Hermann Giesecke

Gesammelte Schriften

Band 9: 1970


Inhaltsverzeichnis aller Bände

Register

© Hermann Giesecke


Zu dieser Edition
Dieser 9. Band meiner gesammelten Schriften enthält Arbeiten aus dem Jahre 1970. In diesem Jahr war ich (seit 1967)  als Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen tätig.  Nähere biographische Angaben finden sich in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen, Weinheim: Juventa Verlag  2000.

Die Edition der Schriften in diesem Band bemüht sich um Vollständigkeit.  Aufgenommen wurden nur  bereits gedruckte Texte, keine selbständigen Monographien.

Die Texte sind nach ihrem Erscheinungsjahr geordnet.
Die Plazierung der Fußnoten wurde vereinheitlicht; sie befinden sich nun am Ende des jeweiligen Beitrags.  Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Darüber hinaus wurden die Originale jedoch nicht verändert. Nachträgliche Anmerkungen des Herausgebers sind  durch (*) oder durch ein Namenskürzel ("H.G.") gekennzeichnet. Um die Zitierfähigkeit der Texte zu gewährleisten, wurden die ursprünglichen Seitenangaben mit aufgenommen und erscheinen am linken Textrand; sie beenden die jeweilige Textseite des Originals.
Die Beiträge werden von  "1"  an numeriert, die  vorangehenden Arbeiten befinden sich in den früheren Bänden.


Inhalt von Band 9

68. Über das Schreiben von Lehrbüchern(1970)
69. Didaktische Probleme des Lernens im Rahmen von politischen Aktionen (1970)
70. Die Krise der politischen Bildung (1970)
71. Das Dilemma der Jugendkriminologie (1970)
72. Vergessen will gelernt sein (1970)


 

68. Über das Schreiben von Lehrbüchern (1970)

(In: Neue Sammlung, H. 4/1970, S. 406-415)
 

Ich möchte in meiner Replik die Einwände meiner Kritiker (*) nicht Punkt für Punkt aufgreifen - was allzu leicht zu bloßer Rechtfertigung oder Rechthaberei führen könnte - sondern einige von ihnen auf einer neuen Ebene unter allgemeineren Gesichtspunkten diskutieren. Dabei geht es mir vor allem darum, die bisher geführte hochschuldidaktische Diskussion auf das "Schreiben von Lehrbüchern" auszudehnen; denn überraschenderweise ist dieses Problem noch nirgends systematisch aufgegriffen worden, obwohl dem Lehrbuch im Massenbetrieb unserer Hochschule (z.B. als Ersatz für Massenvorlesungen) eine immer größere Bedeutung zukommt. Für die didaktische Dimension dieser Aufgabe habe ich zwar auch keine fertige Theorie anzubieten, aber vielleicht vermögen die folgenden, an den Einwänden meiner Kritiker sich entzündenden Leitgedanken dem Problem eine größere Publizität zu verschaffen. Diese Art der Entgegnung soll jedoch ihre vor allem im Detail bemerkenswerten Einwände nicht hinterrücks außer Kraft setzen, sondern lediglich an einigen wichtigen Punkten meine didaktische Konzeption verdeutlichen. Daß dann zwischen dem Selbstanspruch und seiner Realisierung immer noch eine Kluft bleibt, versteht sich von selbst.

406
 

1. Was ist und wem nützt "sprachliche Genauigkeit"?

Die Kritiker billigen den Ansatz des Buches, statt begrifflicher Definitionen Charakterisierungen zu verwenden, und sie begründen dies durchaus in meinem Sinne. Das ist ein sehr hohes Maß an didaktischer Übereinstimmung, denn nicht wenige Fachleute würden eben dieses Verfahren für "unwissenschaftlich" erklären, gilt es doch im allgemeinen gerade als "wissenschaftlich", Sachverhalte in (möglichst eindeutig definierte) Begriffe zu fassen, aus diesen wieder neue Begriffe zu entwickeln und das auf diese Weise Abgeleitete irgendwann für das zu Erklärende und praktisch zu Verändernde selbst zu halten (1). Unverkennbare Züge eines religiösen Rituals kann dieses Verfahren annehmen, wenn über die kommunikative Funktion der Begriffsbildung nicht mehr nachgedacht wird. Man sehe sich daraufhin nur die tödliche Langeweile selbst derjenigen wissenschaftlichen Literatur an, die über lebenswichtige Fragen unserer gesellschaftlichen Praxis geschrieben wird! Es gibt, worauf die Kritiker hingewiesen haben, verschiedene Gründe, die hier zur Vorsicht mahnen. Einer müßte noch ergänzend hinzugefügt werden: Zumindest von einem bestimmten Punkte an hat hochentwickelte, exakte Begrifflichkeit eine Praxis-Indifferenz zur Folge; begrifflich "präzise" in diesem Sinne spricht man nur im Rahmen subkultureller Gelehrten-Kommunikationen, nicht jedoch dort, wo Schule gehalten wird, Richtlinien formuliert werden, Eltern sich Rat holen, Schüler ihre Interessen artikulieren - kurz: nicht dort, wo sich pädagogische und gesellschaftliche Praxis im allgemeinen abspielt. Meinem daraus resultierenden Versuch, mit dem "erworbenen Wissenszusammenhang" (Henningsen) und dem erworbenen sprachlichen Zusammenhang des Lesers zu "spielen", scheinen die Kritiker generell zuzustimmen, aber im schriftstellerischen Detail erheben sie den begrifflichen Purismus in Form des sprachlichen Purismus erneut zum Postulat. Einige der von ihnen inkriminierten Sätze sind dafür höchst charakteristisch, z.B. dieser: "Der Säuger verfügt bei seiner Geburt über die Elemente der Kommunikation, der Mensch aber kann noch nicht sprechen." Ein solcher Satz ist in der Tat unvollständig ohne den selbständigen Zusatz des Lesers: "... und verfügt also bei seiner Geburt noch nicht über die Elemente der Kommunikation." Möglicherweise stellt der Leser auch die Frage, ob "Sprechen" und "Kommunikation" identisch seien und erinnert sich daran, daß ja auch Mütter mit ihren (sprachlosen) Säuglingen kommunizieren. (Auf die Frage, ob Säuger auch sprechen können, dürfte er wohl kaum verfallen.) Warum soll ein Autor Aussagen bzw. Fragen, auf die der Leser selbst kommen kann, immer selbst stellen und so - auch in Kleinigkeiten - den Lese wie ein hilfloses Kind an die Hand nehmen? Ähnliches ließe sich zu den anderen Beispielen (mit Ausnahme des zweiten) sagen: ich sehe nicht, daß die von den Kritikern vorgeschlagenen Versionen genauer oder lesbarer

407

sind als die meinen. In einigen Fällen ändern die Kritiker mit ihren Vorschlägen sogar den Sinn: "... das Motiv des sozialen Aufstiegs über den Beruf" meint: der Beruf ist Vehikel des sozialen Aufstiegs, nicht schon der soziale Aufstieg selbst. Der Vorschlag der Kritiker (sozialer Aufstieg im Beruf oder durch die Wahl eines bestimmten Berufes) müßte zu dem Schluß führen, daß sozialer Aufstieg und beruflicher Aufstieg identisch seien, was ich für falsch halte. Ebenso das nächste Beispiel: wenn ein Junge sich erfolglos einem Mädchen gegenüber verhält, dann hat er bereits gehandelt. Nicht der Entschluß zu einer Handlung und die Handlung selbst stehen sich gegenüber, sondern die Initiation der Handlung und ihr Ende im Mißerfolg. (Außer in bestimmten Lerntheorien befangen, würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, derart den Entschluß zu einer Handlung von dieser selbst zu trennen.) Auch beim nächsten Beispiel geben die Kritiker meinem Satz einen anderen Sinn. Meine Formulierung: "Die gefundenen Lösungen werden für künftige Fälle bereitgestellt" ist bewußt sehr offen gehalten, weil die Frage, was dabei wirklich geschieht, für mich trotz aller Lernforschung noch ungeklärt ist. Der Formulierungsvorschlag meiner Kritiker: "Die erworbenen Erfahrungen werden somit übertragbare Verhaltensmuster'' ist mir zu definit und gewiß. Er impliziert ja doch eine recht technizistische Vorstellung von derart komplizierten Lernprozessen, so, als ob man Verhaltensmuster wie Konsumgüter erwerben und anwenden könne. Fazit: Wo die Sache unklar ist, kann und darf ihre Formulierung nicht klarer sein!

Auch die inkriminierten Anführungsstriche gehören in diesen Zusammenhang. Gewiß sollte dieses Verfahren nicht bis zur Abnutzung ausgedehnt werden, aber solange der moderne Druck außer dem Normaldruck und Kursivdruck nur die Anführungsstriche für Nuancierungen anbietet, läßt sich nicht vermeiden, daß die Anführungsstriche verschiedene Funktionen erhalten, und zwar außer der Zitierung im wesentlichen zwei: erstens sollen sie verfestigte (wissenschaftliche, aber auch umgangssprachliche) Termini relativieren, und zweitens zeigen sie umgangssprachliche Verkürzungen mit der Aufforderung an den Leser, an dieser Stelle sein bereits differenzierteres Wissen assoziativ in den Kontext mit einzubringen.

Fazit: "Sprachliche Genauigkeit" ist ein mehrdeutiges Postulat. Man kann es messen an der Intention des Autors; dann fordert man im Grunde, daß der Autor sich unmißverständlich ausdrücke. Dies jedoch würde wieder voraussetzen, daß Autor und Leser über völlig kongruente Sprach- und Bedeutungssysteme verfügen - was jedoch kaum zu erwarten ist, wie die Kritiker mit ihren den Inhalt meiner Sätze verändernden Korrekturvorschlägen selbst beweisen. Allenfalls unter Verwendung einer begrifflich abstrakten wissenschaftlichen Kunstsprache ließe sich eine solche Kongruenz vielleicht annäherungsweise erreichen, allerdings nur so, daß die Aussage jeder subjektiven Bedeutung entkleidet würde und auf diese Weise ihre praxisorientierte Intention einbüßte.

408

Oder aber man nimmt als Maßstab das Zustandekommen einer Kommunikation zwischen Autor und Lesern, u. zw. derart, daß gerade der Spielraum von "Ungenauigkeit" im ebengenannten Sinne dem Leser zur produktiven Verarbeitung und zur Investition seiner eigenen erworbenen Bedeutungszusammenhänge anheimgestellt wird. Eine solche Maxime - der ich aus didaktischen Gründen den Vorzug gebe - würde mitnichten sprachliche Schlamperei rechtfertigen, im Gegenteil höhere - wenn auch eben andere - sprachliche Ansprüche stellen.

2. Kann ein Autor seine Leser zu Mit-Autoren machen?

Damit sind wir an einem Punkt angelangt, der mich - wie ich vermute - von meinen Kritikern prinzipiell unterscheidet. Die Vorwürfe "mangelnden sprachlichen Ausdrucks" und der "inhaltlichen Halbheit" spielen nicht nur auf sprachästhetische und auf formal-stilistische Aspekte an, vielmehr implizieren sie ein grundlegend anderes Verhältnis zwischen Autor und Leser Die Kritiker erwarten ein hohes Maß an Definitheit der Aussage (unter dem Leitgesichtspunkt der Emanzipation, über den noch zu sprechen sein wird). Abweichungen davon (z.B. Charakterisierungen statt Definitionen) würden sie nur unter methodischen Aspekten zulassen, insofern nämlich das vom Autor gewünschte Lernziel so besser zu vermitteln ist. Wenn man jedoch in der Schule nach demokratischen ( = reversiblen) Unterrichtsstilen sucht und mit Recht die Beteiligung der Schüler an der Festsetzung der Lernziele und Lerninhalte fordert, dann ergibt sich doch die Frage, ob dieselben Prinzipien nicht mutatis mutandis auf das Schreiben von Lehrbüchern insbesondere dann angewendet werden müssen, wenn ihr Gegenstand wie hier unmittelbar gesellschaftliche Praxis ist. Die meisten der mir bekannten Lehrbücher sind autoritär in dreifacher Hinsicht. Erstens zwingen sie dem Leser das Wissen und die Position des Autors auf; der Leser kann diese Position entweder akzeptieren oder die Lektüre abbrechen. Der Autor, als der Allwissende, wendet sich huldvoll den Unwissenden zu, zwingt ihnen seine Sprache und Begrifflichkeit auf, und selbst dort, wo er Kontroversen seiner Disziplin darstellt, bleibt er das ausschließliche Subjekt der Kommunikation - wie im lehrerzentrierten Unterricht. Zweitens geht in der Regel der (vor allem deutsche) Autor rücksichtslos über Vorwissen und Vorerfahrungen seiner Leser hinweg, indem er sie nicht in seine Darstellung einbezieht. Er tut vielmehr so, als führe er seinen Leser in eine völlig neue Welt ein, über deren Schlüssel er allein verfügt. In diesem Punkte verhält sich der Autor dann wie eine schlechte Schule, in der die außerschulisch erworbenen Erfahrungen und Konflikte der Schüler der Logik des Lehrplans geopfert werden. Tatsächlich jedoch hat gerade in paedagogicis jeder Leser eine ganze Fülle von Erfahrungen, Enttäuschungen, Frustrationen. Ängsten und Vorurteilen in seiner bisherigen Lebensgeschichte akkumuliert, die er - so vermute ich - in die Lektüre eines Lehrbuches als

409

seinen Part einzubringen wünscht. In diesem Sinne wird er gleichsam zum Mitautor des Buches. Insofern diese individuellen Vorerfahrungen einen gewissen Allgemeinheitsgrad besitzen (z.B. als typische Erfahrungen des Mittelstandes, aus dem die Lehrerstudenten in der Regel kommen), vermag ein Autor daraufhin seine inhaltlichen und stilistischen Akzente zu setzen. So habe ich etwa bewußt der Schule einen vergleichsweise geringen Raum gegeben, um gegen die typisch mittelständische Fixierung auf diese eine pädagogische Institution anzugehen. Die dritte Dimension des autoritären Lehrbuches, die sich insbesondere bei politisch engagierten Kollegen immer häufiger findet, ist eine Modifikation der zweiten. Es handelt sich dabei um die Privilegierung bestimmter Vor-Erfahrungen (z. B. "der Arbeiter") und die entsprechende Unterprivilegierung bestimmter anderer (z. B. des kleinbürgerlichen Mittelstandes). In dem Vorwurf der Kritiker, mutige Ansätze würden immer wieder zurückgenommen und kritische Ansätze nicht zu Ende formuliert, kommt diese Einstellung zum Ausdruck. Denn sie erwartet ja vom Autor, daß er seine Position mehr oder weniger kompromißlos durchhält - in möglichst unzweideutiger Sprache und unter Verwendung der für diese Position charakteristischen Begriffe. Nun wäre dies für jemanden, der überhaupt eine Position hat, keine besondere Schwierigkeit. Ich bezweifele jedoch, daß dies irgendeinen didaktischen Sinn haben könnte. Denn für diejenigen, die diese Position sowieso schon vertreten, würde so allenfalls eine Bestätigung oder Verstärkung dabei herauskommen - also kein Anreiz zum Lernen. Den anderen, die diese Position nicht teilen, gibt man auf diese Weise ebenfalls ein allzu leichtes Alibi, nicht dazuzulernen, weil der erwartete Bewußtseinssprung zu groß ist, bzw. weil die "Position" als beliebig austauschbar auf dem Markt der Meinungen angesehen werden kann. Etwas salopper ausgedrückt: Sozialisten sollten niemals Bücher für Sozialisten schreiben, sondern für die anderen.

Ein Lehrbuch nach meinen Vorstellungen müßte so angelegt sein, daß es einerseits die Position des Autors klar ausweist, andererseits jedoch den Leser damit nicht nutzlos konfrontiert, sondern ihm die Chance gibt, über weite Strecken darin seine eigenen, möglicherweise ganz anderen Vorstellungen als nicht von vornherein denunzierte wiederzufinden und den Gedanken und Schlüssen des Autors nur so weit zu folgen, als er dies angesichts seiner augenblicklichen "Lern-Reichweite" vermag. Ich habe bewußt versucht, meine "Einführung" für solche Studienanfänger zu schreiben, wie ich sie kennengelernt habe: aus mittelständisch-kleinbürgerlichen Familien kommend, voll von den unreflektierten, aber zutiefst verunsicherten einschlägigen Werturteilen in Sachen Erziehung. Ihnen würde ein Buch mit "klarer Position" - außer vielleicht im Hinblick auf eine problematische Vater-Identifikation mit dem Autor - nichts nutzen. Wer nicht die Absicht hat, möglichst viele Leser mit ganz verschiedenen Voreinstellungen und Vor-Urteilen anzusprechen, sollte keine Bücher schreiben, sondern in kleinen Zirkeln mit Gleichgesinnten diskutieren.

419

Die analoge Situation des Lehrbuchschreibens ist der "Einstieg" in einen organisierten Lernprozeß: Man kann Lernprozesse nur dann erfolgreich beginnen, wenn man den Vorerfahrungen aller an diesem Lernprozeß Beteiligten zunächst den gleichen Respekt entgegenbringt, ohne die einen auf Kosten der anderen zu privilegieren.

Die entscheidende und leider schwer nachprüfbare Frage scheint mir zu sein, ob ein solches schriftstellerisch-didaktisches Konzept, nämlich den Leser nicht nur zur Reproduktion der Gedanken des Autors zu bringen, sondern möglichst weitgehend auch an der Produktion zu beteiligen, überhaupt realistisch ist; ob eine solche Erwartung einem Buch - also einem Produkt der Massenkommunikation - gegenüber nicht einfach illusorisch ist. Oder anders ausgedrückt: die Frage ist, ob ein in kleingruppenhaften Lernprozessen erprobtes didaktisches Postulat in dieser Weise auf Verhältnisse der Massenkommunikation übertragen werden kann.

3. Der Widerspruch von "Genauigkeit" und "Zusammenhang"

Ein anderes Problem, bei dem die Kritiker ansetzen, gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang. Wenn man die Absicht hat - die die Kritiker billigen - , einen hinreichend umfangreichen Vorstellungszusammenhang zu entwerfen - wie weit kann dann die Präzisierung und Differenzierung im einzelnen gehen, ohne daß der Zusammenhang zerstört wird? Wie umfangreich darf eine derartige zusammenhängende Darstellung sein, damit sie in einem Durchgang auch mitvollzogen werden kann? Abgesehen einmal vom Kaufpreis des Buches, der möglichst niedrig sein soll, kann als sicher gelten, daß von einem bestimmten Umfang an die Konstruktions- und Rekonstruktionsfähigkeit des Lesers zusammenbricht; denn im Unterschied zu lehrgangsmäßig aufgebauten Büchern, die Stück für Stück je nach individuellem Lerntempo gelesen werden können, hängt hier alles davon ab, daß die Vorstellung vom Zusammenhang der Probleme sich möglichst in einem Anlauf aufbaut und daß dieser Prozeß nicht durch allzu langes Verweilen bei einer Sache unterbrochen wird. Eine verhältnismäßig große Ungenauigkeit im Detail und die Kürze der Darstellung (z.B. für "Schule" nur einige Seiten!) sind der Preis, der für dieses didaktische Konzept zu zahlen ist. "Zusammenhang" und "Genauigkeit" sind allenthalben didaktische Gegensätze, begründet in den Grenzen der (natürlichen oder erworbenen) menschlichen Aneignungsfähigkeit; das eine geht immer auf Kosten des anderen. Ich habe mich in diesem Falle für "Zusammenhang" auf Kosten der Genauigkeit entschieden. Die logische Fortsetzung des Konzeptes wäre, wenn der Leser nach diesem "groben" ersten Durchgang nun zu einem zweiten Ansatz greifen könnte, bei dem es umgekehrt primär auf Genauigkeit im Detail ankäme (wozu dann aber eine ganze Reihe von Bänden nötig wäre!).

Meine didaktische These hierzu ist: Alle Genauigkeit im Detail ist für eine bewußte Gestaltung der pädagogischen Praxis so lange nutzlos, wie sie

411

sich nicht in einen Bewußtseinszusammenhang einfügt. Darin bin ich mit den Kritikern sicher wieder einig. Aber die Umsetzung dieser Einsicht beim Lehrbuchschreiben verursacht dann eben auch Kosten, die vielleicht niedriger gehalten werden können, aber prinzipiell nicht zu umgehen sind. Einige der von den Kritikern genannten Widersprüche erklären sich so ("Erfahrung"), andere leuchten mir nicht ein ("Begabung"; "Lernen"; "Didaktik"). Überrascht bin ich zudem darüber, daß den Kritikern die Ironie des Lateinbeispiels im Zusammenhang des Begabungsbegriffes entgangen ist. Was muß man von unserem (tatsächlichen oder scheinbaren) Wissen über "Begabung" halten, wenn letztlich doch nur die Praxis zum Kriterium der Richtigkeit herhalten kann?

Das Unbehagen der Kritiker an diesem prinzipiellen Widerspruch ist mir gleichwohl nur allzu verständlich. Aber nehmen wir als Beispiel die Problematik meines Begriffes von "Lernen": ich habe ihn definiert in einem umgangssprachlichen, jedem aus seiner bisherigen Lebenserfahrung geläufigen Sinne - unbefriedigend sicher für den, der sich in der Lernforschung nur einigermaßen auskennt (was bei Studienanfängern als ausgeschlossen gelten kann). Das Modell von Roth (anschließend übrigens mit einer Einschränkung versehen) und mein eigenes Beispiel sollten eine gewisse Anschaulichkeit gewährleisten. Im Rahmen des oben dargelegten didaktischen Konzeptes verbietet es sich einfach an dieser Stelle, auch nur andeutungsweise den Stand der Forschung zu referieren oder auch nur meine Vorbehalte gegen das Rothsche Modell zu artikulieren. Ganz abgesehen davon muß ich gestehen, daß ich angesichts einer immer mehr dem Selbstlauf überlassenen Lernforschung es auch grundsätzlich für sinnvoll halte, wenigstens ab und zu auf einen vorwissenschaftlichen Begriff von Lernen zurückzugehen, damit wieder klar wird, was da eigentlich warum erforscht werden soll. Für die sonst auftretende Gefahr geben die Kritiker mit ihrer Reaktion ein gutes Beispiel: Wohl in der Forschung (aber was erforscht sie dann eigentlich noch?), nicht aber in der Wirklichkeit ein und derselben Person sind kognitive, affektive und verbale Lernleistungen zu trennen - wie uns schon unsere Selbsterfahrung lehrt. Und ich bin nachgerade skeptisch gegen solche empirische Forschungen, deren Ergebnisse unter dem Niveau unserer Selbsterfahrungen bleiben.

Nach meiner Vorstellung muß in diesem Punkt die Leitfrage lauten: Wird durch die Darlegung des Lehrbuchautors die Möglichkeit zur genaueren und intensiveren Beschäftigung mit dem Einzelproblem verbaut? Oder bleibt der Leser "hungrig" auf weitere, genauere Informationen? Daran gemessen ist die Frage, ob das denkbar beste Modell für Lernen vorgetragen wurde, oder ob dieses Modell behavioristisch ist oder nicht, verhältnismäßig unwichtig. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich selbst am wenigsten zufrieden mit dem Literaturverzeichnis, das noch mehr zusammengestrichen werden und statt dessen ausführlicher und systematischer kommentiert werden müßte - eine vielleicht schwierigere Aufgabe als das Schreiben des Textes selbst.

412

4. Was ist Emanzipation?

Auch den Zielbegriff Emanzipation verwenden meine Kritiker in einem anderen Sinne als ich. An dem daraus resultierenden Mißverständnis bin ich jedoch insofern nicht schuldlos, als der Begriff "emanzipierte Beteiligung" es nahelegt. Klarer wäre der Begriff ",emanzipierende Beteiligung", weil er den lebensgeschichtlichen Prozeßcharakter ebenso wie die untrennbare Verschränkung mit politischem und sozialem Handeln besser zum Ausdruck bringen würde. Die damit angesprochene Problematik habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt (2). Hier nur soviel: Ich gebrauche den Begriff Emanzipation in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion in Übertragung eines ursprünglich historisch-politischen Begriffes auf lebensgeschichtliche Prozesse (3). Die eigentliche Schwierigkeit seiner Verwendung besteht darin, den Zusammenhang historisch-gesellschaftlicher Prozesse (die Entwicklung der gesellschaftlichen "Totalität") mit individuell-lebensgeschichtlichen Prozessen theoretisch überzeugend herzustellen - die bisher ungelöste theoretische Schwierigkeit aller marxistischen Pädagogik. Wenn der Vorwurf der Kritiker auf dieses Defizit zielt, haben sie recht; für dieses eminent wichtige theoretische Problem habe ich in der Tat einstweilen keine Lösung anzubieten. Sicher ist jedoch dies: Die Lösung wird nicht darin bestehen, daß man aus gesellschaftlich-historischen Prozessen Regeln oder auch nur Strategien für individuell-lebensgeschichtliche Prozesse (also auch für Lernprozesse) einfach deduziert. Lebensgeschichten unterliegen fundamental anderen Gesetzen und Bedingungen als die Geschichte der Gesellschaft. Ganz illusionär ist daher die Vorstellung meiner Kritiker, Emanzipation sei ein "Lernmuster", das irgendwann (und möglichst früh) gelernt werden könnte und dann als Verhaltensmuster für das künftige politische und soziale Verhalten bereitstünde. Die Hoffnungen, die damit an die Möglichkeiten von Pädagogik geknüpft werden, sind schlechterdings unrealistisch. Eine so verstandene Emanzipation würde, selbst wenn sie in Abschirmung von konkurrierenden Normen "funktionaler" Sozialisationsinstitutionen in aufgeklärten Familien oder Kinderläden herstellbar wäre, ein Heer von Neurotikern produzieren, die schon deshalb unfähig zur Veränderung der Gesellschaft wären, weil sie diese gar nicht begriffen hätten. (Übrigens: daß Gleichaltrigengruppen von Kindern ihre Kommunikationen planmäßig [also bewußt] zum Zwecke des Lernens organisieren, kann im Ernst niemand behaupten; desgleichen beim Fußballspiel: wenn Turnlehrer glauben, daß dabei auch irgendwelche "Tugenden" herauskommen und sie deshalb das

413

Fußballspielen für "pädagogisch" halten, ist das ihre Sache, aber nicht die der Spieler. Insofern ist der Satz: "Funktional wird dort gelernt, wo nicht (planmäßig, bewußt) gelehrt wird", durchaus vernünftig. Dies sollte ja gerade das Beispiel mit den "Mädchen in Hosen" zeigen: daß "antiautoritäre" Eltern von vornherein mit konkurrierenden Normen in Konflikt geraten, und daß die Kinder nicht schon dadurch "emanzipiert" werden, daß man sie nicht zu bewältigenden Konflikten überläßt. Solange es keine überzeugende Theorie über den Zusammenhang von individuell-lebensgeschichtlichen und kollektiv-gesellschaftlichen Prozessen gibt, bleiben aufgeplusterte Sentenzen wie "eine kollektive Emanzipation bislang Unterprivilegierter einleiten" oder "sich dem Emanzipationsinteresse der Arbeiterklasse verpflichten" leeres Geschwätz. Wenn irgend etwas ungenau ist, dann der theoretische Gehalt und der praktische Wert solcher Floskeln. Und weil das so ist, versuchen - wenn meine Beobachtungen zutreffen - immer mehr angeblich "linke" Leute mit solchen Slogans ihre beschädigte Identität auf Kosten anderer (z. B. "der Arbeiter") zu reparieren. Dies ist menschlich verständlich, aber politisch wie pädagogisch vollkommen bedeutungslos. Und ich möchte als Autor dafür nicht unfreiwillig Munition liefern.

Einstweilen scheint es mir daher redlicher und vor allem praxisnäher zu sein, den Begriff Emanzipation im Kontinuum einer Lebensgeschichte zu fassen, als einen permanenten Prozeß der Selbstbestimmung und Ablösung von überflüssig gewordener Autorität. Dann steht das "Kindergartenbeispiel" in der Tat ebenso für emanzipierendes Verhalten wie das Beispiel des Bauern, der durch das Fernsehen vielleicht unabhängiger von den reaktionären politischen Ansichten seines Dorfpfarrers wird. Wer jedoch glaubt, all dies bliebe ja "im System", es komme aber auf die Abschaffung des Systems an, dem muß gesagt werden: Lernen und Erziehung lassen sich nur organisieren in der Kontinuität eines politischen Systems - wenn auch durchaus in der Perspektive seiner Veränderung, aber nicht von einem außerhalb liegenden "archimedischen Punkte" aus. Gerade die Geschichte der marxistischen Pädagogik zeigt dies deutlich: wo sie überhaupt eine Realitätschance hatte, da war und ist sie biedere "bürgerliche" Pädagogik, drapiert mit entsprechenden politischen Schlagworten. Vermutlich kann es in hochindustrialisierten Gesellschaften - unabhängig vom System der Produktion und Verteilung - überhaupt nur Variationen "bürgerlicher" Pädagogik geben; darüber wäre noch nachzudenken. Pädagogische Utopien, die der vorhandenen Realität eine ganz andere entgegensetzen, mögen langfristig für die Zieldiskussion unentbehrlich sein, für die konkreten Emanzipationsbedürfnisse konkreter Menschen werfen sie nicht viel mehr ab als allgemeine Gesichtspunkte der Korrektur.

Das äußerste, was einer emanzipierenden Pädagogik möglich ist, ist dies: das Maß an tatsächlicher (nicht nur eingebildeter) Selbstbestimmung überall dort bis an die Grenze des Möglichen vorzutreiben, wo sich dies aufgrund der wandelnden politischen Bedingungen anbietet; den Unzufriedenen (Arbeitern, Schülern, Lehrlingen, Studenten, Hausfrauen usw.) Lernhilfen

414

für eine effektivere Durchsetzung ihrer Interessen anzubieten. Pädagogik kann - mit anderen Worten - bereits vorliegende Bedürfnisse artikulieren und auf diese Weise durchsetzen helfen, aber sie kann sie nicht herstellen. Erst jetzt z. B., wo aus Gründen, an denen Pädagogik wahrlich keinen Anteil hat, Lehrlinge kritisch gegenüber den Bedingungen ihrer Ausbildung werden, kann Pädagogik dies auch thematisieren. Noch vor wenigen Jahren konnte das bei den Betroffenen keinerlei Resonanz finden. In diesem Sinne bleibt Pädagogik eine Magd der politischen Verhältnisse. Und niemand, auch nicht ein Lehrbuchschreiber, nützt den Menschen, wenn er an sie realitätsferne Emanzipationserwartungen stellt, bloß um recht zu haben und sich fortschrittlich dünken zu können.

415

Anmerkungen:
 

(*) Gemeint sind Johann Falkson und Hans Günther Homfeld, die im selben Heft der "Neuen Sammlung" - S. 396 ff. - unter dem Titel "Über die Schwierigkeiten, eine 'Einführung in die Pädagogik' zu schreiben", sich kritisch mit meiner Einführung in die Pädagogik, München 1969, auseinandergesetzt haben, H.G.

(1) Vgl. die Überlegungen von H. Seiffert, "Verständlichkeit" von Wissenschaft. In: Neue Sammlung 3/70.

(2) Vgl. Didaktische Probleme des Lernens im Rahmen von politischen Aktionen. In: Hermann Giesecke u. a.: Politische Aktion und politisches Lernen. München 1970, außerdem: Emanzipation - ein neues pädagogisches Schlagwort? in: deutsche jugend Heft 12/1969.

(3) Vgl. Giesecke/Keil/Perle: Pädagogik des Jugendreisens. München 1967, S.68ff. und: Hermann Giesecke (Hrsg.): Freizeit- und Konsumerziehung. Göttingen 1968, S. 227 ff. 

 

 

69. Didaktische Probleme des Lernens im Rahmen von politischen Aktionen (1970)

(In: H. Giesecke u.a.: Politische Aktion und politisches Lernen, München 1970, S. 11-45)
 

Kritik der traditionellen politischen Bildung

Die politische Bildung hat in den letzten Jahren durch die Aktionen der außerparlamentarischen Opposition unzweifelhaft neue Impulse erhalten, die möglicherweise zur Revision einiger bisher für selbstverständlich gehaltener Grundsätze nicht nur der politischen Bildung im engeren Sinne, sondern des politischen und pädagogischen Umgangs mit der jungen Generation überhaupt zwingen. Um diese neuen Impulse recht verstehen zu können, müssen wir uns den Hintergrund klarmachen, von dem sie sich abzuheben trachten. Wenn man Nuancen und im ganzen geringfügige Änderungen ausklammert, läßt sich die in den fünfziger Jahren theoretisch fundierte und bis unmittelbar in die Gegenwart praktisch wirksame politische Bildung folgendermaßen charakterisieren (1):

1. Die politische Bildung stellte weder die Machtverteilung in unserer Gesellschaft noch die Inhalte des gesellschaftlichen Prozesses in Frage. Demokratie wurde verstanden als ein "Set von Spielregeln" (Habermas), deren sich die Reichen wie die Armen, die Mächtigen wie die weniger Mächtigen gleichermaßen zu bedienen hatten. Kritik war zwar erlaubt und offiziell auch erwünscht, aber nur insofern sie die Effektivität des etablierten Produktions- und Konsumsystems verbesserte (= sogenannte "konstruktive Kritik"), die normativen und Herrschaftsgrundlagen des Systems aber unangetastet ließ. Diese "systemkonforme" politische

11

Bildung entsprach der politischen Realität der Bundesrepublik in jener Zeit in hohem Maße. Die kritischen Energien wurden abgelenkt auf die kommunistischen Nachbarländer und - sehr viel zögernder - auf die faschistische Vergangenheit. Das beliebteste und am weitesten verbreitete didaktische Modell war das "Demokratie-Diktatur-Schema", dessen Quintessenz in der an wechselnden Lehrstoffen immer wiederholten Aufforderung bestand, die "unfreien" politischen Regelungen des kommunistischen Systems deutlich gegen die zumindest im Prinzip "freiheitlichen" des eigenen Systems abzusetzen. Die eigene Gesellschaft wurde am liebsten mit dem Modell des "Pluralismus" erklärt: Gleichberechtigt streiten die verschiedenen Parteien und gesellschaftlichen Verbände um die Durchsetzung ihrer Interessen, und es ist Aufgabe der Politik (des Staates), immer wieder einen vertretbaren Ausgleich zu finden.

2. Dieser schon in der politischen Sphäre selbst zu findende Zug nach formaler Harmonisierung (ohne inhaltliche Kritik) verstärkte sich mit pädagogischen Begründungen noch in den Schulen. Konflikte galten als höchst unangenehme Ausnahmen, die schnellstens wieder zu bereinigen waren. Wer Konflikte suchte oder sie nicht vorschnell lösen wollte, verfiel dem Verdikt des Störenfrieds (2).

3. Bis in die didaktischen Theorien hinein wurden die Jugendlichen als bloße Objekte der politischen Bildung betrachtet. Aus dem Status der juristischen Unmündigkeit wurde gefolgert, daß Jugendliche "als solche" noch gar keine eigenen Interessen haben könnten, daß sie folglich weder Verantwortung noch auch Aktivität entfalten könnten - es sei denn im Rahmen dafür eigens vorgesehener pädagogisch "kanalisierter" "Probefelder" (Schülermitverwaltung, Mitarbeit in Jugendverbänden usw.). Das Jugendalter war zum Lernen da, die politische Anwendung des Gelernten kam später. Den Schulen kam diese Einstellung nur gelegen; denn sie korrespondierte exakt mit der Restaurierung alter schulischer Ordnungsvorstellungen, wie sie besonders den Gymnasien und Berufsschulen eigen wa-

12

ren. Die Schüler wurden wieder, was sie in der Neuzeit immer schon waren: ziemlich rechtlose Objekte von Lernleistungen, die von außen an sie herangetragen wurden. Wenn in der Didaktik von "Interesse" die Rede war, so meinte man damit nicht etwas, was sich bereits aus dem familiären und gesellschaftlichen Leben der Schüler ergeben hatte, sondern etwas, was im Zusammenhang der fremdbestimmten Lernleistungen erst als "Motivierung" hergestellt werden mußte.

4. Die politische Bildung war den Emotionen feindlich gesinnt, sie war einseitig auf kognitive Lernleistungen orientiert. Eine solche Entemotionalisierung schien wegen der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Zeit angebracht, sie denunzierte aber implizit auch jede Form der Interessenvertretung; denn politische Interessen - oder was man dafür hält - sind immer auch solche, die Freunden und Gegnern emotional etwas bedeuten. Wo Emotionen denunziert werden, als etwas angesprochen werden, was als Defizitäres schnellstens der Kontrolle der Vernunft unterworfen werden muß, da können auch die Wünsche und Hoffnungen, Enttäuschungen und Bedürfnisse der an der politischen Bildung Beteiligten keine nennenswerte Rolle spielen. Die Aufforderung zur "Rationalität" im politischen Urteil und Verhalten lief darauf hinaus, die Menschen ihren eigenen Sorgen und Bedürfnissen zu entfremden. Rationalität war immer die des funktionierenden Systems, nicht die der Organisation und Kritik der eigenen Bedürfnisse. Folgerichtig galt es auch als unangemessen, durch praktische Aktionen diesen Bedürfnissen Geltung zu verschaffen (3).

5. Die politische Bildung war jedem rationalen Zugriff auf die gesellschaftliche Totalität feindlich gesinnt; sie war in diesem Sinne theoriefeindlich. Alle Versuche in dieser Richtung wurden als "ideologisch" denunziert. "Ideologie" war nicht das Mißverhältnis zwischen gesellschaftlichem Sein und dem Bewußtsein davon, sondern in bemerkenswerter Umkehrung gerade der Versuch, beides aufeinander zu beziehen. Er wurde insbesondere mit Hinweisen auf die of-

13

fiziellen Ideologien der kommunistischen Staaten zurückgewiesen. Das in sich selbst vernünftig erscheinende System der Produktion und des Marktes mußte nicht theoretisch-systematisch hinterfragt, allenfalls zum Zwecke seiner Optimierung interpretiert und "verstanden" werden. Da die Existenz der kommunistischen DDR zu einer Beschäftigung mit dem Marxismus zwang, wurde dieser in sehr charakteristischer Weise in den Schulbüchern "interpretiert"; die beliebteste Deutung von Karl Marx etwa war die, daß er zwar mit moralischem Recht die Leiden der Arbeiterschaft vorgetragen habe, daß jedoch unser politisches System diese Probleme im wesentlichen gelöst habe.

Fügt man solche Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild zusammen, so kann man ohne Übertreibung sagen: Auf eine verblüffend eindeutige Weise war die in den fünfziger Jahren formulierte und bis in die unmittelbare Gegenwart praktizierte politische Bildung ein Reflex des herrschenden politischen Selbstverständnisses. Auch im Detail - angefangen von den theoretisch fundierenden Schriften bis hin zur Analyse von Richtlinien und Schulbüchern - würde sich die Gültigkeit der Marxschen These beweisen lassen, daß die herrschende Erziehung immer die Erziehung der Herrschenden sei. Das politische Selbstverständnis unserer Republik (im Sinne der "öffentlichen" und "nicht-öffentlichen" Meinung), die vorherrschenden politisch-pädagogischen Theorien, die politische Definition des Jugendalters, das Selbstverständnis von Lehrern und Schule sowie die didaktischen Prämissen und Prinzipien bildeten eine unheilige Allianz, die gleichsam unsichtbar um den Heranwachsenden aufmarschiert war und die das Prädikat "demokratisch" allenfalls in einem formalen Sinne verdiente (was für deutsche Verhältnisse nicht wenig war). In einem inhaltlich vertretbaren und diskutierbaren Sinne jedoch war die bisherige politische Bildung nicht "demokratisch".

Im Rahmen der ebengenannten Punkte lassen sich auch die wichtigsten Veränderungen zeigen, die sich seit Beginn der

14

Studentenunruhen ergeben haben, wobei die Unruhen teils Ursache, teils Symptome sind.

1. Gerade die Machtverteilung und die Inhalte des Demokratisierungsprozesses werden thematisiert; die Steigerung von Produktion und Konsum wird im Hinblick auf die konkreten Wirkungen auf konkrete Menschen hinterfragt.

2. Konflikte werden nicht mehr gescheut, oft geradezu planmäßig gesucht. Die Konflikte beim Namen zu nennen - und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen - wird zunehmend als wesentliche politische Aufgabe angesehen.

3. Die rebellierenden Studenten, Schüler und teilweise auch Lehrlinge wollen nicht länger mehr bloße Objekte solcher politischer Lernanforderungen sein, die von Erwachsenen für sie bereitgestellt werden und in denen sie ihre tatsächlichen Probleme, Wünsche, Interessen und Konflikte nicht mehr zu erkennen vermögen; erst recht weigern sie sich, weiterhin die politische Bildung als eine vom tatsächlichen politischen Leben getrennte Insel des Lernens zu akzeptieren, die man erst durchlaufen haben müsse, bevor man am "eigentlichen" politischen Leben verantwortlich mitarbeiten könne. Vielmehr wollen sie Aufklärung und Aktion miteinander verbinden, also ihre Bedürfnisse und Interessen selbst praktisch durchsetzen und die gewonnenen Erfahrungen in politische Lernprozesse umsetzen.

4. Dabei entdecken sie, daß die allgemeine Unterdrückung von Emotionalität zugleich die Unterdrückung ihrer eigenen Bedürfnisse und Interessen ist. Eine "neue Sensibilität" und Subjektivität wird den fremdbestimmten Ansprüchen des politischen Lernens gegenübergestellt. In dem Maße, wie die Subjekte wichtig werden, muß auch der Zusammenhang von Rationalität und Emotionalität neu geprüft werden. Daß das individuelle Wohlbefinden so wichtig ist wie die Steigerung der ökonomischen Produktivität ist vielleicht die eigentlich revolutionäre Entdeckung.

5. Ohne Rücksicht auf den Vorwurf der Ideologie wird der gesellschaftliche Totalzusammenhang ins Auge gefaßt

15

und hinterfragt. Zusammenhänge werden hergestellt zwischen Vietnam und den technokratischen parlamentarischen Systemen, zwischen dem Hunger in der dritten Welt und dem "Neo-Kolonialismus" des westlichen und östlichen Privat- bzw. Staatskapitalismus. Wie unzureichend und problematisch solche totalen theoretischen Zugriffe auch sein mögen, so zeigen sie doch das Ende eines Begriffes von "Politik" an, der sorgfältig von "Gesellschaft" "Privatheit", "Emotionalität" und "Moral" geschieden war. Gewiß: eine solche Wandlung wird einstweilen noch repräsentiert durch Minderheiten, deren Denken und Verhalten von den Gegnern gerade als "unpolitisch" bezeichnet wird. Dennoch scheint mir unzweifelhaft darin eine neue Vorstellung von Politik sich anzudeuten, die nicht auf diese Minderheit beschränkt bleiben wird. Diese Wandlung historisch und systematisch darzustellen, ist hier nicht die Aufgabe. Vielmehr kommt es uns darauf an, einige politisch-pädagogische Vorstellungen didaktisch zu überprüfen, die auf dem Hintergrund der eben dargestellten Wandlungen von der APO neu in die Diskussion der politischen Bildung eingebracht wurden.

Dabei ist allerdings zu bedenken, daß es "die" APO nicht gibt, daß sich vielmehr sehr verschiedene Positionen mit sehr unterschiedlichem theoretischem und praktischem Anspruch gegenüberstehen und die wenigsten Gruppen eine fertige Strategie anbieten; sie selbst betonen, daß die theoretischen Konzepte sich erst im Zusammenhang praktischer Aktionen strukturieren könnten. Demnach hätte es wenig Sinn, die Selbstdarstellungen der APO philologisch auf Zitate zu pädagogischen Fragen abzusuchen. Hinzu kommt, daß zwar in all diesen Gruppen, insbesondere auch im SDS, unentwegt von "Lernprozessen" und vom unlösbaren Zusammenhang von "Aufklärung und Aktion" gesprochen wird, daß diese Äußerungen aber über abstrakte Postulate und über mehr oder weniger problematische praktische Ansätze (Kinderläden; Kindererziehung in Kommunen; eigene Versuche zur Resozialisierung dissozialer Jugendlicher) nicht hinausgelangt sind. Mit diesem pädagogischen

16

Defizit der deutschen Linken, also ihrer Unfähigkeit, die pädagogische Seite der Dialektik von Aufklärung und Aktion ebenso zu thematisieren wie die politische, wollen wir uns am Schluß des Beitrages noch ausführlicher beschäftigen; es geht dabei um die Frage, ob und in welchem Maße aus der sogenannten "kritischen Theorie" und der diese begründenden marxistischen Tradition pädagogische Ziele und Strategien abgeleitet werden können.

Zunächst jedoch sollen uns zwei Thesen beschäftigen, die beanspruchen, die traditionelle politische Bildung im Hinblick auf ein größeres Maß an Emanzipation der Individuen weiter zu entwickeln.

Die erste These läßt sich etwa so zusammenfassen: Die bisherige politische Bildung habe nur Wissensstoffe und Verhaltensweisen vermittelt, die nicht dem politischen Handeln mit dem Ziel der Demokratisierung der Gesellschaft dienten, sondern geeignet waren, von eben diesem Ziel abzulenken. Deshalb müsse in Zukunft das politische Handeln, die politische Aktion, das Zentrum des politischen Lernens sein. Nur in Aktionen, die gegen un-demokratische Organisationen, Institutionen sowie deren Repräsentanten und Regeln gerichtet seien, könne man das lernen was man für eine demokratische Veränderung der Gesellschaft wirklich brauche.

Um in dieser Weise lernen zu können, so lautet die zweite, durch Anwendung psychoanalytischer Argumente gestützte These, müsse man eine tiefsitzende Barriere überwinden: die durch die bisherige Erziehung und Sozialisation eingeimpfte Angst vor Ungehorsam, vor sozialer Abweichung, vor Non-Konformismus. Diese Angst könne man nicht verbal überwinden, etwa durch die Lektüre psychoanalytischer Bücher, sondern nur dadurch, daß man sie in sich selbst durch Durchbrechung gesellschaftlicher Regeln und Tabus Stück für Stück beseitige. "Selbstbefreiung durch Provokation" ist also das pädagogische Ziel und zugleich die theoretische Rechtfertigung für ein Verhalten, das auf den ersten Blick bloß als eine Mischung aus Unreife, Unverschämtheit und Frechheit erscheinen muß.

17

Politische Aktion als Aufklärung

Die Forderung, politisches Lernen und politisches Handeln müßten sich ergänzen, ist eine Binsenweisheit aller Pädagogik. Immer schon hat man jungen Menschen "jugendgemäße Probefelder" sozialen Handelns offeriert (z. B. Mitarbeit in der Schülermitverwaltung und in den Jugendverbänden) oder sie auch für ernsthafte soziale Aktivitäten (z. B. Päckchen-Aktion "nach drüben" oder "freiwillige soziale Dienste") zu interessieren versucht. Aber alle solche Aktivitäten, so nützlich und hilfreich sie in vielen Fällen waren, blieben unkritisch gegenüber den Prinzipien des gesellschaftlichen Systems, in dem sie erfolgten. Mit Recht kann deshalb von ihnen gesagt werden, daß sie nur der Einübung eines formalen gesellschaftlichen Gehorsams dienten - formal, insofern Inhalt und Zweck der Anpassung dabei nicht diskutiert wurden.

Zudem läßt jedes didaktisch organisierte Lernfeld, also auch die Schule, leicht übersehen, daß "Lernen" selbst immer schon eine Form sozialen Handelns ist, mit dem Ziel, bestehende Bewußtseinsinhalte, Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern, weil solche Änderungen in irgendeinem sozialen Kontext honoriert werden. Diese Einsicht kann leicht verloren gehen, weil die pädagogische Institution - befangen in ihrem erklärten Hauptzweck: organisiert zu lehren - den sozialen Handlungscharakter ihrer Tätigkeit ignoriert und etwa der Vorstellung verfällt, erst müsse man lernen, und danach müsse sich dann das Gelernte im Leben bewähren. Die vielzitierte Diskrepanz von "Schule und Leben" hat hier ihren Grund. Niemand jedoch lernt - subjektiv gesehen - in Wahrheit "auf Vorrat", auch nicht der Lateinschüler, der Vokabeln wie "res publica" paukt, ohne sie schon voll zu verstehen. Auch er existiert in einer Klasse, in der über Latein zu kommunizieren eben Inhalt von honorierten sozialen Interaktionen ist. Das Beispiel des Lateinischen zeigt aber auch noch einen anderen Aspekt desselben Sachverhaltes: In dem Maße nämlich, wie lateinisch zu können in der bürgerlichen Kul-

18

tur nicht mehr mit sozialem Ansehen verbunden war, nahmen Interesse und "Begabung" ab, es zu lernen. - Und sogar der einsame Buchleser hat diejenigen, mit denen er darüber kommunizieren kann, gleichsam unsichtbar neben sich sitzen. Jene Trennung von Lernen und Anwendung des Gelernten gibt es im "wirklichen Leben" also gar nicht, sie ist eine Erfindung von Schulmännern, mit der sie ihren Beruf rechtfertigen.

Gilt schon für die Lernvorgänge selbst, daß sie ohne den Blick auf die soziale Anwendung gar nicht gedacht werden können, ja: selbst eine Weise des sozialen Verhaltens sind, so gilt dies erst recht für das Behalten. Nichts wird auf die Dauer behalten, was nicht sozial reproduzierbar wäre. Und umgekehrt wird das Gelernte allmählich auf das Gebrauchte hin modifiziert. Dies ist ja das Dilemma des Lehrers; sein "wissenschaftliches" Bewußtsein gleicht sich immer mehr dem seiner Schüler an, wenn die Kommunikation mit ihnen die einzige fachliche Kommunikation bleibt. Und Schüler aus unteren Sozialschichten haben nicht zuletzt deshalb die bekannten Lernschwierigkeiten, weil sie über das, was ihnen die Schule anträgt, außerhalb der Schulmauern mit niemandem mehr kommunizieren können. Nimmt man also die Behauptung, die bisherige politische Bildung habe nur etwas gelehrt, was nicht dem Handeln diene, in ihrer extremen Form beim Wort, so würde sie nichts weniger beinhalten, als daß überhaupt nichts gelernt werde. Wir halten also fürs erste fest: Wollen wir politisches Lernen und politische Aktion miteinander in Verbindung setzen, so müssen wir zwei verschiedene Sozialsituationen und ihnen zugeordnete soziale Verhaltensweisen in Beziehung bringen.

Wollen wir weiterkommen, so müssen wir offenbar die genannte Kritik präzisieren, zum Beispiel so: Nicht abstrakt stehen sich Lernen und Anwendung unversöhnlich gegenüber, vielmehr widersprechen sich in der politischen Bildung Lernangebot und Handlungsmöglichkeit. Wir lehren in Sachen politische Bildung etwas, was anzuwenden und zu benutzen wir zugleich verwehren. So predigen wir

19

etwa das Ideal des mitbestimmenden Bürgers, verwehren aber zugleich, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, also den Jugendlichen Mitbestimmung einzuräumen. Und solange Handlungsmöglichkeiten nach "erlaubt" und "unerlaubt" erfolgreich sortiert und durchgesetzt werden können, paßt sich das Gelernte auf eigentümliche Weise dem erlaubten Handlungsspielraum an: Die subjektive Bedeutung des Gelernten, die Art und Weise, wie es zu Erfahrung wird, die Unterscheidung nach "wichtig" und "unwichtig", nach "richtig" und "falsch" - all dies konturiert sich anders, je nachdem, ob ich damit demonstriere, streike, gute Zeugnisse anvisiere oder traditioneller SMV-Sprecher bin. Ein Schüler, der mit seinem Direktor wegen der Schülerzeitung in Konflikt gerät, hat eine ganz andere Lernmotivation und auch eine ganz andere inhaltliche Lernnachfrage als einer, der lediglich über solche politischen Probleme im Sozialkundeunterricht diskutieren darf, die nicht die seinen sind und nach traditioneller Auffassung auch gar nicht die seinen sein dürfen, weil er zur politischen Verantwortung ja erst später fähig sei. Die bisherigen ideologie-kritischen Untersuchungen zur politischen Bildung haben immer wieder festgestellt, daß diese falsches Bewußtsein produziere; im Zusammenhang unseres Gedankenganges muß man diese Auskunft so deuten: Wenn das Bewußtsein deformiert ist, so zeigt dies, daß das Handlungsfeld deformiert ist. Oder in Abwandlung eines Sprichwortes ausgedrückt: Sage mir, was Du tun darfst. und ich sage Dir, was Du lernen darfst bzw. willst.

Politisches Lernen und politische Aktion als "Ernstfall" des politischen und sozialen Handelns bedingen also einander, sind beide Variationen sozialer Kommunikation, sind aber ihrer Struktur nach keineswegs identisch. Politik zielt auf die objektive Seite von Emanzipation, "Didaktik" im Sinne von Lernorganisation auf die subjektive Seite. Um Veränderungen eines individuellen Bewußtseins zu ermöglichen, bedarf es anderer Maßstäbe und Maßnahmen als zur Veränderung gesellschaftlicher Institutionen. Eine Basisgruppe, die an der Universität zum Beispiel für die

20

Abschaffung von Prüfungen kämpft, muß anders strukturiert und organisiert sein als eine Basisgruppe, die etwa zum Zwecke der Erkenntnis die didaktische und politische Funktion von Prüfungen wissenschaftlich untersucht. Will ein und dieselbe Gruppe beide Aufgaben wahrnehmen, gerät sie in kaum lösbare Schwierigkeiten. Ich kenne kein Beispiel, wo dies wirklich gelungen ist; im Gegenteil sind die Selbstdarstellungen der opponierenden Schüler und Studenten voll von Beispielen des Scheiterns. Leider setzt dann die Reflexion an diesem Punkte meist aus und wird ersetzt durch Rationalisierungen. Vielleicht fürchtet man sich vor der unangenehmen Erkenntnis, daß die Situation der politischen Aktion eine extrem schlechte Lernsituation ist und daß umgekehrt das didaktisch organisierte Lernfeld eine extrem schlechte politische Handlungssituation ist. Wir stoßen hier auf das gleiche didaktische Grundproblem, das wir auch aus anderen pädagogischen Bereichen kennen, etwa aus dem "dualen System" in der Berufsausbildung und aus der polytechnischen Erziehung: Die Logik des Lernens ist nicht die Logik der industriellen Produktion; das Leben bildet nicht, es sei denn, man organisierte es zu diesem Zwecke. Die Forderung also, politisches Lernen müsse aus der Aktion erfolgen, ändert grundsätzlich gar nichts an dem Problem daß dieses Lernen nach wie vor planmäßig organisiert werden muß, daß es also seine didaktische Dimension behält.

Allerdings ist hier von den Wortführern nie irgendeine beliebige "Aktion" gemeint, sondern immer eine solche, die sich unter dem Anspruch von Emanzipation gegen herrschende Gewalten und gegen daraus resultierende "Ordnungen" wendet. Indem nun junge Menschen - diesseits wie jenseits der Volljährigkeit - so das pädagogisch kanalisierte Handlungsfeld zum voll zu verantwortenden Ernstfeld hin öffnen, fällen sie eine wichtige politische Entscheidung mit schwerwiegenden pädagogischen Konsequenzen. Sie impliziert nämlich, daß eine nachwachsende Generation eigene politische Interessen hat, die sie gegen die Interessen der Gesamtgesellschaft durchsetzen muß und deren

21

Durchsetzung sie nicht mehr allein bestimmten Repräsentanten - zum Beispiel den Erziehern - überlassen kann. Der bisherige "hippokratische Eid der Erzieher", sich stellvertretend für das Wohl des Unmündigen gegenüber der Gesamtgesellschaft einzusetzen, wäre damit zu einem guten Teil gegenstandslos geworden; an seine Stelle würden dann mit zunehmendem Alter Solidarisierungen von Erziehern mit jungen Menschen treten, die entweder gar nicht oder nur zum Teil pädagogisch begründbar sind und ebenso wie andere politische Solidarisierungen von Fall zu Fall aufgekündigt werden können. Nicht nur die Jugendlichen wären von diesem pädagogischen Eid entbunden, sondern auch die Erzieher selbst: Sie könnten sich nun offen gegen die Interessen der jungen Generation wenden und diese auch offen mit politischen Mitteln bekämpfen. Die Aufkündigung des "pädagogischen Bezugs" seitens der jungen Generation hätte also durchaus ambivalente Folgen, und es ist noch gar nicht ausgemacht, ob auf dieser Basis die Lebensinteressen der jungen Generation wirkungsvoller zum Zuge kommen könnten als bisher.

Abgesehen von diesem Problem läßt sich jedoch sagen: Wenn die junge Generation ihre politischen Interessen gegenüber der Gesamtgesellschaft selbst vertreten will und soll, dann muß sie in der Tat aufgrund unserer obigen Überlegungen auch etwas anderes als bisher in der politischen Bildung lernen (Entsprechung von Lerninhalt und Aktionsinhalt), und dann muß die politische Bildung an den Schulen von Grund auf neu durchdacht werden.

Aber damit sind die didaktischen Probleme des Lernens ja nicht verschwunden, sie stellen sich nur neu bzw. anders. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar: Eine Demonstration findet statt, die mit der Polizei konfrontiert wird. Das Erlebnis dieses Konfliktes wirkt - so die Aussage mancher Beteiligter - so, daß sich die Teilnehmer selbst und ihre gesellschaftliche Umwelt neu erleben. Anschließend findet ein teach-in mit einer Massendiskussion statt, in der diese Erlebnisse und Erfahrungen artikuliert und das Lernergebnis gewissermaßen eingebracht werden sollen.

22

Der Lernertrag wird dabei gleichsam als Abfallprodukt der Aktion betrachtet, als etwas, was von selbst sich einstellt. Und genau hier scheint mir der gefährliche Irrtum zu liegen, der dafür verantwortlich ist, daß die Schüler- und Studentenbewegung immer mehr im Gestrüpp ihrer unkalkulierten Aggressionen steckenbleibt. Sie kann einfach nichts Nennenswertes dazulernen, wenn sie sich den Zusammenhang von Lernen und Aktion so naiv vorstellt, wenn sie nicht sieht, daß auch und gerade hier Lernprozesse sehr sorgfältig organisiert werden müssen. Didaktisch gesehen ist die Aktion nämlich nichts weiter als ein Einstieg, an den systematisch anzuknüpfen wäre. Dabei ist es ganz gleichgültig, daß gewiß in einzelnen Fällen - wie es etwa Dutschke so eindringlich beschrieben hat - so etwas wie eine fundierende Erfahrung zustande kommt, die sich selbst genug sein kann. Aber das ist ebenso wenig organisierbar, wie man etwa von der organisierten Lehrerbildung lauter "geborene Erzieher" erwarten kann. Was Dutschke und andere als "Selbsterfahrung durch Aktion" beschrieben haben, ist durchaus glaubwürdig und entspricht etwa dem, was Bollnow im Anschluß an die Existenzphilosophie "Begegnung" und Makarenko in anderen Zusammenhängen "Explosion" nannten. Aber es hieße, zu vorwissenschaftlichen Anschauungen über das menschliche Lernen zurückzukehren, wenn wir einfach die Menschen in Aktionen treiben, in der Hoffnung, irgendwie würden dabei schon Lernprozesse oder gar Erfahrungen für jeden Beteiligten zustande kommen.

Soll dies vielmehr organisiert werden, so scheinen mir folgende Minimalvoraussetzungen unabdingbar:

1. Man muß zum Zwecke des Lernens eigens organisierte Zeiten und Kommunikationen einrichten, die räumlich und zeitlich die Möglichkeit bieten, sich von hochtouriger Aktivität zu distanzieren. Am Ort der Aktion und unmittelbar zeitlich daran anschließend kann die zur Reflexion nötige Distanz nicht aufkommen. Didaktisch ist es also ziemlich unergiebig, im Anschluß an eine Aktion ein Teach-

23

in zu veranstalten. Dabei geht es in der Regel auch gar nicht um Lernen im Sinne der Transposition des eben an sich und anderen Erlebten in den Anspruch einer Erfahrung. Es geht vielmehr um die Fortsetzung der Aktion mit anderen Mitteln, vor allem um deren Rechtfertigung oder um die Bestätigung eines sub-kulturellen Kollektivgefühls.

2. Ferner ginge es um die Ermöglichung einer psychologischen Distanz: In politischen Aktionen muß man Recht und Erfolg haben, und das öffentliche Eingeständnis des Mißerfolges würde die Aktion politisch diskreditieren. In didaktischen Situationen dagegen muß es gerade auch darum gehen, sich solche Mißerfolge ohne Sanktionen zugeben zu können. Und dies geschieht nicht schon dadurch, daß man sich gegenseitig dazu auffordert. Wie gerade Vertreter der außerparlamentarischen Opposition immer wieder mit Recht betont haben, bedarf es dazu vielmehr auch einer optimal herrschaftsfreien Gesamtatmosphäre. Die Sozialpsychologie weist uns nun aber eindringlich darauf hin, daß alle Gruppen eine Atmosphäre von erfahrungsfeindlicher Herrschaft, von Lernverboten verbreiten, und das Ingroup-outgroup-Schema wird nicht schon dadurch aus der Welt geschafft, daß die Gruppenmitglieder sich für Revolutionäre halten. Zu dieser psychologischen Distanz gehört auch ein möglichst niedriger Öffentlichkeitsgrad. So richtig die Forderung nach Öffentlichkeit politisch ist, so falsch oder zumindest problematisch ist sie für didaktische Situationen. Je öffentlicher zum Beispiel ein Teach-in ist, um so weniger gibt es didaktisch her.

3. Denn gerade Lernen auf dem Hintergrund stark emotionalisierter Erlebnisse verlangt strenge rationale Regeln, ein didaktisches Modell, ein Bündel sinnvoller Anfragen. Wie immer solche didaktischen Denkmodelle aussehen mögen, die Vorstellung jedenfalls, man müsse nur lange genug miteinander diskutieren, hieße, auf intuitive Spontaneitätstheorien der frühen Reformpädagogik zu regredieren. Und eine chaotische Massendiskussion, in der niemand ausreden kann, niemand zuhört und humorlos krampfhafte

24

Happenings jeden Reflexionsansatz unterbrechen, ist keine Lernsituation, sondern eine solche, in der durch neue Ängste Einstellungsänderungen und Bewußtseinsänderungen geradezu kollektiv verboten werden. Um die Frage zu prüfen, ob eine bisherige Kette von Aktionen richtig, vernünftig, erfolgreich war, müssen diese Aktionen von außerhalb der Handlungssituation gegebenen Kategorien her befragt werden, sonst treibt man bloße Apologetik. Erst dann wird Aufklärung möglich, wenn auch nicht schon unbedingt wirklich.

4. Nur unter Einhaltung solcher Minimalbedingungen erscheint es mir möglich, Erfahrungen aus einer Kette bisheriger Aktionen zu abstrahieren, zu formalisieren, zu formulieren und künftige Aktionen daraufhin neu zu programmieren. Oder anders: Nur so kann Radikalität der Kritik sich auch gegen die eigene Aktion wenden, was ja unter dem Anspruch von Aufklärung wohl nötig ist.

Bisher sind wir davon ausgegangen, daß die Motivation, politisch im Zusammenhang von Aktionen zu lernen, auch wirklich vorhanden ist bzw. sich im Verlaufe von Aktionen bildet. Das aber muß ja keineswegs so sein. Denkbar wäre auch, daß man sich in Aktionen flüchtet, um Lernansprüchen gerade zu entgehen. Auch dies wird man nicht entdecken ohne kategoriale Infragestellung des eigenen Handlungs- und Gruppenzusammenhanges. Diese Haltung könnte ihren Grund darin haben, daß man die in einem bestimmten Verhalten mühsam aufgebaute Identität nicht wieder aufgeben kann, zum Beispiel weil dies von der dominanten Bezugsgruppe nicht zugelassen wird, die unter allen Umständen in der alten Weise politisch weiter handeln will. In einem solchen Mechanismus würde sich nur erneut die Tatsache ausdrücken, daß Lernvorgänge immer soziale Prozesse sind, die auch sozial honoriert werden wollen.

Bei Licht betrachtet erweist sich also, daß "Lernen" und "Aktion" antinomische soziale Verhaltensweisen sind, die zueinander in erheblichem Widerspruch stehen. Sie gleichzeitig optimal zu organisieren, ist offenbar kaum möglich.

25

Möglich jedoch wäre die Zuordnung eines ständig wechselnden zeitlichen Nacheinanders, und zwar so, daß aus dem antinomischen Verhältnis ein dialektisches wird: Phasen der Aktion folgen solche der Reflexion, denen dann wieder Phasen der durch die vorangegangene Reflexion verbesserten Aktionen folgen usw.; die "fortschreitenden" Momente der jeweils vorangegangenen Phasen werden in der jeweils folgenden "aufgehoben". Nur so und nur dann, wenn die für beide Sozialsituationen eigentümlichen Ziele und Organisationsmodi hinreichend bedacht und unterschieden werden, können Lernen und Aktion sich gegenseitig zugute kommen.

In diesem Zusammenhang taucht die Frage nach der Funktion von pädagogischen Institutionen auf. Bisher hat man den jugendlichen Aktionsgruppen die offiziellen Institutionen wie Schule und Jugendarbeit nur zögernd und widerwillig, wenn überhaupt, für die Phasen der Reflexion und Planung zur Verfügung gestellt. Die Zurückhaltung ergab sich nicht zuletzt daraus, daß man die Umfunktionierung dieser Institutionen befürchtete. Trotzdem ist diese offizielle Einstellung falsch. Die Aktionsgruppen brauchen einen "neutralen" Boden, von dem aus sie nicht nur ihre politisch-taktischen Planungen entwickeln können, der ihnen vielmehr auch für "Waffenstillstands"- oder "Friedensverhandlungen" mit den Kontrahenten sowie für Gespräche mit von ihnen erbetenen (erwachsenen) Beratern zur Verfügung steht. Werden diese der Reflexion dienenden Phasen in die bekämpfte Institution selbst verlegt, leiden sie zwangsläufig unter dem Druck, sich doch gleich wieder politisch in Szene setzen zu müssen. Kommt es zum Beispiel in einer Schule zwischen der Schulleitung und rebellierenden Schülern zum Konflikt, ist es geradezu die Pflicht einer jeden außerschulischen Institution, sich den Schülern ohne jede Auflage mit ihren technischen und pädagogischen  (= lernorganisatorischen) Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Allein die Tatsache, daß dann Verhandlungen mit der Schulleitung nicht in der Schule stattfinden,

26

wo die Schüler schon durch den Ort unterprivilegiert wären, kann nicht nur der Reflexion, sondern auch der Lösung der Konflikte selbst nur nützen. Aus der These, daß die politischen Aktionen unbedingt am "Arbeitsplatz" (Hochschule, Schule, Betrieb) zu erfolgen hätten, folgt nicht unbedingt die andere, daß auch die didaktisch organisierte Reflexion dort stattzufinden habe.

Selbst wenn es jedoch gelänge, die Phasen der Aktion optimal mit denen der Reflexion zu verschränken, bleibt die Frage übrig, ob sich dann alles nötige politische Lernen aus einem solchen Kontext ableiten ließe. Mit anderen Worten: Haben wir mit der "Aufklärung durch Aktion" den entscheidenden didaktischen Schlüssel gefunden, mit dem sich der Gesamthorizont der politischen Bildung von einem Punkte aus aufschließen ließe?

Im Rahmen einer rein theoretisch-abstrakten Konstruktion ließe sich diese Frage sicher bejahen; rein logisch-gedanklich wäre eine solche Konstruktion möglich. Aber praktisch wäre sie schon deshalb nicht zu realisieren, weil auf diese Weise der Aufbau politischer Vorstellungen und Handlungsweisen der zufälligen Reihenfolge politischer Aktionen überlassen bleiben müßte. Man müßte gleichsam immer auf neue Aktionen (und zwar auf die didaktisch gerade ergiebigen) warten, um an der Erweiterung und Verbesserung des politischen Vorstellungshorizontes weiterarbeiten zu können. Jede Methode - und um eine solche handelt es sich auch hier - hat ihre eigentümliche Reichweite und ihre eigentümliche Grenze. Mit jeder Methode kann etwas Bestimmtes gelernt werden, anderes nicht. Gelernt wird im Rahmen von Aktionen nur, was sich aus den Erfahrungen mit ihnen und für künftige Planungen ergibt, also "Aktionswissen" (4). Was für die Aktion nicht mittelbar oder unmittelbar nützlich ist, fällt durch das Sieb der praktischen Motivierung. Systematische Vorstellungen, die den individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhang anzielen, in dem die Aktion überhaupt erst verstehbar wird, können sich so nicht aufbauen, selbst wenn die in den Aktionen mobilisierten Motivationen verhältnismäßig weit

27

tragen. Würde man solche Motivierungen gewaltsam dehnen, käme dabei nicht nur die politische Motivation zu Schaden, es ergäbe sich auch für das Lernen dieselbe Frustration, wie sie manche Lehrer verursachen, wenn sie das Interesse an einem guten Einstieg so lange zerren, bis es in sein Gegenteil umschlägt. Auch in Zukunft also kann die politische Bildung nicht insgesamt von den Aktionen her erschlossen werden; didaktisch jedoch, das heißt, im Hinblick auf die Lernziele und die Auswahl der Lerninhalte, kann die systematische politische Bildung (zum Beispiel in den Schulen) sehr wohl an der Tatsache sich orientieren, daß Teile der jungen Generation unmittelbar politisch aktiv werden wollen, ohne daß solche Aktivität in irgendeiner Weise damit präjudiziert werden kann.

Abgesehen also davon, daß auf absehbare Zeit sich nicht alle Jugendlichen an politischen Aktionen beteiligen werden, gleichwohl aber "politisch gebildet" sein müssen, und weiter abgesehen davon, daß auch die politisch aktiven Gruppen unmöglich alle politischen Lernleistungen aus ihren Aktionen ableiten können - weder sachlich noch von der Motivation her - , ist die politische Aktion, wo sie zustande kommt, ein wichtiger Einstieg und zugleich wichtiger Zielpunkt für politisches Lernen. Aufs Ganze gesehen, bringt die These von der "Aufklärung durch Aktion", so sehr sie politisch einleuchten mag, didaktisch jedoch weniger, als sie auf den ersten Blick verspricht.

Ich habe versucht, die These beim Wort zu nehmen, nur von politischen Aktionen her seien diejenigen Lernprozesse zu erwarten, die für das politische Bewußtsein heute nötig seien. Es hat den Anschein, als ob dies bisher lediglich ein Postulat geblieben sei; wo man Lehrveranstaltungen an Schulen oder Hochschulen umfunktioniert hat, da handelte es sich darum, didaktische Situationen - wie gut oder schlecht sie immer waren - in politische zu verwandeln; der umgekehrte Versuch, schlechte didaktische Situationen in bessere oder gar politische in didaktische umzufunktionieren, ist dagegen viel seltener unternommen worden und dann bald resigniert wieder aufgegeben worden. Viel-

28

leicht liegt dies daran, daß es kaum etwas Frustrierenderes gibt als Pädagogik. Der Polizei eine erfolgreiche Straßenschlacht zu liefern, ist ein Kinderspiel verglichen mit dem Bemühen, die Einstellungen eines einzigen Menschen in einer wichtigen Frage zu verändern. Jüngst hat es den Anschein, als ob einige Gruppen der Protestbewegung die pädagogische Seite ihres Selbstanspruches zugunsten eines puren politischen Aktionismus aufgegeben hätten. Solange aber dieser Anspruch aufrechterhalten bleibt, muß sich diese Protestbewegung auch pädagogisch diskutieren lassen.

Provokation und Lernen

Die zweite hier zu behandelnde These, die die Notwendigkeit von der "Selbstbefreiung durch Provokation" begründet, geht auf psychoanalytische Überlegungen zurück, die im einzelnen der Beitrag von Peter Brückner in diesem Band behandelt (5). Daher wollen wir uns hier auf eine didaktische Kritik beschränken. Der Hauptgedanke dieser These ist der folgende: Die bisherige Erziehung und Sozialisation hat die Persönlichkeit so durch Ängste und Verbote deformiert, daß ihr sogar das Bedürfnis nach Freiheit und Selbstbestimmung ausgetrieben worden ist. Was Freiheit sein kann, muß dem Individuum erst einmal wieder zur persönlichen Erfahrung werden. Um dahin zu gelangen, muß der Mut aufgebracht werden, sich den herrschenden Autoritäten provokativ zu widersetzen, gleichsam den "inneren Schweinehund" zu überwinden. Dabei ist der Anlaß selbst gar nicht so sehr wichtig, er kann verhältnismäßig banal sein, da ja ohnehin jede, auch die banalste gesellschaftliche Realität ein Rädchen im Getriebe des Unterdrückungsmechanismus ist. Wichtig ist in erster Linie die Selbsterfahrung für die Akteure, die dabei zustande kommt. Aber auch die passiven Zuschauer bei einer Provokation sollen dazulernen, indem die öffentliche Gewalt

29

durch taktische Geschicklichkeit gehindert wird, zuzuschlagen. Auf diese Weise wird den Zuschauern klar, daß nicht jeder Ungehorsam gegen die öffentliche Gewalt bestraft werden kann, und dies macht sie geneigter, ihrerseits die Angst vor Ungehorsam zu überwinden.

Ohne Zweifel enthält diese These eine pädagogische Theorie, nämlich eine Vorstellung von Lernprozessen. Und ohne Zweifel ist die Beobachtung richtig, daß Angst - nicht zuletzt auch sexuelle Angst - für uns alle das nachhaltigste Disziplinierungsmittel in unserer bisherigen Erziehung gewesen ist, daß diese Ängste unser Unterbewußtsein regieren, unser Ich schwächen und uns auch dort noch zum Gehorsam zwingen, wo dies jeder Vernunft widerspricht. Und die Folgerung, man müsse diese individuelle Angst, auf die die gesellschaftliche Herrschaft sich gründen kann, überwinden lernen, ist durchaus zwingend.

Sehr zweifelhaft erscheint es mir jedoch, ob es möglich sein wird, sich durch Serien von Provokationen von einer so gearteten Lebensgeschichte zu emanzipieren. Bei dieser Hoffnung wird offensichtlich die marxistische Vorstellung vom Umschlag der Quantität in eine neue Qualität auf lebensgeschichtliche Prozesse übertragen: Eine Reihe solcher Erfahrungen genügt demnach (vielleicht sogar eine einzige), um die bisherige Lebensgeschichte qualitativ zu verändern, der Persönlichkeit eine neue Struktur zu geben, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu "revolutionieren". Dafür jedoch, daß dies - von einzelnen, nicht planbaren Sonderfällen abgesehen - in großem Maßstab möglich sei, gibt es keinerlei empirische und historische Belege. Voraussetzung wäre wohl, daß ein so veränderter Mensch in einer entsprechend veränderten (sozialistischen) Gesellschaft die Stützen fände, die sein neues Verhalten honorierten. Wie sich jedoch in extenso in nachrevolutionären Gesellschaften studieren läßt, halten sich die lebensgeschichtlichen Determinanten der "alten Gesellschaft" auch unter neuen Bedingungen erstaunlich zäh. Diejenigen, die sich gegenwärtig auf eine Serie von Provokationen eingelassen haben, erwecken nicht den Eindruck, daß ihr Maß an

30

Selbständigkeit, Souveränität, Ich-Stärke und Emanzipation gewachsen sei. Im Gegenteil scheint die Erfahrung ständiger Frustration die Persönlichkeiten nur noch weiter zu deformieren. Gewiß: niemandem steht es zu, diejenigen zu diffamieren, die sich in einer asozialen Gesellschaft um ihrer Selbstbestimmung willen glauben dissozial verhalten zu müssen. Andererseits aber wird dissoziales Verhalten - massenhaft verbreitet und ausgelöst - kaum zum Fortschritt der politischen Bildung und des allgemeinen politischen Bewußtseins beitragen.

Hier geht es nur um die Prüfung des Lernerfolges, der von den Akteuren selbst postuliert wird. Die Radikalen von ihnen unterschätzen gefährlich die wirkliche Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse. Entweder nämlich wird man als ein solcher Provokateur sozial isoliert und gerät gerade dadurch in noch größere Angstzustände; dieser Angstvermehrung sucht man sich dann durch verstärkten Binnenkontakt zu den subkulturellen Gruppierungen Gleichgesinnter zu entziehen, was eine übergroße affektive Abhängigkeit von dieser Gruppe zur Folge hat, die ihrerseits nun wieder jene Selbstbestimmung verhindert, deretwegen man doch eigentlich provozieren wollte. Oder aber die Gesellschaft weicht diesen Provokationen einfach aus und räumt ihnen Narrenbezirke ein.

Und eine weitere Gefahr ist längst evident geworden: der Alibi-Charakter des Provozierens. Was immer ich für einen Unsinn mache, mühelos bin ich in der Lage, ihn als eine für meinen Fortschritt an Selbstbestimmung notwendige Provokation zu deklarieren - zumindest solange, wie dafür keine präzise Theorie und Strategie entwickelt ist. Auf diese Weise aber gerät der intendierte Lernprozeß zum Stillstand, weil zwei dafür wichtige Faktoren außer Kraft gesetzt werden. Erstens die nötige Selbstdistanz, das heißt die Fähigkeit, das bereits Gelernte mit dem zu konfrontieren, was die neue Situation erfordert; und zweitens werden Barrieren und Schwierigkeiten, die die neue Situation enthält und die allein Lernen herausfordern könnten, gar nicht erst mehr entdeckt.

31

Dennoch bleibt die Einsicht richtig, daß ein Mehr an Selbstbestimmung und Emanzipation nicht zu haben ist ohne ein Verhalten, das sich mit persönlichem Risiko gegen die Zwänge der Gesellschaft wendet. Wer immer nur sich konform verhält, weil er auf diese Weise Angst vermeiden will, lernt an entscheidenden Punkten seiner Ich-Erfahrung nichts dazu. Das Verhalten des Ungehorsams, die Entdeckung und Überwindung der dabei auftretenden Ängste scheinen mir in der Tat zu den Fundamenten einer demokratischen politischen Bildung zu gehören. Und dieser Aspekt hat in der traditionellen politischen Bildung überhaupt keine Rolle gespielt. Wenn man aber Ungehorsam als Funktionsziel der politischen Bildung trainieren will, dann kommt alles darauf an, daß ungehorsames Verhalten in dem sachlichen Kontext reflektiert wird, in dem es erfolgt. Dann ist die Situation, sind die konkreten Bedingungen des Ungehorsams nicht mehr gleichgültig, dann ist Provokation nicht gleich Provokation, etwa im Sinne einer bloß formalen Bildungstheorie: es sei gleichgültig, bei welchen Gelegenheiten Ungehorsam geübt werde, vielmehr komme es darauf an, Ungehorsam als solchen zu praktizieren, ihn gleichsam als eine Triebkraft des politischen Verhaltens zu formalisieren. Gerade weil Ungehorsam notwendig Angst erzeugt, muß diese Angst im Bewußtsein durch Reflexion gebannt werden. Sonst treibt sie ihr Unwesen nur weiter wie ein geheimer Bazillus; sonst befreit man sich nicht von dieser Angst, sondern setzt diese erst richtig frei.

Nimmt man also auch hier den pädagogischen Selbstanspruch beim Wort ("Lernen durch Provokation"), so ist auch hier die didaktische Problematik keineswegs suspendiert. Gerade dann stellt sie sich in aller Schärfe: Welche (politischen und psychologischen) Regeln und Modelle des Denkens und (emotionalen) Verhaltens müssen angewendet werden, um das optimale Objekt für eine Provokation zu bestimmen? Um eine Überwindung der Angst als Erfahrung in die bisherige Lebensgeschichte einbringen zu können? Um die blanke Irrationalität in rational kontrol-

32

lierbare Veränderungen umzusetzen? Um die Alibis dafür zu demontieren, daß man eigentlich gar nicht lernen will (aus möglicherweise sehr menschlichen Gründen)? Die Meinung, man müsse nur genug provozieren, dann werde man auch das Richtige lernen, ist ebenso töricht wie die, das Lernergebnis einer Aktion stelle sich schon von selbst ein, wenn man nur lange genug darüber diskutiere.

Was für die Akteure gilt, gilt entsprechend auch für die Zuschauer, die durch Provokationen aufgeklärt werden sollen. Ungehorsames und provokatives Verhalten bringt sich nicht nur um seine politische, sondern auch um seine pädagogische Wirkung, wenn es anderen Menschen nicht mehr mitgeteilt werden kann, weil es so fremdartig erscheint, daß es als totale Denunziation der Existenz des anderen vermerkt werden muß. Provokantes Verhalten befreit sich nur dann aus den narzistischen Fesseln der Selbstbespiegelung, wenn es so kalkuliert ist, daß es ansteckend wirken kann. Ob und wieweit dies möglich ist, ist aber nun einmal eine subjektive Frage. Die individuelle "Lern-Reichweite" eines Menschen in einem bestimmten Punkte seiner Biographie ist begrenzt, und wer diese Grenzen ohne zwingenden Grund dadurch denunziert, daß er die Mit- oder Nachvollziehbarkeit seines Verhaltens unmöglich macht, und wer dabei außerdem noch Lernen von seinen Zuschauern verlangt, der handelt nicht weniger autoritär als jener vielzitierte Lehrer, der in seinem Stoff ohne Rücksicht auf die Verständnisfähigkeit seiner Partner fortschreitet.

"Kritische Theorie" und politische Pädagogik

Die bisherigen Überlegungen haben deutlich gemacht, daß in den kritischen Positionen der APO zwar allenthalben das Postulat zu finden ist, man müsse bei den Aktionen lernen, daß andererseits dieses Postulat aber in keinem rechten Verhältnis zur Qualität der pädagogischen Äußerungen selbst steht, ja, daß es solche Äußerungen im Grunde

33

gar nicht gibt, geschweige denn, daß wir eine ausformulierte pädagogische Theorie vorfinden. Augenscheinlich sind die theoretischen Diskussionen fixiert auf den politisch-strategischen Aspekt.

Dafür muß es Gründe geben, Gründe, die wohl kaum in der persönlichen Unfähigkeit der Autoren gefunden werden können. Vielmehr scheinen mir diese Gründe im theoretischen Ansatz selbst zu liegen, in dem, was sich selbst als "kritische Theorie" versteht.

Meine These dazu ist: Die kritische Theorie sowie überhaupt die marxistische Tradition, die sich in jener überliefert hat, haben für eine pädagogische Theorie keinen Platz. Es sind Theorien über die gesellschaftliche Totalität, über das "spätkapitalistische System", die die Geschichte der menschlichen Gesellschaft auf den Begriff bringen und die vorgefundene Realität an dem Anspruch messen, den diese als den ihren ausgibt. Dafür jedoch, daß Lernen, gerade auch Lernen im Sinne einer Zunahme von Emanzipation bei den Menschen, im Kontinuum einer je einzelnen Lebensgeschichte erfolgen muß, hat diese Theorie keinen Platz. Die "kritische Theorie" ist in einem präzisen Sinne des Wortes pädagogisch defaitistisch: Was immer man pädagogisch anstreben mag, immer werden die Ziele und Methoden sich im Rahmen dessen bewegen, was von dieser Theorie politisch als "systemkonform" denunziert werden muß.

Das war schon bei Marx nicht anders: Pädagogik vor der Revolution hatte nur die Funktion, diese Revolution im Bewußtsein vorzubereiten; nach der Revolution kam ihr die Aufgabe zu, die neue gesellschaftliche Realität im Bewußtsein zu verankern. Wenn Marx von der "menschlichen Entwicklung" sprach, meinte er immer die Entwicklung der Gattung, nie die des Individuums im Rahmen seiner je eigenen Lebensgeschichte. Eine marxistische Pädagogik konnte es jedoch erst in dem Augenblick geben, als die marxistische Gesellschaftskritik sich mit der jungen psychoanalytischen Theorie verband, das heißt, als die individuelle Lebensgeschichte nicht mehr nur unter Begriffe

34

der gesellschaftlichen Totalität subsumiert wurde. Die Begegnung zwischen Marxismus und Psychoanalyse im Bereich der Pädagogik fand in Deutschland in den zwanziger Jahren statt, repräsentiert insbesondere durch die Arbeiten von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld sowie durch zahlreiche Beiträge in der "Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik", die mit vollem Recht in letzter Zeit wieder vor allem aus den Kreisen der jungen Linken zur Debatte gestellt werden. Aber diese Ansätze sind weder in der "offiziellen" Linken (den Parteien und Jugendorganisationen) noch gar in der herrschenden Erziehungswissenschaft zum Zuge gekommen. So ist eine befriedigende Synthese zwischen Marxismus bzw. kritischer Theorie und Psychoanalyse bisher auch nicht andeutungsweise gelungen. Man sieht nicht einmal recht, daß an ihr gearbeitet wird. Vielmehr werden die kritischen Aspekte beider in der gegenwärtigen Diskussion nebeneinander angewandt, nicht selten gegeneinander ausgespielt. So spielt der Vorwurf, die Psychoanalyse "subjektiviere" bloß die gesellschaftlichen Widersprüche, spiele in Wahrheit gesellschaftliche Konflikte, die sich doch nur in den Individuen widerspiegelten, zu persönlichen Anpassungsdefiziten herunter, in der internen Diskussion der Linken eine bedeutende Rolle - ein Vorwurf übrigens, der die Pädagogik ja leicht im ganzen trifft. Man muß nur klar sehen: Lernprozesse im Sinne von sozial honorierten Verhaltens- und Bewußtseinsänderungen sind nun einmal individuelle Probleme. Lernen kann letzten Endes nur der einzelne Mensch, ebenso wie sterben und leiden. Die Rede vom "kollektiven Lernen" ist mehr als mißverständlich. Kollektive lernen nicht. Sie können Lernen erleichtern gerade durch die entsprechende soziale Honorierung und Stützung, sie können Lernen als eine gemeinsame soziale Aktion auffassen und sich zu diesem Zwecke und Ziele solidarisieren. Nimmt man jedoch die Rede vom lernenden Kollektiv wörtlich, so läuft die ganze Sache darauf hinaus, daß die durch Lernen beabsichtigte Emanzipation in eben diesem Kollektiv ihre soziale Grenze findet. Emanzipation wäre demnach eine Illusion.

35

Die "Basisgruppen" zum Beispiel, die mit einer solchen Argumentation ihre Existenz und Arbeitsweise begründen und etwa mit der Forderung nach "Selbstorganisation", "kollektivem Lernen" und "kollektiver Selbstorganisation" sich allgemeinverbindlich für die Lösung politischer und didaktischer Organisationsfragen anbieten, übersehen, daß ihr Ansinnen auch Ausdruck einer schwerwiegenden pädagogischen Defizienz ist. In solchen Gruppen werden nämlich auch Lerndefizite kompensiert und so scheinbar zum Verschwinden gebracht: zum Beispiel die Unfähigkeit, für sich allein, ohne die Gruppe, verbindlich zu argumentieren und sich sozial erfolgreich durchzusetzen; oder die Unfähigkeit, in neuen Sozialsituationen (z. B. im Beruf) selbständig Solidarisierungen zum Zwecke der Durchsetzung bestimmter Interessen herstellen zu können. Die durch die Rollenwidersprüche in modernen Gesellschaften erzwungenen Lernleistungen werden allzu leicht dadurch hintergangen, daß sie in diesen Gruppen gar nicht erst zum Vorschein kommen müssen, weil sie durch ein Klima idealisierter Gesinnungsgleichheit ersetzt werden, die "draußen" keine soziale Relevanz mehr haben kann. Da solche Gruppen keine Lebensgemeinschaften sein können, kommt es darauf an, ihren partiellen Zweck genau zu bestimmen und damit ihre Chancen und Grenzen exakt aufzuzeigen (6). Wirft man also der Psychoanalyse schlechthin vor, daß sie bei den gesellschaftlichen Konflikten an der Stelle einsetzt, wo sich diese Konflikte als persönliche in einem Individuum unlösbar eingenistet haben, so verzichtet man damit auch auf das für dieses Individuum in diesem konkreten Punkt seiner Biographie mögliche Lernziel. Allenfalls dort könnte die Kritik einsetzen, wo das Ziel der therapeutischen Behandlung darin läge, diesem Individuum die Schuld zuzuspielen und es zum Gehorsam gegenüber gesellschaftlichen Herrschaftsinstanzen zu animieren. Aber auch dies darf nicht abstrakt kritisiert werden. Man muß vielmehr sehen, daß auch eine an Emanzipation orientierte Psychoanalyse das dem einzelnen Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt mögliche Maß an Widerstand und

36

Ich-Stärke nicht überziehen darf. Hier wie in jeder pädagogischen Situation ist die "Lernreichweite" eines bestimmten Individuums in einem bestimmten Zeitpunkt seiner Lebensgeschichte begrenzt. Und für eben diese Grenze hat die "kritische Theorie" weder einen theoretischen Ort noch eine detaillierte pädagogische Strategie anzubieten. Diese Grenze der Lernreichweite hat nämlich zwingend zur Folge, daß man dem Partner nicht nur ein relativ hohes Maß an Gehorsam belassen, sondern ihn im Interesse seiner Ich-Stärke wenigstens zeitweilig sogar dazu ermutigen muß. Meistens ist es sogar so, daß jemand, um an einem Punkte seine autoritäre Fixierung zu lösen, an anderen Punkten geradezu uneinsichtig daran festhalten muß. Dies wird man nicht nur erkennen, sondern auch respektieren müssen, wenn man davon ausgeht, daß Emanzipation eine Arbeit der Individuen sein muß. Wenn ich mich nicht täusche, steht das Gespräch zwischen kritischer Theorie und Psychoanalyse gegenwärtig so, daß jene aus der Psychoanalyse lediglich die kritische Munition für den Kampf gegen das "politische System" bezieht, nicht jedoch sich selbst dabei für die Problematik des individuellen Lernens öffnet.

Was ich mit dem "pädagogischen Defätismus" der kritischen Theorie meine, sei erläutert am Beispiel des Buches "Student und Politik", in dem Jürgen Habermas im ersten Teil "Reflexionen zum Begriff der politischen Beteiligung" anstellt. Das bekannte Ergebnis ist, daß nach Lage der Dinge von einer politischen Beteiligung des Bürgers nicht mehr die Rede sein könne. Vor allem mit einer Aufklärung des Wahlvolkes im ganzen sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, hoffen könne man nur auf die Aktivität außerparlamentarischer Gruppen (vor allem der Gewerkschaften) und darauf, daß das politische Bewußtsein der "funktionalen Eliten" (vor allem eben der Studenten) zunehmen werde.

Unter dieser Voraussetzung muß natürlich jede politische Bildung, die sich an die Lernreichweite der einzelnen Individuen hält, sofort unter Ideologieverdacht geraten -

37

es sei denn sie konzentrierte sich darauf, das politische Bewußtsein der Studenten zu verbessern bzw. gesellschaftliche Gruppen wie die Gewerkschaften zu außerparlamentarischen Aktionen zu bringen. Folgerichtig haben sich die Aktivitäten der linken Studenten denn auch in den letzten Jahren auf diese beiden Aufgaben konzentriert.

Nun könnte man einwenden, diese "kritische Theorie" habe gar keinen pädagogischen Anspruch und könne deshalb auch nicht daran gemessen werden. Implizit enthält sie aber eben doch eine Theorie des Lernens. Sie sieht die Menschen nämlich als solche, die ein für allemal etwas gelernt haben (in der Regel falsches Bewußtsein), und das, was sie gelernt haben, wird unmittelbar oder mittelbar abgeleitet aus den gesellschaftlichen Verhältnissen: Lernen ist demnach ein Produkt der gesellschaftlichen Reproduktion in den Formen der Erziehung und Sozialisation. Gilt dies demnach schon für die jeweils vergangenen Lebensgeschichten, so erst recht für die Zukunft der Individuen: sie werden nur das lernen können, was das gesellschaftliche Interesse in der Form des ihnen eingeredeten individuellen Interesses erheischt. Ist dieses Interesse das Eigenheim, so werden sie lernen, was diesem Ziele dient; ist es die Mitbestimmung im Betrieb, so gilt Entsprechendes. In dieser Vorstellung erscheinen in krasser Verkürzung Lernziele als Ableitungen aus gesellschaftlichen Zielen: Man muß die gesellschaftlichen Ziele ändern, dann ändert man auch die Lernziele und Lernmotivationen.

Richtig daran ist sicher, daß die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse sowie die Art und Weise ihrer Reproduktion den Spielraum möglicher Lernziele und Lernmotivationen verhältnismäßig eng eingrenzen. Privilegierte Gruppen jedoch können durchaus auch diese Grenzen überschreiten, wie gerade die Geschichte des SDS lehrt. Aber auch Lehrlinge zum Beispiel haben einen solchen Spielraum zur Verfügung, schließlich sind ihre Erziehungs- und Sozialisationsprozesse nicht eindeutig determiniert. Für die kritische Theorie, wie sie eben am Beispiel von Habermas zitiert wurde und wie sie sich dann in der studenti-

38

schen Linken ausprägte, ist dieser Spielraum bisher mehr oder weniger bedeutungslos geblieben, jedenfalls nicht weiter thematisiert worden. Anders übrigens bei Marx, dessen "Genfer Instruktionen" mit der Verbindung von Schule und Arbeit eine Ausnutzung des damals möglichen gesellschaftlichen Spielraumes anstrebten, was nicht verhinderte, daß spätere Dogmatiker die "polytechnische Bildung" aus diesem historischen Zusammenhang heraus dogmatisierten. Für die politische Pädagogik jedoch ist die möglichst genaue Bestimmung dieses gesellschaftlich zugelassenen Spielraumes - und der Kampf um seine ständige Erweiterung - von entscheidender Bedeutung; denn nur, wenn sie diesen Spielraum richtig erkennt und in der richtigen - nämlich auf subjektivem Zuwachs an Emanzipation gerichteten - Richtung ausnutzt, kann sie ihren bescheidenen Beitrag zur fortschreitenden Emanzipation der Menschen leisten.

Politisches Lernen ist mehr als ein bloßer Reflex der politischen Wirklichkeit, es ist die Art und Weise, in der allein im Kontinuum einer Lebensgeschichte Fortschritt an Emanzipation vonstatten gehen kann. Und die Lernmotivationen sind gewiß alle gesellschaftlich vermittelt, nichts individuell Originäres, aber gerade deshalb ist es auch wichtig zu unterscheiden, welche von ihnen gefördert werden sollen und welche nicht. Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt. Der Spielraum dessen, was politisch gelernt werden kann, wird nicht nur durch die "gesellschaftlichen Verhältnisse" begrenzt, sondern noch einmal durch die jeweils vorliegende Lebensgeschichte, die ihrerseits wieder durch vielfältige geschichtliche und gesellschaftliche Instanzen vermittelt ist. Nicht alles, was objektiv gesellschaftlich möglich zu lernen ist, ist auch im Rahmen einer bestimmten Lebensgeschichte möglich. Objektiv möglich ist heute zum Beispiel, daß alle (oder jedenfalls sehr viele) fähigen Arbeiterkinder studieren; davon Gebrauch machen jedoch nur vergleichsweise wenige. Oder ein anderes Beispiel: Für einen Lehrling kann der "Sprung" von "Bravo" zum "Stern" im Kontinuum seines Lernprozesses sehr wichtig sein, weil

39

dieser Sprung biographisch neue Möglichkeiten kritischen Lernens erschließt. Unter dem objektiven Aspekt der kritischen Theorie jedoch unterliegen beide Publikationen dem gleichen Verdikt: sie vermitteln beide den gleichen illusorischen Schein politischer Anteilnahme.

Mir scheint, daß die kritische Theorie sich bedenklich verkürzt, wenn sie diese pädagogische Dimension nicht in sich aufnimmt. Es wäre darauf zu bestehen, daß auch die organisierte Erziehung, das organisierte und institutionalisierte Lernen eine Form von politisch-gesellschaftlicher Aktivität ist, und nicht nur zum Beispiel die außerparlamentarische Aktion. Erziehung und Lernen vollziehen sich heute weder politisch-gesellschaftlich exterritorial - also in Randbezirken, gleichsam privatistischen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens; noch auch befinden sie sich in eindeutiger Abhängigkeit von gesellschaftlichen bzw. ökonomischen Mächten. So wie das individuelle Lernen hinsichtlich seiner Ziele und seiner Motivationen einen gewissen gesellschaftlich zugelassenen Spielraum zur Verfügung hat, so auch das organisierte Lernen - also das Erziehungssystem im ganzen. Im Gegensatz dazu erscheint heute manchen linken Gruppen, die sich auf die kritische Theorie berufen, Lernen als eine politisch folgenlose Privatsache, die der direkten und einzig folgenreichen politischen Aktion nur im Wege stehen könne. Ich behaupte dagegen: Pädagogik (insbesondere politische Pädagogik) wird dann zu einer Form kritischer politischer Aktion, wenn sie die zu einem gegebenen Zeitpunkt einer Lebensgeschichte durch Lernen mögliche Emanzipation tatsächlich realisiert.

Diese Einsicht kann am Beispiel der zitierten Arbeit von Habermas an folgender Stelle in die kritische Theorie fürs erste eingefügt werden: Habermas spricht davon, daß die Chancen zur weiteren Demokratisierung und damit auch zur weiteren politischen Beteiligung der Bürger in der Tatsache beschlossen liegen, daß aufgrund der von ihm geschilderten historischen Entwicklung von Staat und Gesellschaft die politische Sphäre eine gewisse Autonomie erlangt habe. Politische Macht sei nicht mehr nur ein Reflex der

40

ökonomischen Macht. Dieser Prozeß sei die Voraussetzung dafür, daß die Bürger auf lange Sicht gemeinsam die gesellschaftlichen Prozesse unter rationale Kontrolle nehmen könnten.

Ich glaube nun, daß sich eine ähnliche Tendenz zur Autonomisierung auch für die Sphäre der Erziehung zeigen ließe. Auch die pädagogische Macht wird tendenziell immer unabhängiger von der ökonomischen. Den gegenwärtig zu beobachtenden technokratischen Zugriff auf das Bildungswesen in allen seinen Stufen kann man durchaus als einen letzten Versuch deuten, die überlieferte eindeutige Abhängigkeit der Erziehung von der Ökonomie unter neuen Bedingungen noch einmal wiederherzustellen.

Wie sehr aber solche Versuche zum Scheitern verurteilt sind, zeigt sich spätestens dann, wenn darauf bezogene Lernziele formuliert werden. Diese müssen einen derart abstrakten, allgemein-unspeziellen Charakter annehmen, daß sie für die Lernen organisierenden Institutionen praktisch unbrauchbar werden, von diesen vielmehr erst konkret bestimmt werden müssen. Politisch ausgedrückt: Je weniger das "herrschende Systern" in der Lage ist, für die Reproduktion seiner Funktionen eindeutige Lernziele anzugeben oder gar vorzuschreiben, um so mehr wächst die Macht der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen, diesen Spielraum inhaltlich selbst zu füllen. Selbst bei einem scheinbar so eindeutigen Beispiel wie dem "gehorsam und gut funktionierenden Arbeiter" läßt sich fragen: Ist "gut funktionieren" wirklich eine so eindeutige Sache, daß daraus jemand, der die Macht dazu hätte, eindeutige Lernziele und Lernorganisationen ableiten könnte? Die entscheidende Frage ist, ob wir didaktisch wie kulturpolitisch diese Chance nutzen. Dafür jedoch wäre dringend nötig, diesen Autonomisierungsprozeß auf die Totalität der gesellschaftlichen Prozesse hin zu reflektieren; denn er kann sonst auch weiterhin im Sinne der überlieferten pädagogischen "Eigenständigkeit", im Sinne einer Art von "pädagogischer Provinz" verstanden werden und würde so mit Sicherheit seine emanzipatorischen Chancen verfehlen.

41

Aus der politischen These von Habermas, daß es in Zukunft auf die "funktionalen Eliten" (zum Beispiel die Studenten) und auf die Gewerkschaften für den Fortschritt an Demokratisierung ankomme, haben linke Aktionsgruppen nun gefordert, unter dem Begriff der "Emanzipation" die politisch-pädagogische Arbeit vor allem auf diese beiden Gruppen zu konzentrieren: auf die "Unterprivilegierten" einerseits, um sie zum Widerstand gegen das "spätkapitalistische System" zu mobilisieren, auf die "funktionalen Eliten" andererseits, um die "Kader" für die Mobilisierung der Unterschichten zu gewinnen. Dabei wird die Zielvorstellung "Emanzipation" oft auf dieses Konzept hin verengt, so, als sei Emanzipation nur als schichten -bzw. klassenspezifisches politisches und pädagogisches Ziel denkbar. In dieser Vorstellung konkretisiert sich die eben zurückgewiesene Annahme, es gebe eine eindeutige Abhängigkeit der Erziehung von der Ökonomie.

So sehr man zustimmen kann, wenn durch solche Initiativen das politische Bildungsdefizit der unterprivilegierten Schichten gemindert wird, so bedenklich wäre es jedoch, die mit dem Begriff der Emanzipation gemeinten Befreiungsvorgänge schichtenspezifisch zu begrenzen. Auf diese Weise blieben die im Autonomisierungsprozeß des modernen Erziehungswesens angelegten allgemeinen, das heißt auf grundsätzlich alle Bürger gerichteten Befreiungsmöglichkeiten ungenutzt. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß Emanzipation im Sinne des Sich-Distanzierens von den Determinanten der bisherigen Sozialisation und von den jeweils aktuellen gesellschaftlichen Determinanten mit dem Ziel der optimalen Selbstbestimmung prinzipiell eine sinnvolle Zielvorstellung für alle Bürger der Gesellschaft ist. Allerdings wird die inhaltliche didaktische Konkretion entscheidend von der Position bestimmt, die der einzelne in der Gesellschaft einnimmt. Die Emanzipation von den familiären Determinanten spielt zum Beispiel für Angehörige der Mittelschicht eine ganz andere Rolle als für Angehörige der Unterschicht. Ähnliches ließe sich für den Bereich der Arbeit oder der Freizeit sagen. Je konkreter

42

man den Begriff Emanzipation auf die Situation von einzelnen und Gruppen faßt, um so mehr entdeckt man, daß sich die allgemeinen Sozialisationszwänge der Gesellschaft sowohl individuell-lebensgeschichtlich wie auch schichtenspezifisch-historisch differenzieren und daß sie erst in diesen Differenzierungen zum Gegenstand organisierten Lernens gemacht werden können. Zweifellos ist es ein Fehler fast aller bisherigen politisch-didaktischen Theorien gewesen, diese schichtenspezifischen Determinanten nicht berücksichtigt zu haben, sondern von einem abstrakt-allgemeinen Begriff des "Staatsbürgers" ausgegangen zu sein. Auf diese Weise und angesichts der mittelständischen Voreinstellungen der Lehrer wurden die spezifischen didaktischen Probleme der Unterschicht nur durch die Brille eines mittelständischen Verständnismusters realisiert (7). Dieser Mangel darf jedoch nicht den Blick dafür trüben, daß Emanzipation ein allgemeiner, das heißt für jeden gültiger, wenn auch unterschiedlich zu konkretisierender pädagogischer Zielbegriff bleiben muß, wenn nicht die Demokratisierung der ganzen Gesellschaft aufgegeben werden soll.

Ich fasse zusammen: Erziehung wäre also zu begreifen als gesellschaftliche Veranstaltung mit dem Ziel, die im Kontinuum einer Lebensgeschichte möglichen Emanzipationen auch tatsächlich zu verwirklichen. Dies wäre eine demokratische Politisierung der Pädagogik unter Ausnutzung des objektiv möglichen Spielraumes, ohne die subjektive "Lernreichweite" zu vergewaltigen. Eine entscheidende Bedingung dafür aber ist, daß praktisch und theoretisch das von Marx her überkommene pädagogische Defizit der deutschen Linken dadurch überwunden wird, daß kritische Theorie, Psychoanalyse und Erziehungswissenschaft über ihre bisher nur additive Zusammenarbeit hinausgelangen und integrierende Modelle für die hier nötige Reflexion entwickeln. Sonst ist heute schon abzusehen, daß die von den Gruppen der außerparlamentarischen Opposition ins Spiel gebrachten politisch-pädagogischen Impulse zum bloßen Postulat gerinnen.

43

Anmerkungen:

(1) Die erziehungswissenschaftliche Grundlegung der politischen Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg ist vor allem durch folgende Arbeiten erfolgt: Friedrich Oetinger: Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung. Stuttgart 1953 (2. Aufl. des Buches: Wendepunkt der politischen Erziehung, Stuttgart 1951); Theodor Litt: Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. Bonn 1957 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst), Erich Weniger: Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung. Würzburg 1954. Die darin zum Ausdruck gebrachte Kontroverse zwischen "politischer" und "sozialer" Erziehung führte an den eigentlichen Problemen vorbei und trieb die politische Bildung in eine Sackgasse. Diese Diskussion hat sich niedergeschlagen im "Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung" des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen (Empfehlungen und Gutachten Folge 1, Stuttgart 1955) - an ihm können die im folgenden genannten kritischen Gesichtspunkte am besten verifiziert werden. Erst Arbeiten der "Frankfurter Schule" (Adorno, Habermas) haben die Diskussion aus dieser Sackgasse wieder herausgeführt (vgl. vor allem Habermas u. a.: Student und Politik. Neuwied 1961, vor allem das 1. Kapitel: Reflexionen über den Begriff der politischen Beteiligung).

(2) Für die Schulen vgl. dazu: Manfred Liebel und Franz Wellendorf: Schülerselbstbefreiung. Frankfurt am Main 1969. Die Einstellungen der Lehrer zum Problem Konflikt-Harmonie sind erfaßt in folgenden empirischen Untersuchungen: Egon Becker u. a.: Erziehung zur Anpassung? Bad Schwalbach 1967; Manfred Teschner: Politik und Gesellschaft im Unterricht. Frankfurt am Main 1968. In der didaktischen Literatur ist das Konflikt-Modell nur in einigen Arbeiten ausgeführt worden: Rudolf Engelhardt: Politisch bilden - aber wie? Essen 1965; Jürgen Henningsen: Lüge und Freiheit. Wuppertal 1966; Hermann Giesecke: Didaktik der politischen Bildung. München 1965, 5. Aufl. 1970.

(3) Das emotionale Defizit ist zwar von Autoren der "politischen Psychologie" schon früher thematisiert worden, allerdings nicht unter diesem subjektiv-emanzigatorischen Aspekt, oft gar im Gegenteil zum Zwecke der fremdbestimmten Indienstnahme emotionaler Dispositionen. Vgl. Eugen Lemberg: Ideologie und Utopie unserer politischen Bildung in: Gesellschaft-Staat-Erziehung, 2/1968, S. 57 ff.; ders.: Nationalismus, Bd. II: Soziologie und politische Pädagogik, Reinbek 1964. Ferner: Politische Bildung als psychologisches Problem (Politische Psychologie, Bd. 4), Frankfurt am Main 1966. Die "emanzigatorische" Dimension der Emotionalität fehlt auch in meiner "Didaktik der politischen Bildung".

(4) Der Begriff "Aktionswissen" entstammt meiner "Didaktik der politischen Bildung", S. 77 ff. Das didaktische Grundmodell dieses Buches gehört auch hier in den Zusammenhang der Argumentation.

(5) Eine klare Ausführung und Begründung dieser These findet sich in: Hartwig Heine: Tabuverletzung als Mittel politischer Veränderung, in: deutsche jugend, 1/1969, S. 25-34 (in erweiterter Fassung in: Diethart Kerbs: Das Ende der Höflichkeit, München 1970).

(6) Abgesehen von dieser didaktischen Kritik gebe ich den "Basisgruppen" politisch wie pädagogisch erhebliche Chancen: politisch deswegen, weil sie in etablierten Institutionen eine "Gegen-Praxis" anbieten können, ohne dafür einen kostspieligen Apparat zu benötigen; pädagogisch deswegen, weil die dabei zu erwartenden Pressionen solidarisch ertragen und deshalb in Lernleistungen umgesetzt, "abgearbeitet" werden können, ohne daß dabei "Dissozialität" zum dominanten Verhaltenstypus werden muß. Oder anders: "Basisgruppen" ermöglichen dissoziale Aktionen, ohne dafür unbedingt den sonst üblichen Preis des durchgängig dissozialen Verhaltens zahlen zu müssen.

(7) Das Problem einer eigentümlichen politischen Didaktik für die Unterschicht ist noch nirgends systematisch dargestellt worden. Ansätze dazu finden sich bei: Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Frankfurt am Main 1968; Hermann Giesecke: Politische Bildung in der Jugendarbeit. München, 2. Aufl. 1969 - Helmut Kentler: Jugendarbeit in der Industriewelt. München, 2. Aufl. 1961. Alle drei Arbeiten stammen bezeichnenderweise aus dem außerschulischen Bereich. Im Bereich der Schuldidaktik wird dieses Problem noch kaum gesehen. Dort erscheinen vielmehr die speziellen Verhaltens-, Motivations- und Sprachstile der Unterschicht - gerade auch in der gängigen "Gesamtschul-Diskussion" - lediglich als mit pädagogischen Mitteln zu liquidierende Defizite angesichts der mittelständisch definierten "Leistungen".


 
 

70. Die Krise der politischen Bildung (1970)

Ein Literaturbericht

(In: deutsche jugend, H. 1/1970, S. 35-45)
 

Wohl kaum eine pädagogische Aufgabe ist in den letzten drei Jahren so verunsichert worden wie die politische Bildung. Die Rebellion der Studenten und Schüler und die wachsende Unruhe in der gesamten jungen Generation haben neue Probleme aufgeworfen, die die Diskussionen und Kontroversen der fünfziger Jahre fast als Makulatur erscheinen lassen. Rückblickend wundert man sich ein wenig, was man alles noch vor zehn Jahren als wichtig angesehen hat. Greift man in den Fundus dessen, was heute auf dem Markt zu diesem Thema angeboten wird, so scheinen Bücher, die im gleichen Jahr erscheinen, tatsächlich 20 Jahre oder länger auseinander zu liegen. Die Wende von der braven politischen Erziehung, in der der Lehrer alles Nötige weiß und es seinen Schülern nur beizubringen braucht und wo der Schüler nur Objekt von pädagogischen Maßnahmen bleibt, hin zu den Emanzipationsforderungen der jungen Generation in der Gegenwart ist offenbar so plötzlich gekommen, daß manche Autoren sie überhaupt nicht bemerkt haben. Vor allem folgende Gesichtspunkte bezeichnen das Novum, das von der Protestbewegung ins Spiel gebracht wurde:

1. Politische Bildung darf nicht länger konservative Indoktrination mit dem Ziel bzw. Ergebnis sein, die nachwachsende Generation in das spätkapitalistische Herrschaftssystem einzupassen. In dem Maße vielmehr, wie die tatsächliche Gesellschaftsverfassung als hinter ihrem demokratischen Selbstanspruch zurückgeblieben erkannt wird, muß sich politische Bildung das Verdikt einer Veranstaltung zugunsten fremder Interessen gefallen lassen.

2. Es kommt demnach darauf an, gegen diese demokratische Verkümmerung aktiv anzugehen und das politische Lernen als einen politische Aktionen begleitenden Reflexionsprozeß zu bestimmen. Die in den fünfziger Jahren herrschende Auffassung, das Jugendalter sei zum Lernen da, handeln dürfe man dagegen erst als Erwachsener, wird als ein Teil des allgemeinen Unterdrückungsmechanismus gebrandmarkt.

3. Über die politische Bildung hinaus darf das Jugendalter nicht länger mehr als ein bloßes Objekt pädagogischer Maßnahmen betrachtet werden. "Pädagogik" selbst wird als Unterdrückung erlebt, gegen die man in Schulen und Betrieben, in der Jugendarbeit und Fürsorgeerziehung sich wenden muß, um statt des Angesonnenen das zu lernen, was man zu einem freieren Leben braucht, so wie es die Verfassung verspricht. Junge Menschen wollen nicht nur die politischen, sondern auch ihre pädagogischen Interessen ( = Lerninteressen) mitbestimmen.

Nun sind solche Forderungen leichter formuliert als verwirklicht, und die allgemeine Ratlosigkeit, was angesichts solcher Entwicklungen mit der politischen Bildung zu geschehen habe, hat nicht nur die "Konservativen" ergriffen, sondern auch die-

35

jenigen Autoren, die für diese Forderungen die neuen pädagogischen Strategien entwerfen wollen. Letztere sind bisher - wie die uns vorliegende Literatur zeigt - kaum über die immer unverständlicher werdende Formulierung eben dieser Forderungen hinausgekommen. So, wie es bisher gemacht wurde, geht es nicht mehr, aber niemand weiß so recht, was statt dessen zu geschehen habe.

I.

In dieser Situation wird es wichtig, die Geschichte der politischen Erziehung in unserem Lande nach 1945 zu schreiben, um zu erkennen, warum eigentlich erst die Protestbewegung nötig war, damit der Blick auf die Inhalte politischer und pädagogischer Demokratisierungsprozesse gerichtet werden konnte. Dies ist in einigen Arbeiten früher schon versucht worden, am besten wohl im letzten Teil des Buches von Jürgen Habermas: "Student und Politik" aus dem Jahre 1961. Neuerdings liegen dazu zwei Arbeiten von Wolfgang Mickel ("Politische Bildung an Gymnasien") und Carter Kniffler/Hanna Schlette ("Politische Bildung in der Bundesrepublik") vor, die aber beide aus ganz verschiedenen Gründen diesen Anspruch nicht einhalten können. Mickel bringt eine Fülle von Material aus der theoretischen Diskussion der fünfziger Jahre, aus Erlassen und Lehrplänen und aus der Arbeit der Lehrerverbände. Zum erstenmal wohl wurde dieses Material aufgearbeitet und dargestellt. Aber es fügt sich nicht zu einer Vorstellung zusammen, das Thema gewinnt keine Kontur, die Fakten und Kapitel stehen additiv hintereinander, kein Gedanke schreitet weiter fort, alles bleibt gleichrangig und gleich wichtig. In der Einführung von Eugen Lemberg heißt es richtig: "Kaum auf einem anderen Gebiet ist die Abhängigkeit der pädagogischen Methode von den gesellschaftlichen Bedingungen so offensichtlich wie auf dem der politischen Bildung und Erziehung. Mit welcher Zielsetzung, in welchem Maße und im großen und ganzen auch mit Hilfe welcher Verfahren diese erfolgen soll, wird von der politischen Ideologie bestimmt, die die betreffende Gesellschaft beherrscht, und von der politischen Verfassung, die sie sich gegeben hat." Aber in Mickels Buch spürt man von solchen Fragestellungen keinen Hauch. Selten, am ehesten noch in dem Kapitel über die "Grundlagen der politischen Bildung", wird aus dem Material mehr herausgeholt, als auf den ersten Blick sowieso schon drinsteht, und wo der Verfasser dann wirklich einmal über das unmittelbar Evidente hinausgeht, da sind die Kategorien der Kritik nicht entwickelt, da urteilt er eher aus einem - oft allerdings sehr treffenden - "gesunden Menschenverstand". Was diese Arbeit mit "bildungssoziologischen Forschungen" (so der Titel der Reihe) zu tun haben soll, ist wirklich schleierhaft. Was bleibt, ist eine sonst nicht greifbare Materialzusammenstellung über die "Angebotsseite" der politischen Bildung, also über die Bestrebungen der Behörden, Lehrer und Verbände, die aber kaum in Ansätzen theoretisch durchdrungen wurde.

Ganz anders die Schrift von Kniffler/Schlette. Sie ist eigentlich kein Beitrag zur Geschichte der politischen Bildung in der BRD, obwohl es der Titel nahelegt, und darf deshalb auch nicht allein an diesem Anspruch gemessen werden. Aber die engagierte Kritik der Autoren richtet sich in unsystematischer, eher essayistischer Form dennoch gegen die in den fünfziger Jahren etablierte politische Bildungsideologie. Die Stoßrichtung geht dabei gegen die Mobilisierung von Gefühlen in der Politik - nicht gegen den Neonationalismus - zugunsten einer möglichst starken rationalen Kontrolle von Spontaneität und Emotionalität. Etwa die Hälfte des Buches befaßt sich mit gut geschriebenen und durch geschickte Zitierung aufgelockerten Reflexionen "zur Theorie": über die Ziele der politischen Bildung, die Gemeinschaftsideologie und "die Inflation der Sprache". Auch wie man Richtlinien sinnvoll kritisieren kann, wird hier vorgeführt. An vielen Stellen reizen die Reflexionen zum Widerspruch - was nur gut für den Leser sein kann - , allerdings werden für mein Gefühl manche Probleme (bei aller Sympathie fürs Engagement) etwas zu flott übersprungen. Der zweite Teil befaßt sich mit dem wohl eigentlichen Anlaß des Buches: mit elf Unterrichtsversuchen, die Kniffler selbst durchführte und mit denen die Verfasser auch "praktisch" ihre vorhergehende Kritik zu stützen suchen. Vier Themen ("Demokratie und Diktatur", "Die Grundrechte", "Der Einzelne und die Gruppe", "Vorurteile und Tabus") wurden mit in der Regel unbekannten Schülern an einer Volksschule, einer Realschule, mehreren Gymnasien und am Hessenkolleg unterrichtet und mitprotokolliert. So verdienstvoll und für die pädagogisch-methodische Ausbildung interessant diese Berichte sind, so problematisch scheinen sie mir im ganzen zu sein. Das liegt schon an den Themen. Die Verfasser haben sich nämlich für die schon längst als problematisch erkannte These ent-

36

schieden, der Unterricht müsse zeigen, daß es auf die Alternative Demokratie oder Diktatur ankomme. Dies auch noch so zu thematisieren, daß man in einem 9. Schuljahr die beiden Worte an die Tafel schreibt und sich daraus mühsam eine Stunde entwickeln läßt (S. 113) ist einfach schlechte Didaktik, die die Befindlichkeit der Schüler ignoriert. Warum soll sie diese Frage interessieren? Dieses wie auch die anderen Unterrichtsbeispiele sind Belege dafür, wie man Schüler zum Objekt didaktischer Vorentscheidungen des Lehrers macht und ihnen keine Chance gibt, sich selbst im politischen Unterricht zu thematisieren. Gerade gegen einen solchen Unterricht rebellieren die Schüler heute. Und mit Recht! Gerade an diesem Buch zeigt sich, wie sehr es auf die Details ankommt, wie sehr eine relativ "fortschrittliche" Theorie durch eine daraus abgeleitete Praxis desavouiert werden kann.

Die beiden eben genannten Arbeiten kann man der Tradition der fünfziger Jahre zurechnen. Wie steht es nun mit der "linken" bzw. "antiautoritären" Kritik an der politischen Bildung? Im strengen Sinne gibt es sie noch gar nicht, die "linke" Kritik ist im wesentlichen politische Kritik, sie enthält zwar pädagogische Implikationen, die aber allenfalls in Nebenbemerkungen angedeutet werden, nicht jedoch bisher eigens thematisiert worden sind. Die Gründe dafür entdeckt man leicht, wenn man sich die Mühe macht, die Selbstdarstellungen dieser Protestbewegung zu durchforsten. Dazu ist in den letzten Jahren eine Fülle von Büchern, Broschüren, Streitschriften und Aufsätzen erschienen, die allerdings zum größten Teil nur in der Diskussion innerhalb der "eigenen Reihen" eine Rolle spielen. Da dabei fast so viele Standpunkte entwickelt werden, wie es Autoren gibt, ist es hier nicht einmal annäherungsweise möglich, einen repräsentativen Überblick zu geben. Deshalb sollen hier nur drei Arbeiten erwähnt werden, die aus unterschiedlichen Gründen besonders interessant sind, gleichwohl aber eine durchgehende Grundschwierigkeit aller oppositionellen Positionen zeigen: Ihre Leistung ist die Kritik der herrschenden Verhältnisse, die unnachsichtige Desavouierung des "Establishments" nicht nur in unserem Lande, sondern in der weltweiten "spätkapitalistischen" Gesellschaft überhaupt. Diese Kritik scheint im wesentlichen zutreffend zu sein und hat auf diese Weise die traditionelle politische Bildung nicht praktisch - sie besteht zweifellos ungebrochen weiter - aber doch theoretisch einfach vom Tisch gefegt.

Nach all dem, was die Protestbewegung inzwischen artikuliert, formuliert und auch bewiesen hat, kann man die bisherige politische Bildung überhaupt nur noch mit völliger Blindheit gegenüber rationalen Argumenten weiterführen. Diese Kritik ist bis heute zweifellos die unbestreitbare Leistung dieser Literatur, aber auch ihre einstweilige Grenze; denn wo es darüber hinausgeht, wo politische Aktionen und pädagogische Maßnahmen initiiert wurden, da zeigte sich eher große Ratlosigkeit und in vielen Fällen ein erschreckendes Absinken des theoretischen Niveaus. Es hat den Anschein, als ob die praktische Umsetzung der Kritik von anderen als den Kritikern selbst in Zukunft vorgenommen werden müßte. Die Grenze dieses kritischen Bewußtseins scheint zu sein, daß es trotz aller gegenteiliger Beteuerungen eben kein praktisches Bewußtsein ist.

Charakteristisch für diesen Zusammenhang ist das Buch von Johannes Agnoli und Peter Brückner "Die Transformation der Demokratie", das inzwischen als ein Standardwerk der "außerparlamentarischen Opposition" angesprochen werden muß. Das Buch besteht aus zwei Einzelbeiträgen. In dem ersten liefert Agnoli eine kritische Analyse unserer gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit unter dem programmatischen Titel "Transformation der Demokratie", deren wesentliche Ergebnisse sind: Die demokratische Substanz und Praxis unseres Staates und unserer Gesellschaft werden zunehmend unterhöhlt; die demokratischen Institutionen (vor allem die Parlamente) sind zunehmend weniger in der Lage bzw. willens, diesen Entdemokratisierungsprozeß aufzuhalten bzw. in sein Gegenteil zu verkehren; die politischen Vertretungen (Parlamente) haben sich vom Willen des Volkes entfernt; ein großer Teil des Volkes fühlt sich in diesen Gremien nicht vertreten. Eine Umkehr ist nur möglich durch Demokratisierung von unten, dadurch, daß das Volk auf der unteren Ebene aktiv wird im Sinne von Aktionen oder kollektiven Verweigerungen, und dies ist nur erfolgreich gegen die machtlos gewordene Volksvertretung. Zu diesen Grundthesen ließe sich sehr viel sagen, und in der Diskussion der letzten Jahre ist auch bereits viel dazu gesagt worden; hier ist aber nicht der Ort, im einzelnen darauf einzugehen. Nur die pädagogische Folgerung sei hier wieder angedeutet: Wenn das zutrifft, stellen sich für die politische Bildung ganz andere Ziele als bisher, und auf jeden Fall muß diese Position im theoretischen Selbstverständnis der politischen Bildung

37

gründlich reflektiert werden. Pädagogisch interessanter ist jedoch der Beitrag von Brückner "Die Transformation des demokratischen Bewußtseins", in dem die Thesen von Agnoli fortgeführt werden: Nicht nur die Verhältnisse und Institutionen werden zunehmend entdemokratisiert, sondern auch das Bewußtsein der Menschen. Der Beitrag ist unter dem Eindruck der Ereignisse des 2. Juni 1967 geschrieben worden (Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin) und bezeichnet sich als Versuch der "politisch-psychologischen" Aufklärung der Ereignisse. Brückners Ziel ist, unter Anwendung psychoanalytischer Methoden die Hintergründe für Bewußtsein und Verhalten aufzuzeigen, die beide einer bloß vordergründig rationalen Erklärung unzugänglich bleiben müssen. Woher kam der blinde kollektive Haß gegen die Studenten? Warum konnte die Springer-Presse soviel Aggressivität bei so vielen sonst "ganz normalen" Menschen mobilisieren? Was in den Menschen war ansprechbar für ein solches Verhalten? Von allem, was ich aus der "linken" Literatur in letzter Zeit gelesen habe, hat Brückners Analyse auf mich den größten Eindruck hinterlassen - trotz vieler Einwände im einzelnen. Vielleicht liegt dies daran, daß man als Pädagoge von politischen Argumentationen besonders beeindruckt ist, wenn sie sich auf konkrete Menschen beziehen, auf ihre Frustrationen, auf ihr Leiden und ihre Ohnmacht. Diese Analyse muß - so meine ich - jeder politische Erzieher heute gelesen haben, was nicht heißt, daß er allem zustimmen muß. Aber abgesehen von dem politischen Engagement und der nicht jedem einsichtigen politischen Stoßrichtung enthält dieser Essay so viele bisher unerkannt gebliebene pädagogisch relevante Details, daß schon deshalb die Lektüre in jedem Falle lohnt. Dafür nur einige Proben: "Das 'ohne mich' des Bürgers weiß nie, wie sehr ein Bürger 'ohne ich' ist, der so spricht" (S. 98); "auch politische Einsicht ist immer gemeinsame Praxis" (S. 99); über den Zusammenhang von individueller Lebensgeschichte und kollektiver Geschichte (S. 102); über die Widersprüche von Arbeit und Freizeit im Studium (S. 103); über die durchaus kritisch gesehene "Kommune I": "Wahrscheinlich wird eines Tages das Maß an geduldeter Desintegration ein Indiz für die Humanität und Freiheitlichkeit der Gesellschaft sein" (S. 113); andererseits jedoch: "Man gewinnt den Eindruck, als würden dort Dauerkonflikte sekundär sexualisiert: das Zärtlichkeitsverhalten scheint unter den Mitgliedern eher abzunehmen, neben Sauberkeitsgeboten scheint auch die theoretische Disziplin der unvermittelten Negation aller Regelsetzungen zum Opfer zu fallen ... Das Studium einiger scheint aus personimmanenten Gründen zu scheitern. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß man dieses soziale Experiment als den Versuch lesen darf, individuellen Neurosen ein infantil strukturiertes Kollektiv zu schaffen, das sie vor jeder Korrektur an der Realität und vor dem Zugriff der tätigen Reflexion schützt" (S. 115 f). Sehr eindringlich auch und neue Aspekte zur Interpretation der Pubertät erschließend das Kapitel über "Unreife als Kreativität", das die Vorwürfe gegen die "Unreife" der Studenten zurückweist und "Unreife" dialektisch als personale und gesellschaftliche Chance deutet: als Chance zur besonderen Kreativität eben. "Reife wird, wo man sie Studierenden aberkennt, als Anpassungssyndrom erkennbar: reif ist oder wird offensichtlich nur, wer berufstätig ist. ... Der Nutzungsgrad des einzelnen für die Organisation von Produktion und Konsumtion wird zum Sollwert erwünschten Verhaltens. ... Das aber, was die Öffentlichkeit der studentischen Linken als privilegierte Unreife vorhält, ist ihre Kreativität, gesehen durch das Ressentiment der Beschädigten" (S. 126, S. 131). Aber auch für Brückner gilt die oben schon genannte Grenze: Er beschreibt, was ist, und erklärt, warum es so ist, aber er gibt keine - oder höchstens nur allgemeine - Hinweise darauf, was Pädagogik heute und morgen praktisch zu tun habe.

Auch Wilfried Gottschalch ist ein Autor, der zur "außerparlamentarischen Opposition" gerechnet werden kann. Er hat elf Aufsätze der letzten Jahre unter dem Titel: "Soziales Lernen und politische Bildung", die bisher an recht verschiedenen und oft nur schwer zugänglichen Stellen veröffentlicht waren, zu einem Buch zusammengefaßt. Beim ersten Lesen wird man dadurch überrascht, daß einige der Beiträge lediglich Sammelrezensionen sind, die man gemeinhin nicht in Aufsatzsammlungen wieder abgedruckt. Jedoch hat ihre erneute Publizierung insofern einen Sinn, als auf diese Weise verhältnismäßig umfangreiche und für die Position der außerparlamentarischen Kritik bedeutsame psychologische und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse in verhältnismäßig verständlicher und klarer Darstellung zusammengetragen werden. Der Rahmen ist weit gespannt: "Kind und Familie heute", "Strukturwandlungen der Familie", "Die Rolle der Jugend in unserer Gesellschaft", "Ideologische Komponenten in den

38

Erziehungswissenschaften", "Zur Soziologie innerschulischer Prozesse", "Soziales Lernen als intentionale und inhaltliche Variable im politischen Unterricht allgemeinbildender Schulen", "Emanzipation der Sexualität", "Das Werben um den Freizeitkonsumenten", "Mißbrauch der Psychoanalyse in der Politik", "Minderheiten und Vorurteile" und schließlich "Pädagogische Aspekte der außerparlamentarischen Opposition". Zu all diesen Themen werden bevorzugt diejenigen Autoren und Gedanken dargestellt, die der Verfasser im Bewußtsein der Lehrer und Erzieher nicht genügend verankert weiß. Der Wert dieses Buches liegt darin, daß es auch demjenigen, der sich im "linken Jargon" nicht auskennt, wichtige und pädagogisch relevante Gedanken erschließt. Wer sich da einarbeiten will, sollte vielleicht mit diesem Buch beginnen. Eine zwingende innere Systematik verbindet die Einzelarbeiten nicht, was der Verfasser auch nicht beansprucht hat. Auch Hinweise darüber, was nun pädagogisch zu tun sei, finden sich nur gelegentlich.

Innerhalb der Protestbewegung haben die Überlegungen über die Anwendung von Gewalt eine große Rolle gespielt. Diese Diskussion ist nicht entschieden, und sie wird auch vorläufig wohl nur praktisch entscheidbar sein, je nachdem, wie sich die öffentliche Gewalt gegenüber den Protestaktionen verhält. Bisher galt als ausgemacht, daß politischer Widerstand oder gar der Kampf um politische Veränderungen letztlich auf Gewalt nicht verzichten könne, weil die jeweils Mächtigen nicht kampflos ihre Positionen räumen würden. Gegenbeispiele wie Gandhis gewaltloser Befreiungskampf in Indien gegen die Engländer wurden immer als "einmalig" und "nicht übertragbar" abgetan, und die jüngste Entwicklung in der CSSR scheint die Aussichtslosigkeit gewaltlosen Widerstandes wieder einmal belegt zu haben. Jedoch wurde angesichts der atomaren Vernichtungswaffen schon seit langem die Frage laut, ob auf außenpolitischem Gebiet Gewalt wirklich im Ernstfalle noch einen politischen Sinn haben könne. Innenpolitisch scheint - jedenfalls in den großen Industrieländern - die Macht derjenigen, die die Apparate und Kommunikations- und Versorgungszentren beherrschen, so groß zu sein, daß weder gewaltsamer noch gewaltloser Widerstand irgendeine Chance hat. Die totale Ohnmacht der Abhängigen scheint vollständig. Aber gerade die letzten Jahre in unserem Lande haben auch gezeigt, wie verwundbar die komplizierten Apparate und Kommunikationen sind, wenn Menschen darangehen ihre Mitarbeit zu verweigern. An dieser Stelle setzt das Buch von Theodor Ebert "Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg" an, das für mich das wichtigste politische Buch der letzten zehn Jahre ist. Ebert hat umfangreiches Material über gewaltlose Kampfmaßnahmen aus dem Unabhängigkeitskampf Indiens und Ghanas, der Atomwaffengegner in England, der Anti-Apardheit-Bewegung in Südafrika und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gesammelt und auf verallgemeinerungsfähige Strategien und Taktiken des gewaltlosen Kampfes hin untersucht. Dabei zeigt sich eine breite Palette der Möglichkeiten: Protestdemonstration, Hungerstreik, wirtschaftlicher Boykott, legale Nichtzusammenarbeit und ziviler Ungehorsam. Ausführlich werden Beispiele für solche Aktionen beschrieben, um daraus die spezifischen Chancen und Grenzen auf allgemeine Begriffe und Regeln zu bringen. Entscheidend ist vor allem, im Verlauf einer Kampagne möglichst viele Gegner für die eigene Sache zu gewinnen, in dem man ihnen "nach dem Sieg" eine akzeptable Position anbietet und dies von vornherein deklariert. Nicht die physische oder soziale Vernichtung des Gegners ist das Ziel, sondern eine Umstimmung auf die neu ihm zugedachte Rolle. "Bekämpft wird also nicht die Person des Gegners, sondern seine gegenwärtige soziale Rolle und das sich aus dem Zusammenspiel solcher Rollen ergebende soziale System" (S. 55). Dazu muß aber genau bestimmt werden, welche Rollen des Gegners bekämpft werden müssen und welche nicht, wobei es entscheidend auf die notwendige Minimalisierung der "Kampffläche" ankommt. Ferner muß überlegt werden, welche Motive den Gegner dazu bestimmen können, der erwarteten Einstellungsänderung zuzustimmen. Ebert nennt die Motivationen "sozialer Friede und Wohlfahrt" "Selbstverwirklichung", "Macht und Prestige", wobei er mit Recht betont, daß gerade auf diesem Gebiet der Motive für die politische Willensbildung die sozialpsychologische Forschung noch viele Lücken aufweist. Das Medium aller gewaltfreier Aktionen ist "Öffentlichkeit" im weitesten Sinne: Kader der Protestierenden müssen in der Öffentlichkeit durch ihre Aktionen die Passiven und zunächst Desinteressierten für ihre Sache gewinnen und bei genügender "Massenbasis" die öffentliche Konfrontation mit den Herrschenden suchen und diese so zu einer Entscheidung zwingen: entweder mit Gewalt gegen Wehrlose einzuschreiten - was deren Popularität nur vergrößern könnte - oder

39

aber wenigstens teilweise auf die Forderungen einzugehen. Am Schluß entwirft Ebert ein strategisches und taktisches Grundmodell für eine gewaltlose Kampagne vom Anfang bis zum siegreichen Ende, von der ersten Planung bis zur Befriedung. - Es ist hier nicht möglich, die Fülle der Details auch nur anzudeuten. Kennt man von diesem Buch nur die eben genannten knappen Stichworte über den Inhalt, wird man es vielleicht einfach nur zu den politischen Utopien rechnen. Bei der Lektüre jedoch des rhetorisch bescheidenen, gleichwohl klar und über weite Strecken spannend geschriebenen Buches wird klar, daß es sich hier um eine realistische, gründlich durchdachte und äußerst ernst zu nehmende Anweisung zur Demokratisierung im Zeitalter der Organisationen und Massen handelt. Wo die demokratische Protestbewegung in unserem Lande sich in den letzten Jahren nach dieser Strategie verhalten hat, hat sie ihre größten Erfolge erzielt. Im Gegensatz jedenfalls zu den oft wirren "Strategie- und Taktik-Diskussionen" innerhalb der orthodoxen Linken zeigt Ebert politische Aktionsmöglichkeiten, die, würden sie praktiziert, "den Herrschenden" die allergrößten Schwierigkeiten bereiten müßten. Für die politische Pädagogik enthält dieses Buch zwar unmittelbar nichts, es könnte aber, didaktisch entsprechend "übersetzt", die so notwendig gewordene Vermittlung zwischen einer "Erziehung zum Frieden" einerseits und der Ermutigung zu praktischer politischer Tätigkeit andererseits leisten. "Gewaltlose Aktion" könnte, da sie nicht unmittelbar zur Illegalität aufrufen muß und da sie ferner ein Höchstmaß von Aktion und Reflexion verlangt, durchaus etwa zum politischen Kampfstil der sich emanzipierenden Lehrlinge und Schüler werden, und ein solcher Kampfstil könnte sogar grundsätzlich guten Gewissens von den Lehrern ermutigt werden, ohne daß sie sich selbst damit in die Illegalität begeben müssen. Insofern können gerade von Eberts Buch entscheidende Impulse für eine neue politische Bildung ausgehen. (Es soll im April 1970 auch als Taschenbuch erscheinen.)

Vom Titel her gehört auch das Buch "Politische Bildung in der Demokratie", eine Festschrift für Fritz Borinski zum 65. Geburtstag, in diesen Zusammenhang. Aber der Titel täuscht den Käufer. Die ersten elf Beiträge sind auf die Biographie und die Tätigkeit des Geehrten bezogen und bringen wenig allgemein Interessantes. Der zweite Teil enthält unterschiedlich interessante und in der Sache kaum neue Beiträge, wie man sie eben in Festschriften oft findet. Unter dem Titel des Buches sind sie nur einigermaßen gewaltsam unter einen Hut zu bringen. Trotz der lesenswerten Beiträge von Otto Stammer ("Probleme der Diktaturforschung"), Kurt Sontheimer ("Das Vorbild in der Politik") und Willy Strzelewicz ("Revolution oder Reform? Gedanken zur Veränderung des Bildungswesens") ist das Buch kein "Beitrag zur heutigen Diskussion über die politische Bildung", wie die Herausgeber meinen. In dieser Form sollten Festschriften nicht mehr gemacht werden.

II.

Die Kritik an der politischen Bildung ist nicht unwesentlich durch empirische Untersuchungen über ihre Wirkungen gefördert worden. Da die Ergebnisse dieser Untersuchungen inzwischen vielfach publizistisch verbreitet wurden, soll hier auf die beiden wichtigsten Schriften nur kurz hingewiesen werden, das Buch von Manfred Teschner: "Politik und Gesellschaft im Unterricht. Eine soziologische Analyse der politischen Bildung an hessischen Gymnasien", und die Schrift von Egon Becker u.a.: "Erziehung zur Anpassung? Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen". In beiden Fällen ist allerdings das Erhebungsmaterial erheblich veraltet, bei Teschner stammt es aus dem Jahre 1961, bei Becker wird das Erhebungsjahr gar nicht erst angegeben; da es sich jedoch um eine leicht veränderte Buchfassung des im Jahre 1966 der Max-Träger-Stiftung vorgelegten Forschungsauftrages "Zur Wirksamkeit der politischen Bildung, Teil I" handelt, dürfte das Material etwa aus den Jahren 1963/64 stammen. Jedenfalls gibt in beiden Fällen das Material keine verläßliche Auskunft mehr über die gegenwärtige Situation, und darin zeigt sich das Dilemma einer methodisch fundierten empirischen pädagogischen Forschung: "Blitzumfragen" der Meinungsforschungsinstitute kann man sehr schnell auswerten und publizieren, aber sie sind für pädagogische Analysen weitgehend unbrauchbar. Methodisch exaktere und vielseitigere Untersuchungen, wie die beiden vorliegenden, die für die pädagogische Verwendung wirklich wichtig sind, brauchen zuviel Zeit zur Auswertung und Veröffentlichung. So beziehen sich beide Arbeiten streng genommen auf eine bestimmte historische Etappe der politischen Bildung in unserem Lande und müßten nun erneut überprüft werden, da anzunehmen ist, daß gerade in den letzten drei Jahren das Bild sich erheblich verändert hat. Dennoch sind die beiden Bücher keineswegs nutzlos geworden. Wichtiger als die

40

Zahlen selbst sind nämlich die qualitativen Analysen, die tendenziell auch bei Änderung des Zahlenmaterials ernst zu nehmen bleiben. Dazu gehört etwa die wichtige Einsicht, daß die Lehrer sich erst selbst einmal gesellschaftlich thematisieren müssen, um sachgerecht unterrichten zu können, daß sie ihre mittelständisch bis kleinbürgerlichen Vorstellungen über "Pädagogik" im allgemeinen und "politische Erziehung" im besonderen, die sich im Ausweichen vor politischen Konflikten, im Lehren abstrakter Tugenden und der Furcht vor Parteinahme äußert, nicht als individuelle Einstellung zur Politik, sondern als gesellschaftlich vermittelt deuten müssen; daß es infolgedessen nicht darum gehen kann, die Lehrer zum Prügelknaben einer relativ wirkungslosen politischen Erziehung zu machen, da sie im ganzen kaum "fortschrittlicher" sein können als die Gesellschaft im ganzen. Übereinstimmend fordern beide Autoren eine bessere sozialwissenschaftliche und politikwissenschaftliche Ausbildung der Lehrer, weil nur so ihr Selbstbewußtsein im politischen Unterricht sich heben könne. Beide Autoren plädieren dafür, die "Stoffe" dort anzusetzen, wo Schüler die Konflikte auch unmittelbar erfahren. "Was unser Leben heute entscheidend bestimmt, läßt sich am Freizeitverhalten der Jugendlichen und an Erscheinungen der Jugendkriminalität ebenso herausarbeiten wie an Lohnkämpfen und anderen sozialen Konflikten" (Teschner, S. 149). Beide Arbeiten stellen eine positive Korrelation zwischen dem ermittelten politischen Bewußtsein der Schüler und einem guten Sozialkundeunterricht fest, was von vielen linken Aktionisten heute bestritten wird. "Der vorschnelle Rekurs auf gesamtgesellschaftliche Schwierigkeiten, die der Bildung aufgeklärten politischen Bewußtseins heute entgegenstehen, könnte unwillentlich zu illegitimem Fatalismus führen, zum Alibi dafür werden, es sei vertane Zeit, sich überhaupt den Kopf über mögliche Reformen des Unterrichts zu zerbrechen" (Teschner, S. 150). Obwohl die Verfasser bescheiden betonen, daß unmittelbare pädagogische Konsequenzen aus ihren Analysen nicht gezogen werden dürften, gehören diese beiden empirisch angesetzten Arbeiten heute zugleich zu dem Besten, was es zu theoretischen Fragen der politischen Bildung gibt.

III.

Einen gewissen empirischen Wert haben auch Schulbücher für die Sozialkunde bzw. den politischen Unterricht. Da sie von den Kultusverwaltungen genehmigt werden müssen, darf man annehmen, daß sich in ihnen sehr viel eher als in den theoretischen Schriften widerspiegelt, was in der Unterrichtspraxis tatsächlich geschieht. Allerdings gilt dies nur mit Einschränkungen, man müßte zum Beispiel wissen, wieweit die einzelnen Bücher in den Schulen auch verbreitet sind. Dennoch wäre Schulbuchkritik ein wichtiges Instrument der didaktischen Kritik überhaupt und müßte wichtiger Bestandteil der Lehrerausbildung werden.

"Öffentlich wirken", eine kleine Schrift von Ulrich Beer, ist zwar kein Schulbuch im engeren Sinne, hat aber von der Anlage her manches damit gemein. Es greift politische Probleme dort auf, wo sie dem Bürger im Alltag und in seinen Ressentiments begegnen, und appelliert an die Bereitschaft zur Mitarbeit und Mitwirkung. Mit großem Geschick spricht der Autor die psychologischen Sperren an, die bei den meisten Menschen gegen politische Beteiligung und Mitarbeit aufgerichtet worden sind: die Erfahrung der Machtlosigkeit etwa oder die Antipathie gegen Parteien. Zugleich gibt er eine Fülle von praktischen Hinweisen, wie man diese Sperren erfolgreich überwinden könne. Leitmotiv ist die These, daß wir vorerst noch in einer potentiellen Demokratie leben, die aber erst durch das Engagement der Bürger realisiert werden müsse. So richtig diese Einsicht grundsätzlich auch ist, so problematisch bleibt es doch auch, die Frage der politischen Beteiligung in das Belieben der einzelnen Bürger zu stellen, so, als sei unsere Demokratie deshalb so schmalbrüstig, weil die Bürger sich nicht für sie engagieren wollen. Auf diese Weise werden im Appell zur Mitarbeit die Gründe für die allgemeine Apathie verdunkelt. Dies haben wir aus der Diskussion der letzten Jahre ebenso gelernt wie die Erfahrung, daß die Ermutigung zum kritischen Verhalten - ebenfalls ein Leitmotiv Beers - dort aufhören muß, wo es um die Wurzeln des Übels und um massive Interessen geht. Auch dies sieht Beer, und er spart nicht mit Kritik. Aber sie bleibt zu vordergründig, zu personalisiert.

Die drei Bücher von Hartmut Wasser, von Hermann Meyer und von Paul Düring sind "Lehrerbücher" für den politischen Unterricht. Sie gehören alle in jene Epoche unserer politischen Bildung, in der der Schüler selbstverständlich das Objekt von Lernvorgängen war, als Subjekt jedoch nur scheinbar, im Sinne methodischer Tricks, in Erscheinung trat. Hartmut Wassers "Politische Bildung am Gymnasium" knüpft in seiner ganzen

41

Anlage an jene Politikvorstellungen an, die im Gymnasium der fünfziger Jahre vorherrschend waren und etwa in Teschners empirischer Untersuchung so überzeugend kritisiert wurden. Das gilt nicht nur für den ersten Teil ("Politische Bildung als Aufgabe"), sondern auch für den zweiten Teil, der "einen Weg aufweisen" will, "wie ein Politikunterricht an der Oberprima des Gymnasiums sinnvoll gestaltet werden kann", wo nämlich "Politik als verstehend zu durchschauender Zusammenhang einsichtig gemacht werden soll" (S. 5). So beginnt der vorgeschlagene Stoff denn auch mit "Politischer Anthropologie", wo der Mensch mit Gehlen als "Mängelwesen" bestimmt wird - ohne selbstverständlich die Kritik an Gehlen zu nennen, die ja das Konzept stören würde. Es geht dann weiter mit dem "Staatsbegriff" ("Das Telos des Staates", "Die Staatsbürger", "Die Staatsgewalt") über den "Prozeß der politischen Willensbildung" ("Arten der Herrschaftsbestellung", "Arten der Herrschaftsentscheidung", "Träger der politischen Willensbildung") zu den "Politischen Grundordnungen der Gegenwart" ("Elemente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, "Elemente der totalitären Grundordnung", "Die autoritäre Grundordnung"). Was dann zu diesen einzelnen Kapiteln gesagt wird, ist nicht minder weit von den tatsächlichen Problemen der heutigen Primaner entfernt als die Kapitelüberschriften selbst. Wer wissen will, warum unsere Primaner oft so aggressiv gegen ihre Schule eingestellt sind, der stelle sich nur einen politischen Unterricht vor, wie er in diesem Buch vorgeschlagen und sicher auch in vielen Fällen praktiziert wird. Nicht, daß das Buch falsch oder fahrlässig geschrieben wäre, es verrät vielmehr eine gründliche und sorgfältige Beschäftigung mit den Sachverhalten. Aber es ist eben für die falschen Adressaten und zum falschen Zweck geschrieben. Die Forderung nach dem "politischen Verstehen" ist hier so weit getrieben, daß der "hohe" Anspruch äußerste Selbstverleugnung verlangt. "Verstehen" als rigide Disziplinierung von Bedürfnissen und Interessen! Daß es das gibt, beweist dieses Buch.

Wird bei Wasser Politik in eine bestimmte "Staats-Philosophie" aufgelöst, so kann man Hermann Meyers "Handbuch für Lehrer" mit dem Titel "Politische Bildung" inhaltlich als "naiven politischen Realismus" bestimmen. Es ist für Lehrer der Mittelstufe gedacht und "behandelt die grundlegenden Themen politischer Bildung, welche in allen Lehrplänen der Bundesrepublik Deutschland vorkommen". Aber was es den Lehrern an Kenntnissen und Informationen über Gemeinde und Selbstverwaltung, Staats- und Verfassungsformen, "Die Bundesrepublik Deutschland und ihr Widerspiel" (gemeint ist die DDR), politische Kräfte im Staat, die öffentliche Meinung, die Sphäre des Rechts, Gesellschaftsstruktur und soziale Frage, die Wirtschaft, überstaatliche Ordnung und Völkerrecht, Entwicklungsländer und Entwicklungshilfe anbietet, ist - anders als bei Wasser - überhaupt nicht mehr reflektiert und ohne jede Einsicht in Konflikte und Probleme, ohne genügenden Sachverstand zusammengeschrieben. Kein Autor könnte wohl heute noch alleine über so viele politische Themen ein Buch schreiben. Kommt bei Wasser immerhin noch der politisch-philosophisch ambitionierte Lehrer und Schüler auf seine Kosten, so ist bei Meyers Darstellung überhaupt nicht mehr einzusehen, warum das, was er als "Politik" betrachtet, irgend jemanden noch interessieren soll. Als Beispiel für die sachlichen Schwächen mag das Kapitel über die "Wirtschaft" dienen. Unter den "Faktoren der Wirtschaft" wird zwar "Kapital", "Formen des Kapitals" und "Verbindung der Produktionsfaktoren" genannt, der Faktor "Arbeit" fehlt jedoch völlig, wie überhaupt innerbetriebliche Probleme und Herrschaftsprobleme gar nicht erwähnt werden. "Die Wirtschaft" wird jeglicher politischer und gesellschaftlicher Problematik entkleidet und auf diese Weise als Thema der politischen Bildung geradezu überflüssig gemacht. Von Gewerkschaften, Betriebsräten und "Betriebsverfassung" ist zwar im Kapitel "Gesellschaftsstruktur und soziale Frage" die Rede, aber dem Grundsatzprogramm des DGB, aus dem nichts zitiert wird, wird eine halbe Seite gewährt, dem dann dreieinhalb Seiten wörtlich zitierte Unternehmerkritik folgen darf. Um die Machart zu zeigen, lohnt sich die Zitierung dessen, was über das Grundsatzprogramm des DGB gesagt wird: "Dem Grundsatzprogramm des DGB sieht man die Herkunft der dort vereinigten Gewerkschaften aus der marxistischen Tradition an. Die Tendenz zur Einschränkung der freien Marktwirtschaft durch gemeinwirtschaftliche Organisationsformen, durch Kontrolle der Unternehmer, ihrer Kapital- und Gewinnpolitik sowie wirtschaftlicher Machtzusammenballung auf Unternehmerseite ist deutlich ausgeprägt. Das gleiche gilt für das Festhalten mancher Einzelgewerkschaften am Klassenkampfgedanken und am (übrigens durch das Grundgesetz verbürgten) Streikrecht. Die christlichen Gewerkschaften lehnen die beiden letztgenannten

42

Standpunkte ab, sie wollen auch Mitbestimmung nur in Verbindung mit Mitverantwortung." Das ist alles, und das ganze ist eine trübe Mischung aus Halbwahrheiten, falschen Verknüpfungen und schlichter Demagogie (als ob der DGB Mitbestimmung ohne Mitverantwortung wollte). Das ganze Buch ließe sich so auseinandernehmen, und seine Existenz ist angesichts dessen, was sich sonst auf dem Markt befindet, eine glatte Zumutung. Der Autor weiß es offenbar nicht besser, aber dem Lektorat eines renommierten Schulbuch- und Lehrerhandbuchverlages dürfte eine solche Panne eigentlich nicht passieren.

Mit diesem Ärgernis versöhnt ein wenig Paul Dürings "Politische Bildung in Grundschule und Hauptschule", das für den Lehrer der Hauptschule bestimmt ist. Was zur theoretischen "Grundlegung" gesagt wird, erreicht zwar nicht den Stand der jüngsten Diskussion, und die Kritik an der staatsbürgerlichen Erziehung vor 1918, in Weimar und im Nationalsozialismus ist schon in Oetingers "Partnerschaft" besser gelungen. Auch die Erörterung der "psychologischen Voraussetzungen" der politischen Bildung, also die Frage, ob und in welcher Weise bestimmte Altersstufen überhaupt fähig zum politischen Verständnis seien, klammert sich zu sehr an veraltete Lehrmeinungen, die heute durch das Verhalten Jugendlicher evident widerlegt werden. Dafür jedoch verdienen die methodischen und unterrichtspraktischen Partien Beachtung, die über das sonst Übliche hinausgehen. So werden etwa Beispiele von Unterrichtsabläufen referiert, an denen dann die Möglichkeiten methodischen Vorgehens demonstriert werden. Unbefriedigend bleibt aber auch hier wie bei so vielen "Methodiken", daß solche methodischen Ratschläge ohne klare didaktische Strategie eben doch in der Luft hängen.

Das gilt auch für die bisher einzige umfassende "Methodik des politischen Unterrichts" von Wolfgang Mickel, die für alle Schularten gelten soll. Kaum ein wichtiges methodisches Detail ist ausgelassen, und man ist beeindruckt von all den Einzelheiten, die methodisch beachtet werden müssen. Sehr vieles, was Mickel anführt, ist auch unmittelbar evident im Sinne eines "gesunden pädagogischen Menschenverstandes". Aber auch hier fehlt eben die didaktische Grundlegung oder wenigstens eine didaktische Strategie oder ein didaktisches Leitmotiv. Mickel sieht diesen Mangel in seinem Vorwort selbst ein, solche Konzeptionen seien "schwierig, weil dem pluralistischen demokratischen Staat und der ihn tragenden Gesellschaft eine verbindliche Staatsphilosophie und Gesellschaftslehre fehlt". Diese Begründung scheint mir nun keineswegs überzeugend. Stimmte sie, so wäre eine demokratische politische Didaktik überhaupt nicht möglich. An solchen Formulierungen merkt man das stille Bedauern über den Verlust der Identität von politischer und pädagogischer Herrschaft. Gerade dieser Verlust ist aber die besondere Chance einer demokratischen Pädagogik. Worauf es ankäme, wäre, zumindest die didaktischen Vorentscheidungen aufzudecken, als deren Konsequenz Methoden sich dann zu erweisen hätten. So aber fragt man sich trotz der imponierenden Fülle der Hinweise, Vorschläge und Differenzierungen und trotz der immensen Arbeit, die nicht zuletzt auch in dem jedem Kapitel angeführten Literaturverzeichnis zu methodischen Spezialfragen steckt: Warum soll der Lehrer das eigentlich so machen? Nur um den Unterricht effektiver zu machen? Effektiver woraufhin? So bleibt also Mickels Methodik nur begrenzt brauchbar, insofern der Lehrer selbst seine didaktische Strategie mit den methodischen Hinweisen verknüpfen muß.

Die bisher erwähnten "Schulbücher" waren für Lehrer bestimmt, die beiden zuletzt zu nennenden sind an die Schüler gerichtet und verdienen unsere volle Aufmerksamkeit. Kurt Gerhard Fischers "Politische Bildung" und Wolfgang Hilligens "Sehen-Beurteilen-Handeln" dürften gegenwärtig als Schülerbücher für den Bereich der Sozialkunde und der politischen Bildung kaum zu übertreffen sein. Beide Bücher verraten eine ähnliche didaktische Konzeption, beide verbinden den kontroversen, konflikthaften Charakter ihrer Themen mit systematischer Information, ohne zum Lehrbuch für auswendig zu Lernendes zu werden, beide sind von einem Mitarbeiterstab verfaßt worden, was der Qualität der einzelnen Kapitel zugute kam. Dem an der Sache interessierten Leser, der sich nicht mehr zu den Schülern zählen kann, fallen bei der Lektüre zwei allgemeine Kriterien für ein gutes "Schülerbuch" auf, die hier erfüllt sind: Erstens sind Schülerbücher offenbar dann besonders gut, wenn sie auch "Erwachsenen" gefallen - was Erich Kästner bekanntlich schon vom guten Kinderbuch behauptete und für seine eigenen Arbeiten realisierte. Dies hängt nicht zuletzt mit dem zweiten Kriterium zusammen, nämlich der "Machart", das heißt, mit der Art und Weise, wie die in einem Buch möglichen Aussageformen miteinander verknüpft und überhaupt angewandt wer-

43

den. Wichtige Textstellen erscheinen auf farbigem Hintergrund, der Duktus ist aufgelockert durch Bilder, Graphiken und Statistiken. Die Darstellung hat sehr viel Ähnlichkeit mit der journalistischen Form des Feature: Information, Stellungnahmen von Experten, weiterführende Fragen, erneute Stellungnahmen, verdichtete Problemsätze, wieder Information usw. wechseln ständig und geben schon durch diese Struktur dem Leser das Gefühl, mit seinem Urteil für die Sache benötigt zu werden. Die Sache erscheint immer "imperfekt", als Gegenstand gemeinsamer Bearbeitung. Dabei ist das Ganze kein Bluff, kein bloß methodischer Trick, sondern in dieser Aufbereitung des Materials manifestieren sich nur konsequent die didaktischen Vorentscheidungen der Autoren über "das Politische".

Bei allen Gemeinsamkeiten gibt es durchaus Unterschiede. Fischer gibt mehr Information, mehr sachliche Systematik, mehr "Stoff" und geht mit den genannten journalistischen Möglichkeiten sparsamer um. Nach meinem Eindruck ist sein Buch eher für die Mittel- bis Oberstufe geeignet.

Hilligens Buch ist eine Neubearbeitung des schon in früheren Jahren sehr erfolgreichen Lehrbuches mit gleichem Titel und für das 7. bis 10. Schuljahr bestimmt. Durch diese Neubearbeitung hat das Buch ungemein gewonnen. In der alten Fassung hatte der Verfasser sich zu starr an das didaktische "Demokratie-Diktatur-Schema" gehalten. Nun ist dieses Leitmotiv ergänzt worden durch eine dritte Perspektive: "Wie es in einer politischen Ordnung im Sinne des GG sein müßte". Außerdem wurde die neuere sozialwissenschaftliche Forschung - etwa beim Thema "Familie" - stärker berücksichtigt. Zumindest für das 7. bis 10. Schuljahr ist dies das mit Abstand beste Schulbuch, und die Neufassung dürfte darüber hinaus die wichtigste "fachdidaktische" Leistung der sechziger Jahre sein. Nicht verschwiegen sei, daß beide Bücher auch in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung von großem Nutzen sind, weil sie den Unterrichtsablauf in keiner Weise determinieren. also für alle denkbaren Unterrichtsformen etwas hergeben.

Gerade bei Büchern, die einem besonders imponieren, erwacht natürlich auch immer eine besondere Form der engagierten Kritik: man wünscht sich, die Autoren hätten manches noch besser gemacht. In diesem Sinne läßt sich gegen beide einwenden, daß sie bestimmte Chancen zur Selbstthematisierung der Schüler und Lehrlinge besser hätten nutzen können. So bleibt bei Hilligen das "Apo-Kapitel" leider lediglich auf der staatsrechtlichen Ebene, aber die Motive der Schüler- und Studentenrebellion entspringen nicht staatsrechtlichen Erwägungen, sondern den Erfahrungen ihres "Objekt-Charakters" in den pädagogischen und gesellschaftlichen Institutionen.

Die Freude über zwei gelungene Schülerbücher für den politischen Unterricht darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem in unserem "Lagebericht" zur politischen Bildung erhebliche Mängel gegenüberstehen:

1. Der Markt wird von einer Fülle zweit- und drittrangiger Arbeiten überschwemmt, die eher dem Produktionsinteresse der Verlage als dem zu fordernden Niveau entsprechen.

2. Die didaktische Reflexion ist nicht nur nicht weitergekommen, sie ist sogar eindeutig rückläufig. Die meisten Arbeiten, vor allem die, welche die didaktische Thematik nur "einleitend" ansprechen, sind immer noch am Diskussionsstand von etwa 1960 fixiert.

3. Es fehlt nach wie vor eine politische Methodenlehre.

4. Die empirischen Kontrolluntersuchungen sind veraltet und müssen auch im Hinblick auf ihre pädagogische Relevanz methodologisch neu durchdacht werden. Nur ideologiekritische Methoden reichen nicht, solange nicht auch die Probleme des politischen Lernens umfassend empirisch thematisiert werden.

5. Die von der "neuen Linken" kommende Kritik an der politischen Bildung ist noch nirgends überzeugend systematisiert oder gar didaktisch alternativ formuliert worden.

6. Eine kritische "Geschichte" der politischen Bildung für die Zeit nach 1945 steht noch aus.

44
 
 

Wolfgang Mickel: Politische Bildung an Gymnasien 1945 bis 1965. Analyse und Dokumentation. Bildungssoziologische Forschungen, Band 2. Ernst Klett-Verlag, Stuttgart 1967, 372 Seiten, DM 28,50

Carter Kniffler/Hanna Schlette: Politische Bildung in der Bundesrepublik. Analysen - Reflexionen - Versuche. Schule in Staat und Gesellschaft. Hermann Luchterhand Verlag. Neuwied-Berlin 1967 DM 16,80

Ulrich Beer: Öffentlich wirken. Psychologie und Praxis der Demokratie. Institut Dynamis Reutlingen 1968, 155 Seiten, DM 14,50

Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1968. 194 Seiten, DM 12,-.

Wilfried Gottschalch: Soziales Lernen und politische Bildung. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1969. 150 Seiten, DM 9,-.

Theodor Ebert: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg. Verlag Rombach, Freiburg 1968. 408 Seiten, DM 32,-.

Politische Bildung in der Demokratie. Fritz Borinski zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Gerd Doerry in Verbindung mit Joachim Dikau und Gerhard Kiel. Colloquium-Verlag, Berlin 1968. 223 Seiten, DM 20,-.

Egon Becker/Sebastian Herkommer/Joachim Bergmann: Erziehung zur Anpassung. Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen. Wochenschau-Verlag, Schwalbach. 2. Auflage 1968. 207 Seiten, DM 9,80.

Manfred Teschner: Politik und Gesellschaft im Unterricht. Eine soziologische Analyse der politischen Bildung an hessischen Gymnasien. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Band 21. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1968. 178 Seiten, DM 18,-.

Hartmut Wasser: Politische Bildung am Gymnasium. Problematik und Praxis. Matthiesen-Verlag,Lübeck-Hamburg 1967. 114 Seiten, DM 14,-.

Hermann Meyer: Politische Bildung. Handbuch für Lehrer. Schroedel Verlag, Hannover-Berlin-Darmstadt-Dortmund 1966. 299 Seiten, DM 19,60.

Paul Düring: Politische Bildung in Grundschule und Hauptschule. Didaktische Grundlegung und methodische Handreichung. Ehrenwirth-Verlag, München 1968. 193 Seiten, DM 16,80.

Wolfgang Mickel: Methodik des politischen Unterrichts (Gemeinschafts-, Sozial- und politische Weltkunde). Hirschgraben- Verlag, Frankfurt, 2. Auflage 1969. 244 Seiten, DM 7,20.

Kurt Gerhard Fischer: Politische Bildung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für den sozialkundlich-politischen Unterricht. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1967. 319 Seiten, DM 12,80.

Wolfgang Hilligen: Sehen - Beurteilen - Handeln. Arbeits- und Lesebuch zur Politischen Bildung und Sozialkunde. Neubearbeitung in Zusammenarbeit mit Rudolf Engelhardt u.a. 7. - 10. Schuljahr. Hirschgraben-Verlag, Frankfurt 1969. 320 Seiten, DM 9,80. 

 

 

71. Das Dilemma der Jugendkriminologie (1970)

Bericht über neuere Literatur

(In: deutsche jugend, H. 12/1970, S. 571-586)
 

Die sozialkritische Attacke der APO hat seit geraumer Zeit auch diejenigen Institutionen erfaßt, die mißlungene Sozialisationsprozesse zu korrigieren trachten: die Einrichtungen der Fürsorgeerziehung und der Jugendgerichtsbarkeit. Wenn auch den Aktionsgruppen aus naheliegenden Gründen der Weg in die Jugendgefängnisse bisher versperrt blieb, so hat die Veröffentlichung der Zustände in Fürsorgeerziehungs-Anstalten doch so viel Ärgernisse ans Tageslicht gebracht, daß der Schluß erlaubt ist, auch in den Jugendgefängnissen könne die Lage nicht viel besser sein; denn die pädagogischen Leitgedanken beruhen dort auf den gleichen Prämissen, mit dem Unterschied nur, daß für die Jugendgefängnisse der Strafzweck offen eingestanden wird und bei der Behandlung der Delinquenten dominiert.

Im Unterschied jedoch zur Fürsorgeerziehung, die bisher so gut wie überhaupt nicht wissenschaftlich überprüft und kontrolliert wurde, hat sich mit der Jugendkriminologie eine eigenständige Wissenschaft für die Probleme der Jugendgerichtsbarkeit gebildet, von der mancher Brocken schon deshalb für die Fürsorge-Erziehung abfällt, weil durch die Verschränkung von Jugendwohlfahrtsgesetz und Jugendgerichtsgesetz die Grenzen zwischen beiden Maßnahmengruppen fließend geworden sind.
 
 

Unter der Vorherrschaft der Juristen

Die Vermutung liegt nahe, daß die Jugendkriminologie die Probleme der Jugendkriminalität soweit erforscht hat, daß sowohl über die Ursachen wie auch über die Chancen der Korrektur weitgehend Klarheit besteht. Wir werden jedoch sehen, daß dies keineswegs der Fall ist. Dazu genügt schon ein Blick in zwei umfangreiche Sammelbände, die Friedrich Schaffstein und Max Busch/Gottfried Edel herausgegeben haben. In der Reihe "Wege der Forschung" hat Friedrich Schaff-

571

stein in der Form eines Reader 39 schon früher erschienene Beiträge zusammengefaßt, die sich mit "Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts" befassen. Nach einer knappen, aber sehr instruktiven Einleitung von Schaffstein werden in den Beiträgen alle wichtigen Einzelprobleme des Jugendstrafrechts behandelt. So informativ dieser Band - gerade auch für den Studenten - ist, so zeigt er doch schon durch die Zusammenstellung der Beiträge, in wie starkem Maße die Jugendkriminologie eine Domäne der Jurisprudenz ist. Nicht nur zahlenmäßig, sondern auch in der Qualität stechen die juristischen Beiträge hervor. Das liegt zunächst natürlich daran, daß bei allen Maßnahmen, die rechtlicher Natur sind und in die Grundrechte eingreifen, juristische Genauigkeit und rechtsstaatliche Sicherungen unzweifelhaft wichtig sind. Wenn aber, wie es das Jugendgerichtsgesetz vorschreibt, der Erziehungszweck gegenüber dem Strafzweck den Vorrang haben soll, müßte man eigentlich erwarten, daß Disziplinen wie Psychologie und Pädagogik in nachhaltiger Weise auch an den grundsätzlichen Diskussionen beteiligt sind. Tatsächlich jedoch sind Psychologen und Pädagogen kaum mehr als "Erfüllungsgehilfen" von Maßnahmen, die unter der Vorherrschaft von Juristen getroffen und auch verwaltet werden: sie betreiben Gefängnisfürsorge, ohne über die Vollzugsprozesse verfügen zu können (man stelle sich zum Vergleich einen Lehrer vor, der über nichts verfügt außer über das, was er selber sagt; von "Didaktik", das heißt planvoller Organisation dessen, was er treibt, könnte keine Rede mehr sein!); sie schreiben Berichte im Rahmen der Jugendgerichtshilfe, die der Jugendrichter nach autonomem Ermessen benutzen oder deuten kann, usw.

Wo die pädagogischen Stellungnahmen in diesem Band sich gegen diese Unterprivilegierung wehren, kritisieren sie Randbedingungen, die etwas von dem zähen Kampf im beruflichen Alltag, aber auch viel von Resignation verraten.

Offensichtlich haben die pädagogischen und psychologischen Partner keine unabhängige Position, von der aus sie das System der Jugendgerichtsbarkeit im ganzen kritisieren können. Wahrscheinlich liegt dies vor allem daran, daß die Kriminalpädagogen - schon wegen der juristischen Barrieren - eine kleine Gruppe darstellen, die den Kontakt mit der Entwicklung in der allgemeinen Pädagogik weitgehend verloren hat; man erkennt dies unter anderem daran, daß immer wieder dieselben "Spezialisten" (in der ganzen mir bekannten Literatur) zitiert werden.

Damit teilt die Kriminalpädagogik das Schicksal anderer pädagogischer Spezialdisziplinen (wie "Sozialpädagogik" oder "Wirtschaftspädagogik"), die ebenfalls große Mühe haben, von den einmal in den zwanziger Jahren getroffenen Prämissen aus den Anschluß an die gegenwärtige allgemeine pädagogische Diskussion wiederzufinden. Zwar bekennen sich alle Juristen zum Erziehungszweck der Jugendstrafe, aber die Vermittlung zwischen Strafgedanken und Erziehungsgedanken wird mit immer wiederkehrenden pädagogischen Leerformeln hergestellt, die aus der "pädagogischen Bewegung" der zwanziger Jahre stammen und verraten, daß nicht intellektuelle Schärfe und politische Bewußtheit, sondern fürsorgerisches Pathos und hoher persönlicher Einsatz die wichtigsten Attribute dieser Bewegung waren. Die wichtigste Aufgabe der Erziehungswissenschaft in diesem Bereich ist die Überprüfung derjenigen Vorstellungen über "Erziehung", die sich hier festgesetzt haben und in der Analyse ein höchst bemerkenswertes Syndrom ergeben würden. So wie die Dinge jetzt liegen, dient die "Erziehung" hier eher einer Verdoppelung der gesellschaftlichen Sanktionen als dem "Wohl des Zöglings". Insbesondere wird zu prüfen sein, ob das gesellschaftliche Interesse,

572

das sich in der Jugendgerichtsbarkeit manifestiert, identisch ist mit dem des Delinquenten; müßte man diese Frage ganz oder teilweise verneinen, so würde sich das "Wohl des Zöglings" mit neuen Inhalten füllen, und die in diesem Bereich tätigen Pädagogen müßten als "Anwalt" eines solchen Wohles eine gegenüber den juristischen Instanzen weitgehende Autonomie gewinnen (was wiederum die gesetzliche Grundlage entsprechend zu verändern hätte).

Appell an die gute Gesinnung

Diese allgemeinen Bemerkungen, die sich bei der Lektüre des genannten Sammelbandes aufdrängen, richten sich natürlich nicht gegen den Band selbst, der schwerlich etwas bringen kann, was es nicht gibt. Der schon erwähnte andere Sammelband von Busch/Edel "Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug" Internationale Probleme des Strafvollzugs an jungen Menschen" enthält 40 Originalbeiträge und ist als Symposion dem bekannten Strafvollzugsreformer Albert Krebs zum 70. Geburtstag gewidmet. Hier ist die Thematik weiter gespannt. Sie reicht - einschließlich einiger ausländischer Beiträge - von Arbeiten zur allgemeinen philosophischen Freiheitsdiskussion über historische Beiträge und Rechtsfragen im engeren Sinne bis zu einem eigenen Teil über "Die Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug als Aufgabe der Psychologie und Sozialpädagogik". Die kritischen Anmerkungen über die Rolle der Pädagogen im Jugendstrafvollzug, die über den Sammelband von Schaffstein gemacht wurden, gelten auch hier, wenngleich einige der juristischen Arbeiten - vor allem einige ausländische - sehr viel mehr gesellschaftskritische Nuancen verraten. Bei den pädagogischen Beiträgen dominiert aber auch hier der Appell an die gute bzw. zu bessernde Gesinnung, etwa des Jugendrichters. Psychoanalytische Beiträge fehlen - wie auch in Schaffsteins Band; die Psychiatrie ist wenigstens andeutungsweise vertreten. Besonders eklatant wird die Hilflosigkeit des pädagogischen Denkens in einem Beitrag von Hermann Riedel, Verfasser eines Kommentars zum Jugendwohlfahrtsgesetz, deutlich ("Maßnahmen nach Jugendwohlfahrts- und Jugendgerichtsgesetz unter dem Aspekt der Erziehung"). Die von ihm vertretene Einheit der Jugendhilfe dürfte, realisiert, kaum dem Delinquenten zugute kommen, wenn man liest: "Der junge Mensch soll erzogen werden zu einem brauchbaren Gliede der Gesellschaft, also zur Selbständigkeit in der Gesellschaft. Erziehungsziel ist Freiheit, aber nicht Willkür und Ungebundenheit, sondern Freiheit in Gebundenheit" (S. 170). Diese Banalität wird dann mit Hinweisen auf die alten Griechen und Luther untermauert. "Der Inhalt des Erziehungszieles ist identisch mit dem Ziel, dem der junge Mensch an sich zustreben müßte und, wenn er sich normal entwickelt, auch zustrebt" (S. 171). "Verwahrlosung ist ein Abirren von dem Erziehungsziel" (S. 175). Obwohl Riedel dann ausführlich den Verlust einer eindeutigen Wertordnung beklagt, an dem natürlich die "Theater- und Filmautoren" mitverantwortlich sind, fällt ihm nicht auf, daß er selbst von einer solchen Wertordnung ausgeht, wenn er selbstverständlich von "dem" Erziehungsziel spricht. Noch weniger geht ihm auf, wie ihm der Erziehungsbegriff unter der Hand zum autoritären Zugriff auf den Delinquenten ausschlagen muß, der zum bloßen Objekt wird, indem ihm ein abstraktes allgemeines Erziehungsziel übergestülpt und ihm noch eingeredet wird, daß er "eigentlich" selbst so sein wolle!

573

Zum Glück kann das ganze Buch nicht an diesem Beitrag gemessen werden. Andere pädagogisch relevante Beiträge, vor allem von Hans-Joachim Schneider über "Die Aufgabe der Schule bei der Verhütung und Behandlung der Kinder- und Jugendkriminalität" und von Max Busch über den Sozialarbeiter im Jugendstrafvollzug versöhnen dann wieder. Sehr instruktiv ist auch der präzise und gut belegte Erfahrungsbericht von Helga Einsele über den "Weg minderjähriger weiblicher Gefangener durch die halbe in die volle Freiheit" aus dem "Fliedner-Haus" in Frankfurt. Überhaupt bietet dieser Band, zusammen mit dem von Schaffstein, einen sehr guten Einblick in die gegenwärtige Problemlage der Jugendkriminologie. Allerdings fehlen, und das ist auffallend, in beiden Bänden Beitrage über die Entstehung von Jugendkriminalität sowie über Fragen der Rückfallprognose (von Einsele abgesehen).

Lotteriespiel: Prognose

Gerade die Prognose, Voraussagen also über die weitere Legalität, Moralität und Sozialität des Delinquenten, stellt ein Hauptproblem der Kriminologie dar und gilt vielen Autoren sogar als das wichtigste überhaupt. An ihr wird nicht nur der Erfolg der Strafverbüßung gemessen, von ihr hängen vielmehr auch juristisch relevante Entscheidungen ab wie im Falle der Aussetzung zur Bewährung. Nun ist rein logisch die Prognose eine Funktion der Ursache: Eine positive Prognose wird in dem Maße zuverlässig, wie die Ursachen der Kriminalität erkannt und während der Strafzeit beseitigt worden sind. Da jedoch die deutsche Kriminologie Ursachenforschung so gut wie gar nicht betreibt, sondern sich allenfalls einer Systematisierung des äußerlich erkennbaren Fehlverhaltens widmet, bleibt die Prognose folgerichtig trotz eines inzwischen erheblichen Aufwandes an Statistik eine Art von russischem Roulette. Dies ist auch - wenngleich anders formuliert - das Ergebnis der Untersuchung von Dieter Höbbel: "Bewährung des statistischen Prognoseverfahrens im Jugendstrafrecht". Höbbel hat vier "Prognosetafeln' einer Kritik unterzogen, indem er ihre Aussagekraft an der Untersuchung der Früh- und Rückfallkriminalität von 500 zu Jugendstrafen Verurteilten überprüfte. Das Ergebnis - das uns hier allein interessiert - ist: Das statistische Prognoseverfahren hat sich bisher nicht bewährt (S. 262), es ist nicht einmal dem "intuitiven Verfahren"überlegen, das in der Regel von Vollzugsbeamten aufgrund ihrer persönlichen Kenntnis des Delinquenten benutzt wird. "Demnach gilt der Ausspruch Exners, die intuitive Prognose sei nicht besser als die durch ein Los, weitgehend auch für die von uns kontrollierten Prognosetafeln. Das beweisen auch folgende 'Zufallsergebnisse', die wir zwei fiktiven Anstaltsbeamten unterstellen wollen. Anstaltsbeamter Nr. 1 ist weder im intuitiven noch im statistischen Prognoseverfahren ausgebildet. Er überläßt die Prognosen dem Zufall und entläßt der Einfachheit halber immer vier Jungen auf einmal. Dem linken Flügelmann stellt er eine gute Prognose, dem rechten eine schlechte Prognose Er hatte von 10 Prognosen 5 fragliche, 2 falsche und 3 richtige gestellt. Anstaltsbamter Nr. 2 ist aufgrund seiner jahrelangen Enttäuschungen zum Skeptiker geworden. Er stellt nur schlechte Prognosen. Alle 10 Prognosen sind eindeutig, und hätte er sie unseren Herforder Probanden gestellt, wären drei falsch und 7 richtig gewesen" (S. 264)

574

Die Ursache für dieses unbefriedigende Ergebnis sieht Höbbel jedoch lediglich im noch jugendlichen Alter der Delinquenten, das wegen seiner "Unfertigkeit" keine genauen Prognosen zulasse, und er empfiehlt, für die Zukunft statistische und intuitive Prognosen besser zu kombinieren. Man muß sich jedoch fragen, ob das Versagen der Prognose nicht mit dem Verzicht auf Ursachenforschung zusammenhängt und damit, daß statistische Faktorenanalysen nicht von sich aus schon zu theoretisch fundierten Aussagen führen, erst recht nicht im Hinblick auf den Einzelfall.

Die Subkultur des Gefängnisses

Ein weiteres Grundproblem der Kriminologie, das die Diskussion seit Jahrzehnten und gerade in unserer Zeit wieder neu beherrscht, ist der Widerspruch zwischen Kriminalstrafe und Erziehung bzw. zwischen "Sicherheit" und "Resozialisierung". Er prägt allen Einzelproblemen seinen Stempel auf und ist dadurch gekennzeichnet, daß das Prinzip der Kriminalstrafe gerade diejenigen Lebensinhalte entzieht oder verstümmelt, die unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung möglichst intensiv gelernt werden müßten, wie: Umgang mit der eigenen Freiheit, Aufnahme vertrauensvoller und differenzierter Sozialbeziehungen, Stabilisierung sexueller Beziehungen, planender Umgang mit Geld und Freizeit usw. Nicht nur für das Jugendstrafrecht, sondern auch für den Erwachsenenstrafvollzug hat sich zumindest in der Theorie der Resozialisierungsgedanke immer mehr durchgesetzt. Wie sehr jedoch in der Vollzugspraxis dieser Widerspruch der "Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug" sich auswirkt, zeigen Untersuchungen über die "totale Institution" des Gefängnisses. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist die Studie von Steffen Harbordt über "Die Subkultur des Gefängnisses", die zwar keine eigenen Erhebungen bringt, dafür aber eine umfangreiche - insbesondere amerikanische - Forschungsliteratur aufarbeitet und in einem eigenen theoretischen Zusammenhang interpretiert. Die Absicht ist, jene Widerstände gegen eine erfolgreiche Resozialisierung aufzuzeigen, die sich aus der "Insassenkultur" des Gefängnisses ergeben. Diese Untersuchung zeigt einmal mehr, "daß so unterschiedliche Strafzwecke wie Vergeltung und Resozialisierung von ein und derselben Organisation nicht gleichzeitig wirksam erfüllt werden können" (S. 4). Seit langem ist - vor allem aus der biographischen Literatur - bekannt, daß der Gefangene beim Eintritt ins Gefängnis eine doppelte geistige und seelische Anpassung vollziehen muß, die als "Prisonisation" bezeichnet wird und von Harbordt als "Prisonisierung" ins Deutsche übernommen wurde: einmal an die Anstaltsorganisation ( = Institutionalisierung) und zum anderen an die kriminelle Ideologie der Gefangenengemeinschaft ( = Ideologisierung). Harbordt interessiert vor allem der zweite Aspekt, der jedoch vom ersten nicht isoliert werden kann, denn die "Insassenkultur" ist nicht zuletzt abhängig von Art und Ausmaß des von der Anstalt ausgehenden sozialen Drucks, demgegenüber Selbstachtung nur aufrechterhalten werden kann durch eigenständige Normen in den sozialen Beziehungen. Ihre wichtigste: keine oder höchstens defensive - dem Schutze der eigenen Subkultur dienende - Zusammenarbeit mit der Anstalt. Kein Gefangener kann sich dieser Subkultur entziehen, die beherrscht wird von einer "Elite", von "extrem antisozial orientierten Kriminellen", nach deren Maß-

575

stäben die Mitgefangenen bewertet werden. lm ganzen entsteht das Bild einer ungemein reduzierten Sozialität, die archaisch-feudalistische Strukturen aufweist und wirtschaftlich auf der Basis des naturwüchsigen Tausches existiert. Wichtig ist nun aber die Einsicht, daß solche Subkulturen nicht deshalb entstehen, "weil die Kriminellen eben so sind", sondern weil der Charakter der "totalen Institution" sie geradezu erzwingt, wenngleich natürlich die soziale und kriminelle Herkunft der Gefangenen deren inhaltliche Ausprägung erheblich mitbestimmt. Als Fazit ergibt sich aus dieser Studie jedenfalls, daß, wer Resozialisierung will, das Gefängnis abschaffen muß. "Je mehr die soziale Situation, in die der Strafgefangene im Gefängnis gestellt wird, vom Leben in der freien Gesellschaft abweicht, um so weniger kann die Umerziehung durch Lernen und Übung bewirkt werden. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis zur Arbeit, Freiheit, Autorität usw.. sondern auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen (sowohl zu Stabspersonen wie zu Mitgefangenen). Tendenziell fördert die Situation im traditionellen Gefängnis (einschließlich Insassenkultur) Eigenschaften und Verhaltensweisen wie Egoismus, Mißgunst, Mißtrauen, Haß, Menschenverachtung, Zynismus, Gefühllosigkeit, Einzelgang, Ausbeutung, Heuchelei - das heißt der Insasse wird tendenziell asozialisiert statt resozialisiert".

Die Misere der totalen Institution

"Freizeit" ist einer der Bereiche, wo sich das Leben im Gefängnis von dem "draußen" nachhaltig unterscheidet; denn selbstverständlich unterliegt auch sie den Kontrollen der "totalen Institution". Das Buch von Klaus-Jürgen Mörs "Das Freizeitproblem im deutschen Erwachsenenstrafvollzug'' geht diesem Problem auf der Grundlage der vorhandenen Literatur sowie einer Befragung von 32 Strafanstalten nach. Mörs fragt nach der Bedeutung der Freizeit für den intendierten Resozialisierungsprozeß und veranschlagt sie sehr hoch, wobei es ihm allerdings nicht um die Freizeit der Insassenkultur geht, sondern um die von der Anstalt selbst angebotenen Freizeitbeschäftigungen. In Deutschland wird der ."sinnvollen Freizeitbeschäftigung" - im Unterschied zu anderen vergleichbaren Ländern - noch zu wenig Beachtung geschenkt. Hartnäckig hält sich vielmehr die Vorstellung, Freizeitangebote seien vor allem als "Vergünstigung" für "gutes Betragen" zu gewähren. Dahinter versteckt sich die bekannte Auffassung, nur durch "Arbeit um ihrer selbst willen" könne der Verbrecher gebessert werden. (Es ist ohnehin beklemmend, wie ungebrochen der KZ-Leitspruch "Arbeit macht frei" in den Gefängnissen und Fürsorgeheimen sich gehalten hat; es ist wirklich an der Zeit, einen "Strafvollzug nach Auschwitz" zu fordern.) Unter Aufbietung aller erreichbaren modernen Theorien über die Funktionen der Freizeit im Leben des modernen Menschen - bei den Pädagogen werden allerdings leider nur spekulativ-kulturkritische Autoren, nicht zum Beispiel Wolfgang Schulz und Paul Heimann herangezogen - geht Mörs diesem traditionellen Irrtum zu Leibe. Die Freizeitgestaltung im Strafvollzug kann nur dann einen Beitrag zur Resozialisierung leisten, wenn sie drei Funktionen erfüllt: die "existentielle", die "anstaltsinterne" und die "prophylaktische". Die "existentielle" Funktion gilt unabhängig von der Tatsache, daß es sich um Gefangene handelt, und zielt gleichsam auf "anthropologische Grundbedürfnisse" nach "Erholung", "Unterhaltung", Selbstentfal-

576

tung". Bei der "anstaltsinternen" Funktion geht es darum, ein Gegengewicht gegen die von Harbordt beschriebenen Folgen der "Prisonisierung" zu schaffen. "Prophylaktisch" schließlich soll die Freizeit insofern sein, als sie auf das Freizeitleben nach der Entlassung vorbereitet und die kriminogenen Einflüsse des Freizeitlebens zumindest mildert.

Obwohl sich Mörs gegen eine Verpflichtung des Gefangenen zur Teilnahme an Freizeitaktivitäten ausspricht, ihn vielmehr durch Differenzierung und Attraktivität des Angebots werben will, und obwohl er die Angebote nach den Maßstäben des Lebens "draußen" gemessen haben will, geraten seine Vorschläge dadurch in ein eigenartiges Zwielicht. daß sie trotz aller Kritik auf der Grundlage des bestehenden Systems der "totalen Institutionen" gemacht werden. So verdoppelt sich unter der Hand gewissermaßen der schon für das normale gesellschaftliche Leben geltende Widerspruch von Arbeit und Freizeit: Freizeit dient dazu, die Misere der totalen Institution, die doch abschaffbar wäre, zu mildern, und liefert damit den Anstalten ein falsches Alibi. Dieser Mangel resultiert nicht zuletzt aus der strukturell-funktionalen Methode der Arbeit, die auf das möglichst reibungslose Funktionieren bestehender sozialer Systeme spekuliert.

Unter dem Anspruch pädagogischer Autonomie

Diese Einschränkung gilt leider auch für die sehr beachtliche, umfassende Studie von Gerhard Deimling: "Theorie und Praxis des Jugendstrafvollzugs in pädagogischer Sicht", die unseren Bericht wieder auf das spezielle Gebiet der Jugendkriminologie zurückführt, obwohl gerade diese Arbeit zeigt, daß deren Probleme sich von denen der allgemeinen Kriminologie prinzipiell nicht unterscheiden. Deimling - selbst jahrelang als Oberlehrer in Vollzugsanstalten tätig, was dem Buch zweifellos zugute kam - hat eigentlich zwei Bücher in einem zusammengefaßt; denn der erste Teil ("Theoretische Analyse der pädagogischen und soziologischen Probleme des Strafvollzugs") ist mit dem zweiten ("Empirische Untersuchung des Jugendstrafvollzugs in NRW") nicht weiter verbunden, und auch der dritte Teil ("Ergebnisse, Folgerungen, Vorschläge") schlägt eigentlich keine Brücke zu den anderen Teilen. Dieses Buch, das alle bisher angesprochenen Probleme in sich enthält, verdiente eine detaillierte kritische Auseinandersetzung, für die hier leider nicht der Platz ist. Deshalb können hier nur einige Andeutungen gegeben werden. Deimling ist der Position der "pädagogischen Autonomie" verpflichtet. Diese ergibt zwar eine treffende Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse im Jugendstrafvollzug und der dort herrschenden pädagogischen Banauserie, stößt aber überall dort an eine charakteristische Grenze, wo es um die Reflexion des pädagogischen Anspruchs selber gehen müßte, vor allem um seine gesellschaftliche Dimension und um schichtenspezifische Aspekte. Es ist erstaunlich, daß von einem so intimen Kenner der Praxis die schichtenspezifische Problematik sowohl der Entstehung von Jugendkriminalität wie auch deren gesellschaftlicher Behandlung nahezu ignoriert wird; statt dessen dominieren weitgehend naiv mittelständische Leitbilder. So, wenn behauptet wird, im Jugendstrafvollzug sei eine typisch mittelständische Arbeits- und Berufsmoral anzutreffen (S. 109). Richtiger wäre wohl zu sagen, daß eine vom Mittelstand für die Unterschicht formulierte Arbeits- und

577

Berufsgesinnung vorliegt; denn die charakteristisch unterprivilegierten Arbeiten dort erinnern eher an die Tätigkeiten von Dienstboten als an die des Mittelstandes. Noch drastischer kommt diese Einstellung in den Erörterungen über Freizeit zum Ausdruck. Deimling sieht klar, daß die Freizeitangebote des Mittelstandes dem Gefängnisinsassen möglicherweise die Rückkehr in sein von anderen Freizeitgewohnheiten bestimmtes soziales Milieu erschweren werden. Daher solle man ihm "Mut machen", "sich im Ernstfall sogar gegen seine Eltern, ehemaligen Freunde und Bekannten zu entscheiden und sich ein völlig neues, seinen geläuterten Vorstellungen entsprechendes soziales Milieu frei zu wählen" (S. 132). Ahnungsloser im Hinblick auf die Bedingungen des Lebens in Unterschichten kann man kaum noch argumentieren! Dem widerspricht nur scheinbar, wenn in diesem Zusammenhang von den "Interessen und Bedürfnissen der Gefangenen" gesprochen wird, von denen die pädagogische Arbeit auszugehen habe. Bei genauerem Hinsehen sind damit nicht gemeint die real vorliegenden Interessen und Bedürfnisse, sondern eher deren "Idealität", wie sie sich der autonomen pädagogischen Reflexion darbieten. Der so fundierte Anspruch der autonomen Pädagogik gegenüber der herrschenden Dominanz der Juristen ähnelt daher eher einem Kompetenzwettbewerb im Hinblick auf die Berechtigung von Ansprüchen an den Delinquenten, als daß sie Prinzipien, denen er unterworfen wird, in Frage stellt. Kriminalpädagogik kritisiert so nicht die Ziele der Änderung, sie dient sich lediglich an, die bisher gültigen Ziele effektvoller zu verwirklichen: "Erziehung und Bildung des jungen Gefangenen müssen als Teile einer kriminalpolitischen Gesamtkonzeption verstanden werden, das heißt, sie sind der Ausdruck einer Absicht, auf eine spezifische Weise straffällig gewordene junge Menschen an der Wiederholung rechtsbrecherischer Handlungen zu hindern, sie von der sozialen Gefährlichkeit ihrer Taten zu überzeugen und sie zur Anerkennung und Befolgung der geltenden Rechtsnorm zu ermutigen. Erziehung und Bildung sind somit zweckrational bestimmte Mittel im Gesamtzusammenhang eines kriminalpolitischen Instrumentariums, dessen Anwendung auf der wissenschaftlich begründeten Einsicht in die Veränderbarkeit und Beeinflußbarkeit des Menschen durch Erziehung und auf der sowohl philosophisch als auch theologisch motivierten Achtung vor der Würde eines jeden Menschen beruht" (S. 291). Und immer wieder postuliert Deimling Erziehungsziele, die der schichtenspezifischen Problematik der Delinquenten hohnsprechen: "Die soziale Integration jugendlicher Rechtsbrecher hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es der Erziehung im Jugendstrafvollzug gelingt, sie vor ihrer Entlassung zu re-individualisieren, das heißt sie aus allen Gruppenzwängen zu befreien und sie in ihr Recht als eigenverantwortliche Persönlichkeiten einzusetzen" (S. 296). Auch "Kritik" soll der Delinquente lernen, aber vor allem gegen sich selbst (S. 297 ff.). Eine besonders hohe Bedeutung mißt Deimling dem "erziehenden Unterricht" bei, der fast zum Kern des pädagogisierten Strafvollzugs wird. In ihm lernt der Delinquent unter anderem, "die Frage nach der Wahrheit nicht mehr wie bisher unter dem Aspekt der Nützlichkeit, sondern unter dem der intellektuellen Redlichkeit zu stellen" (S. 298). Deutlicher kann man die Absicht, ihm seine ohnehin verkrüppelte Interessenwahrnehmung ganz auszutreiben, nicht formulieren.

Diese mittelständisch-bürgerliche, durch eine explizierte religiös nuancierte Befangenheit hätte Deimling eigentlich aufgehen müssen bei der Analyse

578

der Mentalität der Vollzugsbeamten, die den empirischen Teil der Arbeit ausmacht. Ihr Wert ist schon deshalb beachtlich, weil sie die erste ihrer Art in der Bundesrepublik ist. Deimling befragte Beamte des Aufsichtsstabes und des pädagogischen Stabes, um soziale Herkunft, Ausbildung und Fortbildung, Struktur und Funktion des Jugendstrafvollzugs, die Mentalität und Berufseinstellung der Vollzugsbeamten, ihr Selbstverständnis als "Erzieher", ihre Ansichten über Verbrechen und Strafe und die praktizierten Erziehungsstile zu ermitteln. Diese Untersuchung scheint mir gerade deshalb der wichtigste Teil der Arbeit zu sein, weil bisher zweifellos Vorurteile und fehlende Informationen das Bild des Vollzugsbeamten im Jugendstrafrecht geprägt haben, das nun zurechtgerückt werden kann. Aus den zahlreichen interessanten Ergebnissen seien hier einige über das "pädagogische Selbstverständnis" herausgegriffen. Die Vollzugsbeamten werden nicht speziell für den Dienst in Jugendstrafanstalten ausgebildet, die pädagogisch relevanten Fächer nehmen nur etwa 5 Prozent des gesamten Unterrichts in der Ausbildung ein. Die Aufsichts- und Werkbeamten - es gibt im Vollzug eine sehr diffizile, mit Ressentiments und Statusproblemen durchsetzte Hierarchie - halten sich gleichwohl für Erzieher, indem sie "jede Art des Umgangs mit jungen Menschen für Erziehung ... halten und denjenigen, der es unmittelbar oder mittelbar mit Jugendlichen zu tun hat, einen 'Erzieher' ... nennen" (S. 242). Entsprechend der kleinbürgerlich-handwerksorientierten Herkunft der Beamten halten 39 Prozent der Befragten die Berufsausbildung und 29 Prozent die Arbeit überhaupt für die wichtigste erzieherische Maßnahme, für 91 Prozent könnte dagegen der von Lehrern erteilte Unterricht fehlen, ohne daß der Strafvollzug seine pädagogische Qualifikation einbüßte. Was hierin deutlich wird - von Deimling allerdings nicht erkannt, weil unter dem andersgearteten Leitbild der "pädagogischen Autonomie" von ihm selbst vertreten - ist der Charakter des eindeutigen Gewaltverhältnisses über den "Zögling", bei dem es nur eine Frage der technischen Effektivität ist, ob die pädagogische oder die strafrechtliche Gewalt "erfolgreicher" ist.

Aufgrund seiner Ergebnisse plädiert Deimling für eine strikte Trennung zwischen pädagogischen und Aufsichtsfunktionen (S. 303 ff.). Der Stab der Aufsichtsbeamten wäre dafür verantwortlich, für die Erziehung der Gefangenen optimale Voraussetzungen zu schaffen. "Die Zwangsausübung erhält ihre Rechtfertigung - aber auch ihre Begrenzung - durch den Strafzweck, der in der Erziehung des Zöglings besteht" (S. 304). Vielleicht brächte eine solche Kompetenzaufteilung wirklich einige Fortschritte; sie würde aber das Aufsichtspersonal gegenüber dem pädagogischen Stab prinzipiell unterprivilegieren, also die gegenwärtige Hierarchie lediglich umkehren - mit sehr unerwünschten sozialpsychologischen Folgen. Außerdem muß uns die Geschichte der Fürsorgeerziehungs-Anstalten skeptisch stimmen, in denen es ja die Chance gegeben hätte, die Dominanz pädagogischer Gesichtspunkte durchzusetzen. Sehr wahrscheinlich steht die "unpädagogische" Mentalität der heutigen Vollzugsbeamten der Mentalität der jugendlichen Gefangenen erheblich näher, als eine mit allerlei anthropologischem Tiefsinn ausgestattete "Erziehung", gegen deren psychisch raffinierte Manipulationen das überwiegend einfache Gemüt des Delinquenten wehrlos ist. Fortschrittlich wäre Deimlings Vorschlag also erst dann, wenn die Ziel- und Methodenstrategien in ganz anderer Weise bestimmt würden. Solange die Kriminalstrafe und

579

vor allem deren stigmatisierende und ex-sozialisierende Nachwirkungen nicht überhaupt abgeschafft werden und durch eine gezielte Strategie der Beseitigung oder Milderung erworbener Lern- und Sozialisationsdefizite ersetzt wird, solange bleiben alle noch so gut gemeinten pädagogischen Reformideen ein Schlag ins Leere, ja, sie müssen vom Gesichtspunkt des Gefangenen als zusätzliche, besonders heimtückische Bestrafung erlebt werden.

Die Frage nach den Ursachen

Wie schon erwähnt, ist die offizielle Jugendkriminologie durch einen Verzicht auf Ursachenforschung gekennzeichnet. Das liegt nicht nur an der Forschungslage selbst, also etwa daran, daß die bisherigen Ergebnisse zu widersprüchlich und oft auch zu spekulativ sind; dies wäre ja zu ändern, wenn die Gesellschaft an einer genauen Forschung interessiert wäre und sie systematisch betriebe. Wichtiger ist, daß für ein Schuldstrafrecht, wie es bei uns auch im Jugendstrafrecht immer noch vorherrscht, die Ursachenforschung weitgehend entbehrlich ist. Die Gesetzwidrigkeit der Tat zu ermitteln, ist eine rein juristische Frage, und zur Berücksichtigung der "Täterpersönlichkeit" ( = "Täterstrafrecht") scheint die Erörterung über reale Konflikte und "Gesinnungen" auf der Basis des "gesunden Menschenverstandes" auszureichen. Die beiden Grenzfälle, Übergabe an Heilanstalten bei "Geistesgestörtheit" einerseits und Auslieferung an Pädagogen zwecks "Erziehung" andererseits, haben die Strafgerichte eher davon entlastet, den Ursachen wirklich auf den Grund zu gehen. Ursachenforschung enthält immer kritische Brisanz gegen die Strafpraxis, und zwar nicht nur im Detail, sondern im Prinzip; sie muß also vom herrschenden Strafrechtssystem als systemfeindlich angesehen werden, denn sie stellt dessen Prämisse, den Zusammenhang von individueller Willensfreiheit und individueller Schuld, grundsätzlich in Frage, sei es weil Willensfreiheit überhaupt nicht erst angenommen werden kann, sei es, weil sie zwar angenommen werden kann - die Rede von "Schuld" also sinnvoll ist - aber die Mittel der Kriminalstrafen nicht als Mittel zur Beseitigung der kriminogenen Faktoren, sondern eher als solche zu deren Verfestigung erkannt werden. Das zeigen nicht zuletzt Untersuchungen über das Leben in den Gefängnissen. Ursachenforschung konfrontiert die Gesellschaft unausweichlich mit ihren eigenen Schäden, Ungerechtigkeiten und Unterprivilegierungen. Deshalb in erster Linie glaubt eine nach wie vor als Auftragswissenschaft des Strafrechts etablierte Kriminologie auf sie verzichten zu können. Die Sonderbestimmungen des Jugendstrafrechts sind da kein Gegenbeweis; denn erstens dringen sie kaum bis zur Vollzugspraxis durch, und zweitens kann man die jungen Straftäter als wegen ihres Alters noch ganz oder partiell Unmündige ansehen, deren Sonderbehandlung die Strafpraxis gegenüber Erwachsenen eher noch ideologisch zu rechtfertigen vermag.

Die letzten vier hier anzuzeigenden Bücher beschäftigen sich mit der Ursachenproblematik in ganz unterschiedlicher Weise. Der kleine Sammelband von Gustav Nass: "Kinderkriminalität", im Namen der "Deutschen Gesellschaft für vorbeugende Verbrechensbekämpfung" herausgegeben, die sich vorwiegend mit der Erforschung von Verbrechensursachen befaßt und diese zu Recht schon in der Kind-

580

heit lokalisiert, enthält, offensichtlich für Laien geschrieben, sechs Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Themas, zum Beispiel aus der Erfahrung der Erziehungsberatung und des Jugendstrafvollzugs. Abgesehen von dem ersten Beitrag von Nass über "Kinderkriminalität und Entwicklung des Aggressionstriebes", der einen gewissen theoretisch-systematischen Anspruch erhebt, aber mit einer etwas krausen Triebtheorie arbeitet, bei der die Zahl der Triebe sich erstaunlich vermehrt, überzeugen die Beiträge durch umfangreiches Fallmaterial, das ausgiebig interpretiert wird. Als Beitrag zur selbständigen Forschung ist das Bändchen jedoch nicht gemeint und sollte daher auch nicht an entsprechenden Maßstäben gemessen werden.

Das "Gewissen" gilt gemeinhin als diejenige internalisierte Instanz, die über normgerechtes oder normwidriges Verhalten entscheidet. Es liegt daher nahe, vorliegende Theorien über das Gewissen, die Gewissensbildung und deren Mißlingen in die Jugendkriminologie als Teilaspekt der Ursachenforschung einzubringen. Diese Aufgabe hat Lutz Hupperschwiller in seinem Buch "Gewissen und Gewissensbildung in jugendkriminologischer Sicht" übernommen. Nun verführt kaum ein Gegenstand so wie dieser zur Spekulation. Der Autor erkennt zunächst richtig, daß der einzig tragfähige, weil in eine umfassende Theorie des Psychischen eingebaute theoretische Ansatz dafür in der psychoanalytischen Lehre Freuds vorliegt. Es hätte daher nahegelegen, diesen Ansatz aufzugreifen und unter Berücksichtigung neuerer Forschungen auszuweiten bzw. zu korrigieren. Leider geht Hupperschwiller diesen Weg nicht, er versucht vielmehr einen eigenen methodischen Ansatz, den er "Phänomenanalyse" (S. 2) nennt. Er stützt sich auf Schilderungen und Berichte über "Gewissenserlebnisse" - insbesondere aus den Arbeiten Zulligers - mit dem Ziel, daraus im ersten Teil "Wesen, Struktur und Funktionen des Gewissens" zu ermitteln. Dieses Verfahren zwingt zu sehr problematischen Erörterungen wie der, ob der primäre Verhaltensregulator die Norm, die dahinterstehende Instanz oder ein diese bestimmender Wert sei, eine Frage, die dann ohne erkennbare Gründe zugunsten der Norm entschieden wird. An diesem Beispiel (S. 13) wird bereits deutlich, daß der Autor wertphilosophische Aspekte mit den lediglich an psychischen Mechanismen orientierten psychoanalytischen Aspekten zu verbinden trachtet. Nach meinem Eindruck gelingt dies nicht, sondern führt eher dazu, daß die kritische Brisanz des Freudschen Ausgangspunktes soweit gebremst wird, daß er als Technik zur Wiederherstellung der durch Gewissensbruch verübten Delinquenz herhalten kann; denn abgesehen von den relativ wenigen Fällen des kriminellen Gewissens, wo die Gewissensbildung zwar funktioniert hat, aber mit den "falschen" Inhalten versehen wurde, muß die allgemeinverbindliche Norm nun nicht mehr hinterfragt werden. Der zweite Teil über "Gewissensanlage und der Prozeß der Gewissensbildung" und der dritte Teil über "Möglichkeiten der Fehlentwicklung und der Beeinträchtigung (Entmachtung) des Gewissens" stützen sich wieder weitgehend auf psycho-analytische Kenntnisse. So gut gemeint die Absicht des Bandes ist, unter dem Begriff "Gewissen" der erstarrten Jugendkriminologie neue Impulse zur Ursachenforschung zu erschließen - am Ende ist man eigentlich nicht klüger als zuvor. Man sieht sich unter diesem Begriff unversehens einem scheinbar selbständigen Organismus gegenüber, der "spricht" und "angesprochen werden" kann und wie ein weiser, aber unnahbarer Vater das Leben regiert. Kein Wunder, daß dabei die

581

tautologischen Aussagen nur so sprießen, wie: "Jugendliche mit gut entwickeltem Gewissen werden in viel geringerem Maße straffällig als Jugendliche ohne gut entwickeltes Gewissen" (S. 115). Wer hätte das schon bezweifelt?

Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur

Auffallend bei allen bisher besprochenen Arbeiten, die sich vorwiegend oder nur am Rande mit den Ursachen von Kriminalität beschäftigen, ist, daß sie die Frage nach der sozio-ökonomischen Bedingtheit des Verbrechens übergehen, obwohl die Überrepräsentierung der Delinquenten aus der Unterschicht jedermann ins Auge fällt. (Es kann natürlich auch so sein, daß die Kriminalität der Unterschichten eher entdeckt wird und das typische Verbrechen der Oberschicht, wie Wirtschaftskriminalität, nicht sonderlich nachhaltig verfolgt wird; vieles spricht in der Tat dafür, daß sowohl die Definition des Verbrechens wie die Art seiner Verfolgung klassenorientiert ist, also in erster Linie von oben nach unten erfolgt.) Dieser Frage nachzugehen, ist das erkenntnisleitende Interesse des in diesem Zusammenhang zweifellos wichtigsten Buches von Tilman Moser: "Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur". Es enthält vor allem den Versuch, die umfangreiche amerikanische Diskussion der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten in dem Bestreben, zwischen den soziologischen Theorien einerseits und den psychologisch-psychoanalytischen Theorien andererseits eine Vermittlung herzustellen. Diese sucht Moser unter dem Leitmotiv der "Sozialisation" bzw. der mißlungenen Sozialisation herzustellen. Er geht dabei zu Recht von der Überlegung aus, daß diese Vermittlung nicht durch abstrakte theoretische Vergleiche, Induktionen oder Deduktionen hergestellt werden kann, sondern nur dann, wenn sich ein Gegenstand anbietet, der nicht logisches Produkt zweier Disziplinen, sondern eine gesellschaftlich-praktische Realität ist, die ihrerseits Aufklärung erheischt und zu diesem Zwecke auf die Erkenntnis-Strategien zweier verschiedener Disziplinen angewiesen ist. Als diese gesellschaftliche Praxis gilt ihm die Sozialisation, als gelungene oder gescheiterte. Man tut diesem Buch keinen Abbruch, wenn man darauf hinweist, daß es an diesem entscheidenden Punkte Fragment geblieben ist: eine aus seinem Ansatz resultierende Theorie der (mißlungenen) Sozialisation ist Moser schuldig geblieben. Aber Moser hat die deutsche Kriminologie mit seinem Ansatz, wie der Vergleich mit den bisher besprochenen Arbeiten zeigt, einen großen Schritt nach vorn gebracht, hinter den man künftig nicht wieder zurückgehen kann. Dies gilt auch dann, wenn man Mosers vehemente Kritik an den soziologischen Theorien abweichenden Verhaltens nicht ganz überzeugend findet. Geht man im allgemeinen - wie bei der Arbeit über das Gewissen - in der Ursachenforschung allenfalls auf die Fehlhaltungen der familiären Erziehung zurück, so hinterfragt Moser diesen Zusammenhang: Warum machen Unterschichten-Familien soviel häufiger diese Erziehungsfehler als andere? Es gibt offenbar in der Unterschicht "potentiell kriminogene Sozialisationsbedingungen" (S. 291 ff.), zu denen die speziellen "Erziehungsstile" und "Straftechniken", eine "kriminogene Familienstruktur" sowie die Auswirkungen des "overcrowding", der Überfüllung enger Wohnungen und des daraus resultierenden Mangels an Privatheit und Indvidualität, gehören. Alle diese Defizite charakterisieren spezielle Lebenserfahrungen und Lebensbedingungen der Unterschicht. Wenn man aber davon

582

ausgehen darf, "daß unbewußte Mechanismen allen Menschen gemeinsam sind, ... daß Elemente der psychogenetischen Entwicklung wie Identifikation, ödipale Konflikte, Geschwisterrivalität und psychosexuelle Entwicklungsmuster grundlegend für Menschen aller Schichten sind", dann muß bei der Unterschicht "das Maß ihrer Entbehrung als brutale Abart von Sozialisationserfahrungen beschrieben und begründet werden" (S. 316). Abgekürzt ausgedrückt: Die reduzierten sozio-ökonomischen Bedingungen der Unterschicht potenzieren sich noch einmal in den daraus resultierenden reduzierten Erziehungsbedingungen, die wiederum eine optimale Sozialisierung erheblich erschweren; der Nachwuchs der Unterschicht ist demnach doppelt benachteiligt: durch die sozio-ökonomischen und erzieherischen Bedingungen des Heranwachsens. In dieser Konstellation liegt die Wurzel krimineller Dispositionen. "Kriminalität scheint eine verzweifelte, anarchische und destruktive Weise der Umkehr erlebter Ablehnung und Feindseligkeit gegen die Gesellschaft zu sein ... . Erstaunlich ist, in welchem Ausmaß die Gesellschaft diesen Kindern Zeit läßt, sich zu Kriminellen zu entfalten. Sie kümmert sich kaum um sie, solange sie Opfer sind. Erst wenn die Gesellschaft sich selbst als Opfer fühlen oder wenigstens darstellen kann, greift sie ein. Dann aber so wie verwahrloste und unreife Eltern, die blind zuschlagen, wenn ihnen das Gezeter und die Streiche der von ihnen vernachlässigten Kinder auf die Nerven gehen, wenn das zornige Bedürfnis, sich Ruhe zu verschaffen, zum Hauptmotiv des Eingriffs wird" (S. 346 f.). Folgerichtig muß eine später einsetzende Bestrafung als widersinnig erkannt werden: Es erscheint "absurd, Resozialisierung in Form einer um Jahrzehnte zu spät kommenden Groteske nach der endgültigen Asozialisierung durch die Strafe zu veranstalten". Die vorliegenden Forschungsergebnisse "verlangen eine Sozialisierung, die Gewährung minimaler Nachhol- und Kompensationschancen für Kinder, die all das nicht erlebt haben, was das vom Gesetz geforderte Maß an Konformität lohnend macht" (S. 350). Zu beachten bleibt allerdings, daß Moser bei alldem von einer nicht weiter bewiesenen Prämisse ausgeht, nämlich davon, daß die psychogenetischen Entwicklungsmuster "grundlegend für Menschen aller Schichten sind". Gerade wegen der erheblichen Konsequenzen, die Moser aus dieser Prämisse zieht, hätte er sie stringenter beweisen oder wenigstens begründen müssen. Nicht nur hier zeigt sich, daß Moser gelegentlich zu schnell die Partei der Psychoanalyse gegen die Soziologie ergreift.

Der Titel der Schrift von Karl-Dieter Opp "Kriminalität und Gesellschaftsstruktur" verspricht ähnliche Überlegungen wie die Mosers. Opp geht es jedoch um etwas anderes. Er sieht in der Misere der Kriminalitätsforschung, genauer: der Erforschung abweichenden Verhaltens, lediglich das Defizit an logischer Bearbeitung der ihr zugrunde gelegten Theorien; es würde wild darauflos geforscht, ohne daß man sich die Mühe mache, durch logische Bearbeitung bisher vorliegender Theorien systematische Forschungsstrategien zu entwickeln. Diese Forderung scheint einleuchtend, bis man entdeckt, daß sie nur eine ganz bestimmte Theorie im Auge hat, die man "logisch-analytisch" nennen könnte. So sollen etwa Theorien abweichenden Verhaltens nur als "wenn - dann" - oder "je - desto" -Aussagen formuliert werden. Die prinzipielle wissenschaftstheoretische Problematik dieser Position ist in den letzten Jahren ausgiebig im sogenannten "Positivismus-Streit" diskutiert worden, so daß wir sie hier nicht weiter zu verfolgen brauchen. Unabhängig davon kann Opp wenig überzeugen, wenn er sein Verständnis von

583

Theorie nun im Buch an einigen vorliegenden Theorien abweichenden Verhaltens exemplifiziert, indem er die dort vorliegenden Aussagen als Hypothesen faßt und zu "verbessern" trachtet. Den Eindruck der Verbesserung hat man wahrlich nicht, eher den einer penetranten Schulmeisterei. Sicherlich könnten bestimmte Forschungen auf diese Weise präzisiert werden, und sicherlich kann eine derart logisch-analytische Kritik an bereits vorliegenden Forschungen nur nützlich sein. Aber gerade nach der Lektüre des Buches von Moser muß man es für gänzlich abwegig halten, dieses Verfahren nun zum einzigen Ausgangspunkt aller Forschung zu machen. Eine entsetzliche Verarmung der Perspektiven und Hypothesen wäre die Folge; denn selbst die bewußt theorielosen, rein statistischen Mammutuntersuchungen des Ehepaares Glueck sind von unschätzbarer Bedeutung gewesen. Die Problematik der gegenwärtigen Kriminologie scheint weniger darin zu liegen, daß sie über nicht genügend logisch strukturierte Theorien verfügt, als vielmehr darin, daß sie eine Reihe von Fragen aus politisch-gesellschaftlichen Gründen tabuiert. War die Kriminologie bisher im wesentlichen eine Erfüllungswissenschaft der Rechtsprechung, so versucht sie Opp nun zu einer Berufsideologie von Forschern zu doktrinieren, denen die gesellschaftlich-praktische Relevanz ihrer Arbeit offenbar zweitrangig ist; denn in der gesellschaftlichen Praxis wird nicht "logisch-analytisch" gedacht, sondern gesamtgesellschaftlich-total. Und diese Vorstellungen gilt es nicht abzuschaffen, sondern durch Kritik rational zu verbessern. Dazu liefert die logisch-analytische Kritik von Opp gewiß einen notwendigen, aber auch relativ bescheidenen Beitrag.

Das Dilemma und die Konsequenzen

Versuchen wir am Schluß noch einmal einige Gesichtspunkte zum "Dilemma" der Jugendkriminologie festzuhalten, wie sie sich aus dem - keineswegs vollständigen - Literaturbericht darzustellen scheinen:

1. Nach wie vor ist die Jugendkriminologie eine Ausführungswissenschaft der herrschenden Rechtsprechung, die zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht in der Praxis viel weniger unterscheidet, als die gesellschaftliche Ideologie es wahrhaben will. Zwar werden gerade in den letzten Jahren "aus jugendkriminologischer Sicht" Ergebnisse benachbarter Humanwissenschaften einbezogen, aber meist so, daß die grundlegenden Prämissen nicht erschüttert werden.

2. Zu diesen grundlegenden Prämissen gehört, daß Kriminalstrafe sein muß. Diese Prämisse impliziert eine Reihe weiterer Voraussetzungen, zum Beispiel die, daß alle vor dem Gesetz gleich seien und daher auch prinzipiell die gleiche Chance zum legalen Leben hätten.

3. Der in diesem Bereich herrschende Begriff von "Erziehung" hat sich mit dem Tatbestand der Kriminalstrafe längst ausgesöhnt und strebt allenfalls symptomatische Verbesserungen im System an. Trotz aller ideologischen Verbrämungen tritt das mit Erziehung Gemeinte dem delinquenten Jugendlichen objektiv wie subjektiv als eine Art von psychologischer Verdoppelung der Kriminalstrafe entgegen. Das liegt wesentlich daran, daß die Mängel des Delinquenten primär als den (mittelständisch-kleinbürgerlichen) Erwartungen widersprechende Gesin-

584

nungsdefizite, kaum als Lern- und Erfahrungsdefizite eigener Art interpretiert werden.

4. Die auf die Probleme der Jugendkriminologie spezialisierte Erziehungswissenschaft hat es nicht vermocht, Distanz zur herrschenden Strafgewalt zu gewinnen und das von ihr proklamierte "Wohl des Kindes" gegen diese durchzusetzen. Allzu sehr verhaftet in den Vorstellungen bürgerlicher Sitte, Ordnung und Rechtschaffenheit hat sie sich schon in den zwanziger Jahren gegen psychoanalytische Erkenntnisse ebenso gesperrt wie gegen die Erkenntnis von den für die Unterschicht spezifischen kriminogenen Sozialisationsbedingungen und deren sozioökonomische Ursachen. Sie definierte vielmehr objektive Verhältnisse in subjektive (zum Beispiel familiäre) Fehlleistungen um. Inzwischen ist sie damit offenbar am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Nötig wäre, jugendliche Delinquenz zu begreifen als biographisch früh disponiertes Verhaltenssyndrom, das aus mißlungener Sozialisation resultiert, ferner das "Wohl des Kindes" als Recht auf rechtzeitige optimale Sozialisation oder wenigstens verspätete Nachhol-Sozialisation zu bestimmen und die daraus resultierenden Lern- und Erfahrungsbedürfnisse mit aller gebotenen Schärfe gegen widerstrebende Interessen, zum Beispiel des Strafrechts, durchzusetzen. Dabei müssen die Maximen und Praktiken des geltenden Strafrechts notwendig als Ausdruck gesellschaftlicher Partikular-lnteressen erkannt werden, deren Überführung in gesamtgesellschaftliche Dignität erst noch politisch zu leisten ist.

5. Der wissenschaftliche Verbündete eines solchen Engagements wäre in jedem Fall die Ursachenforschung. Sie in erster Linie kann die herrschende Ideologie, die sich ihrer nicht ohne Grund erwehrt, in Frage stellen und zu neuen Einsichten und Praktiken führen.

6. Die wichtigste wissenschaftliche Aufgabe für die nächste Zeit ist die weitere Bearbeitung der von Tilman Moser begonnenen Verbindung von soziologischen und psychoanalytischen Theorien der Delinquenz zu einer umfassenden Theorie der Sozialisation, die es erlaubt, erfolgreiche Strategien für ein Programm der "Nachhol-Sozialisation" zu entwickeln. Darin bestünde das einzige diskutable Ziel einer pädagogisch orientierten Jugendkriminologie - unabhängig von der Höhe der dabei erzielten Erfolgsquote. Sollte sich herausstellen, daß für bestimmte Täter-Typen eine derartige Nachhol-Sozialisation grundsätzlich nicht organisiert werden kann, so wäre für diese Fälle die Pädagogik am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt und müßte durch anders geartete und anders begründete gesellschaftliche Maßnahmen ersetzt werden.

7. Die optimale Verbesserung der sozio-ökonomischen Bedingungen der Unterschicht unter dem Aspekt der Verbesserung der Sozialisationsbedingungen im ganzen (und nicht nur der finanziellen Verbesserung) gehört selbstverständlich in den Zusammenhang einer solchen pädagogischen Theorie.

8. Im Gegensatz zu den bisher üblichen mittelständisch-kleinbürgerlichen Leitvorstellungen über die Erziehung jugendlicher Delinquenten wäre stärker auf die "Bezugsgruppen-Gemäßheit" pädagogischer Strategien zu achten, das heißt darauf, daß die angestrebten Lern- und Erfahrungsinhalte im sozialen Herkunftsmilieu kommunizierbar bleiben. Solange die sozio-ökonomischen Benachteiligun-

585

gen der Unterschicht nicht politisch beseitigt werden können, besteht die wichtigste pädagogische Aufgabe darin, unter den gegebenen Bedingungen realistischere und legalere Möglichkeiten zur Konfliktlösung, zur Interessendurchsetzung und zur Bedürfnisbefriedigung lernen zu lassen. Im Rahmen einer so verstandenen Strategie könnte die Rede vom "Wohl des Zöglings" wieder einen fortschrittlichen, demokratischen Klang erhalten.
 
 

Jugendstrafrecht. Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts (Wege der Forschung, Band 116). Hrsg. von Friedrich Schaffstein in Verbindung mit Olaf Miehe. 565 S., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1968, DM 45,80

Max Busch/Gottfried Edel: Erziehung zur Freiheit durch Freiheitsentzug. Internationale Probleme des Strafvollzugs an jungen Menschen (Jugend im Blickpunkt). 455 S., Hermann Luchterhand-Verlag, Neuwied-Berlin 1969, DM 19,80

Dieter Höbbel: Bewährung des statistischen Prognose-Verfahrens im Jugendstrafrecht. Zugleich eine Untersuchung der Früh- und Rückfallskriminalität von 500 zu Jugendstrafe Verurteilten (Kriminologische Studien Band 1). 266 S., Verlag Otto Schwartz und Co., Göttingen 1968, DM 14,80

Steffen Harbordt: Die Subkultur des Gefängnisses. Eine soziologische Studie zur Resozialisierung (Beiträge zur Strafvollzugswissenschaft Heft 1). 107 S., Ferdinand EnkeVerlag Stuttgart 1967, DM 24,00

Klaus-Jürgen Mörs: Das Freizeitproblem im deutschen Erwachsenenstrafvollzug (Beiträge zur Strafvollzugswissenschaft Heft 3). 171 S., Ferdinand Enke-Verlag, Stuttgart 1969, DM 27,00

Gerhard Deimling: Theorie und Praxis des Jugendstrafvollzugs in pädagogischer Sicht. Dargestellt am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen. Erfahrungen, empirische Untersuchungen, Folgerungen und Vorschläge (Jugend im Blickpunkt). 348 S., Hermann Luchterhand-Verlag, Neuwied-Berlin 1969, DM 19,80

Kinderkriminalität. Ursachen und Vorbeugung. Hrsg. von Gustav Nass (Schriftenreihe zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung). 136 S., Limes-Verlag, Wiesbaden 1969

Lutz Hupperschwiller: Familie und Jugendkriminalität Band II. Gewissen und Gewissensbildung in jugendkriminologischer Sicht (Kriminologie. Abhandlungen über abwegiges Sozialverhalten). 130 S., Ferdinand Enke-Verlag, Stuttgart 1970, DM 25,00

Tilman Moser: Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur. Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und psychoanalytischen Theorien des Verbrechens. 378 S., Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1970, DM 18,00

Karl-Dieter Opp: Kriminalität und Gesellschaftsstruktur. Eine kritische Analyse soziologischer Theorien abweichenden Verhaltens (Strafrecht, Strafverfahren, Kriminologie, Band 26), 176 S., Luchterhand-Verlag, Neuwied-Berlin 1968, DM 19,80 

 

 

72. Vergessen will gelernt sein (1970)

Schlaglöcher auf dem Weg zur Lerngesellschaft.

(In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Nr. 40/4.10.1970)
 

Es scheint, als habe Lenins beschwörender Appell: "Lernen, Lernen, Lernen!", mit dem er seinem rückständigen Land den Sprung nach vorn verschaffen wollte, auch bei uns Jahrzehnte später Gehör gefunden. Noch vor wenigen Jahren lag unser Bildungswesen in einem idyllischen Dornröschenschlaf: Die Dreiteilung unseres Bildungswesens galt als angemessen für das angeblich "natürliche" Begabungsgefälle in unserem Volke; die wenig gegliederte Landschule war auf dem Rücken der Konfessionalisierung bis in die Städte vorgedrungen. Den Lehrplänen konnte man nur mit Mühe ansehen, ob sie fürs 18. oder 20. Jahrhundert konzipiert waren. Erwachsenenbildung galt eher als Luxus für Gelangweilte, und im Kindergarten konstruierte man das Getto einer beschaulichen Kindheit.

Diese Idylle ist - wenigstens in der öffentlichen Meinung - in wenigen Jahren zerstört worden. Maßgeblich dafür waren mitnichten in erster Linie auf das Wohl des Individuums zielende Überlegungen, sondern ökonomische Interessen: Unsere Wirtschaft, so hieß es seither, wird in absehbarer Zukunft im Rahmen der fortgeschrittenen Nationen nicht mehr konkurrenzfähig sein, wenn die "Begabungsreserven" aus den unteren Schichten nicht gehoben und jeder nicht eine optimale Ausbildung erlangen würde.

So wird in den Schulen der Lehrplan durch das "Curriculum" ersetzt, durch ein Verfahren also, das die Lernziele vorrangig an den gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichtet und das, da diese Bedürfnisse sich bekanntlich ändern, die Notwendigkeit der ständigen Lernzielveränderung von vornherein in sich aufnimmt: Die "Gesamtschule" soll die (die Unterschichten bisher unterprivilegierende) Dreiteilung der Schulen in Volksschule/Berufsschule, Mittelschule und Gymnasium aufheben zugunsten einer Mittelklassenschule für alle; die Erwachsenenbildung hat durch Fortbildungs- und Umschulungskurse dafür zu sorgen, daß die Menschen sich durch Lernen den veränderten Arbeitsbedingungen anpassen können; die vorschulische Erziehung schließlich ersetzt Omas Kindergarten durch eine Bildungsstätte, die "überflüssiges", also nicht auf vorgegebene Lernzwecke gerichtetes Spielen ablöst zugunsten von genau kalkuliertem Sprach-, Denk- und Verhaltenstraining.

Kein Zweifel: Wir sind auf dem Wege zu einer Gesellschaft, für die inzwischen neue technologische Lernmöglichkeiten entdeckt wurden; die pädagogischen Produktionsmittel haben sich in dem Maße, wie das gesellschaftliche Bedürfnis sie benötigte, mit entwickelt. Sie heißen: Sprachlabor, Lernmaschine, Lernprogramm, hochschulinternes Fernsehen, Schulfernsehen, Funkkolleg und Fernsehkolleg. In naher Zukunft wird man wahrscheinlich für diese Phase der gesellschaftlichen Entwicklung den Begriff Lerngesellschaft verwenden, so wie wir heute noch von einer Konsumgesellschaft sprechen. In ihr wird Lernen nicht mehr ein Vorrecht des Kindes sein, sie wird uns von der Geburt bis zum Tode zum Lernen verurteilen, uns gewissermaßen im Status des unmündigen Kindes festhalten.

Das Kind allerdings lernt in der Regel bereitwillig - wenn die Schule nicht rechtzeitig seine Motivation tötet - weil es "groß", erwachsen werden will, weil es also unserem Versprechen glaubt, irgendwann werde es auf diese Weise ein für allemal den Stand der naturbedingten Unmündigkeit und der daraus notwendig erwachsenden sozialen Unterprivilegierung verlassen. Dieses Versprechen können wir ihm nun guten Gewissens nicht mehr geben, noch weniger dem Erwachsenen. Er wird zeit seines Lebens hinter der Entwicklung herlaufen, in dem Versuch, sich ihrer durch Lernen wieder zu bemächtigen, getrieben von der Angst, den Anschluß zu verpassen. Die Propheten dieses Fortschrittes geben sich optimistisch. Sie können in der Tat auf viele Vorzüge hinweisen: Lernen und damit die Chance zum sozialen Aufstieg wird nicht mehr nur den Privilegierten, sondern grundsätzlich allen zugänglich; die technologischen Lernmittel befreien uns von der irrationalen persönlichen Macht der Lehrenden und ermöglichen objektivere Leistungsmessungen; wer als Kind seine Chance verpaßte, kann als Erwachsener reumütig nachholen, was er versäumte. Und schließlich: Wer kann schon etwas dagegen haben, wenn auf diese Weise die wirtschaftliche Produktion gesteigert, der Lebensstandard erhöht und der internationale Konkurrenzkampf siegreich bestanden wird?

Es ist nicht leicht angesichts des allgemeinen Optimismus für die Schattenseite dieser Entwicklung den Blick zu schärfen. Ohne Zweifel wird die Lerngesellschaft die totale Vergesellschaftung des Menschen vollenden. Lernen ist kein Luxus mehr (was es bisher immerhin ja auch in erheblichem Maße war), den sich einige Privilegierte oder auch Außenseiter zum eigenen Vergnügen leisten. Wer die Vorschläge für die Vorschulerziehung sowie die daraus resultierenden Lehrmittel etwas genauer kennt, weiß, daß "Vergnügen" nicht vorgesehen ist - allenfalls dazu, die Kinder bei Laune zu halten, sie zu "motivieren", wie es vornehmer heißt. Lernen ist zur gesellschaftlichen Pflicht geworden - wie der Konsum und der Orgasmus und die Arbeit. Es treibt die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen weiter fort: das Gelernte gehört den Lernenden nicht mehr, ist vielmehr zu einem jederzeit abrufbaren, jederzeit nutzbaren, aber auch jederzeit verschleißbaren Ding geworden.

Wir Lernenden geben das Gelernte ab wie ein Auto, dessen Reparaturkosten im Vergleich zum Neukauf unrentabel wären. Folglich kann es ebenso wenig wie dieses persönliche Verbindlichkeit annehmen. Lernen, so meinten wir bisher, macht wesentlich unsere Persönlichkeit aus: Wir akkumulieren unsere Lebenserfahrungen und Reflexionen und sind, je älter wir werden, deren individuell verarbeitetes Resultat. Aber das kann nicht mehr zählen, wenn ich das Gelernte vergessen und ersetzen soll, nur weil es nicht mehr gesellschaftlich nützlich ist, und nicht etwa deshalb, weil es im Zusammenhang meiner Lebensgeschichte einen neuen Stellungswert gewonnen hat. Das nannte man bis vor kurzem "Bildung".

Damit steht aber nichts weniger als die Moral zur Debatte, also die Frage, wie denn der Aufbau der persönlichen Moral vonstatten gehen könne, wenn die gelernten Erfahrungen von vornherein dem Verdikt des fremdbestimmten Verschleißes unterliegen, wenn den Menschen geraten wird, ihre Erfahrungen ja nicht besonders ernst zu nehmen, sie nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit zu betrachten und nicht etwa nach ihrer Bedeutung für die eigene Persönlichkeit.

Vielleicht wird man dieses Problem lösen; sei es, daß man dafür eine neue Didaktik erfindet, sei es, daß die Menschen es aufgrund ihrer Anpassungsfähigkeit von sich aus überwinden. Schlimm ist nur, daß diese Seite des Problems in der gegenwärtigen Diskussion nahezu ganz verschwiegen wird, was den Verdacht zuläßt, der Lerngesellschaft sei das Glück und Wohlbefinden der Menschen ebenso gleichgültig wie der bisherigen Gesellschaft auch.

Ein anderes Problem jedoch wird schon sehr bald unübersehbar werden: die zunehmende Neurotisierung. Es zeigt sich bereits an den Lernschwierigkeiten der Studenten, die psychisch bedingt sind und die ihre Ursache vor allem darin haben, daß der Widerspruch zwischen dem hohen Selbstanspruch und der sehr viel geringeren Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Anspruches unerträglich wird. Die totale gesellschaftliche Pflicht zu lernen heißt doch auch: Wir erlauben dir nicht, so zu sein wie du bist; gleichgültig, wie gut oder wie schlecht; was auch immer du bereits gelernt hast: es genügt nicht, wir wollen, daß du durch Lernen anders wirst, und zwar nach Kriterien, die dir von außen ("gesellschaftliche Entwicklung") vorgegeben werden und die du nicht mitbestimmen kannst. Wie werden auf die Dauer Menschen reagieren, denen man zeitlebens die Anerkennung für ihr Sosein versagen muß, die immer anders sein müssen, als sie wirklich sind?

Als Lenin seinen Appell zum Lernen an sein ausgeblutetes Volk richtete, da konnte er ihm als Lohn die Perspektive einer besseren, menschlicheren, nämlich sozialistischen Gesellschaft anbieten; dafür mochte die Durststrecke der Versagungen lohnend erscheinen. Vergleichbares hat unsere Gesellschaft nicht zu bieten. Sozialer Aufstieg, der morgen schon fallen kann wie Aktien, und höherer Lebensstandard, der ständig durch Arbeitslosigkeit gefährdet ist, eröffnen solche Perspektiven nicht. Die zusätzlichen sozialen und seelischen Belastungen, die die Lerngesellschaft dem einzelnen zumutet, können nur dann verkraftet werden, wenn dieselbe Gesellschaft als Kompensation dafür die unbedingte Garantie der sozialen und wirtschaftlichen Sicherheit anbietet und diese psychologisch glaubhaft machen kann. Die gegenwärtig betriebene Bildungspolitik verlangt eigentlich eine solche Sozialpolitik. Sie ist heute nicht einmal in Ansätzen erkennbar. Diesen Zusammenhang nicht zu sehen, gehört zu den Blindheiten der gegenwärtigen Diskussion.

 URL des Dokuments: http://www.hermann-giesecke.de/werke9

Inhaltsverzeichnis aller Bände