierens notwendig dazugehört und die eben nicht das Ergebnis eines jeden Lernschritts vorwegprogrammiert, sondern die Ergebnisse offenläßt, ohne sie willkürlich werden zu lassen. Möglicherweise könnte der Geschichtsunterricht so zu einem Schulfach werden, das die inzwischen nahezu lückenlose bürgerlich-kapitalistische Systemimmanenz des Denkens und Fühlens ein wenig relativieren kann und - unter Verzicht auf jenen vorlaut-denkfaulen Antikapitalismus, wie er jüngst in Mode war - wenigstens eine Ahnung davon zu erwecken vermag, daß die bürgerlich-
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kapitalistische Gesellschaft entgegen ihrer eigenen Ideologie nicht das Ende der menschlichen Geschichte ist.
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Anmerkungen:
(1) Siehe dazu den Diskussionsbeitrag von Joachim Ritter in: Werner Conze: Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht. Köln/Opladen 1957, vor allem S 36/37.
(2) Schon bevor linke Kritik an der sogenannten "bürgerlichen Geschichtswissenschaft" in den letzten Jahren in Mode kam hat der Historiker Waldemar Besson im Jahre 1963 die konservative Ideologie der deutschen Geschichtswissenschaft beim Namen genannt und zu erklären versucht. Siehe: Zur gegenwärtigen Krise der deutschen Geschichtswissenschaft. In: Gesellschaft-Staat-Erziehung, Heft 3/1963, S 162.
(3) Siehe: Erich Weniger: Neue Wege im Geschichtsunterricht. 3. Auflage, Frankfurt am Main 1965.
(4) Vgl. Hans Süssmuth (Hrsg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft? Zwei Bände, Stuttgart 1972; Hans Joachim Rohlfes: Umrisse einer Didaktik der Geschichte. Göttingen 1971.
(5) Ludwig von Friedeburg/Peter Hübner: Das Geschichtsbild der Jugend: Göttingen 1971; Reinhard Kühnl (Hrsg.): Geschichte und Ideologie. Reinbek 1973.
(6) Golo Mann: Ohne Geschichte leben? In: Die Zeit, Nr. 41/1972 (13. Oktober 1972).
99. Sozialwissenschaft für die Schule (1975)
Anmerkungen zu einem neuen Curriculum-Konzept(In: Neue Sammlung H. 5/1975, S. 499-501)
Den Versuchen, allgemein überzeugende Curricula zu entwickeln, scheint der politische Unterricht von allen Fächern den zähesten Widerstand entgegenzusetzen. Alle bisher bekanntgewordenen Konzepte blieben an entscheidenden Punkten unbefriedigend. Nicht zuletzt die öffentliche Diskussion der hessischen und der nordrhein-westfälischen Richtlinien hat das deutlich gezeigt. Hatten die hessischen Richtlinien versucht, inhaltlich-stoffliche Komplexe ("Lernfelder") zum Teil detailliert auszuarbeiten und mit Lernzielsequenzen zu verbinden, so dominieren in den nordrhein-westfälischen Richtlinien die aus allgemeinen Qualifikationen abgeleiteten Lernziele, während die Bestimmung der stofflichen Inhalte daran gemessen sekundär erscheint. In beiden Konzepten bleibt u.a. die Rolle der zugehörigen Bezugswissenschaften weitgehend ungeklärt. Die wissenschaftliche Argumentations-Energie wurde in erster Linie in die Legitimationsproblematik und in die Begründung des Verfahrens zur Gewinnung von Lernzielen investiert, weniger in die inhaltliche Strukturierung der Stoffe. Außerdem enthalten sie keine ausformulierte Unterrichtstheorie, also Aussagen darüber, wie der Unterricht selbst verfahren sollte und könnte; sie sind überwiegend an den Endprodukten der Lernprozesse (Qualifikationen; Verhaltensweisen; Einstellungen) interessiert, weniger an den Interaktionsprozessen, die dahin führen können.
Einen neuen Weg beschreitet das nun vorgelegte Konzept von E. Calliess u.a.', das durchaus ebenfalls als Grundlage eines Richtlinienentwurfes dienen könnte, wenn es dafür eine politische Chance bekäme. Es unterscheidet sich vor allem in 2 Punkten von den angesprochenen neuen Richtlinien und weitgehend auch von den bisherigen didaktischen Konzepten:
1. Es geht in diesem Konzept um Sozialwissenschaft für die Schule, um deren "Rekonstruktion in didaktischer Absicht". "Soweit Curricula Erkenntnisse über die Welt vermitteln, müssen sie in einer von wissenschaft-
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lichen Denkformen immer stärker bestimmten Gesellschaft selbst Teile des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses sein. Sie repräsentieren Welterkenntnis immer mehr als wissenschaftliche Erkenntnis und müssen sich daher gegenüber den Standards der Wissenschaft bewähren" (S. 33).
2. Die wichtigste Qualifikation, die erworben werden soll, ist sozialwissenschaftliches Denken, bzw. "soziologische Phantasie", und sind nicht vorprogrammierte Erkenntnisse und Verhaltensweisen.
Die Verfasser gehen nicht dem Gemeinplatz auf den Leim, daß die Einzelwissenschaften von sich aus nicht hinreichend in der Lage seien, die Gegenstände des Unterrichts zu bestimmen - ein Argument, mit dem immer wieder wissenschaftliche Ansprüche aus der Schule verwiesen werden. Diese These sei richtig, treffe aber den Kern des Problems nicht. Es geht, so die Verfasser, nicht einfach darum, die Fachwissenschaften zu "befragen", welche Inhalte sie selbst für wichtig für die Schule halten, sondern um eine eigentümliche theoretische Anstrengung, die "Struktur" der Sozialwissenschaften für den Zweck des schulischen Lernens und Lehrens neu zu formulieren. Mit anderen Worten: "Wissenschaft" ist für die Autoren nicht einfach das, was sich im ausgegliederten Wissenschaftsbetrieb niederschlägt (z. B. in Gestalt von Dissertationen und sonstiger wissenschaftlicher Literatur), sondern auch das, was daraus "für" bestimmte Bedürfnisse (z.B. von Heranwachsenden) wieder formuliert wird. Auch die "Rekonstruktion der Sozialwissenschaft in didaktischer Absicht" bleibt für die Autoren also "Sozialwissenschaft" und ist nicht etwa nur eine "Befragung" der Disziplinen "unter pädagogischem Aspekt" oder ein autonomes erziehungswissenschaftliches Vorgehen. Soweit ich sehe, ist damit zum ersten Male bei uns eine sozialwissenschaftliche Fachdidaktik formuliert worden.
Das umfangreiche Buch dient nun im wesentlichen der Explikation dieses Konzeptes, und es ist hier nur möglich, einige Grundgedanken zu referieren, wobei gleich betont werden muß, daß dabei die ungemein differenzierte und abwägende Argumentation der Verfasser grob reduziert zu werden droht.
Die erste wichtige Entscheidung betrifft die Frage, welche der sozialwissenschaftlichen Disziplinen am besten geeignet sei, die Sozialwissenschaften in der Schule zu "repräsentieren"; es ist die Soziologie mit wichtigen Elementen der Sozialpsychologie, nicht die Psychologie, die politische Ökonomie oder die politische Wissenschaft, obwohl wichtige Elemente dieser Disziplinen mit übernommen werden. Es ist abzusehen, daß sich gegen diese Option der Widerstand der so "benachteiligten" Disziplinen melden wird. Aber unter der Voraussetzung, daß im wesentlichen nur eine Disziplin die anderen in der Schule repräsentieren kann, ist die Entscheidung für die Soziologie schon deshalb einleuchtend, weil sie das größte Spektrum an "lebensrelevanten" Aspekten aufweist.
Was an der Soziologie soll nun in den Schulen gelehrt werden? Als Kriterien für die Entscheidung werden folgende Gesichtspunkte eingeführt:
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1. Die "Relevanz innerhalb der wissenschaftlichen Disziplin". "Hier wird die Frage gestellt, ob es sich nach dem derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion
- um einen zentralen Bereich, der sich aus der Thematik der Soziologie mit guten Gründen ausgrenzen läßt,
- um einen wichtigen Begriff bzw. ein zentrales, analytisch explikatives Konstrukt oder
- um eine wichtige Untersuchungsmethode der Soziologie handelt" (S. 166).
2. Die Relevanz für gegenwärtige und künftige Lebens- und Verwendungssituationen;
3. Die Motivation der Schüler;
4. Unterrichtliche Realisierungschancen (Vorerfahrungen der Schüler; Materiallage; Lehrervoraussetzungen).
Dem ersten Kriterium, also der wissenschaftlichen Relevanz, kommt dabei eine eindeutige Priorität zu: "Ein geringes Gewicht in diesem Kriterium kann durch hohe Gewichte in den übrigen Kriterien nicht ausgeglichen werden" (S. 179).
Unter diesen Kriterien erscheinen schließlich folgende "Bereiche" der Soziologie für den Unterricht besonders geeignet: Politik; Industrie; Gemeinde; Familie; Bildungswesen; Gruppe; Medizin; Recht und Kriminalität. Die Analyse und Begründung dieser Bereiche macht mehr als die Hälfte des ganzen Buches aus.
Lerntheoretisch gesehen stützt sich das Konzept vor allem auf die curricularen Vorarbeiten von Hilda Taba sowie auf die Theorien Piagets und Bruners, wonach zwischen der Erkenntnishaltung des Wissenschaftlers und der des Kindes nur graduelle, keine prinzipiellen Unterschiede bestehen. Demnach können also auch Kinder und Jugendliche grundsätzlich sozialwissenschaftliche Begriffe, Theorien und Methoden verstehen, wenn sie sich möglichst so verhalten können wie ein Sozialwissenschaftler auch, also möglichst wenig auf faktische Ergebnisse als vielmehr auf Fragen; Hypothesen, Zusammenhänge und Methoden, also auf selbständiges Denken hin orientiert werden (z. B. durch "forschendes Lernen").
Eine für den Unterricht unmittelbar brauchbare Curriculumkonstruktion enthält das Buch nicht, es entwickelt nur allgemeine theoretische Rahmenbedingungen dafür. Die Verfasser verweisen als "Ersatz" für diesen Mangel auf das von ihnen gleichzeitig herausgegebene und bearbeitete "Lehrerhandbuch" von Hilda Taba. So reiht sich also zunächst einmal diese Curriculumarbeit ein in die Reihe derjenigen, die mit einem bewundernswerten theoretischen Aufwand Grundlagenprobleme bearbeiten, ohne damit auch
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schon die Ebene des Unterrichts zu erreichen. Schon damit dies nicht zum Anlaß oder Vorwand wird, das vorliegende Konzept in der Curriculumdiskussion zu ignorieren, seien zum Abschluß einige Hinweise und Vorschläge erlaubt.
1. Es scheint mir wichtig, nun einzelne "Bereiche" der Soziologie einmal für Schüler auszuformulieren. Wenn nämlich die Hypothese stimmt, daß auch Schüler Sozialwissenschaft "verstehen" können, dann muß man sie auch für Schüler "schreiben" können. Dies erscheint mir sogar wichtiger als curriculare Entwürfe, die ja letztlich der "Darstellungsform" von Wissenschaft nur ausweichen, was etwa auch die Beispiele im Taba-Band zeigen, die weit hinter dem theoretisch geforderten Rahmen zurückbleiben. Wenn man mit dem Gedanken einer "Sozialwissenschaft für die Schule" ernst macht, dann gehört dazu auch die Konsequenz, sie für die genannten Adressaten neu zu schreiben, also für diese zu "rekonstruieren"; denn soziologische Kenntnisse, Methoden, Bereiche, Konstrukte usw. gibt es auch im Wissenschaftsbetrieb nicht "also solche", sondern nur in Form von gedanklich geordneten und durchstrukturierten Texten. Und wissenschaftliche Kritik ist immer die Kritik an und mit solchen Texten. Es käme also darauf an, einen neuen Typ des "sozialwissenschaftlichen Schulbuchs" zu kreieren, das den Maßstäben wissenschaftlicher Literatur prinzipiell auch unterliegt. Damit steht und fällt nach meinem Eindruck das ganze Konzept - wie überhaupt ein durchgehender Mangel aller bisherigen Curriculum-Konstruktionen ist, daß sie keine ihren eigenen Ansprüchen genügenden neuen Texte für Schüler produzierten, sondern nur gedankliche Zusammenhänge zu additiven Lernzielen verstümmelten. Im Unterschied dazu enthält gerade dieses sozialwissenschaftliche Konzept die Chance, seine Realisierbarkeit durch die Herstellung entsprechender Texte zu beweisen.
2. Gegen diese Forderung scheint auf den ersten Blick das Prinzip des "selbständigen Denkens" zu sprechen, das ja durch derlei Vorgaben eingeschränkt und behindert werden könnte. So wichtig es aber ist, das selbständige Denken der Schüler dermaßen in den Vordergrund zu stellen, so ist doch die Frage wichtig, an welchen Gegenständen und Vorgaben es sich entzünden soll. Vermieden werden muß die bei Taba unverkennbare Gefahr, selbständiges Denken in den Gittern der "pädagogischen Provinz" der Schule gefangen zu halten. (Das geschieht etwa, wenn die Schüler überlegen sollen, was passieren würde, wenn die Wüste bewässert werden könnte; solange man das nicht machen kann oder will, führt die Frage ebensowenig zu "alternativem Denken" wie etwa jene, was sein würde, wenn die Menschen friedlich und ohne Aggressionen wären). Selbständiges Denken muß da eingesetzt werden, wo es sich von der Sache her auch lohnt, und z. B. nicht schon da, wo der Lehrer bloß nicht sagen will, was er weiß (oder wissen müßte). Nicht nur die Zeit, sondern auch die Ökonomie der geistigen Arbeit
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verbietet es, den genetischen Ansatz soweit zu treiben, daß die Kinder ihre soziale Welt und deren wissenschaftliche Erklärung gleichsam vom Nullpunkt an selbst rekonstruieren sollen. Selbständiges Denken vollzieht sich auch bei "gebildeten" Erwachsenen nicht unentwegt, nicht in allen Punkten und Fragen, sondern in Auseinandersetzung mit Vorgaben, z.B. mit journalistischen Texten oder mit wissenschaftlicher Literatur. Insofern wäre der gedanklich geordnete Schülertext von großer Bedeutung, weil sich "kritisches" Denken an ihm erst wirklich realitätsbezogen entfalten könnte. Gerade der politische Unterricht muß klarmachen, daß sich selbständiges und kritisches Denken nicht in einem gesellschaftlich exterritorialen Labor, sondern nur in den realen gesellschaftlichen Beziehungen entwickeln kann.
3. Das ist aber kein Argument gegen die Hauptthese der Verfasser, daß es bei einer sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik um eine "Rekonstruktion der Sozialwissenschaften in didaktischer Absicht" gehen müsse. Die Frage ist nur, was das für die Schule heißen könnte. Die Verfasser optieren für eine Art von "exemplarischer Reduktion" der Soziologie hinsichtlich ihrer grundlegenden Konstrukte, Bereiche, Methoden usw., wie es für ein wissenschaftsdidaktisches Vorgehen etwa im Rahmen der Lehrerbildung zweifellos nützlich wäre. Im Hinblick auf die Schule jedoch verlangt dieses Konzept ein relativ hohes Abstraktionsvermögen; es verlangt nämlich eine Denkweise, die sich von der im Alltag üblichen und damit auch von jener Denkweise erheblich unterscheidet, in der die eigenen Erfahrungen formulierbar wären, die ja von den Schülern in ihre Lernprozesse eingebracht werden sollen. Auch der seriöse, sozialwissenschaftlich gebildete Journalist denkt und argumentiert nicht in dieser von den Verfassern vorgeschlagenen Struktur, er benutzt sie vielmehr für die Aufklärung aktueller politischer Probleme von allgemeinem Interesse. Die Akzente sind dabei anders gesetzt: Die "Struktur der Wissenschaften" ist nicht selbst das, was gelehrt und gelernt werden soll, sondern Mittel zum Zweck für die Aufklärung eines nicht wissenschaftlich, sondern "praktisch" strukturierten Lebens- und Handlungszusammenhangs mit einer ihm eigentümlichen "praktischen" Denkstruktur, die nach meinem Eindruck außer in höheren Formen des Studiums kaum verändert werden, sondern nur durch wissenschaftliche Kategorien "verbessert", "differenziert", "präzisiert" usw. werden kann. Das hier vorgelegte Konzept aber läuft darauf hinaus, diese Denkweise nicht zu verbessern, sondern zu ersetzen. Leider wissen wir noch viel zu wenig darüber, wie die politisch-praktische Denkstruktur beschaffen ist, die durch die Sozialisation erworben wird. Selbst für berufspraktisch orientierte Studiengänge wie in der Lehrerbildung halte ich es jedoch für wichtig, daß der komplexe praktische Lebens- und Handlungszusammenhang das "eigentliche Thema" des Studiums ist und daß die wissenschaftlichen Forschungen, Theorien usw. zu dessen Aufklärung verwendet werden (was natürlich einschließt, daß solche Theorien usw. auch in ihrem eigenen
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Argumentationszusammenhang verstanden werden). Die Frage ist also, ob und in welchem Maße dieses sozialwissenschaftliche Konzept eingebaut werden muß in einen Unterrichtszusammenhang, dessen Kern politisch-praktische Probleme sind.
In der Terminologie der Verfasser gesprochen, geht es bei diesem Problem um das Kriterium der "Lebensrelevanz". Sicher ist ein soziologischer Bereich wie die "lndustrie" von unmittelbarer Lebensrelevanz. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß und in welcher Form dies deshalb auch schon für bestimmte betriebssoziologische Theorien und Modelle gilt. Auch für dieses Problem gilt, daß es sich erst dann präziser diskutieren läßt, wenn die Texte für die Schüler vorliegen.
4. Unklar geblieben ist mir, wie in diesem Konzept "Struktur-" und "Prozeß-Curriculum" miteinander vermittelt werden sollen. Der Hinweis auf Tabas Handbuch führt hier nicht weiter, weil Taba die Inhalte ja fast gleichgültig sind - was die Verfasser zu Recht monieren. Was die Autoren "Struktur" der Soziologie nennen, muß offenbar vom Lehrer gelehrt werden, darauf können die Schüler von sich aus weder auf genetische noch auf sonst eine Weise durch selbständiges Denken kommen - so wenig wie Studenten von sich aus auf die Marxsche Ökonomie oder die Freudsche Neurosenlehre kämen. Bei allen didaktischen Konzepten, denen wie diesem inhaltliche Strukturen nicht gleichgültig sind, kann ich mir Unterrichtsprozesse im Prinzip nur so vorstellen, daß zwischen den wissenschaftlich objektivierten Aussagen einerseits - also den "Vorgaben" - und der bisherigen subjektiven Lebenserfahrung andererseits ein Spannungszustand, oft vielleicht sogar ein Widerspruch hergestellt wird, der überhaupt erst Denk- und Arbeitsprozesse der verschiedensten Art in Gang zu setzen vermag. Das kann jedoch nur dann glaubwürdig funktionieren, wenn die wissenschaftliche Deutung gegenüber der bisherigen Erfahrung (und dem jeweiligen Erkenntnisinteresse) nicht von vornherein Recht hat. Das muß schon deshalb nicht so sein, weil alle wissenschaftlichen Aussagen, Theorien usw. auch "intern" immer wieder dem Zweifel unterliegen und weil andererseits bestimmte wissenschaftliche Deutungen für die Lösung eines Problems als nicht relevant erscheinen können, oder weil sie schließlich durch Interessen und Vorurteile usw. einfach abgewehrt werden. In diesem Sinne erscheint es mir wichtig, zur Inszenierung von Unterricht derartige Spannungsfelder herzustellen, und das führt erneut zur Notwendigkeit des schon mehrfach erwähnten "Schülertextes".
Trotz der bei einer Kollektivarbeit wohl unvermeidlichen Wiederholungen ist der Text mit großer Sorgfalt bearbeitet und durchweg auch lesbar formuliert worden. Unabhängig von der curricularen Intention eignet er sich ganz nebenbei auch vorzüglich dazu, in Grundprobleme der Sozialwissenschaften einzuführen. Man wünscht sich, daß die Verfasser weiterarbeiten und nun geeignete Texte und Materialien für den Unterricht produzieren.
URL des Dokuments: : www.hermann-giesecke.de/werke12.htm
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