Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 2: 1962-1963

© Hermann Giesecke

Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register


Zu dieser Edition
Dieser 2. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus den Jahren 1962 bis 1963. In dieser Zeit (1960 bis 1963) war ich in der Jugendbildungsstätte Jugendhof Steinkimmen bei Bremen tätig. Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag 2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit. Aufgenommen wurden nur bereits gedruckte Texte.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.

Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags. Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.Die Beiträge werden von "1" an fortlaufend numeriert.

Inhalt von Band 2

16. Tondokumente zur Zeitgeschichte (1962)

17. Zur Geschichte des jüdischen Schicksals (1962)

18. Die politische Bildung und die Mauer (1962)

18a.   Über: Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung (1962)  

19. Zur Bildung und Ausbildung der Jugendgruppenleiter (1963)

20. Die Misere der geplanten Jugendlichkeit (1963)

21. Kurt Schumacher (1963)

22. Ist die Geschichte des Dritten Reiches noch ein politisches  Thema für die Jugendbildung? (1963)

23. Worauf antworten die jungen Arbeiter? (1963)

24. Otto Monsheimer - Wolfgang Hilligen (1963)

25. Landjugend und Bildung (1963)

25a. Jugendhofarbeit heute (1963)
 
 

16. Tondokumente zur Zeitgeschichte (1962)

(In: Neue Politische Literatur, H. 3-4/1962, S. 245-254)
 

 Die Versuche, zeitgeschichtliche Fragen in der Form von Tondokumentationen zu behandeln, sind nach anfänglichem Zögern, das wohl vor allem kommerziell bedingt war, weiter fortgeschritten. Offenbar sind diese Schallplatten keineswegs zum Verlustgeschäft geworden Ihr Angebot traf in der Tat auf ein breites Bedürfnis, zu dem insbesondere auch die politische Bildungsarbeit zu rechnen ist, die um geeignete Unterrichtshilfen immer verlegen ist. Hinzu kam jene thematische Welle der "unbewältigten Vergangenheit", die offenbar gegenwärtig wieder abklingt, wobei noch nicht genau zu übersehen ist, auf welchen thematischen Schwerpunkt politische Bildung in Zukunft sich verlassen will. Da an dieser Stelle sowohl aus historischer wie pädagogischer Sicht zum Unternehmen der Tondokumentation ausführlich Stellung genommen wurde (1), können wir uns hier auf die Besprechung einiger Neuerscheinungen beschränken
Dabei sollten wir uns klarmachen, daß ja inzwischen die "unbewältigte Vergangenheit" zum Vorwand zu werden droht für alle diejenigen, die angesichts des Nationalsozialismus sich exkulpieren möchten. Der Nationalsozialismus wird nachgerade zum gemeinsamen Minimum, auf das sich heute auch die Gegner der demokratischen Gesellschaft einigen. Gewisse Formeln über die jüngste Vergangenheit

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drohen sich zu einem lückenlosen Band des heutigen ideologischen Selbstverständnisses zu verdichten. Im Reden von der "unbewältigten Vergangenheit" steht aber nicht der Nationalsozialismus als historische Erscheinung zur Debatte - er ist inzwischen durch die Geschichte gerichtet - , sondern das, was aus seiner Vernichtung sich in unsere Gegenwart herübergerettet hat: Unsere Einstellung zum Politischen, unser Denken über den Menschen und sein Dasein sowie vor allem die Bedingungen, die als fortbestehende jene Barbarei erst ermöglicht haben.
Die Versuche, die Offenheit der "unbewältigten Vergangenheit" zur ideologischen Geschlossenheit der "verarbeiteten Vergangenheit" mittels einprägsamer Formeln zu verfälschen, sind zwiespältig, mögen sie auch auf ein an sich legitimes Bedürfnis zielen. Die Gründe für den Aufstieg Hitlers sind ebensowenig auf ein paar Formeln zu bringen, die heute niemandem mehr wehtun, wie etwa der Widerstand gegen ihn eine von vornherein selbstverständliche Sache war. Gerade Tondokumentationen der vorliegenden Art stehen im Zwang der Beschränkungen des Umfangs in der Gefahr solcher Verkürzungen.

I.
Während die ersten Dokumentationen Gesamtüberblicke über die deutsche Geschichte in der Zeit von 1914 bis 1945 zu

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geben versuchten, widmen sich die Neuerscheinungen Einzelkomplexen aus diesem Zeitraum.
So sind zum Problem des Widerstandes gegen Hitler gleich zwei größere Publikationen erschienen, die, obwohl sie sich notgedrungen auf dasselbe, sehr beschränkte Tonmaterial stützen, doch ganz verschiedene Wege gegangen sind. Die Produktion des Christopherus-Verlages (2) hat die Form eines "Hörbildes". Sehr umfangreich angelegt (zwei 30-cm-Platten), gibt das Werk einen recht weiten Überblick über den deutschen Widerstand gegen Hitler, der im jeweiligen Zusammenhang mit der Politik des Nationalsozialismus gesehen wird. So kommt außerdem noch eine Darstellung der NS-Politik unter dem Gesichtspunkt des Widerstands dabei heraus. Trotz des Umfangs hat man sich auf "exemplarische" Formen des Widerstandes beschränkt. "Was fehlt soll nicht abgewertet - was dargestellt ist, soll exemplarisch betrachtet werden", so heißt es im Vorwort.
Um Langatmigkeit des Kommentars zu vermeiden, wurden zwei Sprecher eingesetzt. Leider wird das Hören dadurch etwas erschwert, daß man an manchen Stellen akustisch Kommentar und Zitat nicht deutlich unterscheiden kann; denn selbstverständlich reicht das überlieferte Tonmaterial des Widerstandes nicht aus für eine so umfangreich angelegte Dokumentation. Außer dem Prozeß des 20. Juli ist fast nichts an Originaldokumenten erhalten. So war man gezwungen, recht viel aus schriftlichen Quellen zu zitieren. Der Preis für den Umfang ist so eine gewisse Unbeweglichkeit und auch dokumentarische Überladung. Einen gewissen

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Ausgleich dafür bietet die Beilage, die den gesamten Text wiedergibt und das Hören erheblich erleichtert.
Angesichts des Anspruchs, einen zwar nicht vollständigen, aber immerhin exemplarischen Überblick über den Widerstand zu geben, werden natürlich Einzelheiten wichtig. Dabei ist diese Produktion nicht immer den Gefahren entgangen, die wir eben andeuteten. "Um die Mitte des Jahres 1932 zeigte sich .ganz klar, daß die Chance der parlamentarischen Demokratie verspielt war" heißt es im Kommentar. Ist das nicht zu sehr aus der entschuldigenden Sicht derer gesehen, die damals auch im bürgerlichen Lager entsprechend handelten? Ohne Frage ist dem kirchlichen Widerstand zu viel Raum gegönnt. Selbst wenn dessen Explizierung nur exemplarisch gemeint ist, wie das Vorwort andeutet, bleibt doch ein falscher Eindruck vom Gesamtzusammenhang, wenn z. B. der Widerstand der Arbeiterbewegung so gut wie nicht zum Ausdruck kommt. Bei einer Hörfolge dieses Umfangs muß die Wirkung bedacht werden, die von solchen Akzentsetzungen nahezu unmerklich ausgeht.
Überhaupt ist die Frage, ob nicht im Verhältnis zum Umfang die Beschreibung der nationalsozialistischen Politik hätte kürzer gefaßt werden können zu Gunsten einer etwas umfangreicheren Darstellung der einzelnen Ebenen und Motive des Widerstandes. Im Grunde ist vor allem vom Widerstand der Kirchen und Offiziere die Rede. "Exemplarisch" kann eine Darstellung aber nur heißen, wenn sie an einem Beispiel Zusammenhänge und Motivkomplexe durchdringt, die auch an anderen Beispielen hätten demonstriert werden können. Abgesehen davon widerspricht schon der Umfang dem Gedanken des "Exemplarischen", der viel zu sehr zu Wiederholungen an neuem Material führt. Vielleicht finden wir hier überhaupt einen Hinweis darauf, wie schwierig exemplarische Deutungsver-

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fahren in Sachen Zeitgeschichte und Politik sind. Trotz des Aufwandes an dokumentarischem Material verbleibt die Dokumentation im wesentlichen im Schwarz-Weiß von nationalsozialistischer Gewaltpolitik auf der einen und Widerstand dagegen auf der anderen Seite. Dabei hätte doch gerade am Beispiel der Kirchen die Problematik des Widerstandes, des Schwankens zwischen nicht immer unbegründeter Anpassung und Opposition deutlich gemacht werden können. Die Erklärungen in Bezug auf das Konkordat, das umstrittene Hirtenwort der Fuldaer Bischofskonferenz und die politischen Wirkungen, die von beiden Ereignissen ausgingen, sind nicht befriedigend und berücksichtigen auch nicht den Stand der jüngst erst wieder darüber aufgebrochenen Diskussion. Auf der anderen Seite heißt es im Zusammenhang mit dem Zitat eines pronazistischen Germanisten: "Gerade die Akademiker, die in erster Linie zur 'Unterscheidung der Geister' berufen gewesen wären, erwiesen sich mit wenigen Ausnahmen als besonders anfällig" (für den Nationalsozialismus. R.). Das sind dann ungerechte Akzentverteilungen, so richtig diese Bemerkung an sich schon ist.
Es handelt sich hierbei eigentlich nicht um Tendenzen, sondern, wie es uns scheint, um Konsequenzen des Versuchs, mit dem Mittel der Tondokumentation eine Art Geschichtsunterricht zu geben. Davon abgesehen aber wird diese Produktion schon wegen ihrer Vielfältigkeit im Dokumentarischen und der sauberen technischen Wiedergabe ihren festen Platz mindestens unter den Unterrichtsmitteln zur Zeitgeschichte einnehmen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Versuch, durch die Stimmen von Männern, die nach 1945 in politisch-gesellschaftlicher Verantwortung standen, die aktuelle Verpflichtung zu kennzeichnen, die das Werk selbst mit freilegen hilft.

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II.
Der Gefahr, wie eine Buchproduktion bewertet zu werden, entgeht die Athena-Produktion (3) dadurch, daß sie von vornherein einen anderen Anspruch stellt. Sie ist halb so lang, hat die wesentlichen Tondokumente über den Widerstand verarbeitet und begnügt sich damit, den Hintergrund des nazistischen Gewaltstaates durch geschickt ausgewählte und richtig eingesetzte Tonausschnitte ins Gedächtnis zu rufen, ohne ihn allzu ausführlich abzuhandeln. So konnte man auf schriftliche Zitate weitgehend, wenn auch nicht ganz, verzichten. Die technische Wiedergabe der Tondokumente ist im Durchschnitt etwas schlechter als auf der Christopherus-Platte.
Wie auch bei den vorherigen Produktionen der Athena nehmen die Tondokumente selbst den beherrschenden Raum ein, der Kommentar bettet sie nur ein. Konsequenterweise hat man sich weitgehend beschränkt auf das Material des 20. Juli, der auch thematisch eindeutig im Vordergrund steht. Der Verzicht auf eine umfassende Darstellung erwies sich als richtig. Die Atmosphäre, in der sich Widerstand vollziehen mußte, bleibt so gewahrt, und am Beispiel des 20. Juli werden verschiedene Aspekte durch geschickte Schnitte gezeigt, die als beispielhaft auch für andere Gruppen gelten können. Da die wesentlichen übrigen Widerstandsgruppen unter Andeutung der unterschiedlichen Motive und Bedingungen im Kommentar erwähnt werden, entsteht der Eindruck der einseitigen Auswahl kaum. Diese Dokumentation bleibt bewußt "unvollständig" in dem Sinne, daß sie nicht versucht, was mit einer Tondokumentation eben so schwer zu leisten ist: eine Geschichtsstunde zu geben. Sie begnügt sich damit, durch das vorhan-

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dene Material die Dimensionen aufzuzeigen, die im Problem des Widerstandes liegen. Die zusammenfassende Deutung überläßt sie letztlich dem Hörer. Sie schreibt nicht Geschichte, sondern führt Material vor. Dabei wird ein gut Teil des "Problems" Widerstand deutlich, wenngleich dieser Akzent angesichts der allgemeinen Konsumlage in Sachen Politik vielleicht noch hätte stärker sein können.

III.
Das Gegenüber des Widerstandes war der nationalsozialistische Staat, repräsentiert vor allem durch seine politische Polizei und die SS, deren Herr Heinrich Himmler war. Von ihm und seiner Tätigkeit ist in der folgenden Dokumentation die Rede (4). Ihr liegt im wesentlichen eine einzige längere Tonaufnahme zu Grunde, eine Rede, die Himmler am 3. August 1944 in Posen vor den Gauleitern gehalten hat. Sie blieb geheim. Deshalb war sie offenherzig genug, um aus ihr Ziele und Methoden des Nationalsozialismus eindeutig ablesen zu können. Bei dieser Platte geht es weniger um die Machtergreifung der politischen Polizei, obwohl auch davon selbstverständlich die Rede ist. Aber alles das weiß man heute.
Was diese Schallplatte so wichtig macht, ist die noch in der Stimme spürbare Mentalität dieses Mannes, der als typisch für einen ganz bestimmten Führertyp des Dritten Reiches gelten kann. Das Leitbild dafür gibt Robert Ley: "Weshalb liebt der deutsche Mensch Adolf Hitler so unsagbar? Weil er sich bei Adolf Hitler geborgen fühlt! Das ist es, das Gefühl des Geborgenseins! Das ist es. Geborgen. Der Führer nimmt seine Sorgen und trägt sie. Der Führer übernimmt seinen Schutz, beschützt ihn. Und der Führer gibt ihm

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Kraft." Hier dokumentiert sich die "autoritäre Persönlichkeit" in ihrer innersten Struktur. Himmler spricht kaum einen zusammenhängenden Satz. Der Haß verzerrt die Stimme, deren Tonfall das Vorbild Hitler zu imitieren sucht. Wir hören das ganze Sammelsurium romantischer Komplexe, vom Schützengraben-Mythos über eine infantile Treuevorstellung bis hin zum Verfolgungswahn gegenüber den Juden. Man spürt mit beklemmender Deutlichkeit, daß es sich hier um einen Mann handelt, für den der Ausdruck "Verbrecher" nicht vollständig ist. Hier ist eine Mentalität an die Macht gekommen, von der man sich fragen muß, ob sie wirklich mit dem Nationalsozialismus verschwunden ist oder ob sie als Produkt gesellschaftlicher und bewußtseinsmäßiger Antinomien noch unter uns weilt und ihrem Ehrgeiz lediglich weniger gefährliche Ziele gesteckt hat, - ein Eindruck übrigens, der ja auch vom Eichmann-Prozeß her haften geblieben ist.
Diese Dokumentation wirft unüberhörbar die Frage nach den Überbleibseln der Nazigedanken auf, gerade weil sie sie nicht ausdrücklich stellt. Diese Schallplatte, deren Atmosphäre von dieser schrecklichen Stimme beherrscht wird, läßt überdeutlich spüren, was der Nationalsozialismus wirklich gewesen ist. Wem Himmlers Wahnvorstellungen über die nach den Endsieg einzuschlagende Politik nicht die Augen öffnen, dem ist nicht zu helfen.
Der Kommentar begleitet die Aussagen mit Hinweisen auf die gleichzeitigen Kriegsereignisse und die Entwicklungen nach dem 20. Juli. Den Umfang des Widerstandes hat Himmler klar erkannt, die Chancen für den Sieg hingegen, - und beides gehört akkurat zu dieser Mentalität - , größenwahnsinnig überschätzt.

IV.
Ein Tondokument ganz anderer Art, aber nicht weniger eindringlich, ist ein Auszug

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aus dem Buch von C. J. Burckhardt, den der Autor selbst liest (5). B. ist als Kenner des Nationalsozialismus genügend ausgewiesen. Die Platte enthält die Begegnung mit Gestapochef Heydrich und den Besuch im Konzentrationslager Esterwegen. Des Verf. Begegnung mit dem schon fast zu Tode gequälten Carl v. Ossietzky gehört zu den erschütterndsten Dokumenten über die Barbarei des Dritten Reiches.
Vorweg könnte man meinen, daß eine solche Platte gegenüber den anderen, mit dokumentarischem Aufwand befrachteten weniger die Aufmerksamkeit auf sich lenken müßte. Das erklärte Gegenteil ist
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aber der Fall: Die disziplinierte, gemäßigte Stimme des Verf., die so souverän Einzelheiten wie Zusammenhänge ausbreitet, hinterläßt eine Wirkung, die der rationalen Verarbeitung sich weit öffnet. Vielleicht liegt das daran, daß selbst das Unterbewußtsein hier nicht den Verdacht ideologischer Manipulation aufkommen lassen kann. Das Leid wird zu nachdrücklich aus der Abstraktion in die individuelle Konkretheit zurückgeholt, und der sachliche, wenngleich entschiedene Ton des Berichtes braucht das Ethos nicht als Zusätzliches. Diese Platte ist in wahrem Sinne "exemplarisch".
Alle Dokumentationen, mit Ausnahme der Aufnahme von C. J. Burckhardt, sind mit Textbeilagen versehen, die auch sonst nützliche Hinweise enthalten.

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Anmerkungen:

(1) Vgl. NEUE POLITISCHE LITERATUR V/1960, Sp. 875 ff. und NEUE POLITISCHE LITERATUR VI/1961, Sp. 503 ff.
(2) Widerstand im Dritten Reich, zwei Christopherus-Schallplatten, zusammengestellt und kommentiert von Hans Ulrich Katzenmayer unter Mitwirkung von Rudolf Morsey und Bernhard Stasiewski, Christopherus-Verlag, Freiburg 1961.
(3) Aufstand des Gewissens. Eine Dokumentation über den deutschen Widerstand gegen Hitler. Von Heinrich Uhlig. Ariola, Gütersloh 1961.
(4) Macht ohne Moral. Eine Dokumentation über Heinrich Himmler und die SS. Von Friedrich Zipfel. Eine 30-cm-Schallplatte. Ariola, Gütersloh 1962.
(5) C. J. Burckhardt: Besuch im KZ. Aus: Ders.: Meine Danziger Mission. 25-cm-Schallplatte des Christopherus-Verlages, Freiburg, o. J. 

 

 17. Zur Geschichte des jüdischen Schicksals (1962)

Ein Literaturbericht

(In: Europäische Begegnung, H. 7/1962, S. 46-51)
 
 

Für einen selbstbewußten und aufrechten Juden, der auf seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft besteht, ohne deshalb die Bande zu verkennen, die ihn mit einer nationalen Gemeinschaft verknüpfen, ist zwischen einem Antisemiten und einem Demokraten kein so großer Unterschied. Dieser will ihn als Menschen vernichten, um nur den Juden, den Paria, den Unberührbaren bestehen zu lassen, jener will ihn als Juden vernichten, um ihn als Menschen zu erhalten, als allgemeines abstraktes Subjekt der Menschen- und Bürgerrechte... Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger ist der Jude übel daran.
J. P. Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage

Je mehr uns die Schrecknisse des vergangenen Antisemitismus dazu bewegen, unsere Ansichten über "die Judenfrage" zu überprüfen, um so mehr entdecken wir, daß durch eine lange Tradition von Mißverständnissen und Vorurteilen alle Epochen der jüdischen Geschichte verdunkelt sind. Religiöse Vorurteile, vermischt mit materiellen Interessen, haben jahrhundertelang selbst die Ursprünge der jüdischen Geschichte im Altertum mit einem bestimmten Etikett versehen, das durch Eichmann in seiner Verteidigung gelegentlich zur Sprache kam, wobei mit Recht die Journalisten jeweils korrigierten, weil diese Vorurteile so "selbstverständlich" schienen. Manche dieser Mißverständnisse wurden auch von den jüdischen Gemeinden aufrechterhalten, die damit in den Jahrhunderten der Verfolgung ihr Selbstverständnis zu festigen suchten. "Aufarbeitung der Geschichte" ist also eine Aufgabe, die Juden und Christen heute gemeinsam zu leisten haben, da es sich auch um ein und dieselbe Geschichte, eben die abendländische, handelt.
Aus dem Themenbereich der Geschichte des Judentums in der Alten Welt sind vor allem zwei neue Arbeiten zu nennen (1). Beide stehen unter verschiedenen Gesichtspunkten und ergänzen so mit einander. Schopen legt besonderen Wert auf die Zusammenhänge, die die jüdische Geschichte mit der babylonischen, ägyptischen, persischen und griechisch-römischen Kultur verbinden. Er sieht das Judentum nicht als isolierte Geschichte eines Volkes, sondern als Produkt der Auseinandersetzung mit jenen andersartigen Kulturen, und beschreibt, wie sich in dem Maße, wie die Eigenstaatlichkeit verlorengeht, das schon weit zerstreute jüdische Volk auf seine religiösen Gesetze konzentriert, die dann jahrhundertelang ihr wesentlicher Zusammenhalt sein sollten.
Vielleicht ist diese Studie zu sehr geistesgeschichtlich orientiert. Leider ist sie streckenweise schwer lesbar, da eine Fülle von Namen, deren Kenntnis vorausgesetzt wird, den Leser immer wieder verwirrt. Hinweise auf die benutzten Quellen fehlen ganz, und auch ein etwas umfangreicheres Vorwort zur Einführung in ein thematisch so schwieriges Werk, das ja immerhin als Taschenbuch erscheint, hätte man sich gewünscht.
In dieser Hinsicht ist die Schrift des holländischen Alttestamentlers Beek besser durchgearbeitet. Sie beginnt mit einer ausführlichen, auch für den Laien verständlichen Darstellung der Quellenlage. Solche methodischen Überlegungen, die die Schwierigkeit des Unterfangens darlegen, sind sicher gerade bei einem Gegenstand von besonderem Wert, der wie dieser mit soviel Vorurteilen belastet ist. "Wir rekonstruieren eine uns glaubwürdig erscheinende Geschichte Israels auf Grund der Texte des Alten Testamentes, das eigentlich keine Quellensammlung für eine nationale und religiöse Geschichte Israels, sondern eine Darstellung von Gottes rettenden und strafenden Handlungen an seinem auserwählten Volke sein wollte."
Beek setzt den Akzent stärker auf die nationale Geschichte Israels, die er mit dem mißlungenen Aufstand Bar Kochbas (135 n. Chr.) enden läßt, ohne die geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge ganz aus dem Blick zu verlieren. Vor allem auch ökonomische und sozialgeschichtliche Tatbestände werden, soweit in Quellen nachweisbar, berücksichtigt. Beek faßt den gegenwärtigen Forschungsstand zusammen und stellt ihn flüssig dar. So ist eine verläßliche, gut lesbare und sogar spannende Geschichte des alten Israel entstanden.

Die jüdische Emanzipation
Bis zum Beginn der nationalsozialistischen Verfolgung und ausgehend von der Zeit der Aufklärung um 1780 fuhrt uns ein Büchlein von H. G. Adler (2) in die Geschichte der jüdischen Minderheit ein. Der Verfasser, bekannt vor allem durch seine beiden Bücher über das KZ Theresienstadt, hat es nach einer eigenen Sendereihe im Westdeutschen Rundfunk geschrieben. In großen Zügen stellt Adler die Entwicklung von der Antike bis zum 18. Jahrhundert dar, um dann auf die vielfältigen Probleme der jüdischen Emanzipation einzugehen, die in Deutschland bis heute nicht völlig geglückt ist. Während bis zum ersten Kreuzzug ein "Judenproblem" nicht festzustellen ist, verschlechterte sich die Lage in dem Maße, wie die Einheit des Reiches unter einem mächtigen Kaiser sich auflöste. Die Emanzipation, die immer die Juden als  "lndividuen" meinte und nicht als "Nation", scheiterte nach Adlers Ansicht vor allem an der Ungeduld. "Der Hauptgrund für das unzureichende Gelingen und vorzeitige Scheitern der jüdischen Emanzipation in Deutschland war die Ungeduld. Es wurde von den Juden mehr als ihre Anpassung - es wurde ein Konformismus verlangt, der den Verzicht auf jede Eigenart, der Auslöschung bedeuten mußte." (S. 18.) Die einzelnen Stationen des Unglücksweges bis Hitler werden aus der Sicht der verschiedenen jüdischen Richtungen und der ihrer Gegner knapp und unter Verwendung ausgesuchter Dokumente dargestellt.
Eine gute Ergänzung der Arbeit bietet H. L. Goldschmidt (3). Sein zentraler Gesichtspunkt ist das "Vermächtnis", das heißt die Substanz der jüdischen Geschichte, die als solche meist unerkannt in die deutsche Geschichte eingeflossen ist. Er geht mit

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Recht davon aus, daß eine vollständige Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen heute noch nicht geschrieben werden könne und insofern auch wenig Sinn habe, als diese Beziehungen "nach vorne offen" seien.

Sachlich und methodisch verläßliche Zusammenfassung
Die Literatur über die Leidensgeschichte der jüdischen Menschen in Deutschland und Europa ist inzwischen schon unübersehbar geworden (4). In einer Neuerscheinung wird der geglückte Versuch unternommen, "aus dem vielen, allzu vielen eines zu machen, Dokumentation und Bericht zu verbinden" (5).
Auf diese Weise wird der gegenwärtige Forschungsstand in einem zumutbaren Umfang demjenigen Leser zur Kenntnis gebracht, der zu den vielen Monographien und Quellenpublikationen schon aus rein zeitlichen Gründen keinen Zugang finden kann, aber eine verläßliche zusammenfassende Darstellung wünscht. Der Titel verrät nicht nur Sinn für die Aktualität, er ist auch Programm. Wucher schreibt keine "Eichmann-Story" er beschreibt ein System, in dem Eichmann nur ein durch beliebig viele seinesgleichen auswechselbares Rädchen darstellte. Obwohl es sich hier um eine "populäre" Darstellung handelt, kennzeichnet der Verfasser seine Quellen sehr genau und unterscheidet sogar deren Wertigkeit (amtliche und nichtamtliche Dokumente sind satztechnisch voneinander unterschieden).
Jedem Kapitel ist gleichsam als "Motto" eine Aussage Himmlers oder Hitlers vorangestellt, aus der die Gesinnung deutlich wird, die zur "Endlösung" führte. In bewußter Beschränkung

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beginnt Wucher seine Darstellung mit der "Kristallnacht", läßt also die Vorgeschichte des Antisemitismus und der früheren judenfeindlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten aus, wodurch notwendig einige historische Zusammenhänge zu kurz kommen. Ein gewisser Ausgleich dafür ist in der ausführlichen "Zeittafel" zu sehen, die ebenso wie ein Personenregister den Anhang bildet. Wuchers Buch ist ein gutes Beispiel für eine sachlich verläßliche und methodisch saubere populäre Darstellung politisch-historischer Fragen und enthält das Material, das man wenigstens von der "Endlösung" wissen müßte.
Sie wird in einem anderen Band durch Fotografien und ausgewählte genau nachgewiesene Textdokumente dargestellt (6). Die Fotos stammen fast alle von den Mördern selbst. In sieben Abschnitten, die jeweils mit einem knappen Text eingeleitet sind, führt uns das Buch zu fast 200 Fotos. Anders, als in den dürren amtlichen Schriftdokumenten, in deren Sprachgebrauch ("Umsiedlung", "Endlösung", "Beschlagnahme" usw.) Vorstellungskraft und Gewissen längst getötet waren, machen sie deutlich, welche Wirklichkeit hier eigentlich zur Debatte steht. Ein mit Leidenschaft gestaltetes, dennoch in seinen Angaben richtiges und notwendiges Buch.

Eine Dokumentation des Grauens
Stammen in ihm nur die Fotos von den Mördern, so zeichnen diese bei einem anderen Bildband auch für den Text verantwortlich (7). Nach der Unterdrückung des Warschauer Aufstandes 1944 hat der Leiter der "Aktion", SS-Brigadeführer Stroop, einen Bericht zusammenstellen lassen, der - aufgemacht wie ein Familienalbum - einen einleitenden Gesamtbericht, die Tagesrapporte über den Verlauf der Kämpfe und 54 Fotos enthält. Er trägt die Überschrift: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!" Drei Exemplare wurden damals davon angefertigt, das Original für Himmler, das dieser Edition zugrunde liegt. Die besondere Bedeutung dieser Dokumentation besteht darin, daß sie - unkommentiert! - uns einen Blick in die Seele der nazistischen Handlanger tun läßt. Sie empfanden diese Maßnahmen nicht als eine bittere militärische Notwendigkeit, über deren Details man barmherziges Schweigen wahrt. Vielmehr nahmen sie sie zum Anlaß, sich durch eine sadistische Identifikation mit dem Grauen als die Herren der Welt zu fühlen. Der einleitende Gesamtbericht von Stroop erweckt den Eindruck, als sei die Errichtung und Vernichtung des Ghettos allein Schuld des unbotmäßigen Verhaltens der Juden. Judenverfolgungen seien in der Geschichte des Ostens nicht neu und immer "aus dem Gesichtspunkt" erfolgt, ,"die arische Bevölkerung vor den Juden zu schützen". "Aus den gleichen Erwägungen" sei 1940 die '"Bildung eines jüdischen Wohnbezirks" erwogen worden. Als einzigen Grund für die Räumung des Ghettos gibt Stroop "die Sicherheitslage" an. Zweck der "Aussiedlung" sei ,"die im Ghetto untergebrachten rüstungs- und wehrwirtschaftlichen Betriebe mit Arbeitskräften und Maschinen nach Lublin zu verlagern". Straften nicht die Bilder den Wortlaut des Textes Lügen, hätte man Bedenken haben müssen, den Text unkommentiert zu drucken.
Die Menschen, die man in Warschau und in all den Konzentrationslagern des Ostens umbrachte, sind mit dem Unterton der Verachtung "Ostjuden" genannt worden. Was wußte man aber schon von ihren Eigentümlichkeiten, ihrer Religiosität, ihren Hoffnungen und Leiden, ihrer Mentalität überhaupt? Was wissen wir heute von jenen Menschen, außer, daß die meisten von ihnen in Vorstellungen lebten, die wir mittelalterlich nennen? Wer meint, daß diese Fremdheit eine der Quellen der Teufelei gewesen sei, der greife zu einem Erzählband, zu einem kleinen literarischen Schatzkästchen (8). Sein Autor (1851 - 1915), Anwalt der jüdischen Gemeinde in Warschau, ist mit seinen "jiddischen" Geschichten bei uns nahezu unbekannt. Sein Themenkreis ist der Alltag im Ghetto, seine Personen sind Rabbis, die Wunder tun, merkwürdige Gespräche führen, Einfältige, Weise, Sünder und Taugenichtse. Wehmütiger Humor, die

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Liebe zu den einfachen, ja einfältigen Menschen, die Poesie der jüdischen Festtage und Feiern - all das macht diese Geschichten hintergründig fröhlich. Sie vermitteln das Bild einer uns zwar fremdartigen, zum teil unverständlichen, aber liebenswerten Kultur, deren magischer Faszination man sich nicht entziehen kann.

Zu Fragen der jüdischen Religion
Die jüdische Religion ist immer noch weitgehend unbekannt unter Christen. Ohne die verständnisvolle Beschäftigung mit ihr, die so konstitutiv für das Verhalten der Juden ist, bleibt letztlich die Beschäftigung mit dem jüdischen Schicksal notwendig fragmentarisch. Diese Unkenntnis ist um so erstaunlicher, als andere Religionsbekenntnisse wie die asiatischen, die in der Geschichte so gut wie keine Berührungspunkte mit den christlichen hatten, längst bis in die populäre Literatur hinein bei uns bekannt geworden sind. Eine gute, nicht zu umfangreiche Einführung in Fragen der jüdischen Religion bringt Wilhelm Freyhan (9). Er entwickelt, als entschiedener Vertreter des traditionellen Judentums, in einem ersten Teil die Grundsätze und sittlichen Gebote jüdischer Religiosität. In einem zweiten Teil führt er seine Leser in zentrale Fragen der innerstaatlichen israelischen Diskussion. Inwieweit ist die jüdische Religion identisch mit dem jüdischen Staat? Kann überhaupt irgendein moderner Staat eine religiöse Grundeinstellung zum Maßstab des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens machen, z. B. bei der Eheschließung, im Schulwesen oder in der Wirtschaft? Die grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen religiöser Tradition und davon emanzipierter Gesellschaft kommt offensichtlich unaufhaltsam auf den jungen israelischen Staat zu, und Freyhan steht entschieden in der traditionellen Position.
Seine Stellungnahme, eigentlich eher an Juden denn an Nichtjuden gerichtet, führt den Leser über den aktuellen Anlaß hinaus in eines der faszinierendsten Phänomene der neueren jüdischen Geschichte ein: in den Prozeß der jüdischen Selbstbewußtwerdung. Noch nie zuvor ist innerhalb des Judentums die eigene Geschichte, das Wesen des eigenen Volkes, die religiöse Tradition und das Verständnis der Thora in einem solchen Maße reflektiert worden. Dies verweist aber auch, nach aller geschichtlichen Erfahrung, auf die "Fragwürdigkeit" all dieser traditionellen geistigen Elemente.
Zu dieser "inneren Krisis" des Staates Israel nimmt, ebenfalls auf der Seite der religiösen Tradition, Martin Buber in einigen Reden Stellung, die in einem kleinen Bändchen gesammelt sind (10).
Mit der jüdischen religiösen Tradition befaßt sich auch der Katholik H. Urs von Balthasar in einer kritischen Schrift zu Bubers Gesamtwerk (11). Die Art, wie hier dem großen Denker Buber eine tiefe Verehrung zuteil wird gerade dadurch, daß seine

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Stellung zum Christentum mit Entschiedenheit kritisiert wird, ist ein gutes Beispiel dafür, was es bedeutet, unter der Härte gegenseitiger Wahrhaftigkeit ein "christlich-jüdisches Gespräch" zu führen, fernab von jenem vordergründig-opportunistischen Philosemitismus, der doch auch nur die innere Teilnahmslosigkeit am jüdischen Schicksal zum Ausdruck bringt. Wäre dies Büchlein thematisch nicht so diffizil - man müßte es als Schullektüre empfehlen.

Die Situation und Entwicklung des Staates Israel
Die Gründung und Erhaltung des Staates Israel, von dessen inneren Konflikten schon die Rede war, ist vielleicht die imposanteste Leistung des modernen Judentums. Vom englischen Protektorat ungern gesehen, von fast 50 Millionen Arabern gehaßt, gründeten einige hunderttausend Juden aus aller Herren Ländern in einem wenig fruchtbaren Erdstrich einen Staat, dessen Bewohner je nach ihrer Herkunft modernste amerikanische wie auch unberührte mittelalterliche Lebensweise repräsentieren. Die wohl zur Zeit beste Übersicht über die Situation des Staates Israel in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und außenpolitischer Hinsicht bietet das Taschenbuch eines englischen Journalisten (12), der das Land mehrmals bereiste und aus seinen eigenen Beobachtungen, ergänzt durch offizielle Quellen, eine gut lesbare, temperamentvolle und kritische Reportage schrieb.
In anderer Weise, nämlich durch lebendige Schilderung repräsentativer Einzelheiten und Erlebnisse schildert ein Autor das "Abenteuer" dieser neuen Heimat, der seit 1935 Bürger des Landes ist und als Soldat und Siedler alle Phasen und Krisen des Aufbaus miterlebt hat (13). Im Schlußkapitel "Dokumente und Zahlen" finden sich die wichtigsten historischen und statistischen Daten über den neuen Staat.
In Israels innen- und außenpolitische Aktivität führt eine Sammlung von Reden und Staatsdokumenten des Ministerpräsidenten David Ben Gurion aus den entscheidenden Jahren des staatlichen Werdens ein (14). Obwohl einer solchen politischen Apologetik (in den Dokumenten kommt nur Ben Gurion zu Wort) die gebührende Distanz in der Sache entgegengebracht werden muß, wird in ihr das Bild der Persönlichkeit dieses Mannes lebendig, der seit 1948 sein Land durch die inneren und äußeren Bedrohungen geführt hat. Von ihm sagt sein Biograph, der amerikanische Journalist R. St. John, in einem Nachwort zutreffend: "Er kann Schüler und Politiker, Philosoph und Diplomat sein und alles zur gleichen Zeit."
Altbundespräsident Theodor Heuss hat im Mai 1960 Israel besucht. Über diese Reise ist ein kleines Büchlein entstanden, das nicht nur Themen der deutsch-jüdischen Verständigung enthielt (15). Seine Vorlesung "Staat und Volk im Werden", gehalten an der Hebräischen Universität in Jerusalem, zeugt von der Fähigkeit des Gelehrten, aktuelle Anlässe zu wesentlichen Einsichten zu verdichten. Sie wurde zu einer von tiefem Ernst getragenen moralischen Grundlegung demokratischer Herrschaftsprinzipien. In der Antwortrede an Heuss rühmt ein jüdischer Professor an zahlreichen Beispielen die mutige Haltung des Altbundespräsidenten in der Zeit der NS-Herrschaft. Ein Fernsehgespräch mit Thilo Koch über die Eindrücke dieser Reise bildet den Schluß.

Die deutsch-jüdischen Beziehungen heute
Wie sind nun die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden in der Gegenwart zu sehen?
Der Initiative des Vereins Deutscher Studentenschaften ist eine Untersuchung zu danken, die die Darstellung des jüdischen Schicksals in unseren Schulbüchern zum Gegenstand hat (16). Das Ergebnis ist nicht sehr ermutigend. Krippendorffs Untersuchung über die Geschichtsbücher wird z. B. unversehens zu einer Grundsatzkritik an unserer herrschenden Geschichtsauffassung, die durchweg "machtpolitisch-etatistischer Art" sei. "Die Geschichte der Juden aber gewinnt in Darstellung und Unterricht erst dann Überzeugungskraft, wenn Geschichte vornehmlich als Sozialgeschichte begriffen und zugänglich gemacht und über die reine Nationalgeschichte hinaus ausgeweitet wird. Eine rein additive oder exkursivweise 'Berücksichtigung' nähme innerhalb der Struktur der gegenwärtig gebräuchlichen Unterrichtswerke notwendig apologetischen Charakter an und würde weder der Sache nach überzeugen, noch die innere Verflechtung der jüdischen mit der deutschen und europäischen Entwicklung sichtbar machen. Vielmehr müssen am Schicksal und an der gesellschaftlichen Stellung der Juden in exemplarischer Weise Struktur und Strukturwandel der Gesellschaft aufgewiesen werden." (S. 72.) Die Schulbuchuntersuchung, die den Hauptteil ausmacht, wird umrahmt von zwei Vorträgen (G. Stadtmüller: "Das nachbiblische Judentum in der Geschichte der Menschheit"; Hannah Vogt: "Die Darstellung des Judentums in der pädagogischen Praxis"), einer umfangreichen, systematisch aufgegliederten Bibliographie sowie einem ausführlichen dokumentarischen Anhang.

In sehr persönlicher deutscher und in jüdischer Sicht
"Gelangweilt und herausgefordert durch den Mangel an Voraussetzungslosigkeit und an letzter Wahrhaftigkeit, mit dem die Auseinandersetzung über das Judenproblem und der Kampf gegen den Antisemitismus immer noch geführt werden" berichtet ein konservativer Schriftsteller über seine persönlichen Begegnungen mit Juden (17). Es handelt sich um ein eigenwilliges Büchlein, so eigenwillig, daß selbst der Verlag sich genötigt sah, sich zum Teil von seinem Autor zu distanzieren. Borée sucht die Gründe des Judenhasses zu einem Teil auch bei den Juden. Selbst bekennt er offen, daß er nie in seinem Leben das Gefühl der Fremdheit gegenüber Juden habe überwinden können. Obwohl man manchen der analytischen Überlegungen des Autors nicht zustimmen kann, muß sein Buch doch als einer der wenigen wahrhaften Beiträge von deutscher Seite zu diesem Thema klassifiziert werden, weil er den Gruppencharakter des Judentums genauso ernst nimmt wie die einzelnen persönlichen Freundschaften zu Juden ihm bedeutsam sind.
Zwischen Juden und Nichtjuden scheint es heute keine Schwierigkeiten mehr in unserem Lande zu geben. Der Wohlstand hat die soziologischen Ursachen der Judenfeindschaft weitgehend abgebaut, die öffentliche Meinung ist in einer schon fast verdächtigen Weise philosemitisch. Daß dieser Schein zeitweise trügt, beweist eine Dokumentation, die zum 15jährigen Bestehen der "Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland" erschien (18). Aus über 750 Ausgaben dieses Organs der

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deutschen Juden sind zu einer Reihe von zentralen Themen Artikel und Berichte nachgedruckt worden. Die Vielschichtigkeit dessen, was in diesem Buch trotz der Beschränkung des Umfangs zum Ausdruck kommt, auch nur annähernd zu würdigen, käme einer kleinen Geschichte der Bundesrepublik gleich.
Selbstverständlich sind die einzelnen Beiträge "parteilich" in dem Sinne, daß man ihren Inhalt diskutieren sollte. Müssen aber z. B. jene antijüdischen Ausschreitungen, denen wir keine so große Wichtigkeit beimessen, in den Augen unserer jüdischen Mitbürger nicht andere Dimensionen annehmen? Der wesentliche Sinn dieser umfangreichen Dokumentation liegt gerade darin, daß sie uns bundesrepublikanische Probleme in der Sicht unserer politisch bewußten jüdischen Bürger zeigt.
Sie gibt uns außerdem über die Neugründung und Entwicklung der jüdischen Gemeinden Kenntnis. Zu bedauern ist nur, daß die meisten Artikel nicht genau datiert sind. Für das richtige Verständnis eines Zeitungsartikels kann die Datierung unter Umständen unentbehrlich sein.
Es liegt nahe, das jüdische Schicksal literarisch zu gestalten. Manche dieser Versuche sind gescheitert. Am überzeugendsten erscheint das Werk eines jüdischen Autors, der selbst den Deportationen entkam, denen seine Eltern und Geschwister zum Opfer flelen (19). Ihm ist es gelungen, das grausige Geschehen teils chronistisch, teils romanhaft literarisch zu verdichten. Die Symbolik liegt in der jüdischen Legende von dem Geschlecht der sechsunddreißig Gerechten, die das Leiden der Welt zu Gott bringen und Verzeihung erlangen für alle. Als Chronist schildert der Autor ihr Schicksal im Laufe der Jahrhunderte.
Dann wendet er sich im Erzählerstil einem von ihnen, Erni Levy, zu, der sich zunächst mit Erfolg - unter Verleugnung seines Judentums - der Verfolgung entziehen kann, dann aber freiwillig sich dem Transport nach Auschwitz anschließt.
Die Fähigkeit des Autors, sich jeweils mit seinem Stoff zu identifizieren und auch wieder sich von ihm zu distanzieren, das Grausige nicht vordergründig zu mißbrauchen, sondern es zu interpretieren - gerade diese literarische Bewältigung des Themas macht den besonderen Wert dieses Buches aus.
Zum Abschluß sei verwiesen auf eine essayistische Interpretation des Antisemitismus, die sehr viel stärker rational angelegt ist, wobei auch die irrationalen Komponenten sich der rationalen Analyse stellen müssen (20). Sartre schrieb diesen Essay, dem wir auch das Motto entnommen haben, im Jahre 1945.
Seine philosophisch-psychologische Analyse des Judenhasses gehört zu den besten, die wir in deutscher Sprache besitzen.

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Anmerkungen:
(1) Edmund Schopen: Geschichte des Judentums im Orient. Dalp-Taschenbuch 352, Francke Verlag Bern und München 1960, 114 S. - Martinus Adrianus Beek: Geschichte Israels von Abraham bis Bar Kochba. Urban-Bücher Nr. 47, Kohlhammer-Verlag Stuttgart 1961, 184 S.

(2) H. G. Adler: Die Juden in Deutschland - Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, 177 S., Kösel-Verlag München 1960

(3) Hermann Levin Goldschmidt: Das Vermächtnis des Deutschen Judentums. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt/Main 1957, 155 S.

(4) Zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland vgl. den Literaturbericht in West-Ost-Berichte, H. 9-10/1960, S. 429 ff.

(5) Albert Wucher: Eichmanns gab es viele. Ein Dokumentarbericht über die Endlösung der Judenfrage, 286 S., Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München-Zürich 1961

(6) Gerhard Schoenberner: Der gelbe Stern - Die Judenverfolgung in Europa von 1933 bis 1945, Rütten & Loening Verlag Hamburg 2. Aufl. 1961.

(7) "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr". Stroop-Bericht. Hrsg. Andrzej Wirth, Hermann Luchterhand-Verlag Neuwied - Berlin - Darmstadt 1960

(8) Jizchok Lejb Perez: Erzählungen aus dem Ghetto. Aus dem Jiddischen von Alexander Eliasberg, Winkler-Verlag München, 263 S.

(9) Wilhelm Freyhan: Der Weg zum Judentum. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt/Main 1959, 173 S.

(10) Martin Buber: An der Wende. Reden über das Judentum, Jakob Hegner-Verlag Köln-Olten, 106 S.

(11) Hans Urs von Balthasar: Einsame Zwiesprache. Martin Buber und das Christentum. Verlag Jakob Hegner, Köln-Olten, 129 S.

(12) L. F. Rushbrook Williams: Der Staat Israel. Fischer Bücherei Bd. 288, 192 S.

(13) Arno Ullmann: Israel. Abenteuer einer neuen Heimat. Eugen Diederichs Verlag 1961, 212 S.

(14) David Ben Gurion: David und Goliath in unserer Zeit. NerTamid-Verlag, München - Frankfurt 1961, 280 S.

(15) Theodor Heuss: Staat und Volk im Werden. Reden in und über Israel. Ner-Tamid-Verlag, München 1961, 90 S.

(16) Erziehungswesen und Judentum. Die Darstellung des Judentums in der Lehrerbildung und im Schulunterricht. Hrsg. vom Verband Deutscher Studentenschaften. Ner-Tamid-Verlag, München 1960, 154 S.

(17) Karl Friedrich Borée: Semiten und Antisemiten. Begegnungen und Erfahrungen. Europäische Verlagsanstalt Frankfurt 1960, 115 S.

(18) Narbenspuren zeugen. 15 Jahre Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland. Hrsg. Ralph Giordano. Verlag Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, Düsseldorf 1961, 555 S.

(19) Andre Schwarz-Bart: Der letzte der Gerechten. Roman, S Fischer Verlag, Frankfurt 1960, 397 S.

(20) J. P. Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage. In: Drei Essays. Ullstein-Bücher Nr. 304, Berlin 1960 

 

 18. Die politische Bildung und die Mauer (1962)

(In: deutsche jugend, Heft 6/1962, S. 270-273)
 

 Vor kurzem veranstaltete der Arbeitskreis Jugendbildungsstätten in Berlin eine Tagung zu dem Thema "Politische Bildung angesichts der deutschen Teilung". Bei dieser Tagung konstituierte sich ein wissenschaftlicher Beirat dieses Arbeitskreises, dessen Aufgabe es vor allem sein soll, den Praktikern der politischen Bildungsarbeit zu helfen, ihre Erfahrungen vom pädagogischen und gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang her zu überdenken. Mit den folgenden Ausführungen soll nicht im einzelnen über die Diskussionen bei dieser Tagung berichtet werden, sie greifen vielmehr subjektiv aus der Fülle der Überlegungen zu diesem Thema einige Aspekte heraus, die in Zukunft wohl die "Gespräche zwischen Theorie und Praxis" entscheidend bestimmen werden.
Über Inhalte und Methoden der politischen Bildung besteht wenig Einigkeit unter den politischen Pädagogen. Eine übereinstimmende Klärung in den wichtigsten Grundfragen ist immer noch nicht erfolgt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß eine wissenschaftlich abgesicherte Theorie der politischen Bildung undenkbar ist ohne die Voraussetzung bestimmter politischer Prämissen, aus denen erst die spezifisch pädagogischen Überlegungen abgeleitet werden können. Weil innerhalb der politischen Pädagogik die Grundvorstellungen über Wirklichkeit, Möglichkeit und "Sein-Sollen" des Politischen verschieden sind, deshalb unterscheiden sich letztlich auch alle im engeren Sinne "pädagogischen" Vorstellungen voneinander. Es hat den Anschein, daß die Diskussion über diesen Fragenkomplex erst dann fruchtbar weitergehen wird, wenn die Besinnung auf die den einzelnen Theorien innewohnenden politischen Axiome hinreichend weit gediehen ist.
Ein weiterer die Diskussion belastender Tatbestand ist in der primär politischen Zweckbestimmung der politischen Bildung zu sehen. Während sich heute Pädagogik im allgemeinen vom Lebensrecht des einzelnen her motiviert, wird in der politischen Bildungsarbeit vom Jugendlichen in der Regel etwas verlangt, was in diesem Alter weitgehend außerhalb seines Interesses und seiner persönlichen Möglichkeiten liegt: er soll die Demokratie stabilisieren, die Vergangenheit seines

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Volkes bewältigen und unsere Gesellschaft vor dem Kommunismus schützen. In dieser sozusagen "objektivistischen" Bestimmung der politischen Bildung drückt sich eine Tradition aus, die auf keine demokratische Konzeption von Gesellschaft bezogen war. Es wäre aber durchaus denkbar, daß heute der Sinn der politischen  Bildung von daher bestimmt wird, daß sie sich zum Anwalt der Lebensinteressen des Heranwachsenden macht, notfalls im Gegensatz zu bestehenden Herrschaftsverhältnissen und zur "öffentlichen Meinung". Es handelt sich aber hier nicht um  eine Alternative. Recht verstanden und richtig rationalisiert hätte dieses "Lebensinteresse" die Erhaltung und Stabilisierung der Demokratie und ihren Schutz vor dem Totalitarismus zur Voraussetzung wie zum Ziel. Wie immer man zu dieser  Grundsatzfrage stehen mag, mindestens wird deutlich, daß diese verschiedenen  Akzente auf verschiedenen politischen (und anderen!) Prämissen basieren und daß die stofflichen und didaktisch-methodischen Überlegungen dann zu jeweils sehr verschiedenen Ergebnissen führen müssen. Wie sehr die politische Bildung in der Praxis mit diesen Problemen ringen muß, zeigt sich an der Geschichte ihrer stofflichen Schwerpunkte. Unmittelbar nach dem  Krieg beherrschte die unmittelbare Vergangenheit die Thematik. Als in den Jahren  1954/55 aus der SBZ viele geschulte junge Kommunisten in die Bundesrepublik reisten, die die planmäßig gesuchten Diskussionen mit westdeutschen Jugendlichen in der Regel als verbale Sieger verließen, kam die Zeit der "Kommunismusthemen". Auf die Hakenkreuzschmierereien antwortete man dann fast zwei Jahre  lang mit "Judenfrage und Antisemitismus", bis die Berlinkrise und dann schließlich die Mauer den thematischen Schwerpunkt einnahmen.
Die Problematik einer stofflich einseitig orientierten politischen Bildung könnte an jeder der oben genannten "Wellen" charakterisiert werden. Es liegt nahe, sich hier auf eine kritische Besinnung der "Berlin-Besuche" zu beschränken. Für viele Praktiker der politischen Bildung scheint der "Berlin-Besuch" der geeignete "Aufhänger". Politik ist dort zu einer "existentiellen Angelegenheit" des Alltags geworden. Die Bedeutung des Politischen ist unmittelbar einsichtig und muß nicht erst durch mühsame abstrakte Reflexionen klargemacht werden. In Berlin stehen alle Schichten und Gruppen zusammen zur gemeinsamen Abwehr der äußeren Gefahr. Selbst das "Parteigezänk" ist verstummt. Die Mauer, die moralische Bankrotterklärung des kommunistischen Regimes in Deutschland, ist "anschaulich" genug, den Kommunismus politisch indiskutabel zu machen. Damit scheinen manchem politischen Erzieher wesentliche Schwierigkeiten gelöst, mit denen er sonst zu kämpfen hat. Aber es setzen sogleich auch die Bedenken ein.
"Existentielle Betroffenheit" ist ja zunächst ein emotionaler Vorgang. Wir wissen, daß nur das dauerhaft gelernt wird, was bis in den Bereich der Emotionen vorstößt. Die unmittelbare Anteilnahme an dem durch Politik hervorgerufenen menschlichen Leid, wie es die Mauer so einprägend demonstriert, ist ein legitimer und unerläßlicher Ansatz zum Nachdenken über Aufgaben und Grenzen politischen Handelns, wie ja überhaupt wohl zuchtvolle Rationalität gegenüber der Politik wenn nicht ausschließlich, so doch vor allem dort zu erwarten ist, wo die

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Empörung über Unrecht konkret erfahren oder sich im Bewußtsein vorgestellt wird. Solange sich also Emotionen und Leidenschaften diszipliniert an der individuellen Konkretheit menschlicher Schicksale orientieren, dürfte kaum die Gefahr ihrer Manipulierung bestehen. Erst wenn sie sich gegenüber dem Anlaß ihres Ursprungs verselbständigen, eine eigene Qualität bilden, werden sie gerade dadurch bedrohlich, daß sie sich gegenüber diesem Anlaß auch der rationalen Selbstüberprüfung enthoben fühlen. Das Problem der Empörung über die Maßnahmen des Ulbricht-Regimes besteht aber nun darin, daß sie keinen Adressaten findet.
 Handelte es sich um ein Ereignis innerhalb einer demokratischen Gesellschaft, so  wären die Adressaten leicht zu ermitteln, der Wunsch nach Korrektur fände legitime Instrumente und Aussicht auf Erfüllung. Gegenüber außenpolitischen Problemen aber hat auch heute der Wille des demokratischen Staatsbürgers wenig Einfluß. Deshalb sind Emotionen in außenpolitischen Bezügen immer gefährlich: sie können nicht in legitime Veränderung umschlagen. So wurden in der neueren Geschichte außenpolitische Emotionen immer gern erzeugt: Sie ließen interne Konflikte übersehen und waren mangels konkreter Adressaten nahezu unbegrenzt verfügbar. Sollen die bei Berlin-Besuchen entstehenden Emotionen nicht diffus werden, sich zu verselbständigten Abstraktionen verhärten und damit auch zur innenpolitischen Waffe werden, so müssen sie in die richtige Bahn gelenkt werden. Sie können dann nur zum Anlaß genommen werden für die Einsicht in den Zusammenhang von Politik und individueller menschlicher Würde in jenem politischen Gelände, das dem rationalisierten Handeln wenigstens prinzipiell offensteht: der eigenen Gesellschaft. Noch ein weiteres ist zu lernen: In der Mauer hat sich nicht nur die kommunistische, sondern jede politische Theorie ad absurdum geführt, die  glaubt, ihre Dignität erst dann zu beweisen, wenn sie ihre moralischen Maximen genügend weit von den konkreten menschlichen Beziehungen abstrahiert hat. Nur wenn es gelingt, die "Anschauung" Berlin auf die moralischen Sinnfragen des  Politischen hin zu reflektieren, ist der Berlin-Besuch für Jugendliche eine Bereicherung.
Diese Einsicht bedeutet zweierlei für die praktische Arbeit. 
1. Berlin-Besuche durch Jugendgruppen bedürfen einer sorgfältigen Vor- und Nachbereitung. Wer die Praxis kennt, weiß, daß diese Forderung ebenso oft erhoben wie nicht befolgt wird, weil die politische Bildung hier zum Gefangenen ihrer eigenen Reklame wird. 
2. Eine solche Vor- und Nachbereitung wird nicht nur auf die Problematik des Emotionalen, sondern vor allem auch auf den objektiven außenpolitischen Gesamtzusammenhang hinweisen müssen, in dem das Berlin-Problem und die deutsche Teilung eingebettet sind. Daß in Berlin keine spezifisch deutsche, sondern eine weltweite Problematik evident wird, ist offenbar den Berlinern selbst deutlicher als vielen westdeutschen Besuchern. Man solle die Gefahr nationaler Emotionalisierung durch die Berlin-Frage in der Bundesrepublik nicht unterschätzen.

Innenpolitische Diffamierungen der letzten Jahre bezogen sich ausdrücklich auf diesen Komplex. Eine recht verstandene politische Bildung wird aber solchen Versuchen schon deshalb entgegentreten, weil in ihnen die Empörung über konkretes Unrecht zugunsten ganz anderer Motivationen instrumentalisiert wird.

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 Das "Modell Berlin" wird schließlich auch dadurch relativiert, daß die innere Situation Westberlins mit der Bundesrepublik an entscheidenden Stellen nicht vergleichbar ist. In Berlin sind innere Schwierigkeiten und Konflikte auf ein Minimum beschränkt. Gerade deshalb ist es aber angebracht, auf die Sondersituation hinzuweisen, sollen sich daran nicht politische Illusionen knüpfen. Denn normalerweise haben innergesellschaftliche Konflikte substantiellen Charakter in einer demokratischen Massengesellschaft. Sie allein erlauben, daß Einsicht in Willensbildung umschlägt. Manchmal macht sich nach einem Berlin-Besuch angesichts der "materialistischen Lebensweise" in der Bundesrepublik eine Resignation breit. Man soll aber nicht übersehen, daß wir hier oft vor ganz anderen politischen Problemen und Kontroversen stehen, die sehr wesentlich von der wirtschaftlichen Entwicklung und ihren sozialen und psychologischen Folgen her bestimmt sind. Die Ferne zu Berlin hat nicht nur Nachteile. Sie läßt vielleicht auch eher den Blick auf den Gesamtzusammenhang der Dinge zu.
Diese Skizzierungen mögen genügen, um ein vorläufiges Fazit zu ziehen. Es wächst die Erkenntnis, daß sich in der politischen Bildung die großen Schlagworte und "Aufhänger" verbraucht haben. Die Versuche, von isolierten Einzelkomplexen her "Bewegung" in die politische Bildung zu bringen, sind mit Recht gescheitert, weil sie den Mangel an sachlicher und methodischer Substanz nicht verdecken konnten. In der nächsten Zukunft wird die politische Bildung sich in allen Einzelfragen präzisieren müssen, fernab von jeder öffentlichen Mobilisierung. Inhaltlich wird sie die Probleme benennen müssen, deren Lösung oder deren disziplinierte "Offenhaltung" das Schicksal aller bestimmen werden. Dabei wird die Ost-West-Spannung einen wichtigen, aber vermutlich nicht einmal den höchsten Stellenwert einnehmen Denn außerdem bleibt zu klären, welcher Ort der politischen Bildung zuzuweisen ist im Gesamtzusammenhang dessen, was heute sinnvoll als "Bildung" bezeichnet werden kann. "Gebildetes Verhalten" zur Welt setzt allgemein einige Fähigkeiten voraus, die bei der überwiegenden Zahl unserer Jugendlichen vorausgesetzt werden können, etwa die Fähigkeit zur sprachlichen Differenzierung, den Umgang mit verschiedenen Bereichen des Kulturellen sowie vor allem die Fähigkeit zur gelegentlichen Distanz von der Unmittelbarkeit des Daseins Vielleicht ist das Problem der politischen Bildung in dem Augenblick gelöst, wo eine besondere Bezeichnung für das mit ihr Gemeinte überflüssig geworden ist, weil es selbstverständlich eingeflossen ist in das, was man dann übereinstimmend als "Bildung" bezeichnen kann. Alle diese Fragen können nur durch ein permanentes "Gespräch zwischen Theorie und Praxis" geklärt werden. Dafür Formen und Möglichkeiten zu schaffen, ist das Vordringlichste.

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18a.  Über: Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung
Deutschtand und die weltgeschichtliche Entwicklung. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1961, 213 S.
In: Gewerkschaftliche Monatshefte  1962, S. 126-127

© Hermann Giesecke





Diese Streitschrift Spenglers, eine politische Nutzanwendung seines publikumswirksamen philosophischen Hauptwerks "Der Untergang des Abendlandes", erschien inmitten der Hitlerschen Machtergreifung, zu der sie sich innerlich distanziert verhält.

 Substantielle Gründe für diese Distanz sucht man bei der Lektüre allerdings vergeblich. Abstrakte politische Kraftmeierei, Träume
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 vom autoritären preußischen Staat, wehmütige Erinnerungen an eine heile gesellschaftliche Hierarchie mischen sich wunderlich mit einem schon fast pathologischen Hass gegen die Arbeiterbewegung, der bis hin zu dem absurden Vorwurf, sie habe die Weltwirtschaftskrise planmäßig herbeigeführt, alle Krisen und alle Fehler der Zeit in die Schuhe geschoben werden. 

Dennoch ist die Wiederauflage dieser Schrift grundsätzlich zu begrüßen, repräsentiert sie doch das antidemokratische Denken jener damaligen bürgerlichen Schichten, die sich einerseits von der Weimarer Demokratie verlassen fühlten, andererseits auch zu Hitlers SA-Horden kein Vertrauen gewinnen konnten. Nichtsdestoweniger sind sie mit ihrem Autor Spengler objektiv an der Installierung der Naziherrschaft beteiligt gewesen.

 Schärfste Einwände müssen deshalb dagegen erhoben werden, daß der Herausgeber in der Einleitung diese Schrift nicht nur z
 u einer "Warnung" gegen den Nationalsozialismus verfälscht, sondern sie auch noch zu aktualisieren sucht. Unser Einwand dagegen ist nicht nur politischer Natur; denn das Fehlen einer historischen Einführung und Relativierung verhindert einfach das richtige, auch dem Autor angemessene Verständnis. Das Buch   ist ein Indiz für eine Zeit, in der ein so begabter Geist wie Spengler ein so schlechtes und doch erfolgreiches Buch über deutsche Politik schreiben konnte. Überheblichkeit ist also heute ebensowenig am Platz wie Ressentiment, das bei Spengler immerhin Aufschrei aus einer tiefen, in ihren Wurzeln nicht verstandenen Not war. Leider fördert der Verlag derlei Mißverständnisse durch den Verzicht auf eine hinreichende Kommentierung; er hat damit eine Chance vertan, die öffentliche Diskussion um die deutsche Vergangenheit zu bereichern.
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 19. Zur Bildung und Ausbildung der Jugendgruppenleiter (1963)

(In: deutsche jugend, H. 10/1963, S. 451-456)
 

 Niemand bestreitet eigentlich, daß Jugendgruppenleiterausbildung notwendig sei. Nicht nur alle Jugendverbände betreiben sie, sondern darüber hinaus auch verschiedene Institutionen, die sich auf bestimmte Aspekte oder Inhalte einer solchen Aus- oder Fortbildung spezialisiert haben. Ich denke hier an die Jugendhöfe und ähnliche Einrichtungen. In einigen Bundesländern hat man sogar besondere  Urlaubsgesetze für Jugendgruppenleiter erlassen, die ihnen den Besuch längerer Tagungen erlauben sollen.
Aber daß solche Ausbildung not tue, ist keineswegs selbstverständlich. Wäre Jugendgruppenarbeit nichts weiter als spontane jugendliche Gesellung gleich welchen Inhaltes, so bestünde diese Notwendigkeit nicht. Die Jugendlichen würden sich nach irgendwelchen Maßstäben ihre Führer wählen, und die Inhalte des gemeinsamen Tuns würden spontan aus den Bedürfnissen der jeweiligen Gruppenmitglieder erwachsen. Damit ist eine wesentliche Vorentscheidung benannt: Jugendgruppenleiterausbildung ist nötig, insofern den Jugendgruppen Aufgaben und Inhalte von außen aufgegeben werden, insofern die Jugendgruppe zu einer Art öffentlicher Erziehungsinstitution geworden ist. Die oft berufene "Öffnung  zur Gesellschaft hin" zeitigt hier ihre Folgen. Damit hängt zusammen, daß sich die Inhalte der Gruppenarbeit nicht mehr von selbst verstehen, ihre Spontaneität ist dahin und die Jugendgruppenleiterausbildung soll versuchen, von außen die Arbeit der Jugendgruppen wieder zu beleben. Übrigens deutet schon der Ausdruck "Jugendgruppenarbeit" auf dieses Dilemma hin. Die Anstrengung, die dem Begriff anhaftet, spiegelt die Sachlage wider.

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Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu erörtern, ob nach dieser Lage der Dinge Jugendgruppenarbeit angesichts soviel künstlicher Anstrengung unbedingt am Leben erhalten werden solle. Viel interessanter ist die Frage, was Jugendgruppenleiterausbildung unter den herrschenden Verhältnissen heißen könne. Was muß der Jugendgruppenleiter lernen, und mit welchen Methoden lernt er es am besten? Soll er ein "all-round-man" sein, der von musischer Bildung bis zur politischen Erziehung einen Spaziergang durch die kulturellen Gefilde unternimmt, oder soll er sich in dem Bereich spezialisieren, der ihn ohnehin interessiert?
Man würde es sich zu einfach machen, wenn man versuchen würde, die Inhalte einfach abzuleiten. Nach welchen Grundsätzen immer eine solche Auswahl getroffen würde, sicher ist, daß sie so lange unpädagogisch bleibt, wie sie nicht auch von der subjektiven Befindlichkeit des einzelnen Gruppenleiters her festgelegt wird. Warum soll dieser eigentlich lernen, was irgendwelche Leute außerhalb seiner Gruppe festlegen? Nun ist die jeweilige Situation des Leiters in seiner Gruppe nicht von vornherein festzulegen. Jede Gruppe, jeder Leiter ist anders. Dennoch lassen sich einige Faktoren ermitteln, deren Veränderung dann auch die jeweilige Situation bestimmen. Wir wollen versuchen, einige der wichtigsten hier zu skizzieren. Dabei geht es nicht um Vollständigkeit, sondern um ein Modell, das beliebig weiter differenziert werden könnte.

Die widersprüchlichen Erwartungen
Die Beobachtung lehrt, daß jeder Jugendgruppenleiter sich einer Reihe von Erwartungen gegenübersieht, die er erfüllen soll. Sein persönliches Problem ist, daß diese Erwartungen sich in der Regel nicht einsinnig ergänzen, sondern widersprechen. Der Widerspruch kann bis zur Unvereinbarkeit gehen. Fünf solcher Erwartungen scheinen uns für ein erstes Modell besonders wichtig.
1. Die Erwartung des eigenen Verbandes. Ihre Intensität ist natürlich je nach der Art des Verbandes sehr unterschiedlich, aber in jedem Falle vorhanden. Der Verband wird erwarten, daß die Gruppe möglichst viele Mitglieder hat, sich an der Durchsetzung der Verbandsziele weitgehend beteiligt und sich im großen und ganzen so verhält, daß das sogenannte "öffentliche Ansehen" des Verbandes durch die Gruppe wenn schon nicht gehoben, so doch wenigstens auch nicht gemindert wird. Die Erwartungen können natürlich viel weiter gehen, etwa dahin, daß bestimmte religiöse Aktivitäten oder Teilnahme an öffentlichen Handlungen verlangt werden. Im allgemeinen ist die Möglichkeit der Durchsetzung solcher Erwartungen nicht groß. Der "Gehorsam" der Gruppen "nach oben" ist bekanntermaßen sehr gering, aber gerade deshalb wird die Ausbildung der Gruppenleiter zu einem der vornehmsten Mittel der Durchsetzung. An vielen Ausbildungsprogram men läßt sich ablesen, daß dieser Wunsch ausschlaggebend war.
2. Demgegenüber stehen die Erwartungen der Gruppenmitglieder. Auch sie lassen sich nicht generell kennzeichnen, aber es wäre ein Zufall, wenn sie voll mit den Erwartungen des Verbandes übereinstimmten. Nur noch selten werden bestimmte Jugendgruppen wegen ihres Verbandszieles aufgesucht. Die Motive sind weit-

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gehend zufällig, Freundschaften und Bekanntschaften spielen eine wichtige Rolle. Vielleicht wünscht die Gruppe ein Programm, das der Leiter einfach auf Grund seines persönlichen Vermögens nicht erfüllen kann. Vielleicht ist es ein Programm, das mit den Verbandszielen gar nichts zu tun hat, nichtsdestoweniger aber von der Gruppe mit Intensität verfolgt wird. Nach allem, was wir wissen, dürfte die Regel aber umgekehrt sein: Die Gruppe erwartet vom Leiter ein interessantes Programm, bei dem sie möglichst nicht viel selbst zu tun hat. An dieser Stelle greifen dann meistens die Gruppenpädagogen ein und sagen, das gäbe es einfach nicht, daß Jugendliche nicht zur Aktivität gegenüber dem, was sie interessiert, zu bringen seien. Der Leiter hält seine Praxis dagegen und sucht - als selbstkritischer Mensch - die Schuld bei sich. Ist er zu autoritär? Hatte er den falschen Referenten?
Dieser Punkt des Problems, das Verhältnis des Gruppenleiters zu den Erwartungen seiner Gruppe, ist von der Gruppenpädagogik oft untersucht worden. Man hat es geradezu zum Angelpunkt einer recht verstandenen Jugendgruppenleiterausbildung gemacht. Uns scheint aber, daß dieser Ansatz zu kurz greift, daß er wesentliche Gesichtspunkte der subjektiven Situation des Gruppenleiters außer acht läßt.
3. Da ist nämlich noch die Erwartung der "öffentlichen Meinung" zu nennen. Es wäre sehr interessant, einmal ihr Bild von der Jugendlichkeit im allgemeinen und vom Jung-Sein im besonderen zu untersuchen. Selbstverständlich setzt sich dieses Bild aus vielen Mosaiksteinchen zusammen, die wir hier nicht auseinandersortieren wollen. Das wissenschaftliche Bild der Jugendkunde gehört ebenso dazu wie die publizistische Meinung oder die von bestimmten Pädagogen-Gruppen vertretenen Theoreme. Sie sind in sich schon wieder widersprüchlich. Aber ohne allzu sehr zu vereinfachen, kann man sagen, daß diese Erwartungen historisch sich weitgehend aus der Selbstdarstellung der Jugendbewegung nähren und von da aus die Praxis  der Jugendarbeit kritisieren. Das war ganz deutlich aus den jüngsten publizistischen Auseinandersetzungen um die Jugendarbeit herauszulesen. Die öffentliche  Meinung erwartet initiativreiche, kritische, ein wenig ungebärdige Jugendliche,  die wenigstens ab und zu Wagnisse eingehen, bei denen die Eltern und Lehrer den Kopf schütteln.
4. In nahezu völligem Gegensatz dazu steht hier wie überall die sogenannte "nichtöffentliche Meinung". Mit ihr hat sich der Gruppenleiter vielleicht am meisten auseinanderzusetzen. Sie ist fast immer wesentlich konformistischer als die öffentliche Meinung. Sie wird repräsentiert durch die Erwachsenen der lokalen Umgebung, Pfarrer, Eltern, Lehrer, Abgeordnete und Nachbarn, und die wichtigste  Waffe ihrer Durchsetzung ist der Klatsch. Ihr ist niemals zweifelhaft, was der  Jugend zieme, und der Gruppenleiter gilt ihr als das Instrument der reinen Reproduktion des "Milieus", um diesen treffenden Ausdruck Carl Amerys aufzugreifen.  In diesem Horizont ist der Gruppenleiter dazu da, die Freizeit der Söhne und Töchter zu überwachen; die Söhne und Töchter müssen "brav" sein, dürfen keinerlei Wagnisse eingehen, und wehe ihnen, sie entwickeln eine Initiative, die aus dem beschränkten kleinbürgerlichen Rahmen herausfällt! Die Wirkung des Milieus

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kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, und ihr kann der Gruppenleiter sich am wenigsten entziehen. Der Konformismus des Milieus trifft gerade die  Jugendgruppenarbeit so hart, weil auch in Großstädten sich ihre Mitglieder doch weitgehend aus relativ kleinen räumlichen Bereichen rekrutieren.
5. Zu diesen widersprechenden Erwartungen gesellt sich die "Selbstrolle" (Mollenhauer) des Gruppenleiters. In dieser Selbst-Erwartung vereinigt er seine eigenen Motive für die Mitarbeit mit den Erwartungen, die ihm gegenübertreten. Die Selbsterwartung ist im wesentlichen eine produktive Antwort auf widersprüchliche Erwartungen, der Versuch, diese zu einer persönlichen Version zu integrieren.

Einige wichtige Folgerungen
Wenn diese knappe Analyse im Grundsatz zutrifft, ergeben sich daraus einige wichtige Folgerungen:
1. Im Jugendgruppenleiter treffen sich widersprüchliche Erwartungen hinsichtlich dessen, was er tun soll. Diese Widersprüche sind in der konkreten Realität nicht auflösbar. Fügt der Gruppenleiter sich den Erwartungen des Milieus, so gerät er sehr wahrscheinlich in Widerspruch zu denen seiner Gruppe (falls das Milieu nicht schon eine entsprechende Selektion der Mitgliedschaft vorgenommen hat) sowie ganz sicher zu denen der öffentlichen Meinung.
2. In grundsätzlich nicht aufhebbaren Widersprüchen zu leben, fällt normalerweise aber erst dem Erwachsenen zur Last. Der Gruppenleiter steht also in einer Erwachsenensituation, und Jugendgruppenleiterbildung ist insofern eine Form der Erwachsenenbildung.
3. Die Beobachtung zeigt, daß Gruppenleiter in vielen Fällen dieser Belastung nicht gewachsen sind, ihr vielmehr durch eine Ideologie oder dadurch ausweichen, daß sie, um den Konflikt zu vermeiden, einige dieser Erwartungen einfach ignorieren und statt dessen sich mit dem Milieu und den diesem Milieu gehorsamen Gruppenmitgliedern arrangieren. Damit nehmen sie sich aber auch grundsätzlich die Möglichkeit, ihre eigene Arbeit bewußt zu kontrollieren. Wenn diese Lösung Massencharakter annähme, hätte sie zur Folge, daß die aktivsten Jugendlichen sich aus der Jugendarbeit zurückziehen und daß die Jugendarbeit insgesamt sich in Belanglosigkeit verliert.
4. Wie schon der Zusammenhang von öffentlicher und nichtöffentlicher Meinung zeigt, sind die widersprüchlichen Erwartungen politisch-gesellschaftlich bedingt. Sie gehen wesentlich auf Strukturprobleme der modernen Gesellschaft zurück. Gruppenleiterbildung, die diese so beschriebene Situation des Gruppenleiters pädagogisch ernst nimmt, ist also in ihrem Kern immer auch politische Bildung. Aber auch die Umkehrung gilt: Wenn die Gruppenleiterausbildung versäumt, diesen Zusammenhang deutend ins Bewußtsein zu heben, läßt sie eine große Chance politischer Bildung ungenutzt, ja, sie bestätigt die ohnehin vorhandene Neigung, was an den Verhältnissen liegt, der menschlichen Fehlleistung anzukreiden - ein Vorwurf, der für manche Variationen sogenannter Gruppenpädagogik zu erheben wäre.

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5. Es ist anzunehmen, daß bestimmte Inhalte der Jugendgruppenleiterausbildung, wie sie bisher in der Praxis mehr oder weniger unbefragt fixiert wurden, in Wahrheit nur der Durchsetzung der einen oder anderen Erwartung dienen. Die Forderung nach politischer Bildung des Jugendgruppenleiters etwa entspricht ganz sicher der Erwartung der öffentlichen Meinung sowie wohl auch dem Verbandsinteresse, sicher nicht dem Milieu und offenbar auch nur bedingt den Erwartungen der Gruppe selbst. Musische Bildung andererseits, wie sie auf der unteren Ebene verstanden und gehandhabt wird, entspricht vor allem den Verartigungsanstrengungen des Milieus, weniger den Erwartungen des Verbandes, der öffentlichen Meinung und offenbar auch recht selten denen der jugendlichen Gruppenmitglieder.
6. Eine Gruppenleiterausbildung, der es um die pädagogische Besinnung geht, darf aber nicht das Insgesamt der vorfindlichen Beziehungen unterdrücken. Ihre wesentliche Aufgabe wäre eine Hilfestellung bei der Klärung und Bestärkung der"Selbstrolle". Damit bleibt allerdings die Frage, welchen der genannten Erwartungen die einzelne Gruppe mehr Raum geben will als anderen, prinzipiell offen. Sie kann nicht von der pädagogischen Besinnung her entschieden werden.
 Wenn eine Jugendgruppe sich entschließt, den Erwartungen des Verbandes eine Priorität einzuräumen vor den übrigen Erwartungen, oder wenn andererseits eine Gruppe sich stärker als Erziehungsinstrument des Milieus verstehen will, so gibt es gegen solche Entscheidungen zunächst keinen pädagogischen Einwand; er hat erst dort seinen Ort, wo Selbsttäuschungen über die eigene Rolle und Fehlinterpretationen des eigenen Tuns um sich greifen. Grundsätzlich kann man keiner der Erwartungen eine Berechtigung absprechen.

Ausbildung und Bildung

Vielleicht empfiehlt sich zur Klärung des Sachverhaltes eine begriffliche Trennung zwischen "Ausbildung" und "Bildung" in unserem Zusammenhang. Ausbildung des Jugendgruppenleiters wäre dann objektiv der Versuch, ihn für die Erfüllung einer oder auch mehrerer solcher Erwartungen "fit" zu machen.`Bildung des Gruppenleiters hingegen wäre der Versuch, das Insgesamt der auf ihn eindrängenden Erwartungen zu einer persönlich verbindlichen Synthese ins Bewußtsein zu heben. Dabei fällt keineswegs, wie im deutschen Sprachgebrauch üblich, alles Licht auf die Bildung und aller Schatten auf die Ausbildung. Beides ist vielmehr aufeinander bezogen. Jede einseitige Ausbildung auf eine bestimmte Erwartungsrichtung hin verfälscht ihren eigenen Sinn, kann gar nicht verstanden werden, wenn sie nicht immer auch zugleich auf die anderen Erwartungen hin reflektiert wird. Man mag hier einwenden, daß soviel Reflexion nicht nur eine Überforderung sei, sondern auch der Spontaneität der Jugendgruppenarbeit nur schaden könne. Mir scheint aber, daß die pädagogische Besinnung hier gar nicht die Wahl hat, eine solche Entscheidung zu treffen. Wenn unsere These vom prinzipiellen Widerspruch der Erwartungen zutrifft, wenn dieser außerdem auch subjektiv empfunden wird, dann kann pädagogische Besinnung nur von diesem Tatbestand aus-

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gehen und von keinem anderen. Außerdem ist deutende Reflexion eigener Erfahrungen niemals eine Überforderung. Eher wäre ein solcher Vorwurf schon jener "Multiplikatoren-Theorie" zu machen, in deren Namen Inhalte in die Gruppenleiter gepumpt werden, deren Zusammenhang ihnen - zu ihren eigenen Nöten - uneinsichtig bleiben muß.
 Eine pädagogisch verstandene Jugendgruppenleiterbildung kann als Inhalt ihrer Besinnung also nur die aus den widersprechenden Erwartungen erwachsenden Konflikte der Gruppenleiter selbst ansehen, also das, was sie in ihrer eigenen Praxis an Widersprüchen und Widerständen erleben, aber ohne pädagogische Hilfe in der Regel zunächst falsch deuten. Inhaltlich gesehen befaßt sich also eine so verstandene Gruppenleiterbildung primär nicht mit bestimmten Gegenständen wie musische Bildung oder politische Bildung, sondern mit den Meinungen der Gruppenleiter über ihre eigene Arbeit sowie mit den Meinungen, die als Erwartungen auf sie zukommen. Methodisch gesehen ist es dann allerdings auch wenig produktiv, Tagungen oder Lehrgänge mit ihnen über Einzelthemen zu veranstalten. Sinnvoller erscheint es vielmehr, sie dazu zu veranlassen, ihre eigenen Beobachtungen und Meinungen im Kreise anderer Gruppenleiter und unter Anwesenheit eines pädagogischen Tutors darzustellen und zu reflektieren.
 Damit ist nun nicht gesagt, daß der Besuch von Tagungen für Gruppenleiter sinnlos wäre. Aber die Tagung ist eine andere Bildungssituation mit anderen Bedingungen. Wenn ein Gruppenleiter etwa eine Tagung über Filmkunde besucht, so tut er das nicht in seiner Rolle als Gruppenleiter, sondern als jemand, der an der  Sache "Film" interessiert ist. Wieweit er in der Lage ist, in seiner Gruppe seine eigenen Kenntnisse dann mitzuteilen, muß ebenso offen bleiben wie die Frage, ob diese Kenntnisse so lohnend sind, daß man ihre Verbreitung nun auch noch unbedingt veranlassen soll. Genügt es nicht, daß er selbst als jemand zurückkommt, der einige Kenntnisse mehr gewonnen hat und diese nun völlig zu Recht im Kameradenkreis verbreiten wird? Müssen Pädagogen ihn noch dazu animieren, das bißchen kulturelle Neuland gleich zu einer Bildungsveranstaltung mit der Gruppe hochzustapeln?
 Während also Jugendgruppenleiterbildung nach meinen Erfahrungen sich letztlich nur in der unmittelbaren Praxisberatung ergeben kann - und dafür gelten unsere Überlegungen - , könnten Lehrgänge die Funktion haben, Jugendliche auf einem Sachgebiet, das sie interessiert, weiter zu bringen. Dabei ist es belanglos, ob es sich um Jugendgruppenleiter oder einfach um organisierte oder nicht organisierte Jugendliche handelt, sofern sie nur sich willig für die Sache aufschließen. Der Gewinn solcher Tagungen für die Jugendgruppen kann nur darin liegen, daß auf lange Sicht die Lebendigkeit des Gruppenlebens wesentlich von der Differenziertheit des kulturellen Habitus ihrer Mitglieder abhängen wird. Solche Tagungen und Lehrgänge sind Veranstaltungen der allgemeinen kulturellen Jugendhilfe und haben mit Jugendgruppenleiterbildung genau so viel und so wenig zu tun wie etwa die Gymnasialbildung mit der Eheerziehung.

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 20. Die Misere der geplanten Jugendlichkeit (1963)

Eine Kritik der Jugendarbeit

(In: deutsche jugend, Heft 2/1963, S. 61-71)
 

Als vor gut anderthalb Jahren vom Bundestag die Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz verabschiedet wurde, erhob sich vielerorts Protest gegen diesen Versuch, die Kommunen weitgehend aus dem Bereich der Jugendarbeit auszuschalten. Die Diskussion über das neue Gesetz war fast ausschließlich auf diese Frage beschränkt. Dabei konnte der Eindruck entstehen, als ob durch den Vorschlag der Bundesregierung ein bisher sehr erfolgreicher Zustand nackten politischen Interessen geopfert werden sollte.
Davon kann aber nicht die Rede sein. Ob allerdings durch die geplante Neuregelung die Qualität der Jugendarbeit verbessert wird, scheint deshalb mehr als fraglich, weil auch diese Gesetzesreform die wahren Probleme der jugendpflegerischen Arbeit gar nicht zur Kenntnis genommen hat.
Diese Probleme lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß unsere Jugendarbeit, abgesehen von den ersten Jahren nach 1945, nicht genügend reflektiert hat über ihr Selbstverständnis, ihren Sinn, ihre Aufgaben und vor allem über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang von Gesellschaft und Bildung. Ihr ist es dabei ähnlich ergangen wie vielen anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten, die infolge mangelnder Phantasie, aber auch infolge der vielfachen Belastungen der Aufbaujahre einem vordergründigen Praktizismus verfallen sind. Die Folgen treffen die Jugendarbeit besonders deutlich, weil sie, nach dem Grundsatz der Freiwilligkeit konstituiert,

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ihre Tätigkeit nicht anders ausweisen kann als durch ihre Anerkennung in der jungen Generation selbst. Das Fazit dieser Entwicklung läßt sich heute folgendermaßen ziehen:
1. Es ist der Jugendarbeit weder quantitativ noch qualitativ gelungen, im Bewußtsein der jungen Generation sich einen festen Platz zu erkämpfen.
2. Inhaltlich ist sie über modifizierte Traditionen aus der Jugendbewegung sowie über die unreflektierte Übernahme gängiger "Maschen" der Erwachsenenwelt nicht hinausgekommen.
3. Sie ist vielmehr organisatorisch wie ideell fester Bestandteil des vergesellschafteten Daseins geworden, selbst dort, wo sie, in Verkennung der Antinomie von gesellschaftlicher Wirklichkeit und gesellschaftlichem Bewußtsein, Sachwalter des Jugendlichen zu sein meint.
Um diese kritische Sicht zu begründen und um mögliche Korrekturen ins Auge zu fassen, müssen wir auf einige allgemeine Überlegungen soziologischer Art zurückgreifen, auch auf die Gefahr hin, Bekanntes zu wiederholen.
Zuvor muß aber gesagt werden, daß unsere Kritik an der herrschenden Jugendarbeit Tendenzen aufs Korn nimmt, die gerade durch ihre Überspitzung deutlich werden sollen. Es geht dem Verfasser nicht darum, diejenigen anzugreifen, die guten Willens sich in dieser Arbeit aufopfern, sondern darum, das Scheitern der Jugendarbeit auf einige objektive Gegebenheiten hin zu untersuchen. Auch kennt der Verfasser manche Beispiele, die seinen Ausführungen widersprechen - aber er kennt auch den Preis, der dafür gezahlt werden mußte.

Auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels
In der vorindustriellen Welt vollzog sich das Hineinwachsen des Jugendlichen in die Gesellschaft kontinuierlich. Familie, Beruf, Gesellschaft und Staat waren nach denselben Leitbildern geordnet. Die Maßstäbe der guten Familienerziehung waren hinreichend für die Bewährung in der Erwachsenenwelt. Schon im Schoße der Familie war die soziale Rolle festgelegt, die man später einnahm. Der Beruf ging im wesentlichen vom Vater auf den Sohn über und war dem Sohn hinreichend bekannt. Es gab keine Pubertätsschwierigkeiten, weil es zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt keinen Bruch gab.
Heute trifft dies alles nicht mehr zu. Die Grundtatsache moderner Jugendproblematik ist der Funktionsverlust der Familie: Die Familie kann nicht mehr genügend Bildung und Erziehung für das Leben vermitteln. Schule und außerschulische Jugendarbeit werden als Ergänzung wichtig. Vater und Mutter übersehen das Leben nicht mehr genug. Schon die Berufswahl für die Kinder kann sie hoffnungslos überfordern. Sie kennen nur einige Berufe und ihre Lebenserfahrung. Dies war früher ausreichend für den jungen Menschen, heute ist es eine Teilerfahrung und unter Umständen nicht einmal eine sehr wesentliche. Nicht einmal die wirtschaftliche Sicherung für die Berufsausbildung kann die Familie heute allein übernehmen. Sie ist auf den Staat angewiesen. Damit wird sie aber zu einem Teil entbehrlich.

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ln dem Maße, wie der Jugendliche sich selbst um die wirtschaftlichen Grundlagen seines Daseins kümmern muß (Stipendium durch Leistung oder Arbeit), bekommt er eine autonomere Rolle in der Familie.
Die Aufgabe, in die Erwachsenenwelt hineinzuwachsen, wird durch einen zweiten Umstand erheblich erschwert: Man kann heute nicht mehr mit hinreichender Sicherheit wissen, welchen Platz der spätere Erwachsene beruflich und gesellschaftlich einnehmen wird. Die Weltkenntnis des Jugendlichen - eine Konsequenz der Demokratisierung! - kann nicht mehr in irgendeiner Weise beschränkt, sie muß vielmehr im weitesten Sinne "offen" sein.
Kann also Jugenderziehung heute nicht auf einen bestimmten Lebensbereich gerichtet sein, so kann sie es auch nicht im Hinblick auf einen bestimmten Beruf. Vom künftigen Werkmeister zum Beispiel wird nicht nur eine sehr hohe fachliche Ausbildung erwartet, sondern auch eine allgemein-kulturelle Bildung. Menschenführung in allen Bereichen unseres industriellen Daseins ist heute komplizierter geworden als früher, da sie in dem Verhältnis von Befehl und Gehorsam geregelt war.
So ist heute der Jugendliche sehr früh auf seinen eigenen Verstand und seinen eigenen Willen in der Durchsetzung seiner Lebensinteressen angewiesen. In der Erwachsenenwelt hat angesichts dieser Unsicherheiten die Interessengruppe ihren sozialen Sinn, die Menschen unter bestimmten Zielsetzungen solidarisch zum Schutz oder zur Durchsetzung ihrer Ansprüche verbindet. Der Jugendliche aber kann sich nicht auf eine solche Solidarität stützen.
Schelsky hat dieses Problem zusammengefaßt unter dem Stichwort der "Statusunsicherheit" des Jugendlichen. Ist er der trauten Umgebung der Familie und des Freundeskreises entwachsen, werden Anforderungen an ihn gestellt, die prinzipiell in diesen menschlichen Bereichen nicht mehr geübt werden können. Denn zwischen ihnen und den Strukturen der Gesellschaft ist ein "Sprung" eingetreten. Nur muß man bei dieser Beschreibung bedenken, daß dieses Problem nicht in einer zeitlichen Reihenfolge auftaucht. Bereits in dem Augenblick, wo Jugendliche Ereignisse der Umwelt bewußt erfahren, ist dieser Konflikt gegeben. Für seine Deutung gibt es heute kaum irgendwo einen pädagogischen Ort. So gehört heute unerhört viel Intelligenz und Anpassungsfähigkeit dazu, sich als Jugendlicher in den Antinomien der Erwachsenenwelt zurechtzufinden, und die Gefahr ist groß, daß sich Ressentiments bilden, die feindselig werden gegen alles, was dieser Erwachsenenwelt kulturell und politisch wertvoll erscheint. Die in dieser Spannung produzierten Vorurteile sind unter Umständen ein Leben lang prägend für Verhalten und Urteil.

Anpassung und Widerstand
Man muß sich darüber im klaren sein, daß den heutigen Jugendlichen allein die Massenmedien mit ihren Leitbildern eine Hilfe sind. Mögen uns die Leitbilder der Fans auch noch so banal erscheinen, in Wirklichkeit verbinden sie aber das gesell-

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schaftliche Leitbild des Erfolges mit manchen für Jugendliche eigentümlichen Vorstellungen über die Welt, in denen sich ein letzter Rest von Phantasie freisetzender Romantik zeigt. Die durch Film und Massenpresse geschaffenen Leitbilder verhindern, daß heute diese Statusunsicherheit zur Anarchie führt und daß sich der Jugendliche völlig im Gewirr der Gesellschaft verirrt.
Aber daß diese Leitbilder die jugendliche Suche stabilisieren und auch humanisieren, ist nur die eine Seite. (Die Gründe für Jugendkriminalität gerade bei den Massenmedien zu suchen, ist falsch; das Gegenteil ist wahrscheinlich der Fall: hätten wir deren Leitbilder nicht, könnten wir uns vermutlich vor Jugendkriminalität nicht retten.)
Die andere Seite ist aber, daß diese Leitbilder zwar den Jugendlichen über eine kritische Zeit hinwegführen können, den Konflikt aber insofern nur vertagen, als sie sich beim ersten ernsthaften Gegenüberstellen mit der Realität als unnütz entlarven. Außerdem - und das ist nicht minder bedenklich - haben sie die Tendenz, den Jugendlichen zu jeder denkbaren Form des gesellschaftlichen Gehorsams zu erziehen, nicht unter Androhung von Strafen, sondern unter der verführerischen Verlockung einer Belohnung: Ihre Appelle lassen sich im Grunde auf eine einzige Formel bringen: Wenn Du immer alles das tust, was man in einem jeden Augenblick von Dir erwartet, wirst Du gesellschaftlich erfolgreich sein. Solange man nun den damit ausgesprochenen Vorwurf der totalen Anpassung gegen die Massenmedien erhebt, darf man des pädagogischen Beifalls gewiß sein. Wir wollen aber zeigen, daß objektiv jede Erziehungsmaßnahme zum selben Ergebnis führt, die die Dialektik von Anpassung und Widerstand nicht genügend bedacht hat.
Jede geschlossene Gesellschaft hat nämlich die Neigung, Erziehung als reine Anpassung zu verstehen. Aus unseren obigen Darlegungen geht aber klar hervor, daß gerade Anpassung als alleiniges Erziehungsziel versagen muß in einer Gesellschaft, die sich eben dadurch auszeichnet, daß "oben" und "unten" grundsätzlich als wandelbar und abänderbar gelten. Demnach hätte Erziehung heute neben der Forderung nach Anpassung ebenso wesentlich die andere Seite zu betonen, den Widerstand und die Kritik gegenüber dem Bestehenden. Unsere heutige Erziehung ist noch stark bestimmt vom alten Modell des Obrigkeitsstaates, dem wiederum das Modell einer geschlossenen Gesellschaft zugrunde lag. Gerade das Moment des "Widerstandes", des bewußten und selbstkritischen Ungehorsams gegenüber Ansprüchen der abstrakten Gesellschaft, ist in unserer Erziehung noch weitgehend unberücksichtigt. Diese Behauptung soll wenigstens durch eine Kritik der gegenwärtigen Jugendarbeit erhärtet werden.

Kritik der Jugendarbeit
Man könnte annehmen, daß gerade die Jugendarbeit dieses geforderte kritische Moment darstelle. Aber schon organisatorisch ist sie längst Bestandteil der Vergesellschaftung geworden. Die großen Jugendverbände, auf Bundesebene organi-

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siert, befinden sich kraft des Eigengewichtes, das jeder etablierte Apparat entwickelt, im Zwiespalt zwischen Mitgliederwerbung zur Erhaltung des Apparates und ideeller Konzeption, die Mitgliederbestand und damit wiederum den Apparat gefährden könnte. Sie müssen sich im Zweifel für die Organisation entscheiden. In der unteren Ebene der Jugendgruppen selbst kommt dieser Konflikt zwar meist nicht zum Tragen, aber sie verkümmern mangels durchbluteten Kontaktes nach oben. Die Diskrepanz zwischen verbandlicher Führung und Mitgliederdasein wirkt sich hier ebenso aus wie bei allen gesellschaftlichen Großverbänden. Der Appell an die Initiative der unteren Gruppen muß versagen, weil sie gebunden ist an ein vielseitiges Geflecht von menschlichen Beziehungen auf unterschiedlichen Ebenen der Verantwortung.
Ähnlich liegen die Dinge bei den verschiedenen kommunalen Formen wie Jugenderholung oder "Haus der Offenen Tür". Ist Verwaltung schon an sich ein unfreier pädagogischer Akteur - jeder Fehler wird, veröffentlicht, unmittelbar zum  Politikum - , so kommt hier meist noch der kleinbürgerliche Konformismus hinzu, wie er sich auf der Ebene der Gemeinde oft findet. Nicht zu vergessen die unwürdige gesellschaftliche Einschätzung des behördlichen Jugendpflegers, der sich, meist schlecht besoldet, zwischen kommunaler Verwaltungsbeschränktheit und kleinbürgerlichen Vorurteilen der Bevölkerung durchlavieren muß und so notwendigerweise seine Arbeit gerade mit solchen ideologischen Attitüden überhöht, die ihren Sinn gefährden.
Die ideologischen Überfremdungen der Jugendarbeit beflügeln nämlich den schon von der Organisationsform her vorgeschriebenen Konformismus noch stärker. Es gibt eine Glorifizierung und zugleich schreckliche Simplifizierung des Jungseins in der Jugendarbeit, im Vergleich zu der ein "Teenager-Schlager" lediglich als absurde Verdeutlichung erscheint. Junge Menschen sind fröhlich, lachen und scherzen sorgenfrei - wenn nicht, muß pädagogisch nachgeholfen werden! Daß viele von ihnen schon in der Härte beruflicher und persönlicher Konflikte stehen, wird hierbei ebenso übersehen wie bei der Kulturindustrie, die pausenlos Lächeln und Optimismus produziert. - Hand in Hand mit dieser Einstellung geht die genau entgegengesetzte, die die pädagogische Tätigkeit mit der Gloriole des gesellschaftlichen Opfers umgibt, so als hinge von ihr allein das Gedeihen des Menschen ab. - Immer noch ist der erklärte Gegner alles Moderne, insbesondere aber alle Versuche zu klarer rationaler Orientierung im Heute. Der Jugendliche soll vor den Einflüssen der Konsumgesellschaft geschützt werden und singt zum Beispiel statt Schlager "Jugendlieder", wobei übersehen wird, daß gerade deren textliche und musikalische Minderwertigkeit, sofern sie als Geistigkeit ausgegeben wird, die Disposition für Schlagerkonsum schafft. Wenn es überhaupt einen Schutz dieser Art gibt, dann ganz sicher nur in dem Versuch, Bedingungen und Konsequenzen der Kulturindustrie, von der man selbst ein Teil ist, in die Helle des Bewußtseins zu setzen. Dem aber widerspricht man durch jenen antirationalen Affekt. Schweigen wir von der kulturellen Borniertheit des durchschnittlichen Heimabends, wo die Ersatz-

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stoffe für das Original ausgegeben werden. Die Ideologie des Jungseins, die logisch gekoppelt ist mit antigesellschaftlichen Affekten, wird ergänzt durch einen mit Elitevorstellungen verbundenen Mythos eines "Aktivismus an sich". Jugendliche, die "aktiv" sind, entsprechen ihrem gesellschaftlichen Imago, ganz gleich, um welche Aktivitäten mit welchen Sinngehalten es sich dabei handelt. Ein Appell zur Aktivität aber, dem nicht immer ein Sinnbezug beigegeben wird, schafft tendenziell Manipulierbarkeit.
Lassen wir der Beispiele genug sein! Sie sollten zeigen, daß die heute vorhandenen objektiven Bedingungen der Jugendarbeit jene "Solidarität der Jugendlichen" verhindern, die zu schaffen allein ihren Sinn ausmachen könnte. Jugendarbeit ist selbst Bestandteil des gesellschaftlichen Konformismus, den sie bekämpfen möchte, ist Transmissionsriemen gesellschaftlicher Erwartungen an den Jugendlichen, mag sie das auch mit dem ideologischen Gegenteil drapieren.
Insgesamt gesehen wird sie so zu einem Fluchtziel für Jugendliche (und Erwachsene!), die in der realen Welt scheitern, unzufrieden sind und diese Unzufriedenheit mit affektiven Vorurteilen ausgleichen. Indem Jugendarbeit aber nicht die freie Luft der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Kritik am Bestehenden und des Infragestellens eigenen Daseins atmet, ist sie bereits ebenso vergesellschaftet wie die Konsumindustrie auch.

Die falschen Absicherungen
Man mag hier einwenden, daß doch vor allem die nichtbehördliche Jugendarbeit in Sachen Jugendschutz mit deutlichem Erfolg gearbeitet habe. Solange aber eine positive Hinwendung zur Gesellschaft fehlt, ist Jugendschutz allein eine Illusion, ganz abgesehen davon, daß er nachgerade skurrile Formen annimmt, wenn man sich etwa überlegt, warum zahlreiche Fernsehsendungen mit der Warnung "Für Jugendliche nicht geeignet" versehen sind. Denn einmal wird es in der demokratisierten Gesellschaft immer wesentliche Bereiche geben, die durch Jugendschutzmaßnahmen nicht zu erfassen sind, in denen sich nur eine positive Charakter- und Bewußtseinsbildung bewährt. Zum anderen führt die Beschränkung auf Jugendschutz ohne jene positive Erziehung tendenziell zur totalen Erfassung, die den Jugendlichen glauben machen muß, er werde gegängelt statt gefördert. Und schließlich tragen einseitige Schutzmaßnahmen zur allgemeinen gesellschaftlichen Illusion bei, daß Risiko aus menschlichen Bezügen herausgeplant werden könne. Daß jedes einzelne menschliche Leben auch und gerade heute zu einem guten Teil etwas letztlich Irrationales bleibt und darum wesentlich nicht planbar ist, diese Einsicht wird heute überraschenderweise von der Erziehung ebenso ausgeklammert wie von der industriellen Werbung.
Am Beispiel des Trampens sei das verdeutlicht. Die Attraktivität dieser Sitte resultiert aus jener irrationalen Sphäre. Trampen ist ein echtes Abenteuer, eine immer risikovolle Initiative auf die Welt hin, wenn man allein an die Gefahren des Verkehrs denkt oder auch an die Menschen, von denen man nicht mehr weiß,

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als daß sie ein Auto steuern können. Was bedeutet im Vergleich dazu schon jene konstruierte Abenteuerlichkeit von "Fahrt und Lager", der erlaubt wird, sich im Naturschutzpark der industriellen Gesellschaft anzusiedeln, und der mit der Versicherung der Teilnehmer und der davon bis ins Detail diktierten Aufsichtspflicht jede Chance genommen wird. Wenn ein Landesjugendring allen Ernstes Jugendverbot für die Campingplätze der Erwachsenen fordert, dann ist das nicht Jugendschutz, sondern ein Alibi gegenüber Problemen, vor denen man längst kapituliert hat und deren Verantwortung man flugs weitergibt. Schutz der Jugend vor Gefahren der Erwachsenenwelt ist nur möglich im bewußten, Risiko übernehmenden Sich-Einlassen mit der wirklichen Welt der Väter. Dadurch aber, daß auf der einen Seite Jugendschutz, auf der anderen "jugendgemäße Distanz" zur Wirklichkeit gefordert wird, schafft Jugendarbeit selbst die objektiven Bedingungen dafür mit, daß Jugendschutz mit Jugendgefährdung identisch wird.
Das Verhalten gegenüber radikalen Jugendgruppen ist hierfür ein gutes Beispiel. Als gesamtgesellschaftliche Organisation kann Jugendarbeit auf sie gar nicht anders als politisch, das heißt mit Ausschluß und mit Entzug von Mitteln reagieren. Selbst wenn sie zusätzlich bereit ist, sich solchen Gruppen in der Auseinandersetzung zu stellen, kann sie von ihrem politischen Charakter nicht abstrahieren. Die Gesellschaft aber fordert - auf der Erwachsenenebene zu Recht! - den Sieg ihrer Grundrechte in der Argumentation. Es gibt aber ein Recht des Jugendlichen auf Radikalität, weil es sein Recht auf mangelndes Wissen und damit sein Recht auf Aufklärung gibt! Ausschluß und Entzug von Mitteln müssen aber gerade jene Radikalität bestärken und geradezu legitimieren, die man damit ausschalten wollte. Zu der allein entscheidenden Frage, wie in einer zunehmend reichen Gesellschaft jugendlicher Radikalismus entstehen kann, kann die vergesellschafftete Jugendarbeit guten Gewissens schon nicht mehr verbindlich Stellung nehmen. So werden nicht wache junge Menschen herangebildet, die ihre Augen zum Beobachten gebrauchen und ihren Kopf zum Urteilen, sondern Duckmäuser, Menschen, die frühzeitig lernen, sich bei jeder Initiative, die ihnen einfällt, sich in alle Himmelsrichtungen abzusichern, die nicht begriffen haben, daß auch und gerade heute das Leben ein Risiko enthält, dem gegenüber der einzelne sich nicht allein durch Versicherungen, sondern vor allem durch Verantwortung zu bewähren hat. Dann letztlich steht die bis jetzt skizzierte romantische Komponente der Jugendarbeit auf der Seite der Kräfte, die auch in der Demokratie die totale Vergesellschaftung des Menschen vorantreiben.
Wo man moderner wurde, übernahm man distanzlos die Praktiken der Erwachsenenwelt, die als Spielregeln des allgemeinen gesellschaftlichen Aufwandes zum Teil ihren Sinn haben, in der Jugendarbeit aber ohne einen Zusammenhang mit entsprechender gesellschaftlicher Verantwortung zur Farce werden müssen. Das beginnt bei hochgestapelten Tagungskonzepten, die niemanden außerhalb des Prestige-Gesichtspunktes interessieren; bei jener Managerattitüde von Jugendlichen, deren barbarischer Sprachschatz ("durchziehen", "aufziehen", "Schulungsarbeit", "Anliegen") Verantwortung vortäuschen soll, die sich dann doch nur als

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aktive und passive Manipulation entpuppt; das Ende ist dann jener halberwachsene Opportunist, der frühzeitig gelernt hat, die "Werte" der "Tradition" für beschränkte "Anliegen" seines Apparates zu instrumentalisieren. Spesen, an sich Ausweis erhöhter Verantwortung und Belastung, werden in dieser Mentalität zur Kaufsumme für die Persönlichkeit.

Das Verbandsinteresse und das "pädagogische Anliegen"
In der Gefahr eines solchen Opportunismus stehen insbesondere jene Jugendverbände, in denen sich Erwachsenenverbände fortsetzen und die somit die Chance einer Karriere anzubieten scheinen. Dies hat auch unleugbare Vorteile. So sollte die Rolle dieser Jugendverbände für die Heranbildung des politischen Führungsnachwuchses nicht übersehen werden. Darüber hinaus aber muß überlegt werden, ob nicht gerade Erwachsenenverbänden angeschlossene Jugendverbände die von uns geforderte "Solidarität" gewährleisten können. Haben sie nicht ein unmittelbares Interesse daran, ihren Nachwuchs realistisch zu bilden, ihn einzuführen in die Probleme der Erwachsenenwelt, mindestens insofern sie das jeweilige Gruppeninteresse berühren? Bieten sie nicht andererseits mit ihrer, wenn auch immer begrenzten gesellschaftlichen Repräsentanz dem Jugendlichen jene Orientierung, der er so nötig bedarf? Warum nutzten die Verbände ihre Chance nicht, die ihr Verbandsinteresse sinnvoll mit dem jugendlichen Bedürfnis hätte verbinden können ohne das schreckliche Ergebnis der Halbjugendlichkeit?
Dafür lassen sich sicher viele Gründe anführen, deren wesentliche sich aber auf einen Nenner bringen lassen: Diese Verbände stehen in der Schwierigkeit, ihr unmittelbares Interesse (Nachwuchsförderung) in Einklang zu bringen mit jener weitverbreiteten pädagogischen Ideologie, die die Vertretung gesellschaftlicher Teilinteressen, zumal in Verbindung mit Jugendlichen, pädagogisch diffamiert Dieser Widerspruch hat zur Unehrlichkeit geführt, die letztlich die Jugendarbeit auch bei den Jugendlichen in Mißkredit brachte. In dem Bemühen, sich ständig mit dem altruistischen und darum unglaubwürdigen Schein des "erzieherischen Anliegens" zu umgeben, kam man nicht los von dem, was nach Meinung des "Normalbürgers" eben Jugendarbeit heißt: Jenes verbiesterte sozialromantische Konglomerat, von dem oben die Rede war und das in keinem sinnvollen Zusammenhang mehr steht zur gesellschaftlichen Rolle des betreffenden Verbandes. Hier wiederholte sich im kleinen, was im großen als Widerspruch von Bildung und Gesellschaft qualifiziert werden kann. Der zum Fetisch gewordene Aktivismus gerinnt zur Funktionärsmentalität, "Bildungsgut" - auf diese Weise unbrauchbar gemacht für die Humanisierung menschlicher Verhältnisse - wird zum Etikett auf falschen Flaschen, zum "Geschwätz des Verkäufers" (Adorno).
Solange die großen Jugendverbände nicht den Mut aufbringen zur Auseinandersetzung mit dieser öffentlichen und nicht-öffentlichen Meinung, werden ihnen organisatorische und inhaltliche Reformen nichts fruchten. Wenn sie von diesem ideologischen Druck eines solipsistischen Erziehungsverständnisses sich befreiten,

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wenn sie ihre Bildungsarbeit rein aus dem Gesichtspunkt ihres gesellschaftlichen Interesses konzipierten, so würden sie vermutlich zwar eine thematisch beschränkte, aber dafür vernünftige Arbeit leisten. Man kann von einem Verband aber keine Tätigkeit erwarten, die seiner gesellschaftlichen Bestimmung nicht entspricht oder gar widerspricht. Wenn eine solch unangemessene Erwartung als Versuch zur Manipulation gedeutet wird, ist das nicht verwunderlich. Schließlich ist sie objektiv auch nichts anderes. Würden die Verbände sich endlich zu dem bekennen, was sie sind und was sie höchstens leisten können, käme schon sehr viel mehr Klarheit in unsere Jugendarbeit. Wenn sie ihr eigenes Interesse gründlich genug bedächten, würden sie sich auch vor allzu einseitiger "Schulung" hüten. Im Interesse ihres Ansehens sollten sie aber das immer mächtiger werdende Ansinnen zurückweisen, allein die Verantwortung für die gesamte außerschulische Jugendarbeit zu übernehmen. Sie sollten von sich aus vielmehr dafür eintreten, daß der Jugendliche Gelegenheit bekommt zur Auswahl unter den verschiedenen Angeboten innerhalb der Jugendarbeit.
Aber hier stoßen wir natürlich auf das Tabu, das sich dagegen wehrt, gesellschaftliche Gruppierungen als Zweckverbände anzusehen, deren sich der einzelne bedient und denen er loyal ist, solange er seine Interessen und Wünsche gewahrt glaubt. Der Gedanke, durch Großverbände dem Jugendlichen Solidarität anzubieten, findet nämlich dort seine Grenze, wo die Grenzen des Interesses des sozial noch nicht festgelegten Jugendlichen liegen. Der jugendliche Wunsch nach Welterfahrung äußert sich unter anderem darin, daß er nicht mit der Sozialerfahrung einer einzelnen Gruppe sich begnügen will. Mitgliedschaft in mehreren Jugendgruppen und Teilnahme an anderen Vorhaben als denen der eigenen Gruppe werden aber ungern gesehen, oft als "Untreue" oder "Unverbindlichkeit" mißdeutet. Als ob Treue  und Verbindlichkeit in diesem Sinne nicht an die Fortdauer oder ständige Wiederkehr von konkreten Aufgaben gebunden seien, denen gerade der Jugendliche noch nicht ausgesetzt ist! Wir werden uns angewöhnen müssen, Bildung ebenso pluralistisch zu verstehen wie unser gesellschaftliches Dasein: Kein Faktor repräsentiert  für sich das Ganze. Die Jugendverbände müßten sich auf ihre besonderen Möglichkeiten besinnen und im übrigen zulassen, daß im Feld der Jugendarbeit sich andere  Institutionen mit anderen Bedingungen und anderen Zielen etablieren, für die  sich auch ihre eigenen Mitglieder interessieren. Auch nur der Anschein einer Monopolisierung der Jugendarbeit würde den letzten Kredit aufs Spiel setzen.
Zwischen den Romantikern und Opportunisten der Jugendarbeit steht die Masse der Jugend selbst, von beiden gleichermaßen im Stich gelassen. Sie versucht auf ihre Weise mit den Problemen des Erwachsen-Werdens fertig zu werden. Hier nun läge aber gerade die Aufgabe der Jugendarbeit. Ihr Sinn kann weder in der Verlängerung der elterlichen Wünsche für die Freizeit noch im Vollzug gesellschaftlicher Anforderungen an den Jugendlichen liegen. Es gibt der Ansprüche an das "Objekt Jugendlicher" auch ohne Jugendarbeit mehr als genug. Wenn die Worte "jugendgemäß" und "jugendeigen" einen Sinn haben, dann vor allem insofern, als es spezifische Fragen der Jugendlichen an die wirkliche Welt der Väter gibt

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und spezifische Sorgen um sie. Jugendarbeit muß das Forum sein, auf dem alle diese Fragen, die richtigen und falschen. die gemäßigten und radikalen, die höflichen und unhöflichen nicht nur gestellt werden dürfen, sondern auch gestellt  werden können. Auf diesem Forum müssen die Erfahrungen der Erwachsenen mit  den Fragen der Jugendlichen in einem Klima von Härte und Achtung zusammen gebracht werden können.
Damit wird das Gespräch zur wesentlichen Kategorie für die Arbeit, das Gespräch zwischen Jugendlichen unter sich oder zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Es muß stattfinden in einer Atmosphäre, die keinen offiziellen Charakter hat und damit nicht notwendig zum Konformismus der Erwachsenen führt. Diese Möglichkeiten des Gesprächs, des äußerlich zwanglosen, aber innerlich verbindlichen Redens sind eine große Chance der Jugendarbeit, die sie auf Grund ihrer besonderen  Bedingungen allen anderen Erziehungsbereichen voraus haben könnte, Möglichkeiten, nach denen in der jungen Generation ein übergroßes Bedürfnis besteht.

Folgerungen fur die Praxis
Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für die Praxis einige`Folgerungen, die abschließend skizziert seien:
1. Die "ernsten" Inhalte der Jugendarbeit müssen zum Ziel haben, eine Beziehung zur heute gültigen komplizierten Kultur der Erwachsenen, nicht zu irgendeiner "Jugendkultur" oder sonstigen Derivaten herzustellen.
2. Die bewußte Instrumentalisierung (und damit Vergesellschaftung) von Kulturellem muß vermieden werden. (Man singt nicht, ,"damit Gemeinschaft entstehe", sondern entweder weil es einfach "Spaß macht" oder weil man sich voll und ganz mit guter Musik einlassen will. Beides hätte seinen je verschiedenen Sinn.)
3. Es muß mit dem jeweils höchstmöglichen sachlichen und menschlichen Anspruch gearbeitet werden. Das vielfach übliche Motto "was wir tun, ist egal, Hauptsache die Leute kommen" entspringt kulturindustrieller Mentalität, der auch Behörden verfallen, wenn sie Erziehungsarbeit als eine direkte Relation von Teilnehmerzahl und Kostenaufwand zu mathematisieren suchen. Was an Umfang verloren ginge, würde wettgemacht durch Ansehen. Jugendarbeit muß für die Besten interessant sein, die anderen kommen dann von selbst.
4. Die vielfach herrschende Animosität gegen "gutes Benehmen" sollte sorgsam überprüft werden. Man tut Jugendlichen keinen Gefallen, wenn man ihnen demonstriert, gepflegter Umgangsstil sei eine oberflächliche Attitüde. Das Gegenteil stimmt: Erst im Rahmen verbindlicher Spielregeln kann sich auch individuelle Höflichkeit und Rücksichtnahme entfalten. Der unter allen Umständen kurzbehoste und schlipslose Jugendliche ist lächerlicher als die erheblich differenziertere Teenager-Mode.

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5. Die Jugendarbeit sollte überhaupt "Sicherheit im Unterscheiden" lehren, und zwar vor allem dadurch, daß man sich im differenzierten kulturellen Gefüge zu bewegen lernt.
6. Man sollte aufhören, dem selbst noch jugendlichen Gruppenleiter Aufgaben einzureden, die er nicht leisten kann. Wenn er ein guter Gruppenleiter ist, gelingt es ihm, Begegnung mit Kulturellem zu organisieren, unter anderem als Begegnung mit Erwachsenen, die sich einem Gespräch stellen. Die unglaubliche Verflachung der Jugendarbeit ist doch vor allem dadurch eingetreten, daß man von solchen Gruppenleitern die Durchführung ganzer Bildungsprogramme erwartete.
7. Gestaltung und Funktion des Heimabends muß ebenfalls sorgsam überprüft werden. Anzustreben ist die Mitbeteiligung einer Gruppe an dem, was ohnehin am Ort als kulturelles Angebot vorliegt (gemeinsame Besuche von Kino, Theater, Konzerten, Vorträgen, Sportveranstaltungen, Volkshochschul-Kursen, Fernsehsendungen usw). Grundsatz muß sein: Nichts selbst veranstalten, was an anderer Stelle dank personeller und finanzieller Möglichkeiten besser gestaltet werden kann. Damit steht natürlich auch die übliche Form der Jugendgruppe selbst zur Diskussion. Sie muß in ihrer Zusammensetzung beweglicher und fließender werden.
8. Alle geselligen Formen des jugendlichen Zusammenseins sind Vorformen gesellschaftlichen Verhaltens in der Erwachsenenwelt. Ein charmant-distanziertes Verhältnis zum anderen Geschlecht sollte ebenso gepflegt werden wie Kleidungsvorschriften in bestimmten Fällen und geistvolle Spritzigkeit bei der Auswahl von Spielen. Eine gute Jugendarbeit wird versuchen, beispielhaft Fülle und Sinnhaltigkeit menschlicher Kommunikationen vorzuführen. Dazu gehören Gespräche ebenso wie Geselligkeit, die Anspannung des Zuhörens wie die naiv entspannende Wirkung der Schlager-Geräuschkulisse.
In der Sache aber hat Jugendarbeit aufzustehen gegen die Lebenslügen, die sich in der Antinomie von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein ständig reproduzieren, gegen die Lebenslügen, daß der Mensch Erfolg habe, wenn er es nur allen recht mache; daß das Risiko des menschlichen Lebens durch gesellschaftliche Planung aufhebbar sei; daß mit zunehmendem Wohlstand von selbst das Leben menschlicher würde; daß in unserer Gesellschaft alles zum Besten stünde, wenn es die Kommunisten nicht gäbe; daß Versicherung Verantwortung ersetzen könne und so weiter. Wir müssen die Jugend dazu ermutigen, sich mit den großen Möglichkeiten, aber auch mit den großen Verführungen unserer Zeit einzulassen, und ihr helfen bei dem Wunsch, sie zu bestehen. Die Welt der Erwachsenen ist das große Abenteuer, das es zu suchen und zu bestehen gilt, nicht das, was als Ersatz dafür ausgegeben wird.
An der Frage, ob die Jugendarbeit diese Bedingungen ihres Daseins begreift und für die Praxis berücksichtigt, wird sich entscheiden, ob sie in Zukunft ihre eigene Stellung im Ganzen unserer Gesellschaft finden wird oder nicht.

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 21. Kurt Schumacher (1963)

(In: Neue Politische Literatur, H. 3/1963, S. 259-262)
 

 Kurt Schumacher: Reden zur deutschen Politik, ausgewählt u. kommentiert v. Wolfgang Bartsch. 30-cm-Langspielplatte, ARIOLA GmbH., Gütersloh 1962.
Kurt Schumacher: Reden und Schriften, eingeleitet v. Erich Ollenhauer u. Karl Schmid. 549 S., Arani-Verlags-GmbH., Berlin 1962.

"Männer machen Geschichte" heißt eine Formel, die insbesondere im Schulunterricht nach wie vor anzutreffen ist. So problematisch ihre Einseitigkeit sein mag, richtig daran ist jedenfalls, daß das Wirken bedeutender Menschen uns wie nichts anderes die "Anschauung" für die Erkenntnis auch komplizierter historischer und politischer Zusammenhänge liefern kann. In den Handlungen, Urteilen, Erfolgen und Irrtümern politischer Akteure verdichten sich gewissermaßen abstrakte politische Strukturen zu eigenem Leben. Für kaum einen Politiker der jungen Bundesrepublik gilt das so wie für Kurt Schumacher. Er, der im Jahre 1932 auf dem Forum des Reichstages die nationalsozialistische Agitation als einen "dauernden Appell an den inneren Schweinehund im Menschen" klassifizierte, wurde nach dem Kriege Führer einer politischen

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Opposition, die fast zur Regierungspartei geworden wäre. Aus mindestens zwei Gründen blieb er trotz anfänglicher Erfolge bei breiteren Schichten in der deutschen Politik ein Fremder: Als scharfsinniger, auf Überzeugung der Massen eingestellter politischer Redner und als Politiker, für den die "Anstrengung des Begriffs" zum unerläßlichen Handwerkszeug gehört. Beides aber widerspricht bis auf den heutigen Tag zu sehr der Art und Weise, wie in Deutschland politisch geführt wird, als daß es hätte populär werden können.  Die Ariola-Produktion versucht durch eine Tondokumentation in bewährter  methodischer Anlage die Persönlichkeit Kurt Schumachers zu vergegenwärtigen,  indem sie ein gut kommentiertes Panorama seiner politischen Vorstellungen unter Verzicht auf chronologischen Ablauf anbietet. Leider ist dabei die Konkretheit verloren gegangen, an der Sch.s theoretische Aussagen sich immer wieder gebildet haben. Wenig ist von den atemberaubenden Auseinandersetzungen zwischen dem Bundeskanzler und dem Führer der Opposition aus den ersten Jahren der Bundesrepublik zu spüren, in denen Sch. jede einzelne außen- und innenpolitische Maßnahme der Bundesregierung, mochte sie für sich genommen noch so einsichtig sein, auf die dahinter stehende Vorstellung von Demokratie zurückführte, die der eigenen so zuwider war. Man fragt sich z. B., warum in dem Dokumentenausschnitt über die Rolle der politischen Opposition ausgerechnet der Satz ausgespart wurde: "Wir haben eine in Sachen der Besitzverteidigung sehr unsentimentale Regierung, und es wird die Aufgabe der Opposition sein, bei der Interessenvertretung der arbeitenden Bevölkerung ebenso unsentimental zu sein".
Weil Sch. die neue Bundesregierung so sah, deshalb (vor allem!) fand er eine solche Kennzeichnung der Opposition, wie sie auf der Platte zitiert wird. - Hier zeigt

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sich, daß Tondokumentationen über die Zeit nach 1945 besonderen Schwierigkeiten begegnen. Das Material befindet sich in aller Regel in den Händen von Organisationen oder Institutionen, deren politische Interessen durch seine Veröffentlichung so oder so berührt werden. Daß die Objektivität der Darstellung dadurch nicht gerade gefördert wird, liegt auf der Hand. Außerdem sind Ereignisse von solch geringem zeitlichem Abstand noch stärker der Gefahr einer irrtümlichen Deutung ausgesetzt, als dies für die Zeitgeschichte vor 1945 allgemein gilt.
Mit Recht wird Sch.s Einstellung zum Kommunismus und zu Berlin herausgearbeitet. Aber gerade im Zusammenhang mit seinen innenpolitischen Vorstellungen und Prinzipien war dies etwas qualitativ anderes als das, was sich heute in der offiziellen Sprachregelung z.T. mit denselben Worten kundtut.
Geht damit die innere Stimmigkeit des Schumacherschen Denkens etwas verloren, so bleibt - und das allein rechtfertigt schon die Produktion! - die klare Rationalität der Argumentation in Sachen Wiedervereinigung und Kommunismus, eine Kraft des Verstandes, der man die Disziplinierung des leidenschaftlichen Engagements unentwegt anmerkt, ob sie sich nun gegen die Nachkriegspolitik der Alliierten, die aufkommende Restauration, die Nutznießer des Dritten Reiches oder für die Erhaltung Berlins, die Wiedergutmachung gegenüber den Juden und schließlich eine Wiederbewaffnung unter demokratischen Vorzeichen einsetzte. Der Klappentext enthält eine ausgezeichnete Würdigung der Person Sch.s von E. Krippendorff und weiterführende Literaturangaben.
Die "Reden und Schriften" Kurt Schumachers lassen die ganze Breite seines politischen Denkens und den inneren Zu-

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sammenhang seiner Prinzipien deutlich werden. Es war gewiß schwierig, für die einzelnen opera eine geeignete Systematisierung zu finden, da ja alle Stellungnahmen vom politischen "Zusammenhang aller Dinge" besessen sind. Insofern ist die Aufgliederung in sieben größere Kapitel nur eine Hilfskonstruktion. Sehr hilfreich dagegen für eine systematische Lektüre ist das ausführliche Personen- und Sachregister. Hier nun läßt sich die These immer wieder belegen, daß Sch. aus konkreten Anlässen der Tagespolitik seine theoretischen Entwürfe entwarf. Bei der Lektüre stört die Entdeckung nicht, wie auch er, vom Erlebnis des totalitären Staates und der deutschen Geschichte vor 1933 geprägt, sich bei aller Scharfsinnigkeit richtige Urteile verbauen konnte.
Es ist kaum möglich, aus der Fülle der Beiträge und Gedanken Einzelnes herauszuheben. Wollte man aber der politischen Bildungsarbeit und hier vor allem der jungen Generation etwas besonders empfehlen, dann bieten sich der Aufruf "Konsequenzen deutscher Politik" aus dem Jahre 1945 und die große Rede über die "Aufgabe der Opposition" an, die er als Antwort auf die erste Regierungserklärung des Bundeskanzlers formulierte. Beides ist in besonderem Maße "exemplarisch" für die politische Haltung Sch.s und auf weite Sicht "aktuell" und sollte über diese verhältnismäßig preiswerte Edition hinaus noch in anderer Form der politischen Bildungsarbeit zur Verfügung gestellt werden.

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 22. Ist die Geschichte des Dritten Reiches noch ein politisches Thema für die Jugendbildung? (1963)

(In: deutsche jugend, Heft 6/1963, S. 273-278)
 

 Die politische Bildung nach 1945 stand weithin unter dem Zeichen des Erlebnisses unserer Elterngeneration im Dritten Reich. Die Zielsetzungen ergaben sich aus dieser "unbewältigten Vergangenheit", die aber eigentlich nur diese Generation selbst betraf. Die Erfahrung des Totalitarismus im Dritten Reich ist im guten wie im bösen nach 1945 ebenso das allbeherrschende politische Erlebnis gewesen wie das Erlebnis des Schützengrabens, das "Fronterlebnis", für die Weimarer Republik. Von diesem historischen Hintergrund her ist es durchaus verständlich, daß die beiden Themen "Kommunismus" und "Hitlerdiktatur" bis auf den heutigen Tag die politische Jugendbildung bestimmen, und inzwischen gibt es sogar Theorien der politischen Bildung, die sich mehr oder minder ausschließlich auf den Gegensatz von Demokratie und Diktatur stützen.
Nun dürfte kaum ein Zweifel bestehen, daß im ganzen gesehen die Elterngeneration ihre Vergangenheit "nicht bewältigt" hat, und der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, daß man es ihr seitens der öffentlichen Meinung, die das wenig kostet, auch nicht gerade leicht gemacht hat. Indem nämlich die Betrachtung der deutschen Vergangenheit allzu einseitig sich auf die Zeit von 1933 bis 1945 konzentrierte, stellte man rückwirkend die allzu idealistische Forderung an die betroffene Generation, sie hätte in irgendeiner Form Widerstand leisten müssen, anstatt sich aufs reine Überleben einzurichten. In dem Maße nun, wie die ältere Generation mit diesen Problemen nicht fertig wurde, sondern sie verdrängte, projizierte sie sie auf die nachfolgende.
Für diejenigen aber, die zwischen 1940 und 1950 geboren wurden, ist das Dritte Reich kein Problem ihrer Anschauung und Erfahrung mehr, vielmehr wird es

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unaufhörlich von den Erwachsenen dazu gemacht. Diese Erwachsenen können oder wollen nicht verstehen, daß für die jüngere Generation die zeitliche Entfernung zu den KZ-Lagern subjektiv ebenso groß ist wie die zu den mittelalterlichen Hexenprozessen. Wie soll man auch den Jugendlichen, die heute Wahlkämpfe im Stil von Revueveranstaltungen erleben, den politischen Wirrwarr vor 1933 erklären? Wie ihnen die Not der Weltwirtschaftskrise klarmachen, während sie sich gerade überlegen, ob sie sich ein Moped oder ein Kofferradio kaufen sollen? Wie ihnen verständlich machen, warum man 1933 Hitler wählte, der den Jugendlichen heute als pathologischer Menschenfresser vorgeführt wird? Wie ihnen überhaupt klarmachen, daß Politik einmal so wichtig war für jeden einzelnen, daß man sich darum die Köpfe einschlug? Man führt dem heute 16jährigen Filme über die Greuel der SS vor und wundert sich, daß er nicht tief erschüttert ist. Wenn man dieser Generation sagt, auch sie habe die Vergangenheit des Volkes auf sich zu nehmen, so leuchtet das logisch ein, bleibt aber notwendig ohne emotionalen Widerhall. Für diese Generation ist in Wahrheit die demokratische Staatsform viel selbstverständlicher als für jene Erwachsenen, die sie ihr ständig wohl auch deshalb problematisch machen, weil sie der Kraft dieser Staatsform letztlich doch nicht ganz vertrauen. Wenn nicht alle Beobachtungen täuschen, dann ist die junge Generation vor allem an der Frage interessiert, auf welche Weise der heutige Status der Freiheit verloren gehen könne, und die Vergangenheit ist dabei nur insofern interessant, wie sie über diese Frage Auskunft gibt. Je länger nun die Bemühungen fortdauern, der jungen Generation die Probleme der alten aufzudrängen, um so mehr Unehrlichkeiten stellen sich ein.

Die Frage nach der Schuld
Es entsteht heute nicht selten der Eindruck, daß das Dritte Reich so etwas wie ein tragischer Unglücksfall der deutschen Geschichte gewesen sei und daß also eigentlich auch die 1933 unterbrochene historische Kontinuität im Jahre 1945 ungebrochen hätte fortgesetzt werden können. Dies ist eine Auffassung, die sich auch in der wissenschaftlichen Literatur zur Zeitgeschichte allzu oft feststellen läßt. Sie ist schon deshalb unehrlich, weil die politische Vernunft und damit auch die politische Moral längst zerstört waren, als Hitler dann auch ihr kulturelles Ornament noch liquidierte. Die Schuldfrage läßt sich nicht auf eine Handvoll SS-Mörder konzentrieren, schon deshalb nicht, weil vor 1933 alle Gruppen der Gesellschaft teils durch Aktivität, teils aber auch durch Unterlassung am Aufkommen der Hitlerei beteiligt waren - wenn man die Schuldfrage nicht nur von den Absichten, sondern auch von den objektiven Wirkungen her stellt. Für den, der sich in der Zeitgeschichte auskennt, genügen einige Hinweise: Die Rechte zerschwatzte mit dem Niveau der Hugenbergpresse oder im Oberlehrerstil Spenglers den letzten Rest an politischer Vernunft. Machwerke vom Gehalt und vom Stil von "Mein Kampf" gab es in unübersehbarer Anzahl, und unter ihnen kam Hitler nicht unbedingt am schlechtesten weg. Depossedierte Kleinbürger neideten den Arbeitern ihre politische Interessenvertretung und kompensierten ihre Unsicherheit durch natio-

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nalistisches Halbstarkentum. Jede politische Gruppe von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften versuchte, politisch unreflektiert ihr spezielles Steckenpferd durch die Zeit zu reiten. Die staatstragende Mitte dachte in den Kategorien von 1848 und suchte durch Kulturphrasen auszugleichen, was ihr in der politischen Wirklichkeit notwendig mißlingen mußte. Ihre Jugendgruppen tanzten auf dem Höhepunkt des ökonomischen Klassenkampfes Ringelreigen. Die Rolle der Kommunisten ist - nicht zufällig - am meisten bekannt.
Die Verantwortung des deutschen Volkes an der Hitlerei kann sinnvollerweise nur bis zum Jahre 1933 oder 1935 angesetzt werden. Später hätte in den meisten Fällen ein Widerstand nur die Gefräßigkeit der Terrormaschine sinnlos vergrößert. Im Grunde genommen können auch aus dem späteren deutschen Widerstand keine unmittelbaren Folgerungen mehr für die politische Gestaltung der Gegenwart abgeleitet werden. Seine ausweglose Situation verleitet nur allzu leicht zu einer Wiederauflage der abstrakten "sittlichen« Staatsbürgerbildung, deren Ästhetik sich an den griechischen Tragödien orientiert. Aber die persönliche Tragik der Männer des 20. Juli etwa darf die Frage nicht abwürgen, warum die Entwicklung erst soweit gedeihen mußte, daß nur noch eine solch tragische Haltung möglich war.
Indem man heute die eigenen Schuldgefühle auf die Minderheit der SS-Leute projiziert - statt wie früher auf die Juden - , bringt man auch jene Gruppen wieder zur Rehabilitation, deren Engagement für die Demokratie mindestens zweifelhaft sein muß. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, daß sich der psychologische Mechanismus von Schuld und Entlastung von den Opfern auf die Mörder zu verlagern beginnt. Während es der politischen Bildung entscheidend darauf ankommen müßte, eben diesen Mechanismus rational aufzuhellen, bestätigt sie ihn gerade unter bloßem Austausch der Objekte.

Das kritische Verhältnis zur Gegenwart wird verdunkelt
Viele Menschen, auch "einfache Leute", hatten es im Dritten Reich besser als heute. Viele Deutsche zehren auch heute noch von der ganz anderen gesellschaftlichen Einschätzung etwa, die ihrem Beruf zuteil wurde. Es ist unehrlich, dies zu verschweigen. Natürlich soll und muß man auf den Preis hinweisen, der dafür gezahlt werden mußte. Aber der Preis allein ist noch kein Argument gegen das Bedürfnis. Es entsteht allmählich ein "Bild" der jüngsten Vergangenheit, dem eigentlich alle Züge des Politischen fehlen. Es kostet selbst den Antidemokraten nichts, zu sagen, Eichmann sei ein Mörder gewesen, wenn ihn das bei uns politisch gesellschaftsfähig macht. In Wahrheit hat die behördlich vorgeschriebene Behandlung der Vergangenheit das kritische Verhältnis zur Gegenwart eher verdunkelt als freigelegt. Unsere Behandlung der Hitlerei ist unpolitisch und unaktuell zugleich. Sie lenkt die kritische Potenz auf ein Gebiet ab, das niemanden mehr bedroht, am wenigsten die heute Mächtigen. Es ist auffallend, daß sich kaum eine der zahllosen, zum Teil trefflichen Publikationen der Bundeszentrale für Heimatdienst und der Lan-

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deszentralen mit den politischen Mächten vor 1933 in Deutschland befaßt: Die innenpolitische Brisanz wäre zu groß.
Andererseits kann es keinen Zweifel daran geben, daß die Vergangenheit die heute führende politische Generation belastet: Jede halbwegs wichtige innenpolitische Diskussion beschwört das Schreckgespenst der Jahre 1933 bis 1945. Die innenpolitische Verketzerung entspringt ja nicht nur bösem Willen, sondern viel stärker den historischen Assoziationen, die sich einstellen, sobald Begriffe wie "Notstandsrecht" und "Streik" in die Debatte kommen. Und noch ein anderer Gesichtspunkt spielt dabei eine Rolle: Im Gegensatz zu anderen demokratischen Ländern fehlt uns die lange Tradition, die bestimmte demokratische Werte und Verhaltensweisen "selbstverständlich" gemacht hätte. Somit bekommt für uns der ständige Vergleich zur jüngsten Vergangenheit die Funktion eines "Traditions-Ersatzes". Dies Problem stellt sich noch schärfer, wenn man sich klarmacht, daß es sich ja nicht nur um das Fehlen einer politischen Tradition handelt, sondern daß auch in den verschiedenen kulturellen Bereichen kaum demokratische Vorstellungen entwickelt wurden. Das gilt selbst für den deutschen Widerstand gegen Hitler, dessen Vorstellungen über die Neuordnung Deutschlands nahezu völlig in den Gedankengängen der Vor-Hitler-Zeit befangen blieben und eben deshalb in unserer jungen Bundesrepublik kaum wirksam geworden sind.
Erst wenn man sich den vollen Ernst dieser Tatsache klar macht, werden die Folgen deutlich, die eine allzu naive Anknüpfung an die vornazistische Geschichte haben müßten. Demokratische Leitbilder wird die Jugend in der neueren deutschen Geschichte kaum finden. Was sonst? Sie wird eine gescheiterte Republik finden und vielleicht die Frage nach den Gründen des Scheiterns ausweiten auf die Frage nach der Wiederholbarkeit. Die Jahre des Nazismus sind "nur" Anschauungsunterricht dafür, was ein solches Scheitern für konkrete Menschen bedeutete. Politische Maßstäbe und Einsichten kann die Beschäftigung mit den Jahren des Nazismus gar nicht vermitteln, weil diese Epoche eigentlich nur das Aufhören von Politik demonstriert.

Welche Fragen sind noch aktuell?
Im übrigen aber haben sich bei der heutigen Jugend ganz andere Einstellungen zu politischen Fragen entwickelt, als wir sie in der Zeit vor und nach 1933 finden. Diese junge Generation tritt zum Beispiel dem politischen Gegner viel unkomplizierter und ohne die Belastungen der Vergangenheit entgegen. Sie ist dem Ansinnen ausgewichen, ihre emotionale Fundierung der Politik sich an denselben historischen Orten zu beschaffen wie ihre Väter - und das stimmt hoffnungsvoll. Lassen wir also zu, daß sich ihr politisches Interesse stärker auf die Gegenwart und deren zukünftige Chancen konzentriert. Trotzdem bleibt die Frage: Welche Rolle kann dabei die jüngste Geschichte spielen? Hier scheinen einige Leitfragen angebracht, die sicherstellen können, daß die Zeitgeschichte wirklich politisch betrachtet wird.

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1. Was ist geschehen? Diese genuin historische Frage ist noch am leichtesten zu beantworten. Sie hängt vor allem vom Stand der historischen Forschung ab. Aber diese Fragestellung darf nicht erst bei 1933 beginnen. Entstehung und Verlauf der Weimarer Republik sind hier von viel fundamentalerer Bedeutung.
2. Warum ist es so gewesen? Diese Frage ist schon weitaus schwerer zu beantworten und entspricht nicht mehr der Zuständigkeit einer einzelnen Wissenschaft. Hier wird vieles "fragwürdig", eigentlich die ganze deutsche Geistes-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte seit mindestens 1870. Warum haben sich die deutschen Kirchen nicht an der ersten Demokratie engagiert? Warum hat die Universität versagt? Warum waren die Oberschulen antidemokratisch? Diese Fragen implizieren die weiteren: Sind heute die Kirchen, Universitäten und Schulen demokratischer als damals?
3. Bestehen heute die Probleme noch, die Hitler auf seine Weise zu lösen sich anschickte? Diese Frage verlangt noch mehr Bewußtheit als die bisherigen, sie verlangt nämlich die Fähigkeit, aus einem Zusammenhang von Fakten Probleme zu exponieren. Bestehen die damaligen Probleme nicht mehr, dann können wir die »Bewältigung" der Vergangenheit mit sehr viel mehr Gelassenheit betrachten. Am deutlichsten scheinen eine Reihe außenpolitischer, wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen inzwischen gelöst zu sein. Aber bestehen nicht alle Orientierungs- und Bewußtseinsprobleme der Vergangenheit fort? Ist nicht die Frage der Stellung des Menschen in der industriellen Welt ebenso offen geblieben wie die Frage seiner politischen Selbst- und Mitbestimmung? Könnte es nicht sein, daß die sozialpsychologischen Probleme, die die Hitlerei begünstigten, immer noch fortbestehen, vermindert lediglich um diejenigen, die sich allein durch ökonomischen Reichtum beseitigen lassen? Reicht es zum Beispiel aus, Hitlers Ideologie der "Volksgemeinschaft" als Herrschaftstrick zu entlarven? Besteht das Bedürfnis, das allein den Propagandaerfolg dieses Schlagwortes garantierte, nicht weiter fort? Haben nicht auch die totalitären Verhaltensmuster immer noch eine Chance, die den kollektiven Wunsch nach "Integration" in ein "Ganzes" hervorrufen können, dem man als "dienendes Glied" sich "anschließen" soll, wenn man selber "kein Ganzes" werden kann? Ist nicht gerade die Unsterblichkeit aller antirationalen, antiintellektuellen und antiindividuellen ideologischen Prämissen in unserem Erziehungswesen der beste Beweis für unsere Befürchtung? Haben wir gegenüber dem Jahre 1930 in unserem demokratischen Staat überhaupt mehr gelöst, als sich durch Geld lösen läßt?
4. Sind nach 1945 neue Probleme entstanden, die sich zu einer Bedrohung der Freiheit entwickeln können? Hier wären vor allem die Probleme der Konsumgesellschaft zu nennen sowie die Tatsache der deutschen Teilung, deren restaurative innenpolitische und ideologische Konsequenzen man nicht zu gering einschätzen sollte. Gerade die durch den Fortschritt der ökonomischen Produktivität entstandenen neuen Probleme drohen aus dem Bewußtsein der politischen Bildung zu verschwinden und einer politisch naiven "Freizeitpädagogik" überantwortet zu werden.

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5. Ist eine Wiederholung des Nationalsozialismus in irgendeiner Form möglich? Diese Frage ist jahrelang von Erwachsenen und Jugendlichen in fast allen Diskussionen als allein entscheidend betrachtet worden. Sie beweist, wie wenig politisches Urteil sich aus der Betrachtung der Vergangenheit ergeben hat, starrt sie doch aufs bloße historische Phänomen und nimmt den Zusammenhang ökonomischer, soziologischer, psychologischer und historischer Ereignisse gar nicht erst in den Blick. Daß sich totalitäre Tendenzen letztlich immer nur aus konkreten Prozessen der gegenwärtigen Gesellschaft entwickeln können, bleibt dieser Fragehaltung unbewußt. Will man diese Frage sinnvoll klären, so muß man sich vorher mit den anderen Leitfragen einlassen.
Die Zeitgeschichte hat heute ihren festen Platz in allen Schularten. Die Historiker haben Forschungsergebnisse und Quellenmaterial zur Verfügung gestellt, und begabte Didaktiker haben beides in die Sprache des Unterrichts umgesetzt. Offensichtlich ist der zeitgeschichtliche Unterricht gut, wenn man ihn an den vielfältigen Schwierigkeiten unseres Schulwesens mißt und nicht an allzu idealistischen Maßstäben. Mindestens hat er eine deutliche Reform des Geschichtsunterrichts erreicht, insofern er ihn näher an die Gegenwart rückte. Das ist ein unleugbarer Fortschritt, schafft er doch in der jungen Generation eine breitere und bessere Informiertheit. Und insofern sich politische Bildung auf Kenntnisse stützen muß, dient er auch ihr. Aber mit dem Wesen politischer Bildung muß ein noch so guter zeitgeschichtlicher Unterricht nicht unbedingt etwas zu tun haben. Ja, er kann diesem Wesen durchaus zuwiderlaufen, dann nämlich, wenn ihm die Aktualisierung seiner Probleme auf die Gegenwart nicht gelingt. Ein Blick in die Lehrbücher und die veröffentlichen Unterrichtsbeispiele läßt diesen Verdacht entstehen. Man findet dort allenfalls noch eine abstrakt moralische Aktualisierung oder den Hinweis auf die gleichartige politische Struktur der SBZ oder auch den Verweis auf nachträgliche Prozesse gegen KZ-Mörder, die immer noch nicht zur Einsicht bereit seien. Solcherart Aktualisierungen sind in sich schon wieder Bestandteil eines politischen Denkens, das eigentlich selbst in der politischen Bildung zur Debatte gestellt werden sollte. Die Assimilation der Zeitgeschichte an eine ansonsten grundsätzlich unveränderte pädagogische und vor allem didaktische Tradition ist etwas zu schnell und zu reibungslos gelungen, als daß man ihr voll vertrauen dürfte. Dabei bleibe unerörtert, ob es nicht sinnvoll sein könnte, zeitgeschichtliche Ergebnisse im Unterricht auch losgelöst von aktuellen Fragestellungen zu betrachten.
Hüten wir uns aber davor, der jungen Generation falsche Fragen an die Vergangenheit zu suggerieren. Der Gegenstand ihres politischen Bewußtseins und ihres politischen Gestaltungswillens ist die gegenwärtige Welt, die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik, nicht die Vergangenheit der Väter. Verschonen wir sie endlich damit, daß sie sich ständig unter dem Anspruch von politischer Bildung mit den politischen Komplexen der Väter herumschlagen soll, während sie doch nur interessieren kann, wie die Welt aussehen könnte, in der sie vielleicht noch 60 Jahre zu leben hat.

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 23. Worauf antworten die jungen Arbeiter? (1963)

Kritische Überlegungen zu:
Arlt/Wilms:Junge Arbeiter antworten. Junge Arbeiter und Angestellte äußern sich zu Beruf und Arbeit, Gesellschaft und Bildung. Ein Beitrag zur Jugendsozialarbeit innerhalb und außerhalb des Betriebes.
Auswertung einer Enquete des Deutschen Industrieinstitutes in Zusammenarbeit mit Verbänden der Jugendsozialarbeit. Georg-Westermann-Verlag, Braunschweig 1962. 80 S.

(In: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 7/1963, S. 423-426
 

Bildungsarbeit ist heute ohne sozialwissenschaftliche Untersuchungen nicht mehr zu betreiben. Dieser Grundsatz gilt noch mehr für alle Versuche der Veränderung des bestehenden Bildungswesens. Soll deren Erfolg nicht von vornherein in Frage stehen, dann müssen die Sozialwissenschaften sowohl den objektiven Zusammenhang des Bildungswesens mit gesellschaftlichen Strukturen wie auch die subjektiven Bildungsmotive analysieren, die von jenem objektiven Zusammenhang nicht losgelöst sind. Die Sozialwissenschaften werden so zu einer instrumentalen Hilfswissenschaft der Bildungsarbeit und Kulturpolitik allgemein. So hilfreich und notwendig solche Untersuchungen sind, so sehr muß man jeweils auf die Grenzen ihrer Aussage sehen, will man nicht traditionelle Ideologien einfach durch neue ersetzen. Um ein Gespür für solche Grenzen zu erhalten, bedarf es eines hohen theoretischen Bewußtseins der Untersuchenden. Obwohl die moderne Soziologie seit geraumer Zeit mit diesem ihrem "Methodenproblem" ringt, trifft man immer wieder auf Veröffentlichungen, die von dieser Diskussion keine Kenntnis nehmen. In ihnen wird meist eine kulturpolitische Zielsetzung mit wissenschaftlichen Ansprüchen kaschiert, die bei näherer Betrachtung nicht zu halten sind, anstatt daß man sie gleich nennt und sie mit vernünftigen Argumenten begründet, die ja ihrerseits sich durchaus auf sozialwissenschaftliche Ergebnisse stützen sollen!
Die Gefahr dabei ist, daß an sich irrationale politische Entscheidungen, die grundsätzlich die reine Summierung von Fakten übersteigen, mit dem Schein einleuchtender wissenschaftlicher Deduktion umgeben werden - ein Denkverfahren übrigens, das wir bislang eigentlich nur vom orthodoxen Marxismus kannten. -
Die Arbeit von Arlt und Wilms ist solchen Gefahren in einem hohen Maße erlegen. Die Verfasser haben über 2000 Jugendliche beiderlei Geschlechts im Alter von 14 bis 25 Jahren befragt, die alle in der Befragungszeit in einer Verbindung zu fünf großen Trägern der Jugendsozialarbeit standen. Daß die Befragten weder in statistischer Hinsicht (insofern nur arbeitende Jugendliche befragt wurden) noch für die arbeitende Jugend selbst (insofern eben nur diesen Verbänden Nahestehende befragt wurden) repräsentativ sind, hindert die Verfasser nicht daran, im Ergebnisbericht am Schluß immer wieder von "der" Jugend zu sprechen, obwohl sie sich dieser Einschränkung durchaus bewußt sind (S. 64). Schwerwiegender ist, daß die Befragung unter völlig unkontrollierbaren Umständen vorgenommen wurde. Jugendleiter, Heimleiter und andere Mitarbeiter der beteiligten Verbände haben sie durchgeführt und die ausgefüllten Bögen eingeschickt. Dabei wissen wir doch, daß die persönliche Ausstrahlung der Fragenden und vor allem ihre Rolle gegenüber den Befragten grundsätzlich auf die Ergebnisse einwirkt! Nicht umsonst haben sich die Soziologen darüber den Kopf zerbrochen und sind u. a. zu dem Ergebnis gekommen, daß die Befragten den Frager möglichst nicht persönlich kennen sollen.
Aber vielleicht wollte man diesen Mangel dadurch ausgleichen, daß man die 50 Fragen in der "Ich"-Form stellte. Dies ist die beliebte Form des pädagogischen "Besinnungsaufsatzes", der die Illusion erwecken soll, man stelle sich selber die Fragen. Auf diese Weise haben Arlt und Wilms den fragenden Partner gewissermaßen eliminiert. Eine solch unwahrhaftige Art des Fragens dürfte vielen Jugendlichen aufgegangen sein und das Ergebnis beeinflußt haben.

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Zum Thema "Beruf" werden ganze sieben, zum Thema "Freie Zeit" ganze drei Fragen gestellt, zu denen sich die Jugendlichen ohne nähere Festlegung schriftlich äußerten. Diese Basis ist aber einfach zu schmal für nennenswerte Ergebnisse! Da helfen auch keine statistischen Korrelationen zu den übrigen 40 Fragen (von denen sich 11 auf reine "Sozialdaten" beziehen), da statistische Relationen nicht unbedingt kausale widerspiegeln. Aus der Relation etwa, daß sich die Mitglieder von Jugendverbänden relativ positiver zur Fortbildung in der freien Zeit äußern, wird gefolgert: "Auch Jugendgruppen aller Art erweisen sich als gute Erziehungskräfte. Jugendliche, die solchen Gruppen verbunden sind, verhalten sich meist verantwortungsvoller, lebendiger und selbstbewußter im Betrieb und im gesellschaftlichen Leben" (S. 74).
Nähme man diese formalen Mängel in Kauf - und jede Untersuchung darf mit solchen oder ähnlichen Fehlerquellen rechnen, wenn sie sie bei der Ausdeutung berücksichtigt - , so bleibt die Frage, was man eigentlich mit solcher Befragungsmethode erkunden kann. Sicherlich sind auf diese Weise alle möglichen statistischen Unterlagen zu gewinnen, kaum aber Kenntnisse über Motive oder auch "Einstellungen", von denen hier so oft die Rede ist. Mit Fragebogenaktionen dieser Art lassen sich bestenfalls Meinungen ermitteln. Aber inwieweit solche Meinungen subjektiv zu einer Haltung integriert sind oder etwa nur als Instrument der sozialen Durchsetzung dienen, weil sie einem immer wieder nahegelegt und abverlangt werden, bleibt grundsätzlich offen. Die Verfasser aber meinen: "Die Untersuchung soll Einblicke in die Einstellung und das Verhalten von Jugendlichen in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft geben" (S. 64). Und: "Dabei lag den Verfassern besonders daran, Kausalzusammenhänge zwischen Einstellung und Verhalten der Jugendlichen aufzuspüren" (S. 5).
Das theoretische Defizit der Arbeit, das hier schon sich andeutet, zieht sich durch alle Kapitel. Es wird nicht überall so offensichtlich wie hier: " ... wird deutlich, daß die Jugendlichen die Persönlichkeit im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Leben hochachten. 55 v.H. schätzen das Individuum höher als die Masse ein, 13 v.H. geben der kleinen Gruppe einen größeren Wert als der Masse" (S. 67). Die dazugehörige Frage lautete: "48. Man spricht heute viel mehr von der 'Masse'. Gewinnt man Ansehen und Beachtung als einzelner oder als kleine Gruppe oder als Masse?" - Die Verfasser spüren durchaus, daß man solch eine Frage eigentlich nicht stellen kann, suchen die Schuld aber bei den Jugendlichen: "Es ist dabei allerdings einzuräumen, daß manche der befragten Jugendlichen den tiefen Sinn dieser Frage noch nicht bis ins letzte begriffen haben, so daß ihre Aussagen mit einiger Zurückhaltung zu bewerten sind" (S. 62). - Wir haben den "tiefen Sinn" allerdings auch nicht begriffen!
Bei solch unreflektiertem Sprachgebrauch nimmt es nicht wunder, daß der Begriff "Skepsis", der doch nur eine bewußt reflektierende Haltung meinen kann, wieder falsch benutzt wird (S. 56). Folgender Widerspruch wird gar nicht bemerkt: "Eine vergleichende Betrachtung aller Äußerungen der Befragten zeigt durchgehend das Streben nach einem eigenen kritischen Urteil und nach einer selbständigen Bewältigung der ihnen begegnenden Fragestellungen und Forderungen" (S. 65). - "Jedenfalls zeichnet Skepsis die Jugendlichen aus, soweit sie gesellschaftspolitischen Verbänden, Parteien und Interessengruppen gegenüberstehen. Diese kritische Einstellung macht sie vielleicht weniger anfällig gegen alle politischen und ideologischen Verführungen als frühere Generationen" (S. 65). - "Politische Bildung fordert den Menschen zur Kritik und zur persönlichen Stellungnahme, vielleicht sogar zu persönlichen Opfern auf einem Gebiet heraus, das ihn scheinbar nicht direkt und täglich berührt - und das interessiert viele Jugendliche schon nicht mehr" (S. 66).
Daß es zwischen diesen Widersprüchen sehr wohl einen Zusammenhang gibt, nämlich den, daß eine pausenlose Ideologisierung dafür sorgt, daß die "ideologiefernen" (S. 66) Jugendlichen nur noch die unmittelbare Reproduktion von Arbeit und Ver-

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gnügen, nicht aber die Reflexion auf den beides bestimmenden Zusammenhang als ihr "unmittelbares" Interesse ansehen, wird von den Verfassern ignoriert. Sie bemerken infolgedessen auch nicht, daß ihre Untersuchung, indem sie das Gegebene zum allein Möglichen macht, ein Teil dieser Verdunkelung ist. Der wiederholte Hinweis, die Jugendlichen orientierten sich lieber an einer unmittelbar einsichtigen Berufsfortbildung als an einer Allgemeinbildung oder gar politischen Bildung, wird nicht etwa kritisch vermerkt oder wenigstens reflektiert, sondern als Maxime übernommen. "Die subjektiven Bildungsbedürfnisse und Interessen der jungen Menschen liegen nicht in ideologischen politisch-historischen Bereichen (sic!), sondern im beruflichen Raum" (S. 72). Warum das politische Interesse fehlt, wird nicht mehr gefragt. Vielleicht fehlt es u. a. deshalb, weil die zu frühe Berufsarbeit die jugendlichen Energien so absorbiert, daß sie nur noch zur simpelsten Entspannung ausreichen, für die die Vergnügungsindustrie unermüdlich sorgt?
Gegen Schluß heißt es dann: "Die Untersuchung erweist, wie fruchtbar sich der Bildungseinfluß der Jugendsozialarbeit auf Jugendliche auswirkt" (S. 73). Den Beweis für diese Behauptung sucht man ebenso vergeblich wie den Bewertungsmaßstab, weil ein Vergleich zu Jugendlichen, die nicht an der Jugendsozialarbeit teilnehmen, im eigenen Material gar nicht angelegt ist und auch zum Material anderer Ergebnisse gar nicht vorgenommen wird.
Aufschlußreich für die naive ideologische Anlage des Ganzen ist auch, was fehlt. So bezieht sich keine Frage auf das Verhältnis von Beruf und Freizeit. Es wäre nämlich denkbar, daß viele Jugendlichen zwar die Fragen nach der Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs im Betrieb gemäß ihrer Kenntnis beantworten, aber letztlich für sich diese Möglichkeit gar nicht in Anspruch nehmen wollen, weil ihr vitales Interesse sich an der Freizeit orientiert. Die Antworten auf die Frage "Wozu arbeite ich?" könnten darauf hindeuten. Bei der Interpretation der Antworten (S. 31) demonstrieren die Verfasser, wie wenig sie das verbale Problem der jugendlichen Antworten bewältigt haben. 82,5 v.H. der Antworten geben materielle Gründe an. Die Verfasser versuchen nun, zwischen der einfachen Antwort "Um leben zu können" und Antworten wie "Um später eine Familie zu ernähren" - "Zur Sicherung und Verbesserung des Lebensstandards" - "Um Geld zu verdienen" - einen qualitativen Unterschied zu machen. Die stillschweigende Voraussetzung dafür ist, daß die Aussage "um leben zu können" individuell-egoistisch gemeint sein müsse. Der Widerspruch zwischen den relativ positiven Antworten zur Berufsfortbildung und dem eindeutig instrumentalen Verhältnis zur Arbeit kann nur übersehen werden, wenn man die Verbesserung der materiellen Existenz als unmittelbare Folge des beruflichen Aufstiegs ansieht. Genau das dürfte aber doch gerade problematisch geworden sein!
Die Unfähigkeit, die Aussagen der Jugendlichen im Zusammenhang zu interpretieren, mag uns auf einen letzten Mangel der Untersuchung hinweisen: Wer bei Befragung Jugendlicher nicht vorformulierte Antworten zur Auswahl vorgibt, sondern eigene Formulierungen erwartet, muß mit einer sehr engen sprachlichen Barriere rechnen. Allein der Wortschatz der meisten Jugendlichen ist so begrenzt, daß er für eine angemessene Meinungsmitteilung auf eine Frage wie die nach dem Sinn der Arbeit nicht mehr ausreicht. Die Jugendlichen greifen dann notwendigerweise zu bestimmten sprachlichen Formeln, für deren Fehldeutung Tür und Tor geöffnet sind, wenn man diesen Zusammenhang nicht kennt. Arlt und Wilms weisen in der Einleitung darauf hin, daß "die Bestimmung von Ziel und Inhalt der Fragen nicht das Ergebnis theoretischer, konzeptiver Erwägungen" sei (S. 7). In dem Augenblick aber, wo sie Antworten auf verschiedene Fragen deutend vergleichen, befinden sie sich doch (spätestens!) in einer theoretischen Aktion und müssen sich entsprechenden Kritiken stellen.

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Was sie zur Berufsaus- und -fortbildung fordern, sollte allerdings sehr ernst genommen werden. Die Vorschläge laufen auf eine Versachlichung und moralische Entideologisierung der Berufspädagogik hinaus. Gegenüber der Tendenz des Buches aber, die Bildungsarbeit weitgehend vom Beruf und Betrieb her zu konzipieren, sollten selbst dann Einsprüche angemeldet werden, wenn sie mit den Interessen der Jugendlichen übereinstimmten - was diese Untersuchung nicht beweisen konnte. Auch dafür gäbe es sicher eine Reihe sehr vernünftiger Argumente, die aber der theoretischen Reflexion über die Berufsrolle im Zusammenhang mit den übrigen Rollen bedürfen, die der moderne Mensch nun einmal auszufüllen hat. Wenn man die prinzipielle Partikularität der Berufsrolle in Ausschließlichkeit oder auch nur unbegründete Dominanz umschlagen läßt, ideologisiert man die pädagogischen Gesamtzusammenhänge wie die kommunistische Version der "polytechnischen Erziehung". Nur eine Erziehungskonzeption, die die Autonomie einander widersprüchlicher Rollen ernst nimmt, kann heute als modern oder fortschrittlich sich bezeichnen.
Aber das wäre schon ein neues Gespräch. Hier richtete sich unsere Kritik vor allem gegen die Inanspruchnahme halbwissenschaftlicher "Untersuchungsergebnisse" für letztlich erziehungspolitische Erwägungen.
Wir sollten doch aufhören, aus den Jugendlichen Ansichten herauszufragen, die ihnen durch den gesellschaftlichen Meinungsmechanismus injiziert wurden, um sie dann auch noch zur Maxime pädagogischer Bemühungen zu machen. An einer "Anstrengung des Begriffes" in Sachen Erziehungsreform kommen wir auch dann nicht vorbei, wenn die empirischen Einzeluntersuchungen überzeugender sind als in diesem Falle.

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 24. Otto Monsheimer - Wolfgang Hilligen (1963)

(In: Neue Politische Literatur, H. 5-6/1963, S. 479-480)
 

 Otto Monsheimer - Wolfgang Hilligen: Fragen-Urteilen-Handeln. Orientierungshilfen zur politischen Bildung für Berufs- und Fachschüler. 308 S., Hirschgraben-Verlag, Frankfurt a. M. 1962.

Es gibt sehr wenig Lehrbücher der Sozialkunde und Politischen Bildung, die methodisches Geschick mit Sachangemessenheit verbinden. Zu ihnen gehört seit einigen Jahren das Sozialkundewerk von Wolfgang Hilligen, das für Volks- und Mittelschulen geschaffen wurde. Da es an dieser Stelle ausführlich gewürdigt wurde (1), genügen für die hier vorliegende "Berufsschulausgabe" einige Hinweise; denn alle Vorzüge des schon besprochenen Unterrichtswerkes sind hier beibehalten worden: Der Verzicht auf eine langweilige Leitfadensystematik zugunsten eines didaktischen Aufbaus nach "Orientierungsbereichen"; die bis in die Druckanordnung durchdachte Methodik, die Informationen, Diskussionen und auf wenige "Grundeinsichten" hin orientierte Zusammenfassungen bietet; schließlich die konsequente Anwendung der Grundsätze einer "pluriformen Gesellschaft". Das Ziel des Buches ist, junge Berufstätige zum Nachdenken in Sachen Politik anzuregen, sein ständiger Appell: "Das Berufliche allein genügt nicht mehr". Dabei stellen die Autoren durchaus die beruflichen Erfahrungen ihrer Jugendlichen in den Mittelpunkt, ohne allerdings mehr als sachlich vertretbar auf ihnen zu insistieren.
Die Bedeutung des Unterrichtswerkes gerade für die Berufsschularbeit kann man eigentlich nur dann ermessen, wenn man

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es mit den hier sonst gebräuchlichen Lehrbüchern vergleicht. Sie sind immer noch weithin geprägt von Kerschensteiners Ansatz der Identität von Berufsbildung und politischer Bildung, wobei dann die dabei notwendig auftretenden Schwierigkeiten und Widersprüche mit abstrakt moralischen Formeln verdeckt werden müssen. Otto Monsheimer, der Mitherausgeber dieses Bandes, hat sich auch auf dem theoretischen Feld der Berufsschulerziehung unermüdlich für eine Wandlung solch zäher Vorstellungen eingesetzt. In diesem Band nun ist nichts mehr vom Appell der großen Worte zu spüren. Die Werte der Demokratie werden nicht gelehrt, sie leuchten im dargestellten Material auf bzw. in den Fragen, die daran gestellt werden. Zu diesem "Material" gehören in erheblichem Maße jene Vorurteile der "nicht-öffentlichen Meinung", auf die die Jugendlichen ständig treffen und die nun im neuen Zusammenhang regelrecht "verfremdet" werden. Vielleicht ist dies sogar die interessanteste methodische Variante eines wahrlich nicht einfallslosen Buches; die Unterrichtserfahrung lehrt nämlich, daß selbst die besten und genauesten politischen Dokumentationen so lange ohne subjektive Bedeutsamkeit bleiben, wie nicht ihre Beziehung zum Alltag der Jugendlichen hergestellt werden kann.
An solchen Einzelheiten, die beliebig zu ergänzen wären, erweist sich, daß in das Buch eine gründliche Unterrichtserfahrung ebenso eingegangen ist wie eine sehr deutliche Vorstellung von den Aufgaben und Möglichkeiten der politischen Bildung.

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Anmerkungen:
(1) Vgl. Neue Politische Literatur, VI/1961, Sp. 801 ff., wiedergegeben in Band 1, Nr. 11

 

 25. Landjugend und Bildung (1963)

(In: deutsche jugend, H. 9/1963, S. 431-432)
 

 In den Bemühungen um eine Verbesserung des Bildungswesens spielen soziologische Untersuchungen eine bedeutende Rolle. Dies gilt ganz besonders für das ländliche Bildungswesen, weil es der bei weitem rückständigste Teil unseres Bildungswesens ist und außerdem am stärksten mit Vorurteilen der verschiedensten Art besetzt ist. Dabei ist auch die Frage, wie die Jugendlichen auf dem Lande selbst zu den Problemen der ländlichen Berufe sowie der berufsbildenden und allgemeinbildenden Situation eingestellt sind, von erheblicher Bedeutung.
Mit dieser Frage befaßt sich eine unter dem Titel "Landjugend und Bildung" erschienene Arbeit. Die Untersuchung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, stützt sich allerdings nicht auf eine im repräsentativen Sinne gültige Ermittlung einer "mittleren Allgemeinheit" der entsprechenden Einstellungen der Landjugend. Vielmehr wurden die Besucher einer ländlichen Heimvolkshochschule befragt, wobei man (sicher zu Recht) davon ausging, daß sie den "fortschrittlichsten" Teil der ländlichen Jugend darstellen. Die Ergebnisse sind auch entsprechend: Diese Jugendlichen sind für eine verbesserte Berufs- und Allgemeinbildung aufgeschlossen und stehen entsprechenden Versuchen wie Landvolkshochschule oder Mittelpunktschulen positiv und ohne jene Vorurteile, die in der schulpolitischen Wirklichkeit die Diskussionen bestimmen, gegenüber. Sie sehen die gegenwärtigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes richtig und treten unvoreingenommen

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für die sich anbietenden Lösungen der Mechanisierung und Spezialisierung ein. Sie haben gegenüber der städtischen Lebensweise keine Ressentiments und romantisieren die ländliche Lebensform nicht. Eigentlich, so hat man den Eindruck, müßten die auf dem Lande dringend notwendigen Reformen mit diesen aufgeschlossenen und souveränen jungen Leuten leicht durchzusetzen sein.
Da in Wirklichkeit aber solchen Reformen zäher Widerstand entgegengesetzt wird, könnte man zunächst fragen, welchen Einfluß diese jungen Leute in ihrer heimischen Umgebung haben. Ihr Durchschnittsalter mit immerhin 21 Jahren läßt sie eigentlich schon zu den Erwachsenen zählen. Gelten sie auch unter den Gleichaltrigen ihres Dorfes als fortschrittlich? Im Material der Untersuchung weist nichts auf eine Isolierung hin. Die befragten Jugendlichen fühlen sich nicht isoliert und sind zudem in hohem Maße in führenden Positionen der dörflichen Jugend- und Vereinsarbeit tätig. Sie sehen "die" Jugend auf dem Lande eher als eine solidarische Gruppe gegenüber den Erwachsenen. Und damit wird die eigentliche Barriere deutlich, die den Reformen im Wege steht: Die bäuerlichen und handwerklichen Besitzverhältnisse sorgen dafür, daß die junge Generation hier erst zu einem relativ späten Zeitpunkt die Verantwortung übernehmen kann. Bis dahin ist sie "unselbständig" und hat wenig oder gar keinen Einfluß auf die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen.
In den "Folgerungen" am Schluß seines Buches formuliert Kurt Finke Maximen einer ländlichen Bildungspolitik, die im wesentlichen mit den Vorstellungen der befragten Jugendlichen übereinstimmen. Die Frage bleibt nur, wer diese Forderungen angesichts der klaren Machtverhältnisse auf dem Lande durchsetzen soll.

Kurt Finke: Landjugend und Bildung - Erfahrungen und Erwartungen von Heimvolkshochschülern. Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens, im Auftrag der Hochschule für internationale pädagogische Forschung, Frankfurt am Main, herausgegeben von Eugen Lemberg, Band 3., Verlag Quelle und Meyer, Heidelberg, 207 Seiten, kartoniert, DM 18.—

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25a. Jugendhofarbeit heute (1963)
 

In: Gewerkschaftliche Monatshefte 1963, S. 372 - 373

© Hermann Giesecke



Wirft man heute einen Blick in den Bereich, der sich "außerschulische Jugendarbeit" nennt, so ist man verwirrt von der großen Zahl der Träger und Einrichtungen, die den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre Freizeit- und Bildungsangebote machen. Einen kleinen Ausschnitt aus dieser Arbeit stellen die Jugendhöfe dar.
 
In der Geschichte dieser Institutionen, für die es aus der Zeit vor 1945 kaum ein Vorbild gab, spiegelt sich bald nach der Entstehung der Jugendverbände die pädagogische Entwicklung in der Bundesrepublik wider. Ihre Arbeit ging nach dem Kriege wie alle sozialpädagogischen Maßnahmen von der unmittelbaren Jugendnot (Jugendarbeitslosigkeit, Verwahrlosung, jugendliche Flüchtlinge, elternlose Jugend usw.) aus. Von da aus bestimmten sich die Programme, die, wie nicht anders zu erwarten, unreflektiert die Methoden und Inhalte der Jugendbewegung wieder aufnahmen.
 
Aber noch eine andere, wesentlich problematischere Vorentscheidung war gegeben: Sehr bald nach der Entstehung der Jugendverbände und der Gründung des Bundesjugendrings sammelten sich in und um die Jugendhöfe die Kräfte, die meinten, der "partikularen" Tätigkeit der Jugendverbände Institutionen entgegensetzen zu müssen, in denen das "Gemeinsame", das "Übergreifende" sich etablieren müsse. In dieser Meinung, die auf Jahre hinaus die politische und pädagogische Situation der Jugendhöfe belasten sollte, kam vieles zusammen: die Erfahrung der sich bis zu Straßenschlachten bekämpfenden politischen Jugendverbände vor 1933; eine mißverstandene Vorstellung von "pädagogischer Autonomie"; die verständliche Furcht vor einer Politisierung der Jugendarbeit, aber auch immer ein wenig unbewußte Abneigung gegen manches, was als Konsequenz der Demokratisierung am Horizont auftauchte. Diese Einstellung äußerte sich u. a. darin, daß man bis in die Ministerien hinein als vornehmste Aufgabe der Jugendhöfe die Aus- bzw. Fortbildung von Jugendleitern der Jugendverbände ansah. Dies wiederum brachte die Jugendhöfe lange Zeit in Gegensatz zu den Jugendverbänden, die mit Recht nicht einsehen konnten, wieso die Ausbildung ihrer Führer und Mitarbeiter nicht ihre eigene Angelegenheit sein sollte.
 
In pädagogischer Hinsicht war eine deutliche Beschränkung auf das, was im überlieferten Sinne als "jugendgemäß" galt, die Folge: am sozialen Modell der Jugendgruppe orientierte musische, allgemein jugendpflegerische und - im geringeren Maße - auch politische Bildung.
 
Als nun die unmittelbare Jugendnot beseitigt war und die Jugendverbände sich eigene Möglichkeiten der Gruppenleiterfortbildung beschafft hatten, wurde die "Freizeitpädagogik" zur zentralen Aufgabe dieser Bildungsstätten. Die Frage, ob sie diese Aufgabe lösen konnten, wurde zu ihrer Existenzfrage. Denn inzwischen honorierten die Jugendlichen immer weniger jene unmittelbare und naive Arbeit der ersten Jahre, die im "gemeinsamen Tun" ihre einzige Bestätigung sah. Dieses "Umdenken" gelang nur wenigen Jugendhöfen, und noch wenigeren gelang es, dabei eine eigene Bildungskonzeption zu entwickeln. Denn nun hieß es, "Theorie" zu entwickeln, die eigene Arbeit in einen Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Jugendlichen, der Gesellschaft und den anderen Bildungsfaktoren zusammenzudenken. An dieser Aufgabe aber war traditionelle Jugendarbeit immer schon gescheitert. So wurden einige Jugendhöfe (gerade die am besten ausgestatteten) praktisch zu "Jugendhotels" für Tagungen von Jugend- und Erwachsenenverbänden. Da die Schwierigkeiten beim Übergang von der "Jugendbegegnungsstätte" zur "Jugendbildungsstätte" nicht nur die Jugendhöfe, sondern alle Formen der Jugend- und Erwachsenenbildung, wenn auch im unterschiedlichen Maße, betreffen, seien sie aus dem Gesichtspunkt der eigenen Erfahrung als Leiter eines Jugendhofes hier stichwortartig beleuchtet.
 
1. Zunächst galt es, sich von der sogenannte "Multiplikatoren-Theorie" abzusetzen. Sie war eine der belastenden Folgen der Aufgabe, Fortbildung für Mitarbeiter aus der Jugendarbeit zu betreiben und sah den jugendlichen Teilnehmer allzu einseitig in seiner isolierten Rolle als tatsächlicher oder potentieller Mitarbeiter in der Jugendarbeit. Die Bildungsinhalte wurden daher auf diese Rolle hin instrumentalisiert: Das, was in solchen Kursen betrieben wurde, wurde von vornherein auf die Verwendbarkeit gegenüber anderen Jugendlichen angelegt und zubereitet. So sollte der jugendliche Teilnehmer Wissen und Kenntnisse weitergeben, die ihn selbst noch gar nicht genügend "betroffen" hatten. Eine bedenkliche pädagogische Halbbildung in diesen Bereichen war die unvermeidliche Folge.
 
Nun galt es, ein anderes Verhältnis zum Teilnehmer zu gewinnen. Unsere Inhalte und Methoden der Bildungsarbeit sahen völlig von den möglichen Rollen des Teilnehmers in der Jugendarbeit ab und orientierten sich am Zusammenhang von Sache, Teilnehmer und Dozenten. Wir boten keine Lehrgänge für Jugendgruppenleiter mehr an, sondern für Jugendliche interessante Fragen und Themenkreise, zu denen alle Jugendlichen - auch die "nichtorganisierten" - eingeladen wurden. In-
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teressanterweise wurde dieser Wechsel von der überwiegenden Mehrheit der Gruppenleiter mitvollzogen.
 
2. Das hatte folgerichtig eine Diskussion des Begriffs "jugendgemäß" zur Folge. Die Inhalte - vor allem auch die der politischen Bildung - wurden nun orientiert an dem, was in Kultur und Politik der Erwachsenenwelt zur Debatte stand. Auch hier zeigte sich eine überzeugende Zustimmung der jugendlichen Teilnehmer, die nun ohne die pädagogische Filterung des "Jugendgemäßen" an die politische und kulturelle Wirklichkeit selbst herangelassen wurden. Es zeigte sich weiter, daß die thematischen Interessen der Jugendlichen sich kaum von denen der Erwachsenen unterschieden - vor allem wohl auch ein Ergebnis der Publizistik, die sie mehr und mehr erreicht.
 
3. Ein weiterer Wandel wurde hinsichtlich der Qualität des sachlichen Anspruchs vollzogen. Mit der Abschaffung der Kategorien "Multiplikator" und "jugendgemäß" fiel auch die bisher gültige Forderung, daß alle alles verstehen müßten. Der sachliche Anspruch wurde an der Spitzengruppe eines Teilnehmerkreises orientiert. Dabei war uns keineswegs von Anfang an wohl. Würden die Jugendlichen diesen Anspruch mitvollziehen? Die Werbung eines Jugendhofes lebt ausschließlich von der Mundpropaganda der Jugendlichen selbst. Jugendhöfe sind aber andererseits insofern halbkommerzielle Einrichtungen, als der Haushalt auf einen bestimmten Eigenbeitrag der Teilnehmer abgestellt ist. Würden die Jugendlichen wegbleiben und uns damit zwingen, das Niveau herabzusetzen? Sie blieben nicht weg, im Gegenteil, die Mundpropaganda nahm auch in der Gruppe der Lehrlinge zu - und das, obwohl wir jede direkte Berufsfortbildung ablehnten und uns inhaltlich auf allgemeinbildende Fragen beschränkten, die sich auf Probleme der politischen Bildung konzentrierten.
 
4. Schließlich mußte das Verhältnis von Teilnehmern und Dozenten bzw. dem Haus neu durchdacht werden. Die "disziplinarische Behandlung" der Jugendlichen wurde so liberal wie irgend möglich gehalten. Die "Hausordnung" beschränkte sich auf eine bestimmte Tischsitte, die zur Kultivierung der Mahlzeit bei vielen Personen einfach notwendig war, so wie auf jeweils neu zu verabredende Regelungen für die Nachtruhe. Bei längeren Lehrgängen organisierten die Teilnehmer eine Selbstverwaltung, die in ständiger Fühlung mit der Lehrgangsleitung arbeitete. Alle Probleme der Teilnehmer unter sich, die sich auf der Ebene der gegenseitigen Höflichkeit, der Rücksichtnahme sowie des Ausgleichs der Interessen bewegten, wurden grundsätzlich nicht von der Lehrgangsleitung geregelt, auch dann nicht, wenn die Lösung den Jugendlichen selbst die größten Schwierigkeiten machte. Unsere Begründung: "Wir halten es für unter unserer Würde, in Angelegenheiten einzugreifen, die nur Sie selbst angehen." Dieser Zwang, sich durch vernünftige Absprachen und Organisationen das gemeinsame Leben nicht zur Hölle zu machen, war von großer Bedeutung für die Intensität der Arbeit.
 
Mit diesen kurzen Andeutungen soll ausgedrückt werden, was sich im Wechsel von unreflektierter "Jugendbegegnungsstätte" zur theoretisch durchdachten "Jugendbildungsstätte" abzuzeichnen beginnt. Wenn wir richtig sehen, sind überall die Tage "jugendgemäßer Freizeitbeschäftigung" gezählt. Wenn nicht alles täuscht, dann wird in Zukunft "Jugendarbeit" sich immer mehr einer für junge Menschen präzisierten "Erwachsenenbildung" annähern - sowohl hinsichtlich der Inhalte und Methoden wie hinsichtlich des Umgangs zwischen Teilnehmern und erwachsenen Dozenten.
 
Damit tritt Jugendarbeit in ein neues, den modernen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen angemessenes Stadium ein. Sie wird, wenn sie bei den Jugendlichen Erfolg haben soll, genauso "theoretisch" und "wissenschaftlich" zu gestalten sein wie alle anderen kulturellen Bereiche - und damit mit den Problemen fertig werden müssen, die sich durch eine solche Verwissenschaftlichung hier notwendig auch stellen werden. An der Fähigkeit oder Unfähigkeit, in diesem Sinne "theoretisch" zu werden, dürfte sich künftig die Existenz der Jugendarbeit entscheiden.
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