Hermann Giesecke

Politische Bildung in der Jugendarbeit

München: Juventa-Verlag 1966

Vorwort/ Einleitung

© Hermann Giesecke

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Inhaltsverzeichnis

Zu dieser Edition:

Der folgende Text beschreibt außerschulische politische Bildungsprojekte, die Anfang der 60er Jahre im Jugendhof Steinkimmen mit Gymnasiasten, Lehrlingen und Schulklassen durchgeführt wurden. Zu dieser Zeit befand sich diese besondere pädagogische Arbeit noch in den Anfängen. Über den damaligen politisch-pädagogischen Hintergrund finden sich nähere Angaben in meiner Autobiographie Mein Leben ist lernen.
Der hier wiedergebene Text ist aus meiner Kieler Dissertation "Die Tagung als Stätte politischer Jugendbildung" hervorgegangen, die in zwei Bänden veröffentlicht wurde. Zugrunde gelegt wurde die 3. Aufl. von 1972, die aber bis auf auf das Vorwort mit der ersten von 1966 identisch ist. Der andere, theoretische Teil erschien unter dem Titel "Didaktik der Politischen Bildung", München: Juventa-Verlag 1965.
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© Hermann Giesecke

 

VORWORT ZUR 3. AUFLAGE (1972)
 

Dieses Buch ist ein pädagogischer Erfahrungsbericht aus den Jahren 1960 bis 1963. Da seither die pädagogische Theoriebildung - auch in meinen eigenen Vorstellungen - weiter fortgeschritten ist, läge eine entsprechende Überarbeitung nahe. Diese würde aber in Wahrheit ein historisches Dokument nur gewaltsam aktualisieren. Ein beliebig übertragbares Rezept wollte unser Bericht ohnehin nie sein. Gleichwohl erscheinen mir in einer Zeit, in der den bildungsbenachteiligten Lehrlingen und Hauptschülern endlich größere Aufmerksamkeit gewidmet wird, wichtige didaktische Prinzipien keineswegs überholt, sondern durch die jüngsten Forschungen gerade bestätigt: die Notwendigkeit "herrschaftsfreier Kommunikation" etwa oder das Ernstnehmen sozialisationsbedingter schichtenspezifischer Sprach-, Denk-, Motivations- und Kommunikationsbarrieren. Der zeitliche Abstand markiert jedoch auch wichtige politische Veränderungen. Vieles, was damals "fortschrittlich" war, ist heute unbestritten, zur Selbstverständlichkeit geworden. Vor zehn Jahren stand z. B. auch bei Lehrlingen noch nicht der "Produktionssektor" im Mittelpunkt des Interesses, sondern der "Freizeit- und Konsumsektor"; dies bestimmte auch die didaktischen Strategien mit. Der Wandel in diesem Punkt läßt neue didaktisch-methodische Möglichkeiten der politischen Bildung zu, und ich hoffe, daß dieses Buch bei ihrer Realisierung weiterhin von Nutzen sein kann.

Göttingen, Frühjahr 1972

 

EINLEITUNG

Zusammenhängende Darstellungen darüber, was in der außerschulischen Jugendarbeit "politische Bildung" bedeutet, fehlen bisher. Das ist deshalb einigermaßen erstaunlich, weil die öffentlichen Mittel für solche Maßnahmen, die Zahl der Maßnahmen selbst und die Zahl der daran beteiligten Personen von Jahr zu Jahr wachsen und auch das Bedürfnis nach einer gründlichen theoretischen Fundierung immer stärker wird. Entweder sind aber die Äußerungen über die außerschulische politische Bildungsarbeit - etwa seitens der Träger - nur programmatischen Inhalts, oder aber die Jugendarbeit erscheint lediglich als Anwendungsfall der allgemeinen Konzeptionen über politische Pädagogik. Beide Verfahren können nicht mehr befriedigen, weil sie den tatsächlichen Problemen und Chancen - und damit der Praxis überhaupt - nicht gerecht werden können. Die programmatischen Erklärungen sind weniger eine Beschreibung als vielmehr ein Teil der Praxis. Die bloße Anwendung allgemeiner Grundsätze der politischen Pädagogik auf den Sonderfall der Jugendarbeit birgt aber auch wieder die Gefahr in sich, zur bloßen Programmatik zu werden, solange nicht die besonderen situativen Bedingungen der Jugendarbeit gebührend berücksichtigt werden. Versucht man nun jedoch, die Probleme der Praxis der Jugendarbeit wirklich ernst zu nehmen, sieht man sich neuen, scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten gegenüber: Diese Praxis ist so vielgestaltig, sowohl hinsichtlich der Intentionen wie hinsichtlich der organisatorischen, finanziellen und personellen Vor-

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aussetzungen, daß es kaum möglich erscheint, ein Netz von Begriffen und Kategorien zu finden, das man allen in Frage kommenden Maßnahmen in gleich zutreffender Weise überwerfen könnte. Die ersten systematischen Theorieversuche über die außerschulische Jugendarbeit in dem Buch "Was ist Jugendarbeit?" (München 1964) und die daran anschließende Diskussion in der Zeitschrift "deutsche jugend" haben diese Schwierigkeit überaus deutlich zum Bewußtsein gebracht.

Daß der Wunsch nach theoretischer Aufklärung des Beitrags, den die Jugendarbeit zur politischen Bildung leisten kann, nicht nur einem pädagogischen Interesse entspringt, sondern angesichts der immer umfangreicher werdenden finanziellen Unterstützung durch die öffentliche Hand ganz einfach jugendpolitisch notwendig wird, zeigt der erste Jugendbericht der Bundesregierung, der diesem Buch eine unvorhergesehene Aktualität verschafft hat. Dieser Bericht enthält gerade deshalb, weil das von ihm untersuchte Feld noch so gut wie gar nicht theoretisch aufgehellt ist, die Gefahr bedenklicher jugendpolitischer Weichenstellungen (vgl. meine Kritik im Januarheft 1966 der Zeitschrift "deutsche jugend", S. 23-30).

Unsere Darstellung über den möglichen Beitrag der Jugendarbeit zur politischen Jugendbildung soll nun von vornherein zwei Beschränkungen unterworfen werden, um unrichtige und damit für die Praxis nutzlose Verallgemeinerungen möglichst zu vermeiden. Erstens ist nur von einer bestimmten Veranstaltungsform die Rede: von der langfristigen Tagung. Unter dem Begriff "Tagung" fassen wir dabei alle allgemeinbildenden, längerfristigen Veranstaltungsformen zusammen, die gemeinhin auch "Lehrgänge", "Freizeiten" oder "Seminare" genannt werden. Es geht also in diesem Buch um die typische überlokale Veranstaltungsform der Jugendarbeit, nicht um die lokalen, die einer eigenen Untersuchung bedürfen.

Zweitens wird sich unsere Darstellung eng an die Beschreibung von Experimenten halten, die wir selbst über drei Jahre hinweg durchführen konnten, also an "empiri-

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sches Material" - wenn man die qualitative Beschreibung von Lehrerfahrungen als empirische Methode gelten läßt Dieser Berichtsteil soll dazu dienen, möglichst konkret die Voraussetzungen zu bezeichnen, unter denen die am Schluß des Buches vorgenommenen Verallgemeinerungen gelten können. Bei diesen Experimenten handelt es sich um politisch bildende acht- bis vierzehntägige Tagungen für Jugendliche, die unter meiner Leitung zwischen 1960 und 1963 im Jugendhof Steinkimmen bei Delmenhorst durchgeführt wurden. Sie wurden in drei verschiedenen Typen veranstaltet: für Oberstufenschüler niedersächsischer Gymnasien, für Schulklassen und für geschlossene Lehrgruppen norddeutscher Firmen vom 1. bis 3. Lehrjahr. Schon der Vergleich zwischen diesen drei Typen erlaubt didaktische Einsichten.

Für die Darstellung des Berichtes fand ich kein Modell, dem ich mich ganz hätte anschließen können. Allerdings verdanke ich den Praxisbeschreibungen von Helmut Kentler (Jugendarbeit in der Industriewelt, 2. Aufl. München 1962), Lutz Rössner (Jugend in der offenen Tür, München 1962) und Wolfgang Müller/Hans Maasch (Gruppen in Bewegung, München 1962) sowie den Arbeiten von Klaus Mollenhauer (Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim 1964), Heinz Hermann Schepp (Offene Jugendarbeit, Weinheim 1963) und Theodor Wilhelm (Zum Begriff Sozialpädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 3, 1963) wichtige Hinweise und Gesichtspunkte für die theoretische Durchdringung der Probleme. Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, wird nur dort zitiert, wo ein Gedankengang unmittelbar übernommen wurde.

Unter dem Leitgedanken "Das pädagogische Feld der Tagung" werden zunächst die allgemeinen äußeren Bedingungen beschrieben, unter denen unsere Arbeit stattfand. Dies geschieht keineswegs nur oder auch nur vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des Kolorits oder der Anschaulichkeit, sondern um zu belegen, daß längst bevor in einer solchen Institution wie unserem Jugendhof irgendwelche

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pädagogischen Aktionen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen ablaufen, bereits die organisatorischen, finanziellen, lokalen und technischen Bedingungen die Grenzen dessen, was pädagogisch möglich ist, mitentschieden haben. Es ist eine der wichtigsten Intentionen unseres Berichtes, solche Faktoren in die pädagogische Theorie einzubeziehen. Es wird sich zeigen, daß ohne ganz bestimmte Voraussetzungen dieser Art unsere Experimente gar nicht möglich gewesen wären.

Erst vor diesem allgemeinen Hintergrund können die Menschen beschrieben werden, die dort agierten: studentische Teams auf der einen und Oberschüler bzw. Lehrlinge oder Schulklassen mit ihren Lehrern auf der anderen Seite. Welche Erwartungen stellten sie an die Tagung? Welche Erwartungen, Einstellungen und Probleme kennzeichneten alle unsere jugendlichen Teilnehmer, und wo lagen die Unterschiede zwischen Oberschülern, Lehrlingen und Schulklassen? Bei der Beantwortung dieser Fragen fallen ganz nebenbei noch einige jugendkundliche Ergebnisse ab, weil sich zeigte, daß die jungen Leute unter den sozialen Bedingungen der Tagung ( = radikalisierte Freizeitbedingungen) sich zum Teil anders verhielten, als viele im Alltag der Jugendlichen ermittelte Ergebnisse der Jugendforschung vermuten ließen.

Nun erst kann - im zweiten Teil - von den pädagogischen Absichten und Gestaltungsprinzipien die Rede sein. Was heißt es, im Rahmen des skizzierten pädagogischen Feldes "politische Bildung" zu betreiben? Da geht es zunächst um die Frage, wie man die Beziehungen zwischen Leitung und Jugendlichen und zwischen den Jugendlichen untereinander "demokratisch" gestalten kann. Die These wird lauten, daß eine demokratische Beziehung nur dort möglich ist, wo ein Rollenwechsel stattfinden kann. Aus dieser Überlegung werden die "Grundsätze der Programmgestaltung" abgeleitet: Die Programmstruktur muß den Rollenwechsel widerspiegeln, kann also nicht bloß aus der "Sache" des Unterrichts abgeleitet werden. Nun erst, vor dem Hintergrund der demokratischen Beziehungen, kann

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vom politischen Unterricht die Rede sein. Dafür eine überzeugende Form zu finden, bereitete uns um so größere Schwierigkeiten, als angesichts der erheblichen Bildungsunterschiede die Überlegungen für Oberschüler und Lehrlinge in verschiedene Richtungen gehen mußten. Gleichwohl durften nicht zwei qualitativ verschiedene Konzeptionen von politischer Bildung dabei herauskommen, weil ja eine demokratische Gesellschaft nur eine einzige Konzeption über die Rolle des Staatsbürgers zuläßt. So scheint es ganz nützlich, dabei auch einmal einige Irrwege, die wir gegangen sind, knapp nachzuzeichnen.

Der dritte und letzte Teil zieht die Summe aus unserem Erfahrungsmaterial und sucht "Aspekte einer Didaktik der Jugendtagung" zu verallgemeinern. Die Lektüre des Buches kann durchaus hier beginnen und von hinten nach vorne fortschreiten; denn dieser Teil enthält die eigentliche "Aussage", die in den beiden anderen Teilen "empirisch" belegt wurde.

Im Anhang wird auszugsweise das Ergebnis einer Befragung unserer jugendlichen Teilnehmer über ihre "Tagungszufriedenheit" wiedergegeben. Insofern die Zustimmung der Jugendlichen überhaupt ein didaktisches Kriterium ist, stützt diese Befragung das in diesem Buch vertretene didaktische Konzept.
(Der Anhang ist in diese Edition nicht aufgenommen worden, H.G.)

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 URL des Dokuments: : http://www.hermann-giesecke.de/steinkein.htm

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